Weihnachtswind und Nordseestürme - Sarina Keller - E-Book

Weihnachtswind und Nordseestürme E-Book

Sarina Keller

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Beschreibung

Die Weihnachtszeit ist für uns alle doch eigentlich die schönste Zeit im Jahr. Deshalb beginnt die Vorweihnachtszeit heutzutage immer früher und stimmt uns bereits im September auf Nikoläuse und Lametta ein. Für Jule beginnt deswegen auch ihre nachdenkliche Phase viel früher, da sie Weihnachten dieses Jahr am liebsten abschaffen würde. Sie denkt viel zu viel an Weihnachten und an all die ersehnte Gemütlichkeit und Wärme, das Zusammensein, das Glücklichsein. Sie erträgt es nicht dieses Jahr. Ihre Gedanken führen sie auf eine Reise zu sich selbst, zu ihren vergessenen Sehnsüchten und Ängsten, ohne dafür jedoch einen Plan, eine Karte oder ein Navi griffbereit zu haben. Sie lässt sich vom Wind locken. Nach ihrem ersten Buch "Sylter Strandkorbgeschichten", das die Liebe zum Meer, ganz besonders zu ihrer Lieblingsinsel Sylt, beschreibt, widmet sich die Autorin Sarina Keller in ihrem zweiten Buch einem anderen Thema: dem Zauber der Weihnachtszeit. Ein Zauber, der uns manchmal auch sehr gefährlich werden kann, weil er unsere verborgenen Sehnsüchte heraufbeschwört, unsere Träume aufdeckt und uns somit, ganz nebenbei, mit seiner weihnachtlichen Magie näher zu uns selbst führt. Ganz ohne Nordwind kommt die Autorin jedoch auch in diesem Buch nicht aus. Lassen Sie sich mitreißen vom "Weihnachtswind" und genießen Sie die Kraft der "Nordseestürme".

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WeihnachtswindundNordseestürme

2. Teil der

Sylter Strandkorbgeschichten

von

Sarina Keller

Vorweihnachtszeit 2016

 

Titel:

Weihnachtswind und Nordseestürme

Untertitel:

2. Teil der Sylter Strandkorbgeschichten

Auflage-Nr.:

1

Autorin:

Sarina Kellerwww.kellerstexte.de

IllustrationenCover & Seite 16:

Susanne Böttcher

Copyright:

© 2018 Sarina Keller

ISBN:

978-3-96518-009-3   Paperback 978-3-96518-010-9   eBook

Verlag:

Die Autorin

 

Zwei Geschichten aus ihrem ersten Buch „Sylter Strandkorbgeschichten“ wollten unbedingt weitergeschrieben werden. Sarina Keller baut um diese beiden Geschichten in ihrem zweiten Buch eine größere, die sich dem Zauber der Weihnachtszeit widmet.

Ein Zauber, der uns manchmal auch sehr gefährlich werden kann, weil er unsere verborgenen Sehnsüchte heraufbeschwört, unsere Träume aufdeckt und uns somit, ganz nebenbei, mit seiner weihnachtlichen Magie näher zu uns selbst führt.

Ganz ohne Nordwind kommt die Autorin jedoch auch in diesem Buch nicht aus.

Lassen Sie sich mitreißen vom „Weihnachtswind“ und genießen Sie die Kraft der „Nordseestürme“.

Und ganz ohne Kurzgeschichten kommt Sarina Keller auch nicht aus. Sie sind mit dem Roman auf besondere Weise verwoben. Das Kleine im Größeren.

 

Bereits als Paperback erschienen ist:

Sylter

Strandkorbgeschichten

Eine Lesereise durch Sylt!

Independent-Verlag Marc Latza

978-3-96518-000-0

Für all die Menschen, die ich liebe und die, die mir ein Quell der Inspiration sind, weil sie sind, wie sie sind. Danke ihr Lieben, für die kleinen und großen, echten Gespräche, für das Nachhaken, für das Zuhören und für die deutlichen und die behutsamen, aber ehrlichen Worte, für das Herausfordernde, für die Kritik, für das Vertrauen, für die Freude, für das zusammen Schimpfen und Weinen oder das gemeinsame Lachen, für das Verrückt-Sein-Dürfen, für das EnergieSpenden, für das bedingungslose Sehen.

Ihr macht das Leben wunderbar interessant und tiefgründig.

Sarina Keller

„Die Geschichte fügt sich zusammen… Jule stellt sich zunächst als gläserne, verängstigte Frau dar, die ihren Weg sucht und über diese Suche langsam, aber sicher wieder Selbstsicherheit, Eigenliebe und Erkennen des Ichs und der inneren Stärken findet.

Sehr sehr schön.

Verwoben in Selbstzweifeln bis hin zu einer malerischen Hingabe.“

Susanne Böttcher

Illustratorin des Covers

1969 geboren in Hamburg

2004 – 2010 Malerei im Atelier Jürgen Middelmann

BraderupIn ihrem ersten Sommer!

Sie hielt ihre Augen geschlossen, ihr Körper lag gemütlich ausgebreitet in der Sonne.

Wenn das Wetter passte, dann nutzte sie jede Minute hier, auf ihrer Schaukelbank, so nannte Jule sie.

Er liebte es, wenn er sah, wie sie darauf vor sich hinträumte, auf ihrem Lieblingsplatz, der seiner Meinung nach, die Freiheit des Schaukelns mit der Sesshaftigkeit seiner alten Gartenbank vereinte. Ihr gemeinsamer Platz zum Entspannen und Träumen, zum Schweben, wie er gerne sagte.

Einfach über dem Dingen schweben, ohne Bodenkontakt, frei. Dafür hatte er sie gebaut, hatte der alten Bank die morschen Beine abgesägt und sie an ein eigens konstruiertes Schaukelgestell aufgehängt. Extra für sie, weil sie Schaukeln liebte und Bänke.

Jule wusste noch genau, wie sie sich gefühlt hatte, als er ihr sein Geschenk im Garten zeigte, sie die Augen erst noch geschlossen hielt, er ihr, wie so oft, mit dem Daumen die Form ihrer Lippen nachstrich, nachdenklich lächelnd, um ihr dann ihren neuen Lieblingsplatz zu zeigen.

Jule liebte diese Erinnerung. Sie verströmte dieses wundersame Gefühl vollkommener Verbundenheit, das sie so faszinierte. Im Grunde war er auch eine Art Schwebebank. Mit ihm in ihrer Nähe konnte Jule genauso über den Dingen schweben, über dem Alltag schweben, alles um sie herum unbeachtet lassen, irgendwie entrückt von der Welt sein und doch mitten im Moment sein, sich genießen.

Einfach nur schweben, schwerelos sein im Denken, schrankenlos, absolute Freiheit der eigenen Fantasie. Und ihre Fantasie war so stürmisch und unberechenbar wie die Nordsee um Sylt.

Von ihrer Schwebeschaukelbank aus flossen ihre fantastischen Gedanken zu einem wundervollen Bild zusammen. Sie war wie ein Knotenpunkt, der alles verband.

Von hier aus genoss sie eine andere Blickrichtung, konnte sie die Heide von oben betrachten, ihr kleines Königreich des Glücks.

So war es auch heute, als der erste Sommerwind übers Weiße Kliff bis zu ihr streifte, ihr ein Lächeln aufs Gesicht streichelte, während sie nur leicht schaukelnd die Möwen über ihr zählte.

Es waren sieben, die um den schönsten Platz am Himmel stritten, lautstark kreisend, mal gleitend, erst fast im Sturzflug nach unten, um danach wieder an Höhe zu gewinnen, ein stetiges Auf und Ab, ein Hin und Her. Wie starker Wellengang.

Als eine Möwe unerwartet ihren höchsten Platz am Himmel verließ, um sich auf Jules kleinen Apfelbaum zu setzen, fiel Jules Blick auf seine alten schmutzigen Gummistiefel, die unter dem Baum im Gras standen. Sie konnte sich nicht ihr befriedigendes Grinsen verkneifen, das sich immer in ihr Gesicht schlich, wenn sie dieses Schuhwerk sah.

Genüsslich streckte sie sich auf ihrer umfunktionierten, beinlosen Gartenbank aus, fühlte mit ihren nackten kalten Füßen das verfilzte Schafsfell darauf, spielte mit den Fingern zupfend an der Wolle und verlor sich dabei in sehr belebenden Erinnerungen. Kopfkino de luxe.

Sie fühlte sich so frei wie ihre Möwen über ihr. Endlich! Das war nicht immer so gewesen.

Und sie war froh, dass sie dieses wunderbare Gefühl wachhalten konnte, indem sie von Zeit zu Zeit einfach wegflog, ausriss sozusagen, um Bilder für neues Kopfkino zu sammeln.

Sie hatte irgendwann entschieden, es sich zu erlauben!

Jule war so wie die Möwe hier, die einmal nach List an den Hafen flog, einmal mit der Fähre nach Föhr schipperte oder den weiten Weg nach Hamburg auf sich nahm und dann irgendwann lieber zurück auf den kleinen neuen Apfelbaum hier in Braderup kam.

Wann, an welchem Tag, zu welcher Uhrzeit, wusste sie nicht.

Hauptsache niemand und nichts sperrte sie ein, wie eine Brieftaube, die von ihrem Besitzer an irgendeinem Platz in die vermeintliche Freiheit geworfen wurde, um dann an genau den Platz zurückzufliegen, den er für sie als Zuhause auserkoren hatte.

Jule entschied selbst, wo ihr Platz sein sollte.

HusumIm Weihnachtswinter davor!

Sie saß auf der kleinen Bank und zog den dicken Schal enger um ihr Gesicht, sodass ihre Nase in der Wolle versank. Die Wärme ihres eigenen Atems streichelte sie.

Mit den Händen stützte sie ihr Gesicht, die Ellbogen bohrten sich in ihre Oberschenkel und ihre Gedanken wanderten weit zurück, während über ihr eine Möwe über den Winter schimpfte und sie selbst versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Doch deren Anfang war einfach schon zu weit auseinandergeflossen, wie Prielwasser bei Ebbe, zu weit entfernt vom Ufer des Lebens.

Überhaupt, alles schien parallel gelaufen zu sein. So wie in einem Sackbahnhof alle Schienen nebeneinander auf ein gemeinsames Ende zulaufen. Wenn du fortwillst aus diesem Bahnhof, musst du unweigerlich zurückfahren, wieder dort vorbei, wo du gerade erst durchgekommen bist, noch einmal alles erleben, nur von einer anderen Richtung aus gesehen. Genauso hatte sie es erlebt, als sie anfing, alles aufzuschreiben, um es dann anders sehen zu können, neu: Es fing mit einer Geschichte an! Es wurden immer mehr.

Je mehr sie sich selbst zu verlieren drohte, desto mehr Geschichten schrieb sie auf.

So konnte sie wenigstens das Positive erhalten, bewahren, ohne dabei aus ihrem Jammertal auszureisen. Nein, Jule wusste, dass sie sich in ihrem schwarzen Loch suhlte, sie wollte ganz lange überhaupt nicht raus aus dieser Dunkelheit, weil sie sich so auch nicht fragen musste, wie sie da überhaupt hineingelangt war.

Aber diese dunkle Phase würde jetzt bald der Vergangenheit angehören!

Sie hatte sich aus dem Loch gekämpft und saß nun ganz oben am Abgrund, einerseits nach den neuen Farben greifend und andererseits die Sehnsucht spürend, sich einfach wieder fallen zu lassen, zurück in die sie umhüllende, versteckende Dunkelheit.

Der Vogel über ihr schimpfte immer noch gegen den Nordwind.

Doch Jule blickte entspannt auf die Symmetrie des Husumer Schlosses. Ihr Blick sammelte sich im zweiten Turmfenster, die vollkommene Mitte. Der Versuch in ihre eigene Mitte zu atmen, gestaltete sich jedoch als noch recht schwierig:

In den Bauch einatmen, Luft einströmen lassen, ausatmen, bis der Bauch eine enge Höhle ergibt. Einatmen.

Ausatmen.

Ein und aus.

Noch traute sie sich nicht nach nebenan.

Die Wärme des Zugabteils verabschiedet sich Windhauch für Windhauch aus ihren Gliedern. Ob das eine gute Idee war?

Heute ist der 24.12.!

Ihre selbst gesetzte Frist ist vorbei und sie ist einfach abgehauen! Positiv betrachtet, könnte man auch sagen, dass sie die Flucht nach vorne antritt. Nach dem Motto, Angriff ist die beste Verteidigung.

Nur eben trotzdem anders als es ihre Leute von ihr erwartet hätten, so kannte man sie nicht, irgendwie unberechenbar.

Aber, wenn sie ehrlich sind, wissen alle, dass Jule noch nie viel von purer Berechenbarkeit hielt.

An diese Wahrheit klammerte sie sich nun einfach und an ihren kuscheligen Schal und ihren langen Mantel und ihr neu gefundenes Urvertrauen.

Wenn es sein musste, könnte sie noch stundenlang so sitzen, bevor das Winterwetter sie zum Aufstehen zwingen würde.

Sie starrte in Richtung des Hauses, zu dem sie bald losstiefeln würde.

So früh morgens verfing sich ihr neugieriger Blick noch in leichtem Nebel, der die Dächer der Stadt zart umschleierte, und selbst als Spielball des Windes hin und her wehte wie ein Vorhang an einem offenen Fenster. Die Nebelschwaden schienen die Dächer wie wach zu küssen. Ganz anders als in Theodors Storms Gedicht.

Langsam bahnte sich die Winterkälte ihren Weg vom Holz der Bank, durch Jules Mantel, über ihre dicke Strickjacke, zu ihrer Jeans und ihrem Sommerslip an ihren Körper.

Gegen einen Tee hätte sie jetzt nichts einzuwenden, einen schönen heißen Schwarztee.

Die Kälte griff nach ihrem Verstand, der ihr sagte, dass sie nun besser aufstehen sollte. Denn eine Blasenentzündung würde ihr Projekt, dem Abgrund zu trotzen, und die Farben einzusammeln, nicht gerade erleichtern!

Sie atmete tief die Husumer Schlossparkluft ein:

Es war angenehm hier, windig, frisch, eine ordentliche Prise Meeresluft, Ehrfürchtigkeit, Alter, Ruhe, alles an einem Platz.

Genau das brauchte sie für ihren Neuanfang!

Sie rutschte von der keinen Bank, wickelte ihren dicken Schal schützend um ihren Hals, sodass sie, die Hände in den Taschen, Richtung des verheißungsvollen Hauses stapfen konnte. Der Nebel wich langsam und der Frost ließ die Wiese am Schloss leise knirschen bei jedem Schritt. Fast wie bei Schnee.

Das ließ Jule lächeln. Im Grunde mochte sie gar keinen Schnee, aber sie mochte diese eine Schneeerinnerung, die sich gerade in ihr Gedächtnis schlich. Definitiv keine Negativ-Schnee-Assoziation! Sie konnte sogar für einen Moment zulassen, dass sich diese wiedergefundenen Schneebilder körperlich manifestieren konnten. Kurz. Immerhin.

Mit dieser Spannung verschwand aber die Kälte in ihr und sie lief schneller als erwartet Richtung Stadt, durchquerte die kleine Gasse, ging an einem Café vorbei, das gerade erst öffnete und lies sich kurz von der Auslage einer kleinen Buchhandlung ablenken.

Sie verströmte eine warme Atmosphäre. Einige Bücher lagen im Schaufenster ausgebreitet, wie Wellen angeordnet, auf einem blauen Tuch, eine Holzmöwe bewachte die Szene.

Alles Bücher über Sylt: Krimis, Kulinarisches, Kalender, Kurzgeschichten…

Der Wind trieb sie dann aber doch von den Büchern weg und schob sie zurück in das kleine Städtchen Husum zurück.

Kopfsteinpflaster!

Straße und Fußgängerwege gingen wie ineinander über, wie in einem Aquarellbild.

Die stählernen Polder als Grenze fühlten sich in diesem Bild jedoch eher fehl am Platz.

Jule ließ den Markt vor der Kirche links liegen, die Taschen, Körbe, das Gemüse, der ganze Trubel konnte sie heute nicht fesseln.

An dem, scheinbar ganzjährig geöffneten, Weihnachtslädchen ging sie nur kopfschüttelnd vorbei, obwohl die Vielzahl der Rabatt-Schilder sehr verlockend angebracht war. Jule gönnte sich heute eine viel bessere Verlockung! So war zumindest ihr Plan.

Eine Verlockung, die nur zum Teil käuflich ist und bei der weniger, mehr bedeutet.

Mit dieser Verlockung würde sie es schaffen, sich selbst aus ihrem persönlichen schwarzen Loch heraus zu lotsen.

Also klammerte sie sich an ihren Laptop in ihrer Tasche und genoss es, dass ihr Freund der Wind, ihr hier in Husum, sehr gesonnen war und ihr ihre positiven Geschichten direkt ins Herz wehte.

Sie blieb kurz stehen und genoss es einfach. Kräfte sammeln!

Geschichtenwind

Sie las sie sich nun schon zum dritten Mal durch, ohne die vielen Male während des Schreibens. Was machte sie eigentlich da? Schreiben, lächerlich irgendwie, und doch war es das Richtige, das hatte sie gleich gespürt. Sie fing an! Fing einfach an.

Also las sie sie auch noch ein viertes Mal durch, ihre erste Geschichte, nur um sicher zu gehen, dass auch alles drin war, alles, an das sie so gedacht hatte die letzten Tage, was in ihrem Kopf herumschwirrte und erst Ruhe gab, wenn es schön säuberlich in den Worten dieser Geschichte verpackt war:

Weihnachtsbeginn

Maria steht im Laden und starrt auf ihren Einkaufszettel, um sich zu konzentrieren. Sie will für ihren Geburtstag einkaufen und versucht ihr Einkaufswägelchen an den Bergen von Weihnachstssüßkram vorbei zu lenken.

„Wann beginnt eigentlich Weihnachten? Also, man sollte ja meinen, dass die Weihnachtszeit im Dezember beginnt! So mit dem Adventskalender, dann kommt der Nikolaustag, der erste Advent, die Kerzen am Adventskranz, bis dann der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer steht.

So ist es aber eben überhaupt gar nicht, leider!", grübelt Maria über ihrem Zettel. Sie sieht nur Marzipan und Nikoläuse, obwohl sie den süßen Senf sucht.

Mitten im schönsten Herbst beginnt Weihnachten, heutzutage. Zumindest in den Regalen hier im Discounter.

Maria löst sich von ihrem Einkaufszettel und geht suchend an den Adventskalendern vorbei.

Sie schüttelt nur den Kopf: „Es ist noch nicht lange her, da hat gerade erst das Freibad geschlossen und bei unserem Mama-mit-Kinder-Freundinnen-Tag wechseln wir so langsam vom Prosecco Rosato zum Café Latte."

Gedankenverloren schlurft sie durch den Gang und rammt dabei versehentlich mit ihrem leeren Wagen den Einkaufseisberg einer anderen Kundin, die sich jedoch freudestrahlend umdreht und weitere Zimteispackungen in ihren Wagen räumt.

„Ohh. ´tschuldigung!", presst Maria hervor. „Nicht schlimm!", meint die andere lächelnd, während sie ihren Eisberg im Einkaufswagen höher stapelt. „Der ideale Zeitpunkt schon für Weihnachten vorzusorgen! Herrlich, nicht?", sie wartet keine Antwort ab und erklärt der verdutzten Maria: „Wissen sie, ich mag keinen Stress, da ist es doch wunderbar, dass wir jetzt schon alles bekommen, gell?"

Sie lächelte zufrieden.

Als sie sich dann einfach wegdrehte, um ihre Margarinepackungen akkurat neben die Mehl- und Zuckerberge zu stellen, damit die Rotkrautdosen besser neben dem Eisberg Platz haben können. Maria entfuhr ein: „Frohe Weihnachten!", als sie schnell Richtung Gemüsetheke stürzte.

Sie konnte nicht anders, sie musste darüber nachdenken, ob die Dame nicht sogar recht hatte. Wieder versuchte sie den Gedankengang abzuschütteln: „Aber ich kann doch jetzt noch nicht an Plätzchen-Backen denken, nun wirklich nicht! Obwohl es einem doch so richtig viel Stress ersparen würde. Wenn man mal bedenkt, dass Ende September nicht so viel Besonderes passiert, hätte ich doch alle Zeit der Welt, mich in Ruhe an den Backofen zu stellen und ein Rezept nach dem anderen zu backen. Ganz in Ruhe.

Ob man Plätzchen auch einfrieren kann und im Dezember wieder auftauen?“ Mit leerem Blick starrte Marie auf die Kartoffeln, als gerade der durchgeplante Weihnachtself von vorhin mit seinem Eisberg an Maria vorbeischlenderte. „Wie kann die jetzt schon an Weihnachten denken und dabei so entspannt sein?" Maria konnte gerade noch einen weiteren Titanic mäßigen Zusammenstoß mit einer gestressten Mutter beim Wocheneinkauf verhindern, als sie die drei Säcke Kartoffeln in ihren Wagen legte, um dann zielstrebig hart backbord zur Wursttheke zu steuern.

Maria schüttelte erneut den Kopf. Doch die Gedanken umkreisten sie: „Können wir überhaupt noch ohne den ganzen Weihnachtsstress, den Zeitdruck, die vielen Termine, ohne den Grund, einmal im Jahr sich per Weihnachtsgruß bei den irgendwie Verwandten und Möchtegern-Freunden melden zu müssen, auskommen? Nimmt uns das Rad der Traditionen und Erwartungen nicht auch den Zwang der Entscheidung? Drehen wir uns immer in ein und demselben Rad, sind die Entscheidungen bereits vorher getroffen, wir gehen nur mit, außer wir springen raus aus dem Weihnachtshamsterrad. Die Welt würde tatsächlich nicht untergehen, wenn wir an Weihnachten nur das machen, wozu wir Lust haben, nur den einladen, den wir wirklich bei uns haben wollen, nur das essen, worauf wir Appetit haben, uns selbst das schenken, was wir uns schon lange gönnen wollten.

Und wenn unsere liebe Welt untergehen würde, dann würde Weihnachten eh ins Wasser fallen, also können wir es doch auch riskieren, oder?!"

Sie nahm lächelnd lieber Kasse 2, weil Kasse 1 von Eisberg und Titanic voll besetzt war.

Ende

 

Sie klappte den Laptop zu. Sie war soweit zufrieden. Sie stellte sich ans Fenster. Sie beobachtete die Straße, wie jede Nacht. Nachts war es interessanter als morgens, mittags oder abends.

Es war weniger los, aber es gab mehr zu sehen.

Gegenüber war tatsächlich im Parterre ein kleiner Supermarkt, aus dem vereinzelt noch ein paar Leute mit ihren vollen Taschen in die Dunkelheit schlurften. Es waren keine Eisberg- und Titanic-Mamas wie in ihrer Geschichte. Die würden um diese Zeit schon bei ihren Lieben daheim auf der Couch liegen und alle zusammen DSDS schauen oder Monopoly spielen. Vielleicht würde Eisberg aber auch schon ihre Plätzchen vorbacken und Titanic würde bereits den Kuchen für die Sonntagstafel in den Ofen schieben. Von diesem Gedanken angewidert, drehte sie sich vom Fenster weg.

Da schlich sich wieder das Bild in ihren Augenwinkel, wie die letzten Tage: Das Fenster gegenüber, in ihrer Höhe, das weiter rechts, das zweite von ganz rechts, da bewegte sich erneut jemand hinter dem Vorhang. Eigentlich wollte sie sich ja gar nicht von ihrer Isolation ablenken lassen, schon gar nicht von anderen Menschen. Aber sie spürte, dass sich hinter diesem Fenster ebenfalls ein Solist, wie sie selbst einer war, versteckte. Sie ging jedoch von einem Kind aus.

Auf jeden Fall könnte die Person ca. 1,50 m groß sein. Zumindest passte das ungefähr zum Schattenbild hinter dem Vorhang.

Aber sie hatte jetzt keine Lust auf diese Versteckspielchen. Sie selbst wollte sich im Grunde auch nicht mehr so ganz verstecken, eigentlich.

Deshalb war ihr Fenster zumindest immer frei, es konnte frei und unverstellt in die Welt hinausschauen, ohne durch Vorhänge zu blicken. Und der Wind konnte sie besser besuchen, meist stand es offen, extra für seinen Besuch. Das liebte sie schon immer!

Aber sie wollte ihr Solo vor ihrem Fenster ohne Publikum spielen.

Das liegt ja wohl in der Natur des Wortes „Solo“! Nein, sie brauchte niemanden um sich herum!

Da ergriff es sie wieder, dieses seltsame Stechen in der Brust.

Sie musste sich setzen, jetzt gleich! Zuerst auf den kalten Stuhl neben sich, bevor der dunkle Schwindel sie übermannte. Nur etwas ausruhen. Es war jedoch klar, dass sie nach kurzer Zeit auf ihren Lieblingsplatz hier wechseln wollte. Klar war auch, dass sie den kleinen Schatten vom Fenster gegenüber nicht so schnell aus ihrem Kopf vertreiben konnte, auch wenn sie es gerne wollte.

„Wer mag das wohl sein? Ihr Puls verlangsamte sich Schritt für Schritt und ihre Augen sahen langsam wieder klarer und mit ihnen kroch die kleine Gestalt wieder in ihr Bewusstsein: „Klein; ja. Kind; muss nicht sein. Nicht jeder ist groß!", flüsterten ihre Gedanken ihr zu. Dabei fiel ihr Blick auf den kleinen Tisch und das Abendessen, das sie wieder nicht angetastet hatte. Sie würde den Apfel nehmen, der daneben in der Obstschale auf sie zu warten schien. Sie musste lächeln, denn sie liebte Äpfel. Immerhin etwas.

Als sie die roten Apfelbäckchen an ihrer Weste glänzend rieb, erhaschten ihre Augen etwas Neues. Am Schattenfenster stand eine rote Packung, irgendein Päckchen. Ihre Neugierde hatte sie gepackt! Ihre Augen waren gut, sie brauchte keine Brille, trotzdem, die Entfernung war nicht ohne. Man konnte die Packung auch nicht ganz sehen. Sie kaute langsam ihren Apfel und fixierte die Packung: „Überwiegend rot, mit dunklen Schriftzügen, irgendwelche dunklen Bilder sind auch drauf, Kreise oder was soll das sein?"

Auf einmal drehte jemand die Schachtel hochkant. Jetzt konnte man es gut erkennen: „Keine Kreise, sondern Brezeln und Herzen, schokoladenbraun. Eine Lebkuchenschachtel! Weihnachtskram!"

Ihre Gedanken schweiften ab, schlichen zu den Erinnerungen an ihre Oma, die schon viel zu lange Tod war. Sie hatte wunderbare Lebkuchen gebacken, in ihrer kleinen Küche, oben im Dachgeschoß. Ihre Plätzchen waren ein Traum.

Und sie machte alles selbst: Brote, Kuchen, Körperöle, Kräutertees. Als kleines Kind dachte sie immer, dass ihre Oma bestimmt eine gute Hexe war, weil sie für jedes Wehwehchen eine extra Salbe hatte und immer den passenden Tee aufbrühte, der dich von alleine wieder gesund machte, wenn du auf dem abgewetzten Sofa in ihrer Küche lagst, die Katze an den Füßen und sie dich mit ihren alten Geschichten bei Laune hielt, während du zusahst, wie sich einzelne zarte Strähnen aus ihrem grauen Hexendutt lösten und ihr Gesicht umschmeichelten.

Eine Träne verlies leise ihr Auge und eine neue Geschichte schlich sich in ihren Traum:

Weihnachtssterne

Geschmückte Tannenbäume mit großen roten Plastikschleifen, festgebunden am Laternenpfahl, zieren die Stadt. Abends leuchten die Straßen hell, dank der riesigen Sternendekoration, die sich von einer Straßenseite zur nächsten spannt und Nachbarn verbindet, die sich gar nicht kennen. Sie sehen sich nicht, wenn sie morgens die Zeitung holen oder abends noch schnell mit dem Stadthund Gassi um die Laternen gehen. Was dank der Weihnachtsbäume etwas stachelig wird.

Sind wir mal ehrlich, im Winter zieht es doch eh nur die hart gesottenen Jogger oder die Hundeliebhaber raus. Normale Menschen bleiben bei diesem nasskalten Schmuddelwinterwetter doch lieber in den eigenen vier Wänden. Oder am liebsten gleich in der Küche oder in der Badewanne. Da macht man dann so unsinnige Sachen wie die restlichen Knoblauchzehen vor dem Vergammeln zu retten und sie in Olivenöl einzulegen, dann riecht es nur einmal nach Knoblauch, aber richtig.

Oder man verfeinert die Plätzchen, die in der Vorweihnachtszeit doch nicht so ganz gut angekommen sind. Die hart gebackenen Herzchen mit der Marmelade vom letzten Bauernmarkt zusammenkleben, Puderzucker drauf, in ein schönes Glas mit goldenem Deckel stapeln, Geschenkband drumherum.

Fertig ist das Weihnachtsmitbringselwichtelding. Mit Liebe gebacken und verfeinert. Mit Fliedermarmelade. Die lässt dich vom Sommer träumen, während dich die Seitenstrangangina fest im Griff hat und du die Augen zusammenkneifst, weil dir die Straßenbeleuchtung direkt ins Auge leuchtet und der Hund deines Nachbarn wieder laut bellend die Katze verfolgt, die nun triumphierend gegenüber am Fenster thront.

Jetzt schnell in die Badewanne!

Und den selbst angesetzten Glühwein nicht vergessen!! Und morgen wird im Baumarkt der erste Weihnachtsstern gekauft, weil der vom letzten Jahr, wie immer, nicht überlebt hat.

Ende

 

Sie reckte ihren Körper, streckte sich und versuchte die Kälte abzuschütteln, lächelte. Durch ihr vorhangloses Fenster lächelte ihr die alte Straßenlaterne entgegen. Da die Wärme nicht so einfach zu ihr zurückkehren wollte, stand sie auf, um sich ihre Kuschelsocken zu holen und um sich in ihre Lieblingswolldecke einzumummeln.

Am Fenster gegenüber war niemand mehr, es war dunkel und auch die Lebkuchenschachtel war verschwunden. Ob sie aufgegessen waren? Lebkuchen im Herbst? Ihre Socken lagen über dem Stuhl. Als sie sie anzog, blieb ihr Blick an dem Apfelkrutzen hängen, der auf dem kleinen Porzellantellerchen ihrer Oma lag. Sie lächelte. Mit ihrer Decke um die Schultern rutschte sie über den Holzfußboden, wie als kleines Kind. Sie sammelte die Äpfel aus der Obstschale, legte sie zu ihrem abgefütterten Verwandten auf das Tellerchen und das Tellerchen stellte sie auf einen Stapel Bücher. Dieses Stillleben thronte nun schön auf ihrem Fensterbrett, gut sichtbar vom Lebkuchenfenster aus.

Mittlerweile war es schon drei Uhr nachts vorbei. Die Straße draußen schlief überwiegend, genauso die Häuser und die Wohnungen, außer ihre natürlich. Es war ruhig durch und durch. Noch nicht einmal Autos fuhren vorbei. Doch Jule konnte nicht schlafen. Seit langem schlief sie lieber dann, wenn andere den Tag genossen und lebte dann auf, wann die anderen schliefen. So ertrug sie das alles besser.

Die Zeit, die Tage, die Nächte, das Leben, sie alle flossen unaufhörlich wie ein Rinnsal einer unbekannten, weit entfernten Mündung entgegen, scheinbar sinnlos, aber unaufhaltsam. Es ging alles einfach weiter. Egal, was sie machte, es ging weiter und hörte nicht einfach so auf.

Wieder ein Beweis dafür, dass Wünsche nicht einfach so in Erfüllung gehen.

Sie öffnete ihr Fenster, ihr Tor zur Welt, lies die Nacht zu sich ins Zimmer strömen, atmete das zarte Nachtleben ein, beobachtete ihre Motten an der Straßenlaterne wie sie Tänzchen vollführten, spitzelte zum dunklen Lebkuchenfenster, zählte die Tüten auf dem Trottoir, heute nur drei, blickte zur kleinen Mondsichel, lugte zum Taxistand, alle weg, suchte die Tigerkatze, die immer um diese Zeit über die Mauer stolzierte, da war sie ja, gleich würde der Streifenwagen durchfahren, ca. in fünf Minuten, danach müsste die Krankenschwester kommen, die mit dem roten Schal und dem bösen Blick.

Zufrieden lächelte Jule in sich hinein, als alles war wie immer. Sie schloss das Fenster wieder und setzte sich entspannt an den Laptop.

Sie versuchte den Traum von vorhin aufzufrischen und schrieb los: Weihnachtssterne…

 

Es klappte richtig gut, sodass sie recht schnell fertig war und zufrieden ans Fenster ging. Auf halben Weg gab sie ihrer aufkeimenden schizophrenen Lust auf Plätzchen und Schokoladenweihnachtsmännern nach, drehte um und ging an die Süßigkeitenschublade. Dort fand sie tatsächlich einen alten Schokoladenosterhasen, der jetzt endlich seiner Bestimmung gerecht werden durfte.