Weihnachtswunder wider Willen - Emma S. Rose - E-Book

Weihnachtswunder wider Willen E-Book

Emma S. Rose

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Beschreibung

Kann der Weihnachtszauber dein Herz erweichen? Flora liebt ihr Leben. Sie teilt nicht nur eine Wohnung mit ihrer besten Freundin Hannah, sondern auch die Leidenschaft für Weihnachten. Als ihre liebste Jahreszeit vor der Tür steht, könnte sie nicht glücklicher sein – wäre da nicht Paul. Er ist Hannahs Zwillingsbruder und konnte Flora noch nie leiden. Als er in eine Notlage gerät, findet er Unterschlupf bei den Freundinnen und bringt ihre Pläne gehörig durcheinander. Flora müsste ihn hassen, doch schon bald spürt sie, dass ihre Gefühle ins Trudeln geraten … Klopfende Herzen zwischen Schneeflocken und Weihnachtsdeko – ob das gut geht?

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Weihnachtswunder wider Willen

EMMA S. ROSE

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Danksagung

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Über den Autor

Für alle, die auf ein Weihnachtswunder warten.

Gebt die Hoffnung nicht auf!

Erst wenn Weihnachten im Herzen ist, liegt Weihnachten auch in der Luft.

WILLIAM TURNER ELLIS

Weihnachtswunder wider Willen

1. Auflage

November 2022

© Emma S. Rose

Rogue Books, Inh. Carolin Veiland, Franz – Mehring – Str. 70, 08058 Zwickau

[email protected]

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Stockmaterial von Chipmunk131; Olga_Lots / Shutterstock

Alle Rechte sind der Autorin vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung der Autorin gestattet.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes in andere Sprachen, liegen alleine bei der Autorin. Zuwiderhandlungen sind strafbar und verpflichten zu entsprechendem Schadensersatz.

Sämtliche Figuren und Orte in der Geschichte sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit bestehenden Personen und Orten entspringen dem Zufall und sind nicht von der Autorin beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

»Hey, Flora, kannst du gerade – ups!«

Wir schrien uns gegenseitig an. Hannah, meine nicht immer ganz ideal getimte Mitbewohnerin, und ich. Es war nicht das erste Mal, dass es zu Szenen dieser Art kam.

Lachend plumpste ich seitlich zu Boden, während Hannah sich theatralisch an die Brust griff, so als hätte ich ihr einen Schock fürs Leben eingejagt. Was vermutlich auch der Fall war.

»Verdammt noch mal, Florentine Jacobs! Musst du dein Leben riskieren, wenn du mal wieder der Meinung bist, zu viel Pizza gegessen zu haben?«

Grummelnd richtete ich mich auf, nicht ohne meine Mitbewohnerin mit Blicken zu erdolchen. »Nur zu deiner Info: Dieses Mal geht es um Prävention. Ich gedenke, in den kommenden Wochen hauptsächlich von Keksen, Punsch und Weihnachtsmarktleckereien zu leben. Damit ich bis Silvester nicht aus allen Nähten platze, muss ich etwas tun.«

»Aber doch nicht sowas!« Hannah klang, als hätte ich gerade versucht, ohne Betäubung Speck aus meinem Bauch zu schneiden.

»Das war Yoga, kein Attentat«, klärte ich sie deshalb trocken auf, schob dann aber das Thema beiseite. Hannah war das, was man einen Sportmuffel nannte. Nun, das war ich auch. Aber im Gegensatz zu ihr blieb mir keine Wahl. Während sie tonnenweise Schokolade futtern konnte, brauchte ich nur den süßen Duft zu inhalieren, um ein Pfund zuzulegen. Das hinderte mich zwar die meiste Zeit nicht daran, es zu tun, aber selbst ich kannte meine Grenzen, und wenn ich die köstliche Weihnachtszeit genießen, gleichzeitig aber zu den Feiertagen noch in mein Kleid passen wollte, musste ich aktiv werden.

Leider.

Ich angelte nach meinem Handtuch, wischte über meine Stirn, die längst nicht so feucht war, wie sie es vielleicht hätte sein sollen, und richtete mich ächzend auf, nur um direkt auf meine Bettkante zu plumpsen – all das, ohne meinen Überraschungsbesuch aus den Augen zu lassen.

Hannah McPorter war seit etwa zwei Jahren meine Mitbewohnerin – und seit ungefähr einundzwanzig meine beste Freundin. Der Vollständigkeit halber: Unsere Mütter hatten sich ein Zimmer geteilt, als sie in den Wehen lagen, und irgendwie waren wir ziemlich zeitgleich zur Welt gekommen. Glaubt mir, eine witzige Anekdote, die wir immer und immer wieder gerne erzählten. Gut, bei der Geburt waren wir natürlich in unterschiedlichen Kreißsälen gewesen, aber im Anschluss hatten wir bereits das erste Mal dieselbe Luft geatmet, und ja, irgendwie hatte uns das unwiderruflich zusammengeschweißt. Der gemeinsame Start ins Leben, Freundinnen von Anfang an und so weiter … eine wirklich kitschig-schöne Geschichte mit Happy End. Das war vor allem deshalb so bedeutsam, weil sich unsere Wege unter anderen Umständen wahrscheinlich nie gekreuzt hätten. Hannah war, wie der Nachname vielleicht schon verriet, mit einer besonderen Blutlinie gesegnet. Eine, die Reichtum versprach. Ferien auf einem Landsitz irgendwo auf der Welt, eine riesige Villa am Stadtrand, Markenklamotten und so weiter. Ihre Familie besaß eine gut laufende Whiskey-Destillerie und hatte vermutlich seit Jahrzehnten nicht mehr darauf achten müssen, ob etwas in ihr Budget passte oder nicht. Ich dagegen – nun, ich wusste sehr gut, was es bedeutete, am Ende des Geldes noch viel Monat übrig zu haben. Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dies als eine Art Spiel zu betrachten. Wie kam ich mit möglichst wenig aus, ohne dass andere es bemerkten? Hannah und ihre Familie hatten nie zugelassen, dass Mom und ich knapp bei Kasse waren. Da sie uns nie so beschämt hätten, uns einfach Geld zuzustecken, hatten sie auf andere Weise versucht, zu helfen. Zum Beispiel, indem sie mich möglichst oft zum Essen eingeplant hatten. Wohlplatzierte Geschenke hier und da. Dinge, die ihnen nicht weh getan, uns aber den Arsch gerettet hatten. Also ja, unsere Lebenswelten waren mehr als gegensätzlich. Umso witziger eigentlich, dass es ihre Mom damals ausgerechnet ins städtische Krankenhaus verschlagen hatte, obwohl sie eigentlich geplant hatte, in einer Privatklinik zu entbinden … aber das war eine andere Geschichte.

Jedenfalls: Hannah war meine beste Freundin, meine engste Vertraute. Und ich wusste sofort, wenn sie einen Anschlag auf mich plante. Dann hatte sie dieses Funkeln in den Augen, gleichzeitig aber auch so ein irres Zucken in der Wange – und überhaupt sah sie genauso aus wie jetzt, wo sie auf wippenden Fußballen vor mir stand, die Arme vor der Brust verschränkt und offenbar ganz und gar nicht mehr zu Tode erschrocken, weil sie mich in einer besonders komplizierten Verrenkung erwischt hatte. Sie führte etwas im Schilde, und ich ahnte instinktiv, dass mir nicht gefallen würde, worum es ginge. Erneut rieb ich mir mit dem Handtuch über die Stirn, aber mehr für den dramatischen Effekt, und stöhnte auf. »Okay. Schieß los, Madame. Was brennt dir auf der Seele?«

Hannah tat, was sie mit Abstand am besten konnte – sie verdrehte ihre Augen theatralisch und ließ sich mir gegenüber auf den Schreibtischstuhl fallen, der bedenklich ächzte. Für einen winzigen Moment fürchtete ich um sein Leben, doch er hielt stand. Gott sei Dank, ich hatte wirklich kein Budget für neue Möbel. »Wieso musst du mich immer sofort durchschauen?«

»Vielleicht, weil ich dich bereits kenne, seit … lassen wir das. Ich weiß es eben.« Grinsend legte ich den Kopf schräg. »Also los. Mach es kurz und schmerzlos. Raus mit der Sprache. Halt es nicht länger zurück …«

»Ist ja gut, ist ja gut!« Hannah lachte los und warf ihre schwarze Lockenpracht schwungvoll nach hinten. Noch ein kleiner Fun Fact: Wären wir nicht gemeinsam zur Welt gekommen und hätten sich unsere Wege erst jetzt irgendwann gekreuzt, ich hätte sie augenblicklich als arrogante Tussi abgestempelt, die ich insgeheim um ihre Schönheit und Eleganz bewundert hätte. Ihre eisblauen Augen wurden kugelrund, während sie mich mit der perfektesten Imitation ihres »Ich bin unschuldig, vergiss das nicht«-Blickes musterte. »Du erinnerst dich doch daran, dass wir schon oft darüber gesprochen haben, dass unsere Wohnung so groß ist, dass sie Platz für einen weiteren Mitbewohner bieten würde, oder?«

Sämtliche Alarmglocken begannen, zu schrillen. Mein Herzschlag setzte aus, nur um dann so richtig loszurasen, und ich begann, dieses Mal wirklich zu schwitzen. Zwar nur an den Handinnenflächen, aber trotzdem. Diese Richtung hatte ich wirklich nicht erwartet – und sie traf mich unvorbereitet. Ziemlich unvorbereitet sogar. »Ja, äh, das ist mir noch bewusst. Aber du weißt doch auch, dass es immer Scherze waren, oder? Ich meine, wir nutzen unser ›Wohnzimmer‹ eigentlich nie, aber …«

»Hm, ja, klar …«, fiel Hannah mir ins Wort. Sie begann, eine ihrer Strähnen mit ihrem Finger aufzudrehen, und das war ein weiteres Alarmsignal. Sie war verlegen. Das konnte nur eines bedeuten.

»Wer?«, fragte ich tonlos.

Sie klimperte mit ihren Wimpern. »Es wäre nur vorübergehend, wirklich. Keine Dauerlösung. Es ist nur …«

»Wer?«, wiederholte ich, dieses Mal etwas eindringlicher.

Hannah wagte es tatsächlich, einen Schmollmund zu ziehen. »Nun sei doch nicht gleich so voreingenommen …«

Ich rieb mir über das Gesicht, spürte, dass meine Hände zitterten, und schob sie eilig unter meine Schenkel, um den Anblick vor uns beiden zu verbergen. Hannah wusste sehr genau, was ich über dieses Thema dachte. Zwar war uns beiden klar, dass es völliger Irrsinn war, aber ich kam nicht dagegen an: Immer wieder packten mich diese dämlichen Zweifel, gerade weil unsere Lebenswelten eigentlich so unterschiedlich waren. Dann fürchtete ich, dass sie irgendeine Schickimicki-Freundin finden würde, die mir meinen Rang ablief. Die besser mithalten konnte mit ihrem Lebensstil und diesem ganzen Quatsch – Dinge, die nie ein Problem zwischen uns gewesen waren. In Momenten wie diesem merkte ich, dass die Unterschiede eben doch nicht spurlos an mir vorübergingen, selbst wenn es zu fünfundneunzig Prozent der Zeit ein Problem des Unterbewusstseins war. Ganz abgesehen von irgendwelchen Minderwertigkeitskomplexen hielt ich aber auch gar nichts von Dreierkonstellationen. Weder in WGs noch sonst wo. Meiner Meinung nach konnte das nur schief gehen. In meinem Kopf bildeten sich bereits hirnrissige Konstrukte von irgendeiner Freundin von Hannah, die hier langsam aber sicher das Ruder an sich riss und mich mehr und mehr ins Aus drängte …

»Hey!« Als hätte sie genau durchschaut, was mir durch den Kopf ging, eilte Hannah an meine Seite, legte einen Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. »Was auch immer du dir gerade einbildest, es wird nicht geschehen, du kleines Dummerchen. Ich begreife nicht, dass eine kluge, hübsche und selbstbewusste Frau wie du zwischendurch solche Aussetzer haben kann.«

Ich öffnete meinen Mund, um mich zu rechtfertigen, doch ehe es dazu kam, redete Hannah weiter.

»Wie gesagt, es ist nur eine kurzfristige Übergangslösung. Und …« Sie stockte kurz, um das breiteste, einnehmendste Grinsen anzuschalten, zu dem sie fähig war. »… genau genommen geht es dabei um Paul.«

»Paul?« Ich blinzelte sie an wie das berüchtigte Reh im Scheinwerferlicht, völlig auf dem falschen Fuß ertappt und … geschockt. »Du meinst Paul McPorter?«

»Äh, ja?« Hannahs Miene spiegelte reine Unschuld. »Paul. Mein Bruder. Der Paul, vor dem du …«

»Wag es nicht, mit dieser Story um die Ecke zu kommen!« Großer Gott! Ich schlug die Hände vor mein plötzlich siedend heißes Gesicht und versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen, die nun mit aller Macht und gnadenlos auf mich einprasselten.

Hatte ich erwähnt, dass Hannahs und meine Mom zeitgleich entbunden hatten? Ja. Hatte ich erwähnt, dass neben Hannah noch ein weiteres Kind zur Welt gekommen war? Ooops, vergessen zu erwähnen. Das mochte daran liegen, dass ich von Anfang an meine Probleme mit ihm gehabt hatte. Zwanzig Minuten älter als Hannah und in vielerlei Hinsicht anders als seine Schwester. Klar, als zweieiige Zwillinge mussten sie auch gar nicht identisch sein. Dennoch war es seltsam, wie konträr zwei Menschen sein konnten, die neun Monate ihres Lebens auf engstem Raum zusammengelebt hatten. Paul. Großer Gott, ausgerechnet Paul! Ich schüttelte grimmig den Kopf. »Du meine Güte, Hannah! Falls du glaubst, mich so auf deine Seite zu ziehen, hast du dich wirklich geschnitten!«

Hannah kicherte los. Sie kicherte! Vermutlich sah sie ebenso wie ich jenen verdammten Sommernachmittag vor Augen, als wir in ihrem Pool waren, herumalberten … und sich dabei aus unerfindlichen Gründen mein Bikinioberteil gelöst hatte. Genau in dem Moment, als Paul »Mister Arrogant« McPorter höchstpersönlich an den Beckenrand trat, um uns darüber zu informieren, dass wir doch bitte Platz machen sollten, weil er seine Runden drehen wollte. Natürlich. Damals waren wir vierzehn gewesen und ich hatte bereits sichtbar wachsende Brüste gehabt, die sich ihm plötzlich vorwitzig präsentierten. Zu Pauls Gunsten musste ich sagen, dass er sich, sobald ihm dieser Umstand klar geworden war, eilig abgewandt und das Thema auch nie wieder angeschnitten hatte.

Von Hannah konnte ich das leider nicht behaupten, wie sie gerade einmal mehr hatte beweisen müssen. Eine heiße Mischung aus Scham, Ablehnung und Ohnmacht erfüllte mich, während ich kopfschüttelnd ihrem Blick auswich. Paul. Der Paul. Hannahs Zwillingsbruder, den ich in den vergangenen Jahren vielleicht zwei Mal gesehen hatte – und beide Male waren bereits zu viel gewesen. Auf gar keinen Fall würde ich mit ihm ein Dach teilen können.

Meine beste Freundin seufzte leise auf. »Ich weiß, dass dich das überrumpelt. Ich weiß auch, dass du ihn nicht gerade gut leiden kannst. Aber verdammt, Flora, ich würde das nicht in Erwägung ziehen, wenn es nicht wirklich nötig wäre …«

»Was hat ihn denn in diese Notlage gebracht, dass er ausgerechnet mit seiner Schwester zusammenziehen muss, hm? Hat er seine alte Wohnung abgefackelt? Hat er sie bei einer seiner wilden Parties abgerissen?«

Zum ersten Mal huschte eine gänzlich neue Emotion über Hannahs Gesicht – eine, die mich zumindest kurz innehalten ließ. Mitleid. »Dazu kann ich dir nicht viel sagen. Du weißt, normalerweise habe ich keine Geheimnisse vor dir, aber das ist seine Geschichte, nicht meine. Es steht mir nicht zu, darüber zu reden. Lass dir nur eines gesagt sein: Er muss dringend irgendwo unterkommen. Und unsere Eltern sind in dieser Hinsicht wirklich keine Option.«

Das stimmte mich nachdenklich. Ich atmete tief durch, versuchte, die schreckliche Scham herunterzuschlucken, die Hannah grausam in mir hinaufbeschworen hatte, und schob auch die brennende Ablehnung beiseite, die ich ihrem Bruder gegenüber empfand. Übrig blieb das Gefühl, überfahren worden zu sein, eine gewisse Müdigkeit – und Resignation. Ich wusste, dass ich am Ende sowieso kein echtes Mitspracherecht hatte. Diese Wohnung überstieg mein eigenes Budget um Meilen, weshalb Hannah den Großteil der Miete bestritt – oder genauer gesagt, ihr Erbe, das für genau diesen Zweck gedacht war. Die Großzügigkeit ihrer Familie ermöglichte es auch mir, relativ sorgenfrei studieren zu können. Ich war nun wirklich nicht in der Position, Hannahs Bruder die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Weder sinnbildlich noch tatsächlich.

Und das machte mich verdammt müde.

»Wann?«, brachte ich krächzend hervor, denn im Grunde war das die einzige Frage, die noch gestellt werden musste. Das »ob« war doch sowieso schon geklärt.

Einmal mehr verzog Hannah ihr Gesicht zu diesem engelsgleichen Schmollen. »Wenn du nichts dagegen hast, dann am Samstag.«

»Jetzt Samstag?«, brachte ich kreischend hervor. »Samstag wie … übermorgen?«

Hannah nickte mir zurückhaltend zu. »Genau den Samstag meine ich, ja.«

Ich fiel rückwärts auf die Matratze meines unverschämt bequemen Bettes, kapitulierend und definitiv ernüchtert. Samstag also. In zwei Tagen würde Hannahs Bruder in unsere WG ziehen und die Idylle zerstören. Ich hatte es jahrelang kaum in einem Raum mit ihm ausgehalten, und nun würden wir sogar zusammenleben. Zugegeben, unsere Wohnung war großzügige neunzig Quadratmeter groß, ich hatte ein eigenes – abschließbares – Zimmer und auch ein eigenes Bad. Wenn ich es darauf anlegte, würde ich ihm aus dem Weg gehen können. Aber seine Anwesenheit würde mir dennoch die kommenden Wochen vermiesen, und das machte mich wütend. Ich liebte die anstehende Weihnachtszeit. Ich liebte die romantische Stimmung. Ein arroganter, grummeliger Paul würde das sicherlich zu zerstören wissen.

»Ich hasse dich, Hannah«, presste ich gequält hervor.

»Und ich liebe dich, Flora«, erwiderte Hannah fröhlich, während sie ebenfalls rücklings neben mir auf das Bett fiel. Und so lagen wir also da. Seite an Seite. Yin und Yang. Beste Freundinnen, die einiges, wenn auch nicht alles in ihrem Leben teilten. Ich liebte diese Einheit – und doch wusste ich, dass sie in den kommenden Wochen einer echten Belastungsprobe unterstellt werden würde.

Schöner Scheiß aber auch.

»Ist ja … kuschelig.« Ich kassierte den Ellenbogenstoß meiner Zwillingsschwester, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, während ich meinen Seesack geräuschvoll auf den Boden fallen ließ. Seufzend fuhr ich mir durchs Haar und drehte mich einmal langsam im Kreis. »Nun, ich werde schon zurechtkommen.«

»Das musst du auch!«, stellte Hannah grinsend fest. Sie wirkte verändert, auch wenn ich nicht sagen konnte, inwiefern. Schon als ich sie vergangene Woche angerufen hatte, war mir das aufgefallen. Wann genau hatte sie sich von dem kleinen Mädchen zu einer Frau entwickelt? Wenn man bedachte, dass ich sie in den vergangenen Jahren zumindest an Weihnachten gesehen hatte, kam es mir seltsam vor, dass mich ihre Veränderung so befremdete. Hinzu kam, dass wir als Zwillinge eigentlich eine ganz besondere Verbindung hätten haben sollen, sie einst sogar gehabt hatten, doch irgendwie war diese in den vergangenen Jahren schwächer geworden, sodass Hannah mir fremder vorkam denn je. Vermutlich lag es aber auch einfach daran, dass die gesamte Situation mehr an mir nagte, als ich es zugeben wollte. Es war schlimm genug, sich Fehler einzugestehen. In dem Zusammenhang wie ein Loser bei seiner zwanzig Minuten jüngeren und daher offiziell kleineren Schwester einziehen zu müssen, machte die ganze Sache nicht unbedingt besser. Zum Glück hatte Hannah es mir bisher erstaunlich leicht gemacht – und ich war kurz davor, ihr etwas in der Art auch zu sagen. Doch als ich ihrem Blick begegnete, wurde sie schlagartig ernst. »Wie lautet die oberste Regel?«

Seufzend verdrehte ich die Augen. »Keinen Scheiß bauen. Mann, du nervst …«

»Präziser!«, forderte sie mich scharf auf – und klang dabei wie eine verdammte Lehrerin. Fehlte nur noch die strenge Brille auf ihrer Nasenspitze.

Ich unterdrückte einen genervten Fluch. Vielleicht, weil sie mir nicht einmal eine verdammte Minute der Erleichterung gegönnt hatte, ehe sie bereits auf der Schattenseite dieses Arrangements herumreiten musste. Auf einer der vielen, um genau zu sein. »Ich lasse Florentine in Ruhe.«

Hannahs linke Augenbraue wanderte provozierend in die Höhe.

Mir entwich ein theatralisches Stöhnen. »Ich halte den Ball flach, fliege unterm Radar. Keine Frauengeschichten. Keine Exzesse. Ich bin ein braver Mustermitbewohner, bis ich etwas Eigenes gefunden habe.«

»Und?«

Sie begann, mich tierisch zu nerven. Immerhin in diesem einen Punkt hatte sich nichts geändert. Seltsam, dass ich das eher beruhigend als frustrierend empfand. »Ich versaue euch nicht die Weihnachtszeit.«

»Gut.« Hannah nickte zufrieden, so als wäre ich tatsächlich ihr Schüler, der eine komplizierte Aufgabe erfolgreich gelöst hatte. »Wir essen gegen sieben. Du kannst dich gern dazugesellen.«

»Was denn jetzt? Unterm Radar fliegen oder einen auf WG-Leben machen?« Beinahe erschrocken stellte ich fest, dass Hannah denselben scharfen Blick wie Mom drauf hatte. Eilig riss ich meine Hände in die Höhe. »Schon gut, schon gut. Hab es ja begriffen. Sieben Uhr, ich werde pünktlich sein – Ma’am.«

Hannah schüttelte den Kopf, doch ich hörte überdeutlich, wie sie leise schnaubend lachte, während sie mir den Rücken zukehrte, um mir ein wenig Zeit zu geben.

Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, fiel ich auf das Sofa, das in den kommenden Tagen oder auch Wochen mein Bett darstellen würde. Gütiger Gott. Wenn Dad mich jetzt sehen würde … was würde er nur sagen? Was würden sie alle sagen?

Ich konnte es mir ausmalen, doch die einzige Stimme, die ich im Ohr hatte, war die von Hannah, als ich sie in jener beschissenen Nacht angerufen hatte. Sie war irgendwie immer das Nesthäkchen gewesen, das mich mehr als oft genug genervt hatte, doch nun war sie diejenige, die die Dinge anpackte und mir den Arsch rettete. Und auch wenn es bedeutete, dass ich in einem eilig zusammengeschusterten Zimmer unterkam und mir die Wohnung zukünftig mit zwei Frauen teilen musste, was aus unterschiedlichsten Gründen keine gute Idee war – ich musste ihr dankbar sein.

Am besten würde ich es ihr zeigen, indem ich mich an ihre verdammten Regeln hielt. An die ungefähr hundert, die sie aufgestellt hatte. Seltsamerweise angeführt von ihrer besten Freundin Florentine. Wieso auch immer.

Anstatt runterzulaufen und meinen restlichen Scheiß hochzuholen, beschloss ich, erst einmal ein kleines Nickerchen einzulegen. In den vergangenen Wochen hatte ich nicht gerade viel Schlaf bekommen – und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich einiges nachzuholen hatte, ehe ich überhaupt in der Lage war, eine neue Richtung festzulegen, in die mein Leben laufen sollte.

* * *

Schon ab sechs Uhr wurde der Lärm aus der Küche so aufdringlich, dass an Ruhe nicht mehr zu denken war. Ich beschloss also, nicht länger auf der faulen Haut zu liegen, lief drei Mal zu meinem Auto, um mein Zeug in die WG zu schleppen, ohne auch nur einem der Mädels zu begegnen, und nahm anschließend eine ausgiebige Dusche in dem Badezimmer, das ich mir ärgerlicherweise mit meiner Schwester teilen musste. Ich wusste nicht, was mich mehr nervte: Dass ich mein Leben so gnadenlos vor die Wand gefahren hatte oder dass meine Schwester und ihre Freundin offensichtlich so viel Spaß hatten. Vermutlich eine Mischung aus beidem. Während ich frustriert den Stress der vergangenen Tage von meinem Körper zu schrubben versuchte, kam ich nicht umhin, festzustellen, dass es dennoch schön war, so ein aufrichtiges Lachen zu hören. In den Sphären, in denen ich mich zuletzt bewegt hatte, war das meiste mehr als Fake gewesen. Angefangen beim künstlichen Lachen der Frauen, die versucht hatten, an meinen Schwanz zu kommen – und darüber an meine Kohle.

Es war beschämend, wie leicht ich es den meisten von ihnen gemacht hatte.

Als ich pünktlich um sieben das Badezimmer verließ, wurden die Duftschwaden meines Aftershaves von einem viel angenehmeren Geruch abgelöst. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, während ich herauszufinden versuchte, worum es sich handelte, und war nach wie vor mit exakt dieser Grübelei beschäftigt, als ich durch den offenen Türbogen in die Küche trat – und schlagartig erstarrte.

Ich hatte bereits geglaubt, dass Hannah sich verändert hatte – doch das war nichts im Vergleich zu ihrer Freundin Florentine. Es gab mehr als nur eine Handvoll Gelegenheiten, bei der ich das fragwürdige Vergnügen gehabt hatte, sie zu sehen. Eine Zeitlang hatte ich sogar geglaubt, sie wäre bei uns eingezogen, weil sie ständig in meinem Elternhaus ein und aus spaziert war. Das letzte Zusammentreffen war jedoch mindestens zwei Jahre her – die Zeit, die wir alle nicht mehr zuhause lebten, um genau zu sein. Und zwei Jahre konnten offenbar alles verändern. Ein seltsames Ziehen formte sich in meiner Brust. Es fühlte sich ein wenig an die wie dieser nervige Beschützerinstinkt, den ich trotz allem während unserer Kindheit und Jugend stets verspürt hatte, wenn es um die beiden Mädchen gegangen war – nur schien es tiefer zu gehen, ohne das ich begreifen konnte, was das zu bedeuten hatte. In jenen Bruchteilen eines Augenblickes, ehe die beiden meine Ankunft bemerkten, saugte ich ihren Anblick in mich auf. Wie schon früher waren sie in vielerlei Hinsicht gegensätzlich. Wo Hannah hochgewachsen und schmal war, war Florentine klein und kurvig – viel kurviger, als ich sie in Erinnerung hatte. Florentines Haar war rotblond, seidig und reichte bis weit über ihre Schultern. Ihr herzförmiges Gesicht war früher schon ständig gerötet gewesen, und auch heute leuchteten ihre Wangen pink. Was mich jedoch völlig unvorbereitet traf, war der Glanz ihrer vollen Lippen. Der Schwung ihres Halses. Das Blitzen ihrer himmelblauen Augen … das schlagartig erlosch, als ihr Blick auf mich fiel.

Schlagartig fiel sie in sich zusammen. Ihr Lächeln schwand, und sie zog ihre Schultern in die Höhe, als würde sie sich vor einem Schlag ducken. Ironischerweise spürte ich Wut in mir aufflammen – Wut auf jeden, der sie dazu brachte, so zu reagieren. Nur löste ausgerechnet ich diese Reaktion in ihr aus.

Und ich konnte es sogar verstehen.

»Guten Abend, die Damen«, presste ich hervor – aufgrund meiner jüngsten Gefühlsverwirrung wesentlich gereizter als beabsichtigt.

Hannah wirbelte zu mir herum, ganz der grinsende Sonnenschein, wie ich sie immer erlebt hatte. »Da bist du ja. Keine Schwimmhäute gewachsen?«

In der Hoffnung, dass sich dadurch die Stimmung auflockerte, hob ich beide Hände in die Höhe und wackelte mit den Fingern. »Bisher nicht. Schätze, beim nächsten Mal muss ich mir noch mehr Zeit nehmen.«

»Untersteh dich!«, erwiderte meine Schwester grinsend. »Wenn du uns das ganze warme Wasser klaust, bist du schneller auf der Straße, als du bis drei zählen kannst.«

Wir wussten beide, dass diese Drohung leer war, und doch spürte ich ein unangenehmes Ziehen in der Magengrube. Kopfschüttelnd wandte ich mich Florentine zu – nicht ohne Hannahs warnenden Blick aus dem Augenwinkel zu bemerken. »Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen.«

»Tja, und doch wiedererkannt«, erwiderte die beste Freundin meiner Schwester angespannt, ehe sie sich eilig abwandte, um den Backofen zu öffnen, der offenbar Quelle des angenehmen Duftes war. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich ihre schroffe Reaktion traf, und reckte den Hals, um einen Blick auf das Essen zu werfen. So viel stand zumindest fest: Ich war in keiner fettfreien Diät-WG gelandet. Zumindest, wenn ich den Inhalt des Ofens als stichhaltigen Hinweis werten wollte.

»Setz dich doch«, forderte Hannah mich auf. Ihre Stimme war warm, und ich folgte ihrem ausgestreckten Arm zu einer geschmackvollen Essnische mit Eckbank in einem rundum verglasten Erker. Der Tisch war bereits gedeckt, inklusive Kerzen und einer Flasche Spätburgunder, von dem ich wusste, dass er exzellent war. Wieso ich das wusste? Ich hatte Hannah ein paar Flaschen geschenkt. Letztes Jahr zu Weihnachten. Jede Wette, dass dies eine davon war. Meine Mundwinkel zuckten, während ich über die Bank rutschte und nach dem Wein griff, um uns allen einzuschenken.

»Heute Abend darfst du das Privileg genießen, bedient zu werden. Ab morgen musst du mithelfen«, informierte meine Schwester mich knapp, während sie einen Untersetzer mittig auf dem Tisch platzierte. »Zumindest, wenn du nicht zum einsamen Selbstversorger werden willst.« Ich erwiderte ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen, verkniff mir jedoch einen Kommentar. Kurz darauf kam auch Florentine zu uns. Sie trug eine große Auflaufform, in der sich die Köstlichkeit befand, die mich hierhergelockt hatte.

Mein Magen gab ein leises Knurren von sich. Wann hatte ich das letzte Mal deftige Hausmannskost gegessen? Denn genau danach sah dieser Auflauf aus.

Als hätte Florentine meinen Blick bemerkt, klärte sie das Mysterium knapp auf. »Sheperd’s Pie. Ein altes Rezept meiner Großeltern, die ursprünglich aus Irland kommen.«

»Du hast für mich gekocht«, rutschte es mir rau über die Lippen, und es war, als würde für einen Moment jeder in diesem Raum die Luft anhalten.

»Träum weiter«, presste Florentine hervor, doch ihre Wangen färbten sich dunkler, und Hannah trat mir, verdeckt von der Tischplatte, beherzt gegen das Schienbein.

Ich stöhnte vor Schmerz auf.

Während wir unsere Teller beluden, nahm ich die Rolle des Beobachters ein. Die gelöste Stimmung, die noch bis eben geherrscht hatte, schien verflogen zu sein. Stattdessen sah ich, wie die beiden Frauen einige stumme Blicke wechselten, und kam mir zunehmend wie ein Eindringling vor.

Der ich ja auch war.

Während ich meine Gabel immer und immer wieder in die Köstlichkeit tauchte, die aus so simplen Zutaten bestand und doch umwerfend schmeckte, versuchte ich, mich an diese neue Umgebung zu gewöhnen. Die Wohnung war geschmackvoll und gut geschnitten, ohne Frage. Geräumige Zimmer; und selbst mein vorübergehendes Reich, das ich zu Beginn so geringschätzig kommentiert hatte, bot ausreichend Platz und Komfort, um für eine Weile zurechtzukommen. Rein von der Wohnungsgröße her war es also absolut kein Thema, dass ich vorläufig meine Zelte hier aufschlug.

Darüber hinaus verband mich und meine Schwester etwas, auch wenn dieses Band in den vergangenen Jahren gelitten hatte. Ich hatte immer auf sie aufgepasst, und auch wenn sie mir in ihrer Eigenschaft als Zwillingsschwester mehr als einmal auf die Nerven gegangen war, hatte ich stets Zuneigung für sie empfunden. Wir waren uns nahe gewesen. Was ihre Mitbewohnerin Schrägstrich beste Freundin betraf … ich wusste, dass sie mich nicht leiden konnte. Das hatte sie früher schon nicht getan, und ihre Reaktionen heute – inklusive der Regel, die Hannah aufgestellt hatte –, sprachen eine eindeutige Sprache. Nun, auch ich hatte sie die meiste Zeit ziemlich nervig gefunden. Mehr noch als meine Schwester. Zu manchen Zeiten war sie mir sogar wie eine ungewollte, weitere Schwester vorgekommen, die viel zu viel Aufmerksamkeit von meinen Eltern erhalten hatte, die mir gegenüber immer schon am strengsten gewesen waren. Weder Hannah noch Florentine hatten je die Härte zu spüren bekommen, die mein Dad mir gegenüber aufgebracht hatte. Als sein ältester Spross, der die Familiengeschäfte einst übernehmen sollte, hatte er mich schon früh darauf vorbereitet, was Arbeit und Erfolg bedeuteten. Gleichzeitig zu sehen, wie den Mädchen alles buchstäblich zugeflogen war, hatte mich in meiner besonders rebellischen Phase mit Eifersucht und auch Wut erfüllt – und das wiederum hatte zumindest Florentine mehr als einmal zu spüren bekommen. Sicherlich der Hauptgrund, wieso wir nie eine sonderlich gute Beziehung zueinander gehabt hatten, obwohl sie ein konstanter Teil meines Lebens gewesen war – zumindest, bis das Studium unsere Wege getrennt hatte. Seltsamerweise waren all diese Gefühle jedoch plötzlich wie verflogen; stattdessen spürte ich, dass ihre offenkundige Ablehnung mich provozierte. Einmal mehr ertappte ich mich dabei, wie ich Florentine beobachtete. Sie aß ihre Portion mit wesentlich mehr Genuss, als ich es ihr im Zusammenhang mit der angespannten Stimmung zugetraut hätte. Aber das passte zu dem Eindruck, den ich schon früher von ihr erhalten hatte. Florentine genoss das Leben in vollen Zügen. Vermutlich war ihr nicht einmal bewusst, was für ein sinnlicher Mensch sie war …

Ein weiteres Mal spürte ich, wie Hannahs Fuß gegen mein Schienbein stieß. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu – und las überdeutlich die Warnung in ihren Augen.

Lass sie in Ruhe.

Nun.

Ich war ein Mann. Ich war sicherlich in mancher Hinsicht ein Arschloch. Ich wollte mich wirklich an die Regeln halten, aber wenn Hannah mich so dermaßen unter Druck setzte, kam ich nicht umhin, eine gewisse Rebellion zu verspüren. Ich sollte Florentine in Ruhe lassen, Gott weiß wieso.

Und genau deshalb konnte ich kaum an etwas anderes denken.

Genau die Art von Ablenkung, die ich aktuell gar nicht gebrauchen konnte. Oder umso mehr. Ich konnte mich nicht entscheiden.

So schnell konnte es also gehen. Eben noch in einer glücklichen Zweier-WG mit Hannah, nun plötzlich ein ungewolltes Trio. Ich hatte mich immer noch nicht an diesen Umstand gewöhnt – und wusste auch nicht, ob ich das überhaupt jemals wollte.

Die ersten Tage war Paul jedenfalls nicht viel mehr als eine Art Geist. Wenn er an jenem ersten Abend nicht an unserem Tisch gesessen und mit viel Appetit von meinem Auflauf gegessen hätte, hätte ich mir beinahe einreden können, sein Einzug wäre doch nur ein schlechter Witz gewesen.

Wenn es doch nur so einfach wäre!

Doch er war unbestreitbar da. Er besetzte unser ehemaliges Wohnzimmer, nutzte das Bad und die Küche. Zumindest waren das zusätzliche, schmutzige Geschirr und der unbestreitbar männliche Duft, der aus Hannahs Bad drang, untrügliche Hinweise. Paul schien nur … einen anderen Tagesrhythmus zu haben. Zwar konnte ich nicht hundertprozentig sicher sein, aber ich glaubte, dass er erst schlafen ging, wenn wir morgens die WG verließen, um zur Uni zu gehen. Oft ertönten erst am späten Nachmittag oder Abend die ersten konstanten Geräusche aus seinem Zimmer, und selbst dann lief ich ihm kaum über den Weg. Es fiel mir schwer, positive Gedanken für ihn zu finden. Seine offenkundige Lebensweise kam mir wie pure Ironie vor – und so passend. Der reiche, arrogante Schnösel, der schon in seiner Jugend einen exklusiven Lebensstil gepflegt hatte, führte ihn hier weiter. Schlafen bis in die Puppen, Nachtleben – wer wusste schon, wie er sich die Zeit vertrieb? Es musste ihn jedenfalls echt nerven, plötzlich von uns abhängig zu sein. Hundertprozentig hatte Hannah ihm verboten, Frauen mitzubringen. Wie lange er das wohl mitmachen würde? Wie lange wir das mitmachen würden?

Während die Temperaturen schlagartig fielen und sich der erste Schnee ankündigte, versuchte ich, mit dem Chaos klarzukommen, das Pauls Einzug in mir ausgelöst hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---