Weil ich dich verstehe - Emma S. Rose - E-Book

Weil ich dich verstehe E-Book

Emma S. Rose

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Beschreibung

Die Welt ist viel mehr als nur ein Spiel. Obwohl Timo Mitglied der Gruppe JumpSquad ist, gilt ihm am wenigsten Aufmerksamkeit. Er ist der Mann hinter der Kamera. Bisher war es ihm nur recht, nicht überall erkannt zu werden, doch seit seine Freunde in glücklichen Beziehungen stecken und sein eigenes Herz zum wiederholten Male gebrochen wurde, fühlt er sich zunehmend isoliert. Dabei wünscht er sich nichts sehnlicher, als endlich anzukommen. Tasha ist Einzelgängerin. Vor zwei Jahren zog sie her, um ihre Wunden zu lecken – alleine. Bis Timo ihr über den Weg läuft. Er ist ihr sofort sympathisch, und als er sich eines Abends betrinkt, bewahrt sie ihn vor einem Absturz. Schnell stellt sie fest, wie verletzt er ist, und beschließt, ihm zu helfen. Er lenkt sie ab. Er ist keine Gefahr für ihre Gefühle. Oder etwa doch? Können die beiden spielen, ohne ihr Herz erneut zu verlieren?

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WEIL ICH DICH VERSTEHE

EMMA S. ROSE

Weil ich dich verstehe

Emma S. Rose

 

1. Auflage

September 2019

© Emma S. Rose

Rogue Books, Inh. Carolin Veiland, Franz - Mehring - Str. 70, 08058 Zwickau

[email protected]

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von Look Studio (Frau) / Shutterstock

Alle Rechte sind der Autorin vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung und Vervielfältigung - auch auszugsweise - ist nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung der Autorin gestattet.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes in andere Sprachen, liegen alleine bei der Autorin. Zuwiderhandlungen sind strafbar und verpflichten zu entsprechendem Schadensersatz.

Sämtliche Figuren und Orte in der Geschichte sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit bestehenden Personen und Orten entspringen dem Zufall und sind nicht von der Autorin beabsichtigt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Für alle, die ein gebrochenes Herz haben.

Gebt nicht auf.

Nicht zu bekommen, was man will, ist manchmal ein großer Glücksfall.

DALAI LAMA

INHALT

1. Timo

2. Tasha

3. Timo

4. Tasha

5. Timo

6. Tasha

7. Timo

8. Tasha

9. Timo

10. Tasha

11. Timo

12. Tasha

13. Timo

14. Tasha

15. Timo

16. Tasha

17. Timo

18. Tasha

19. Timo

20. Tasha

21. Timo

22. Tasha

Epilog

Danksagung

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Über den Autor

1

TIMO

Einer für alle – alle für einen.

Niemals hat die Geschichte wahrere Worte geschrieben, die gleichzeitig so unfassbarer Bullshit sind.

Seufzend lasse ich meinen Blick über die monströse Anzahl an Bierkästen und Schnapsflaschen schweifen, die die gesamte Arbeitsfläche unserer Küche in Beschlag nehmen. Ein paar Kästen stapeln sich auf dem Boden davor, und auch einen guten Teil des Kühlschranks füllen die Flaschen aus. Unmengen an Alkohol, die nur darauf warten, von uns und unseren Gästen verputzt zu werden. Gäste, die zwar gebeten werden, auch etwas mitzubringen – aber wir stehen schließlich nicht an der Tür und kontrollieren. Bisher ging es immer gut, jeder hatte seinen Spaß. Und wer wollte, hatte genug Alkohol, um sich ordentlich einen hinter die Binde zu kippen.

Spaß. Belanglosigkeit. Gute Musik.

Nicht zum ersten Mal fühle ich bei diesem Ausblick Widerwillen.

Die Jungs rücken ein paar Möbel im Wohnzimmer umher, dumpfe Bässe dringen an mein Ohr, und der glasklare Klang von Helenas Gelächter schneidet einmal quer durch meine Seele. Maik ruft etwas, das eindeutig an sie gerichtet ist, und ein zweiter, noch tieferer Schnitt hinterlässt eine weitere Wunde.

Ein lautloses Stöhnen entkommt meinen Lippen, und meine Hand fährt unbewusst zu meiner Brust. Ich muss hier raus. Ich kann das nicht. Nicht heute. Sorry, Leute – ohne mich.

Meine Wangen brennen, und ich spüre diese Wut unter meiner Oberfläche brodeln. Mittlerweile kenne ich sie gut genug, um sie als alte Freundin zu bezeichnen, aber es gab eine Zeit, in der es solch heftige Gefühle selten in mir gegeben hat. Der immer ausgeglichene, ruhige Timo? Vergangenheit, verdammt nochmal. Und ich kann genau sagen, wann es zu diesem Umbruch bekommen ist.

Ich definiere mich neuerdings gerne in »vor Helena«. Und traurigerweise eben auch in »danach«.

Schlimmer als die Wut ist jedoch die drückende Enge, die sich um meinen Brustkorb legt. Ich habe eine Weile gebraucht, um dieses Gefühl einzuordnen. Viel schwerer zu identifizieren als Wut, Freude, Irritation und all diese typischen Regungen, die man mehrmals täglich spürt. Denn das – das ist wirklich neu.

Hektisch lasse ich ein letztes Mal meinen Blick schweifen. Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, mir eine Flasche Wodka zu schnappen und alleine loszuziehen. Mir einen ruhigen Ort abseits zu suchen, den Schnaps zu köpfen und gegen dieses Gefühl anzukämpfen. Doch das geht zu weit. Alleine auf einer Parkbank abstürzen? Ich bin ziemlich tief gesunken, aber einen Rest Würde habe ich mir bewahrt. Also nehme ich mir nur einen der vier verbliebenen Isodrinks aus dem Kühlschrank und wende mich ab, ehe ich doch noch eine richtig beschissene Entscheidung fälle.

An der Haustür zögere ich, hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, von hier fortzukommen, und dem Wissen, dass meine Freunde sich womöglich sorgen werden, wenn ich einfach so verschwinde. Gerade, als ich glaube zu wissen, was ich tue und einmal mit meinem Schlüsselbund klimpere, betritt niemand anderes als Jo den Flur. Von all den anderen ist er wohl die beste Alternative. Unsere Blicke treffen sich – und verflucht. Die Enge in meiner Brust wird beinahe unerträglich, als ich das Mitgefühl in seinen Augen wahrnehme.

Ich korrigiere mich. Ganz beschissene Alternative.

»Alles okay, Kumpel?«

Für einen Moment presse ich meine Zähne aufeinander – so fest, dass ich glaube, mein Kiefer bräche auseinander. Dann mache ich eine Bewegung, die Nicken und Kopfschütteln zugleich ist. »Wird schon. Ich muss nochmal weg. Ich werde -«

»Schon gut. Ich verstehe.« Jo unterbricht mich, ehe ich ein Versprechen gebe, das ich womöglich nicht einhalten werde. Und ich weiß, dass er es ernst meint. Er versteht mich wirklich. Jo ist so etwas wie der Ruhepol in dieser WG, und viel früher als so manch anderer hat er meine inneren Konflikte durchschaut.

Weil die Enge mittlerweile meinen Hals erreicht hat, nicke ich erneut, ehe ich endlich den erlösenden Schritt wage und das erste Mal, seitdem wir zu unseren legendären Hauspartys laden, verschwinde, ehe es überhaupt losgeht.

Das Schlimmste daran: Zu wissen, dass mich wahrscheinlich sowieso niemand vermissen wird.

Willkommen in meinem Leben.

* * *

Einer für alle – alle für einen.

Jepp. Das war mal unser Motto. Ist es noch immer, irgendwie. Während ich planlos durch die frühabendlichen Straßen laufe, muss ich darüber nachdenken, wie es war, als wir uns gefunden und die WG gegründet haben. Uns einte die Leidenschaft für Sport, die Faszination für Parkour. Wir machten Nägel mit Köpfen, gingen viral, wurden zu JumpSquad. Die coole Truppe. Die Jungs von der Uni, die die Welt zu ihrem Spielplatz machen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Nur, dass so vielen gar nicht klar ist, dass auch ich ein Teil davon bin, weil man mich auf den offiziellen Videos nahezu niemals sieht – ich bin der Kameramann. Der Mann im Hintergrund, der die Stunts filmt und schneidet und für das Endprodukt sorgt, das später im Netz zu sehen ist. Der Typ, der extra einen Sommerjob angenommen und Überstunden gekloppt hat, um sich seine Kamera zu kaufen; eine Sony Alpha 6500. Mein ganzer Stolz – aber darüber muss ich mit niemandem reden. Versteht sowieso keiner.

Außer Helena.

Bei den öffentlichen Trainings bin ich mit am Start und zeige, dass auch ich mich gerne frei bewege. Grenzenlos. Obwohl mir das nicht immer reicht, stand es noch nie außer Frage, dass ich diesen Part übernehme. Im Rahmen meines Studiums der Medienwissenschaften habe ich ein gesteigertes Interesse für jede Arbeit rund ums Filmen und will später beruflich in diese Kerbe schlagen – ein perfektes Übungsfeld für mich.

Außerdem hat es mich nie gestört, im Hintergrund zu sein. Eigentlich tut es das noch immer nicht. Ganz sicher empfinde ich es nicht als Strafe.

Wenn es denn nicht neuerdings den beschissenen Druck auf meiner Brust verstärken würde. Den Druck, den ich endlich, endlich verstanden habe. Nach nächtelangen Grübeleien, inneren Bestandsaufnahmen und einem sehr Gin-lastigen Abend – nicht mit meinen Freunden, sondern alleine –, war es mir auf einmal klar.

Es ist Einsamkeit. Und dann auch noch eine ganz spezielle Form. Keine reine Sehnsucht, kein Bedürfnis nach Nähe im Allgemeinen. In einer WG mit drei Jungs herrscht eigentlich nie Ruhe. Nein. Es ist Einsamkeit, durchzogen mit Neid.

Neid auf das Glück meiner Freunde – bei einem von ihnen sogar ganz speziell.

Einer für alle, alle für einen. Das zählte mal, als wir noch zu viert waren. Als es nur uns gab, Parkour, das zugehörige Workout, Seminare und Playstation-Duelle an entspannten Abenden. Damals war es unkompliziert. Das erste Mal in meinem Leben lebte ich in einem reinen Männerhaushalt, genoss die Einfachheit, aber auch das bedingungslose Vertrauen in meine Freunde – denn ganz ehrlich, ohne könnten wir nicht gemeinsam eine solche Art von Sport betreiben.

Aber dann kamen die Mädchen.

Der Druck in meiner Brust wird heftiger. Frustriert reibe ich mit der Faust über die schmerzende Stelle, doch dadurch wird es nicht besser, im Gegenteil. Verdammt nochmal. Ich habe nichts gegen Frauen. Hatte ich noch nie. Ich schätze sie, ja, aber ich habe im Laufe der Jahre ein ums andere Mal einige sehr schmerzhafte Erfahrungen machen müssen, die mir einen sehr deutlichen Stempel aufgedrückt haben. Lange Zeit habe ich mich dagegen gewehrt. Habe versucht, dagegen anzukämpfen, wollte es nicht glauben. Mittlerweile jedoch ist mir klar, dass ich mich meinem Schicksal ergeben habe.

Ich bin der Inbegriff der Friendzone.

Wütend reibe ich weiter über meine schmerzende Vorderseite. Ich habe keine Lust mehr auf den Scheiß. All die Jahre habe ich zusehen müssen, wie jeder um mich herum ein Mädchen fand. Oder wahlweise auch mehrere. Immer wieder waren welche dabei, die auch mich interessiert haben, doch der Ablauf war immer der gleiche: Sie hingen mit mir ab, aber vögelten mit meinen Freunden.

Nicht, dass es mir nur um den Sex geht. Das war noch nie mein alleiniges Ziel.

Aber einmal – ein einziges Mal möchte ich erleben, dass ich genüge. Dass ich mehr bin als ein sexuelles Neutrum. Ich will mehr sein als der Wohlfühl-Kumpel. Und verdammt nochmal, ich will nie wieder ein gebrochenes Herz haben. Meine aktuellste Erfahrung darin, als Partner nicht auszureichen, gar nicht erst in Erwägung gezogen zu werden, hat bereits so desaströsen Schaden angerichtet, dass ich überhaupt nicht weiß, wie ich es wieder vollständig zusammensetzen soll.

Ein weiterer Schlag aus dieser Richtung, und ich werde aufgeben müssen.

Ich bin ja jetzt schon kurz davor.

Der würzige Geruch von Käse, Knoblauch und Brot dringt in meine Nase. Ich hebe überrascht den Kopf und stelle fest, dass ich wohl doch nicht ganz so planlos durch die Gegend gelaufen bin wie gedacht. Ohne es zu bemerken, habe ich in der vergangenen halben Stunde meine Schritte ins Zentrum gerichtet, bis ich vor einem sehr bekannten Italiener halt gemacht habe.

Ich schüttle den Kopf, unsicher, ob ich belustigt oder irritiert sein soll. Immerhin lüftet sich so etwas von dem Druck auf meiner Brust. Zumindest für den Moment.

Seufzend werfe ich einen Blick durch die gläserne Front und sehe, dass ein guter Teil der Tische besetzt ist – aber eben nicht alle. Eigentlich habe ich keinen sonderlichen Appetit. Ich bin derart in meinem Selbstmitleid versunken, dass ich Galle schmecke und ganz bestimmt keinen Bock auf Pizza oder Pasta habe.

Und doch – nach einem kurzen Zögern betrete ich die Trattoria. Nicht, weil ich es geplant habe. Nicht, weil ich denke, dass es die beste Idee ist, in ein Restaurant zu gehen, das von Freunden und Pärchen bevölkert sein wird, wo ich selbst doch gerade mit der einschnürenden Einsamkeit zu kämpfen habe, die mir mehr und mehr zu schaffen macht.

Sondern lediglich, weil es mir wie die einzige Option erscheint, um nicht vollends durchzudrehen. Vielleicht habe ich ja Glück und Tasha arbeitet an diesem Abend. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mich mit ihren lockeren Sprüchen auf andere Gedanken bringt.

Erst einmal im Inneren, stelle ich fest, dass sogar noch mehr los ist, als ich angenommen habe. Ich muss einige Minuten warten, ehe ein Kellner in meine Richtung kommt, um mir einen Tisch zuzuweisen. Es ist mein vierter Besuch in den letzten zwei Wochen, und ich bilde mir ein, dass der Typ mich erkennt. Vielleicht sieht er sogar ein bisschen mitleidig aus – aber ich versuche, nicht näher darüber nachzudenken, sonst verlasse ich das Restaurant doch wieder, und dann kann ich nie mehr zurückkommen. Zumindest einen Rest meines Stolzes muss ich mir bewahren.

Gott sei Dank hat er einen Tisch für mich. Keinen von der Sorte, wie Pärchen sie zu einem romantischen Date haben wollen, am Fenster oder in einer der privaten Nischen, aber nahe an der Küche, und wenn man bedenkt, dass ich auf Tashas Gesellschaft hoffe, ist das gar nicht so verkehrt.

Auch wenn sie vermutlich gar keine Zeit haben wird, mit mir zu quatschen, selbst wenn sie da ist. Ich brauche nur einmal meinen Blick schweifen lassen, um zu bemerken, dass die Kellner alle Hände voll zu tun haben.

Was zur Hölle tue ich hier eigentlich?

Ich versuche, niemandem auf den Teller oder in die Augen zu sehen, während ich den Platz ansteuere, der mir zugewiesen wurde. Gedankenverloren reibe ich meine Brust, die sich erneut mit Schwere füllt, und ziehe in Erwägung, Jo eine Nachricht zu schicken. Oder Daniel. Kurz wandern meine Gedanken sogar zu Helena, doch das löst nichts als einen weiteren scharfen Schmerz in meiner Magengrube aus, also beschließe ich, mich bei niemandem zu melden. Jo weiß, dass ich abgehauen bin.

Mehr müssen die Jungs vorerst nicht wissen.

Ein schräges Gefühl, alleine in einem Restaurant zu sitzen – ohne auf jemanden zu warten, der sich dazugesellen wird. Meine vergangenen Besuche hier hatten genau dieses Ziel: Verabredungen mit Frauen, die ich über eine Dating-App kennengelernt habe. Verzweifelte Versuche, jemanden zu finden, der mehr in mir sieht als einen Kumpel – und der mich davon ablenkt, dass ich einen weiteren Korb eingeholt habe. Einen, der beinahe meine Freundschaft zu Maik zerstört hat und der mir jeden Tag aufs Neue unter die Nase gerieben wird.

Ich schätze, ich muss nicht betonen, dass kein einziger Versuch von Erfolg gekrönt war.

Als ich mir nun die Karte schnappe, ist das nichts weiter als ein Akt der Verlegenheit. Ich bin alleine in einem Restaurant, an einem Samstagabend, während jeder andere um mich herum ein normales Sozial- und Liebesleben führt. Ich habe einer Party in unserem Haus den Rücken gekehrt, um hier zu sitzen – also muss ich ein Mindestmaß an Normalität wahren und der Etikette folgen.

Und die besagt, dass ich ein Gericht auswählen muss, selbst wenn ich eigentlich schon genau weiß, was ich bestellen werde, wenn denn -

»Timo!«

Jackpot. Nun lüftet sich ein beträchtlicher Teil des Drucks auf meiner Brust. Ich lasse die Karte sinken, um in die erfreute, aber auch überraschte Miene der Kellnerin zu schauen, deren Gesellschaft ich mir nach meiner unbewussten Flucht hierher am meisten gewünscht habe.

»Tasha.« Ich schenke ihr ein, so hoffe ich, glaubhaftes Lächeln. Da sie als Reaktion ihre Stirn in Falten legt, ahne ich jedoch, dass meine Mission nicht geglückt ist.

»Heute ohne Rose?«

Hm, ja. Mein Erkennungszeichen der vergangenen Dates war nicht gerade sehr einfallsreich. Eine langstielige Rose, die auf mich aufmerksam machen sollte. Zwar ist mein Bild relativ aussagekräftig, aber man weiß ja nie. Tasha hat es sich zur Gewohnheit gemacht, mich damit aufzuziehen. Kein Wunder also, dass ihr das Fehlen ebendieser sofort aufgefallen ist. »Tja, was das angeht ...«

»Du siehst anders aus als sonst. Was ist los?« Ohne eine Antwort abzuwarten, gleitet sie auf den Stuhl mir gegenüber. Ihr Blick zuckt einmal Richtung Küche, und ich vermute, dass sie sich diese Zeit gar nicht nehmen kann. Dennoch tut sie es.

Und das freut mich mehr, als es sollte.

Ich zucke mit den Schultern. »Heute keine Verabredung. Ich bin ... nur durch Zufall hier gelandet.«

Tasha hebt ihre linke Augenbraue beinahe im Zeitlupentempo und verleiht ihrer Miene einen untrüglich skeptischen Ausdruck. Sie muss die Worte gar nicht erst aussprechen, ich weiß auch so, was sie denkt.

Kein Mitleid, schießt es mir durch den Kopf. Wenn auch sie mich nun mitleidig ansieht, muss ich auf diesen Laden verzichten. Dann springe ich auf der Stelle vom Stuhl, haue ab und komme nie wieder.

Aber sie erstaunt mich. Nicht Mitleid blitzt in ihrer Miene auf, sondern vielmehr eine Ernsthaftigkeit, die mich noch viel mehr trifft, wenn auch auf andere Art und Weise.

»Okay, Mister Timo-Zufall. Du bleibst heute also alleine?«

Danke, dass du es so betonst. »Ja.«

Sie nickt mir zu, und als ihre Mundwinkel nun in die Höhe wandern, hat ihr Lächeln etwas Sanftes, das mich direkt entspannt. »Ich nehme an, wie immer?«

Ich überlege eine ganze Weile, versinke dabei in ihren Augen, die je nach Lichteinfall eine andere Farbe zu besitzen scheinen. Heute ein helles Blau, das in einem interessanten Kontrast zu den rosafarbenen Strähnen in ihrem ansonsten blonden Haar steht. Ich wette, dieser Laden bekommt eine Menge mehr Gäste und Trinkgeld, seitdem sie hier arbeitet. »Fast«, antworte ich schließlich. »Ich nehme die Pizza wie immer, und vorweg Bruschetta. Aber dazu hätte ich gerne einen Gin Tonic.« Ich überlege kurz. »Und ein Wasser.«

Falls meine Getränkewahl sie irritiert – bisher bin ich ausschließlich nüchtern geblieben – lässt sie es sich nicht anmerken. Sie nickt mir zu, immer noch lächelnd, tippt meine Bestellung in ihr Smartpad, und räumt dann das zweite Gedeck ab.

Als wenn es den Umstand, alleine Essen zu gehen, weniger deprimierend macht, wenn der Tisch nur für mich eingedeckt ist.

Immerhin ist mein Appetit zurückgekehrt.

Ich muss kleinschrittig denken.

* * *

Mann, ist dieses Mädchen flink. Während ich mir meine Vorspeise schmecken lasse – so langsam wie möglich, ohne zu wirken, als würde ich Zeit schinden –, beobachte ich sie. Sie und jeden anderen Mitarbeiter, der an mir vorbei hetzt. Selten mit freien Händen, mit diesem angestrengten Lächeln, das höflich wirken soll und den Stress überdeckt, den sie haben. Tasha ist die Einzige, der ich es abnehme.

Und sie ist auch die Einzige, die ab und an für einen kurzen Moment bei mir stehen bleibt, mit mir plaudert, nachfragt, ob es schmeckt, und mich anlächelt. Daher ist sie es auch, bei der ich einen zweiten Gin Tonic bestelle. Und einen dritten zur Pizza. Und noch zwei weitere zum Nachtisch.

Der Alkohol bewirkt zweierlei. Zum einen glättet er die scharfen, schmerzenden Kanten in meiner Brust. Zum anderen erzeugt er eine Gleichgültigkeit dem Umstand gegenüber, dass ich wie ein einsamer Loser an meinem Tisch sitze, während um mich herum geflirtet und gelacht wird.

Sei’s drum. Ich habe meinen Gin. Und ich habe Tasha, die mir in Windeseile Nachschub bringt, wenn ich ihn verlange.

Es könnte mir bedeutend schlechter gehen.

2

TASHA

Der Kerl ist betrunken.

Nein, ich korrigiere mich. Er ist nicht nur betrunken, sondern regelrecht besoffen.

Als ich Timo heute an einem unserer Tische gesehen habe, hat mich sein Anblick in erster Linie erfreut. Er ist ein netter Kerl, den man aufziehen kann, ohne dass er sich deshalb gleich auf den Schlips getreten fühlt. In den vergangenen Wochen war er immer mit anderen Mädchen hier, hat sie nervös erwartet, mit einer blöden Rose als Erkennungszeichen, so wie früher, als man Blind-Dates über Zeitungsannoncen vereinbart hat. Zumindest stelle ich es mir genau so vor. Ein bisschen spießig, ein bisschen schräg – und deshalb irgendwie süß. Seine Aufregung war jedes Mal deutlich spürbar. Unruhige Hände, die er ständig über seine Oberschenkel gerieben hat. Wippende Knie, die jeden Sitznachbarn wahnsinnig gemacht hätten - und vielleicht auch haben. Hektisch umherschweifende Blicke. Und dazu dieses angestrengte Grinsen. Eines von der Sorte, das irgendwann die Mundwinkel zum Zittern bringt, weil es nicht natürlich ist, sondern durch pure Willenskraft erzwungen; der Entschluss, fröhlich zu wirken.

Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.

Andere Kerle hätte ich spätestens nach dem zweiten, vielleicht auch dritten Date abgehakt. Als einen Womanizer, der derart viele Mädchen in kürzester Zeit aufreißt, oder auch als Nerd, der es nicht gebacken kriegt, bei einer zu landen, und mittlerweile dezent verzweifelt ist.

Aber es hat nur wenige Minuten gedauert, ein paar gewechselte Sätze, und ich habe ihn sofort anders eingeschätzt. Er ist nett. Was auch immer ihn gerade antreibt, er ist kein Arschloch. Er war stets höflich – zu mir, zu den Frauen, zu meinen Kollegen. Zumindest soweit ich das einschätzen kann. Er hat immer gutes Trinkgeld hinterlassen, ein paar nette Worte für mich und den Koch übrig gehabt – und er ist definitiv nicht negativ aufgefallen.

Genau deshalb erinnere ich mich an ihn.

Und genau deshalb bemerke ich auch, dass heute etwas anders ist.

Obwohl es mich gar nichts angeht, mache ich mir Sorgen, weil sein Pegel immer und immer höher steigt. Ganz abgesehen davon, dass er bei früheren Besuchen nie auch nur ein Mischbier bestellt hat, wirkt er heute nicht, als würde er nur genießen. Ihn umweht eine Aura von Verzweiflung – und das ist weiß Gott eine beschissene Kombination.

Aber wer bin ich, ihm zu empfehlen, auf Wasser umzusteigen? Auch ich habe Abende wie diesen gehabt.

Allerdings ist es nicht nur der Alkohol, der mich stutzig macht.

Bei jedem anderen vergangenen Besuch hatte er sich stets nett hergerichtet. Hemd zur Jeans. Das Haar ordentlich, Gesicht rasiert. Perfekter-Schwiegersohn-mäßig. Heute jedoch wirkt er, als wäre er überstürzt aufgebrochen, von wo auch immer er kommt. Definitiv nicht bereit für ein Date – das er ja auch offensichtlich nicht hat, wenn man von seiner zweifelhaften Allianz mit dem Alkohol absieht.

Das lässige, dunkelrote Shirt steht ihm gut. Ich würde behaupten, besser als seine üblichen Hemden. Und dass seine Haare aussehen, als hätte er sie sich mehrfach gerauft, lässt ihn längst nicht mehr so akkurat aussehen. Immer noch ausreichend – aber nicht mehr ganz so spießig. Außerdem sind seine Arme wesentlich muskulöser, als ich es vermutet hätte – und da er sich ständig den Nacken oder das Gesicht reibt und ein Glas nach dem anderen leert, bekomme ich ausreichend Möglichkeiten, das Muskelspiel zu beobachten.

Vor allem aber sind es seine Augen, die mich wirklich nachdenklich stimmen. Sie wirken traurig – und leer. Gepeinigt.

Nur deshalb stelle ich keine Fragen, denn ich kenne das Gefühl. Ich kenne es zu gut. Und ich weiß, dass er den Alkohol gerade braucht – auch wenn er es morgen vielleicht bereuen wird. Also ja. Es fühlt sich nicht besonders gut an, auch nicht sonderlich klug, aber ich bringe ihm seinen Gin, wenn er ihn ordert, ich wechsle ein paar freundliche Worte mit ihm, und ich stelle mich ihm nicht in den Weg. Vielleicht macht mich das zu seinem unfreiwilligen Komplizen – aber sei’s drum. Er ist erwachsen genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Gegen halb zehn ist meine Schicht vorbei. Ein paar Kollegen murren auf, als ich stöhnend durch die Küche laufe und mich von ihnen verabschiede – nicht jeder von uns kann schon gehen. Dafür ist noch zu viel los. Aber da ich bereits acht Stunden hier bin, ist meine Zeit abgelaufen. Ich unterdrücke ein Gähnen und steuere gerade den Mitarbeiterraum an, als mir Oswald in den Weg tritt. Ein Hüne von Mann, mit wilder Mähne und dunklen Augen, die meistens einschüchternd wirken, doch hinter all dieser Bärenfassade steckt ein sanfter Kerl mit weicher Stimme und noch weicherem Herzen. Nun mustert er mich irritiert – und wenn Oswald wegen etwas irritiert ist, sollte man aufpassen.

Das kommt nämlich verdammt selten vor.

»Natasha – wer ist dieser junge Mann, der an Tisch 4 sitzt?«

Oh, oh. Ich wusste, dass ich noch die Quittung dafür bekommen würde, ab und an mit ihm gequatscht zu haben. Unbehaglich begegne ich seinem Blick, doch da ist keine Wut. Lediglich die bereits erkannte Irritation – und vielleicht auch etwas Neugierde.

Ich atme tief durch. »Er war in den vergangenen Wochen einige Male hier. Ich glaube, er hat ein gebrochenes Herz. Auf jeden Fall trinkt er ein bisschen viel -«

»Ganz genau.« Oswald reibt sich durchs Gesicht, und ich sehe, wie rote Flecken auf der wenigen, nicht bärtigen Fläche erscheinen. »Hör mal, du scheinst einen Draht zu ihm zu haben. Ich weiß, das ist zu viel verlangt, aber ich will ihn nicht einfach rausschmeißen. Wenn er jedoch so weiter trinkt -«

Meine Augenbrauen wandern in die Höhe. Fragt er mich gerade etwa ernsthaft ...?

Japp, nun wirkt er definitiv peinlich berührt. »Könntest du also, äh ...«

Ich beschließe, ihn zu erlösen. Oswald, der große, gutmütige Brummbär. »Du möchtest mich gerade darum bitten, dass ich ihn raus schaffe, richtig?«

Er nickt. Mehr nicht. Und an der Bewegung des Barts lese ich ab, dass er seine Lippen aufeinanderpresst. Die Situation ist ihm offensichtlich sehr unangenehm.

Nun – für ihn vielleicht. Ich dagegen atme tief durch. Seine ungewöhnliche Bitte ist tausend Mal besser als die erwartete Standpauke, weil ich trotz des Betriebs zu viel herumgetrödelt habe. Lächelnd lege ich meine Hand auf seinen Oberarm und drücke einmal zu. »Kein Problem. Ich ziehe mich schnell um, dann gehe ich nach vorne und sorge dafür, dass er ohne Aufhebens geht.«

Oswald nickt mir dankbar zu. »Du bist die Beste, Natasha. Wenn wir dich nicht hätten -«

»Hättet ihr wen anders.« Grinsend zwinkere ich ihm zu und gehe nicht darauf ein, dass er mich bei meinem vollen Namen nennt. Er ist der einzige, der das darf. »Stets zu Diensten, Sir.«

Sein Schnaufen begleitet mich quer durch die Küche, während ich lachend meinen Plan umsetze.

Erst, als ich mein Arbeitsoutfit gegen zerrissene, schwarze Jeans und ein grünkariertes Hemd eingetauscht habe, denke ich darüber nach, was ich machen soll, falls Timo sich weigern sollte, mitzukommen. Ich bin ein offener Mensch und ich glaube, dass wir uns verstehen. Aber ich kenne ihn nicht ausreichend, um ihn wirklich einschätzen zu können. Er ist auf irgendeinem Depri-Trip, und ich will es nicht noch schlimmer machen, indem ich ihm das Gefühl gebe, nicht mehr willkommen zu sein.

Fingerspitzengefühl. Besitze ich durchaus, allerdings nicht zuverlässig abrufbar. Ich muss hoffen, dass ich mich vernünftig anstelle und die richtigen Knöpfe drücke.

Einerseits will ich Oswald aus dieser Bredouille retten, andererseits will ich Timo nicht vor den Kopf stoßen, und vor allem ... tja. Keine Ahnung.

Ich werde es sehen.

Auf jeden Fall ist mein Feierabend gerade um einiges interessanter geworden.

Seufzend reibe ich meine Hände aneinander, während ich zurück in den immer noch relativ gut gefüllten Gastraum schlüpfe. Mein Blick fällt sofort auf meinen betrunkenen Beinahe-Stammgast, und sein Anblick jagt mir einen Schauder über den Rücken.

Seine Einsamkeit ist so greifbar, dass ich meinen Entschluss, ihn zum Gehen zu bewegen, beinahe in Frage ziehe.

Aber nur beinahe.

Mein Blick huscht über seinen gesenkten Kopf, fokussiert das leere Glas, und dann habe ich ihn schon erreicht.

»Hi, Mister Zufall.«

Sein Kopf hebt sich - aber weder schnell, noch sonderlich sicher. Mehr eine Art wackeliges Schwanken in meine Richtung. Seine Augen sind immer noch traurig und leer, doch etwas flackert in ihnen auf. Und sie sind ziemlich rot. »Hey.«

Er nuschelt. Oh Mann.

Kein gutes Zeichen.

Nun wird es Zeit, dass meine Spontaneität greift. Ich ziehe den Stuhl ihm gegenüber ein Stück hervor und gleite darauf, ohne Timo aus den Augen zu lassen. Er beobachtet mich mit gefurchter Stirn, und ich kann förmlich sehen, wie es dahinter rattert.

»Irgendwas ist anders«, bringt er hervor. Ich bin überrascht, wie gut er sich noch ausdrücken kann, obwohl er mittlerweile so viel Gin intus hat. Etwas verwaschen, ja, aber er kann sich noch artikulieren. Respekt.

Ich lege meinen Kopf schräg. »Den Gedanken hatte ich auch schon.«

Seine Lippen teilen sich, als wollte er etwas erwidern, und Röte flammt auf seinen Wangen auf. Wangen, die alles andere als glatt rasiert sind, sondern einen kleinen Bartschatten aufweisen – und weiß Gott, der Anblick gefällt mir. Wenn der Preis nicht so hoch wäre, würde ich ihm empfehlen, häufiger so herumzulaufen. Aber wenn es erfordert, dass er dafür so zerstört ist, soll er lieber wieder zum Saubermann werden.

Als er auch nach ein paar Sekunden stumm bleibt – und das trotz seines geöffneten Mundes –, zupfe ich an meinem Hemd. »Nun, könnte daran liegen, dass du mich das erste Mal in Straßenkleidung siehst. Ich habe eben Feierabend gemacht.«

Er blickt mich an, und ich zähle bis vier, ehe er schließlich reagiert. »Oh.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Oswald in den Durchgang zur Küche tritt. Auch seine Stirn ist in Falten gelegt, aber aus ganz anderen Gründen. Ich deute ein Nicken an, ehe ich mich wieder auf Timo konzentriere, der mich immer noch beobachtet, wenn auch mit leerer Miene, die beinahe noch schlimmer ist als seine Traurigkeit.

»Ich dachte mir, dass ich dich für heute erlöse«, beginne ich, ehe ich noch einmal darüber nachdenke.

»Erlöse?«

Ich zucke mit den Schultern. »Du hast lange genug alleine hier herumgesessen. Ich habe Feierabend. Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam abhauen?«

Erneut kommt etwas Leben in sein Gesicht. Seine Augen huschen über mein Gesicht, so als würde er nach einem Hinweis darauf suchen, ob ich ihn verarsche. In diesem Moment werde ich Zeuge einer Zerrissenheit, die mir alleine vom Zusehen schon Unbehagen bereitet – und fühle selbst einen gewissen inneren Widerstreit. Will ich mich wirklich hineinziehen lassen, in was auch immer hier gerade geschieht? Oder sollte ich lieber schleunigst das Weite suchen, Oswald dieses Problem überlassen und hoffen, dass Timo, sollte er noch einmal wiederkommen, nie wieder in einer solchen Verfassung ist?

Die Frage ist jedoch maximal rein hypothetisch, meine Entscheidung bereits klar – erst recht, als Timo mir schließlich antwortet.

»Was? Ich meine, wieso solltest du das tun wollen?«

Hoffnung, Unglaube – und dieser traurige Blick. Das war‘s. Ich bin total verloren. »Tja, nun. Wieso eigentlich nicht? Alleine trinken ist doch auf Dauer uncool.«

Kurz flackert etwas in seinen Augen auf – ich frage mich, ob ich womöglich zu weit gegangen bin. Er wirkt verletzt. Doch dann schüttelt er den Kopf. »Du hast recht. Ja. Ich muss noch zahlen ...«

»Ich kümmere mich darum.« Lächelnd springe ich auf und husche noch einmal nach hinten, um ihn abzukassieren. Eigentlich auch nur fair, immerhin habe ich mich den gesamten Abend um ihn gekümmert. Erneut ist er großzügig, fast fünf Euro Trinkgeld sind überdurchschnittlich, nur dass es sich dieses Mal merkwürdig anfühlt. Ich spüre Oswalds Blick in meinem Rücken, während ich Timo nach draußen begleite. Dieses Mal verkneife ich es mir, seinem Blick zu begegnen, damit mein schwankender Begleiter nichts bemerkt. Käme mir nicht unbedingt hilfreich vor, wenn er sähe, wie ich ominöse Blicke mit anderen Mitarbeitern austausche. Er geht voraus, weshalb ich die Möglichkeit bekomme, ihn von hinten zu beobachten. Während er mit langsamen Schritten durch den Raum tapst, sehr offensichtlich darum bemüht, nicht zu betrunken zu wirken, wandert mein Blick hinab zu seinem Hintern. Mir scheint, dass ich seinen Körper bisher unterschätzt habe. Er hat eindeutig die Statur eines Sportlers – und ich frage mich unwillkürlich, was er wohl macht. Vielleicht Fußball?

Als er durch die breite Glastür ins Freie tritt, werde ich Zeuge eines altbekannten Phänomens: An der frischen Luft schlägt der Alkohol noch einmal heimtückisch zu. Timo läuft ein paar Schritte, wirkt, als würde er stolpern, und kommt dann schwankend zum Stehen. Mit ausgebreiteten Armen wendet er sich mir zu und fixiert mich mit weit aufgerissenen Augen. »Also, äh ... und nun?«

Er ist niedlich. Irgendwie wirkt er ein wenig tapsig auf mich, definitiv liebenswert. Trotz seines Pegels und der gesamten Trauermiene des Abends. Er ist wie ein ... niedergeschlagenes Hündchen, eines, das dringend ein bisschen Zuwendung braucht. Mein Herz zieht sich zusammen. »Sag mir, Timo Zufall, was hältst du davon, wenn wir dich nach Hause -«

»Nein!«

Erstaunlich. Für einen schwankenden Mann mit Pegel kommt dieses Wort sehr überzeugend über seine Lippen. Meine linke Augenbraue wandert in die Höhe. »Okay. Warum auch immer, aber okay. Was dann? Ich würde ja vorschlagen, dass wir noch in eine Bar gehen, aber ich verspreche dir schon jetzt, dass ich nicht lange durchhalten werde. Die Schicht war lang.«

»Kein Problem.« Das Nuscheln kommt wieder, und er schafft es kaum, meinem Blick zu begegnen. »Ich kann auch einfach abhauen. Ich -«

Nun bin ich diejenige, die bestimmt antwortet. »Nein.« Wieder dieser Stich in meinem Herzen. »Ich habe die perfekte Idee. Komm.«

Ohne seine Reaktion abzuwarten, greife ich nach seiner Hand – groß und kühl umschlingen mich seine Finger wie aus Reflex –, und dann ziehe ich ihn hinter mir her.

* * *

Die Nacht ist mild; eine angenehme Brise weht immer wieder durch die Straßen und vertreibt die schwüle Hitze der letzten Tage. Der Gedanke, Timo in irgendeine Bar zu schleppen, erschien mir bei genauerem Nachdenken wirklich nicht besonders klug. Er ist bereits betrunken genug, und in einer Bar kann ich schlecht kontrollieren, wie viel er nachlegt. Also springe ich kurz in einen 24h-Kiosk, lasse mich von dem düster blickenden alten Sack kritisch beäugen und bezahle meinen Einkauf in Windeseile. Die ganze Zeit über frage ich mich, ob Timo wirklich, wie befohlen, auf mich wartet, oder ob er bemerkt, wie abstrus diese Situation ist, und flüchtet.

Nicht, dass er so schnell spurlos verschwinden könnte. Sein Gang ist unsicher, seine Koordination nicht mehr die beste. Vermutlich wäre es ein Leichtes, ihn wieder einzusammeln.

Tatsächlich lehnt er nach wie vor an der Hauswand links vom Eingang und starrt auf seine Füße, als ich mit einer raschelnden Papiertüte wieder auf die Straße trete. Die spärliche Beleuchtung des Kiosks wirft mehr Schatten auf sein Gesicht als alles andere, doch als er seinen Blick hebt und mich durch seine Wimpern hindurch mustert, spüre ich erneut diesen Stich in meiner Herzgegend.

Grimmig umfasse ich den Beutel fester.

»Komm. Es ist nicht mehr weit.«

»Für welche Bar brauchen wir denn das?«, murmelt er langsam, stößt sich aber von der Wand ab und folgt mir.

Ich glaube, Timo ist der erste Kerl in meinem Leben, der trotz Alkohol so höflich und normal ist. Unwillkürlich frage ich mich, wieso jemand wie er sich ständig mit anderen Frauen trifft oder sich alleine in einem Restaurant betrinken muss. Irgendwo gibt es doch sicherlich ein kleines, schüchternes, zierliches Mädchen, das ihn mit Vorliebe nehmen würde – ja. Genau so stelle ich mir zumindest eine Freundin für ihn vor.

»Ich nenne sie ‚Tashas persönliche Ruhestätte‘«, erkläre ich ihm zwinkernd.

Wir laufen die Straße hinab, bis sie eine Linkskurve macht. Anstatt ihr zu folgen, überqueren wir sie, um über einen kleinen Trampelpfad zwischen zwei leerstehenden Gebäuden auf einen Hinterhof zu gelangen. Unkraut hat sich durch manche Fugen gekämpft, ragt teilweise fast einen Meter hoch, und unter einem wackeligen Vorbau stehen eine durchgesessene Couch mit grobem Cordmuster und ein Stapel Europaletten, auf denen unzählige Wachsreste von abgebrannten Kerzen zeugen, sowie leere Flaschen von vorherigen Besuchen.

»Was ist das hier denn?«, murmelt Timo verschwindend leise.

Ich zucke mit den Schultern, in dem vollen Bewusstsein, dass er mich nicht sehen kann. Hier hinten ist es beinahe stockdunkel. Ich trete zur Couch, wühle in dem Schlitz zwischen Armlehne und Sitzpolster, und ziehe eine Kerze und Streichhölzer hervor. Kurz danach wird das Sofa in flackerndes Licht gehüllt, das beständig gegen die Schatten ankämpft.

Lächelnd breite ich meine Arme aus. »Darf ich vorstellen? Einer der verlorenen Orte der Stadt. Ich habe ihn für mich beansprucht.«

Unsere Blicke treffen sich, und überraschenderweise flackert Empörung in seinen Augen auf. »Ist das dein Ernst? Das hier ist doch gefährlich!«

»Gefährlich?« Ich lache los, doch ehe ich noch etwas sagen kann, fährt Timo fort.

»Dir könnte jemand auflauern und niemand merkt es ...«

Mein Lachen wird ein bisschen schriller, während ich seine Worte mit einem Wedeln abtue. »Ach komm. Man muss schon genau wissen, dass sich hier jemand aufhält. Mir ist noch nie etwas passiert. Außerdem bin ich ja nicht alleine, oder? Setz dich.«

Ich erwarte, dass Timo mir widerspricht, seltsam aufgewühlt von der Intensität seiner Sorge, doch dann lässt er sich seufzend auf die Couch plumpsen. Sein Kopf liegt auf der Lehne, und er starrt an die rostige Wellblechverkleidung des Unterstandes. »Verrückt.«

Ich lache auf. »Dieser Abend? In der Tat.«

Während er durchschnauft, räume ich meinen Beutel aus, reihe meine Einkäufe vor uns auf den Paletten auf.

»Bist du häufiger hier?«

Seine Frage überrascht mich – irgendwie habe ich damit gerechnet, dass er einschläft oder sich in seinen Gedanken verliert oder was auch immer. Ich werfe ihm einen Blick über meine Schulter hinweg zu. »Je nachdem.« Je nachdem, in welcher Verfassung ich bin, wollte ich wirklich sagen, habe es mir aber im letzten Moment verkniffen. »Ich wohne in der Nähe. Als ich hergezogen bin, habe ich meine Gegend genauestens erkundet, um die Zeit bis zu meinem Jobbeginn zu überbrücken. Dabei habe ich das hier gefunden. Manchmal, wenn ich Ruhe brauche und gleichzeitig frische Luft, komme ich her.«

Oder wenn die Wände auf mich einrücken. Meine Welt mir zu überbewusst wird. Oder wenn ich gegen die Unruhe ankämpfe.

»Hm. So einen Ort habe ich auch. Er ist ... auf einem Dach.«

Ich nicke; mehr erfordert seine Antwort nicht, wie ich finde. »Was möchtest du trinken?«

Ich trete einen Schritt zur Seite, im selben Moment, als Timo sich vorbeugt, um an mir vorbeizuschielen. Er gerät kurz ins Schwanken. »Ähm ...«

Ich verkneife mir ein Grinsen. Falls er sich weiteren Alkohol erhofft hat, muss ich ihn leider enttäuschen. Genug für Timo – ich habe Ginger Ale, Wasser, eine Dose Pepsi und Apfelschorle besorgt. Außerdem eine Tüte Chips, Nüsse und ein paar Bifis. Sagen wir, ich bin geübt in post-alkoholischen Exzessen.

»Hier, nimm das.« Ich reiche ihm die Flasche Ginger Ale, weil die ihm vermutlich am meisten guttun wird, und schnappe mir selber das Wasser. Schweigend öffnen wir unsere Flaschen und nehmen einen großen Schluck. Da sitzen wir. Zwei beinahe Fremde, und trinken mutig Wasser und Ginger Ale. Dieser Gedanke belustigt mich mehr, als ich es für möglich gehalten hätte.

Timos Blick wird unfokussiert, dann fallen seine Lider nach unten. Mich erfasst brennende Neugierde auf diesen Mann.

»Also«, sage ich leise. »Willst du darüber reden?«

Sein Schweigen spricht Bände.

Ich beginne, meine Flasche zwischen den Händen zu drehen. Die Atmosphäre zwischen uns ist schwer. Vielleicht sogar noch schwerer als zuvor. Plötzlich wird mir bewusst, wie das hier auf ihn wirken muss. Ich bin praktisch fremd, und doch biete ich ihm an, sein Herz auszuschütten. Welcher Mann würde sich darauf schon einlassen? Eilig relativiere ich mein Angebot. »Ich meine, du musst nicht. Wir können auch einfach hier sitzen und in die Dunkelheit starren, bis du bereit bist, nach Hause zu gehen, oder -«

»Nein, schon gut.«

Überrascht wende ich mich ihm zu und sehe, dass Timo mich entschlossen mustert – zumindest so entschlossen, wie es in seinem Zustand noch möglich ist.

»Du musst nicht«, bringe ich flüsternd hervor. »Ich kenne das.«

Er lacht so bitter auf, dass ich zusammenzucke. Plötzlich wirkt er auf mich nicht mehr halb so betrunken wie zuvor. »Das bezweifle ich.« Stöhnend reibt er sich durchs Gesicht. »Tut mir leid, dass ich deinen Feierabend versaue.«

»Was? Nein! Du bewahrst mich gerade vor der Langeweile meiner verlassenen Wohnung.«

Seine Augenbrauen wandern in die Höhe. »Schön, dass ich wenigstens etwas tun kann.« Er zuckt zusammen, dann zieht er sein Handy hervor. Ich sehe, dass ihn jemand anruft, ein Daniel, doch er schnaubt nur und wirft das Teil neben sich auf die Couch. Dann kippt sein Kopf erneut nach hinten auf die Lehne.

Ich sinke in einer ähnlichen Pose zurück – und dann gebe ich ihm Zeit.

Während ich darauf warte, dass er etwas sagt, lasse ich die Situation auf mich wirken. Timo ist die erste Person, die ich hergebracht habe, was an sich schon bemerkenswert ist. Wann immer ich mir vorgestellt habe, dass ich nicht alleine hier sein würde, hatte ich definitiv ein wenig mehr Action im Kopf.

Das hier – es ist anders. Ich habe nicht die Absicht, mit Timo rumzumachen. Er ist nichts weiter als ein Gast, der ein paar Mal in meinem Restaurant war, mit dem ich ein wenig geplaudert und gelacht habe – und der mir mit seiner heutigen Trauer unter die Haut geht. Ein Teil von mir fürchtet sich davor, herauszufinden, wieso dies der Fall ist. Wieso es mir nicht egal sein kann wie bei jedem anderen auch. Wenn ich mit jedem unserer Gäste mitfühlen würde, der mit trauriger Miene seinen Abend bei uns verbringt, würde ich mir eine viel zu große emotionale Bürde auflasten. Keine Ahnung, wieso ausgerechnet er mich derart berührt. Aber nun sind wir hier, und wenn er doch noch beschließt, darüber zu reden, werde ich zuhören.

Und wenn nicht? Schweigen wir einfach miteinander, bis er sich besser fühlt oder bereit ist, nach Hause zu gehen – wo auch immer das ist.

Ich beginne, am Etikett meiner Flasche zu fummeln, erzeuge leise Kratzlaute, die sich in der Stille zwischen uns viel zu hart anhören. Timo atmet tief und gleichmäßig, doch als ich mich ihm zuwende, um zu überprüfen, ob er überhaupt noch wach ist, treffen sich unsere Blicke, und ich zucke zusammen. Seine Augen brennen sich förmlich in mich hinein.

»Hast du schonmal das Gefühl gehabt, nicht zu reichen?«

Wow. Mitten rein in den Sumpf, der ihn an diesem Abend nach unten gezogen hat. Ich lasse den Schmerz seiner Worte erst einmal auf mich wirken, ehe ich zu einer Antwort ansetze. »Kommt ganz darauf an, was du meinst. Ich denke, das kennt jeder -«

Timo schnaubt auf. »Was stimmt nicht mit mir? Ganz egal, für wen ich mich interessiere – jede Frau sieht ihn mir nur den netten Kumpel. Überall bilden sich Pärchen, und ich? Stehe daneben und darf zusehen.«

Mit einem Schlag ist mir bewusst, wo das Problem begraben liegt.

Timo hat ein gebrochenes Herz.

Die Mutter aller Schmerzen hat auch ihn in seinen Klauen. Meine Kehle verschnürt sich, denn in diesem Punkt kann ich definitiv mitreden, auch wenn es bei ihm etwas anders geartet zu sein scheint. Unwillkürlich lege ich meine Hand auf seinen Oberarm, sehe trotz der spärlichen Beleuchtung, wie seine Pupillen riesig werden. Ich will, dass er weiterspricht. Will, dass er sich von der Seele redet, was auch immer ihn so belastet, allerdings habe ich nicht die geringste Ahnung, was ich sagen soll, ohne seinen Redefluss zu stoppen. Das Ding ist: Ich selber habe ihn ja bereits in die Schublade des Good-Guys gesteckt. Aber ich bin mir sicher, dass es einen Haufen Mädchen gibt, die genau darauf stehen. Nur weil mich diese Art von Mann mittlerweile abschreckt, würde ich ihn nicht als uninteressant für die weibliche Bevölkerung betrachten, auch wenn er scheinbar genau so von sich denkt. »Das klingt hart«, bringe ich schließlich leise hervor und zucke beim rauen Klang meiner Stimme zusammen.

Timo lacht erneut auf. Ironisch und schrill. »Darauf würde ich jetzt gerne einen trinken.«

Entschlossen halte ich ihm meine Flasche entgegen. Timo zögert, doch dann zucken seine Mundwinkel, und wir stoßen an. Gott sei Dank habe ich keinen Alkohol gekauft. Er scheint in der besten Stimmung zu sein, sich endgültig abzuschießen. Und das ist, bei allem Verständnis, niemals eine gute Idee.

Nach einem langen Zug klemmt er die Flasche zwischen seine Beine und rauft sich die Haare. »Du musst denken, dass ich verzweifelt bin. All die Dates. Es ist nur – sie sollten ablenken.« Er schnaubt bitter auf. »Natürlich hat es nicht funktioniert.«

»Wer ist sie?«

Timo atmet tief durch. »Eine Freundin. Sie ... gehört zu unserer Clique. Ich kannte sie zuerst. Aber als sie Maik kennengelernt hat, war es vorbei.«

Er redet mit mir, als hätte ich bereits allerhand Vorwissen, weshalb seine Informationsbrocken nicht gerade ausführlich sind. Dennoch reichen sie aus, damit sich ein Bild vor meinem inneren Auge formen kann. Offenbar hat sich einer seiner Kumpels das Mädchen geschnappt, das er wollte.

Definitiv hart. Widerspricht das nicht irgendeinem Bro-Codex oder so?

»Er war immer ein Player. Wieso musste er ausgerechnet bei Helena vernünftig werden? Er hat ihr so weh getan.«

Mittlerweile murmelt er vor sich hin, als würde er gar nicht mehr primär mir erzählen, worum es geht, sondern sich selbst. Ein innerer Monolog, der nach außen dringt und seine Traurigkeit, seine Verletztheit erklärt.

»Und weiß sie, dass du ...?«

Unsere Blicke treffen sich, etwas in seiner Miene flackert auf. »Ja, natürlich. Ich glaube, lange hat sie es nicht wahrgenommen, aber wir haben geredet. Sie hat sich klar für ihn entschieden.«

Er klingt so bitter, dass auch meine Brust sich zusammenzieht, obwohl ich weder ihn, noch all die anderen kenne. »War das Gespräch heute?«

Er lacht auf. »Nein, vor ein paar Wochen. Ich habe mir all das traute Glück angesehen, habe versucht, mich abzulenken. Irgendwo muss es doch eine Frau geben, die in mir nicht nur den Kumpel sieht, verdammt.« Er schlägt so plötzlich auf die Armlehne, dass der dumpfe Knall mich erschreckt. Dann wandert sein Blick zu den Flammen, und der orangene Schein zeichnet seine Gesichtszüge weich. »Sie ist nicht die Erste, die sich für jemand anderen entscheidet. Damit muss ich fertig werden.«

Ich möchte so vieles sagen. Möchte ihn aufmuntern, aber in erster Linie ist dies ein Kampf, den er mit sich selbst ausfechten muss. Auf gar keinen Fall möchte ich ihn dazu drängen, mehr von sich preiszugeben, als er zu geben bereit ist. »Mit gebrochenen Herzen kenne ich mich aus«, entkommt es mir, ehe ich weiter darüber nachdenken kann.

Timo blickt mich mit großen Augen an. »Ach ja?«

Ich spüre, wie mich Erinnerungen zu überwältigen drohen, schiebe die schmerzlichen Gedanken aber beiseite. »Ja, so wie wohl jeder von uns. Es ist hart, aber man kommt darüber hinweg.« Irgendwie. »Auch du wirst das schaffen. Wenn Helena dich nicht wollte, hat sie dich nicht verdient. So einfach ist das.«

Lustig, wie man andere Leute von Dingen zu überzeugen versucht, an die man selber nicht glauben kann.

Timo schnaubt auf. »Das klingt, als wäre sie ein schlechter Mensch. Ist sie aber nicht -«

»Vor allem bist du einer von den Guten«, falle ich ihm ins Wort. Ich meine es ernst. Dieses Mädchen hat ihm offenbar sehr weh getan, und doch nimmt er sie in Schutz. Mich durchfährt ein Frösteln, das ich eilig zu unterdrücken versuche.

»Und wenn schon«, brummt er verlegen. »Es hilft mir ja doch nicht.«

Erneut breitet sich Schweigen zwischen uns aus. Timo hängt seinen Gedanken nach, und auch ich bemerke, wie ich mich auf die tanzende Flamme der Kerze konzentriere und dabei dem Sog der Erinnerungen kaum widerstehen kann. Ist das der Grund, wieso mich sein Leid derart berührt hat? Habe ich instinktiv gespürt, dass ich seinen Schmerz nachvollziehen kann? Die Zeit vergeht. Ich verliere jegliches Gefühl dafür, kann nicht abschätzen, ob wir erst zwanzig Minuten, eine Stunde oder schon drei hier sitzen. Die Kühle der Nacht kriecht jedenfalls in meine Glieder, und es sind nicht nur die schmerzlichen Gedanken, die mich mit Kälte erfüllen. Abrupt beuge ich mich vor und greife nach den Bifis. Schweigend essen wir die künstlich riechende Salami, und ich versuche herauszufinden, wohin das hier führt.

»Zuhause steigt eine Party«, murmelt Timo plötzlich. Seine Worte sind träge, langsam, er klingt schläfrig. »Sie sind alle da. Ich kann dort nicht hin.«

Langsam drehe ich meinen Kopf, bis ich ihn beobachten kann. Seine Lider flattern, und er wirkt, als wäre gar keine Spannung mehr in seinem Körper. Offenbar ist er endgültig am Ende seiner Kräfte angekommen. Wie er so da sitzt, emotional ausgelaugt und erschöpft, fälle ich wieder einmal einen meiner spontanen Entschlüsse, die mich schon oft genug in Schwierigkeiten gebracht haben. »Dann komm mit zu mir. Ich wohne wie gesagt in der Nähe und habe eine bequeme Couch.«

Timos Augen öffnen sich, er sieht mich überrascht an – und erfreut. »Bist du dir sicher? Was -«

Ich schüttle den Kopf, falle ihm ins Wort, ehe ich es mir anders überlegen kann. »Natürlich. Sonst hätte ich es nicht gesagt. Komm, ich muss ins Bett, und auch du brauchst den Schlaf.«

Zum allerersten Mal an diesem Abend erscheint ein beinahe echt wirkendes Lächeln auf seinem Gesicht. »Das ist super. Danke.«

Ob es super ist, bin ich mir noch nicht so sicher.

Wir werden es wohl herausfinden.

3

TIMO

Die Art und Weise, wie man in den Tag startet, bestimmt oft, wie sich der Rest entwickeln wird, bei mir zumindest.

---ENDE DER LESEPROBE---