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Die Welt ist dein Spielplatz, wenn du es zulässt. Daniel liebt das Leben. Er studiert Wirtschaftswissenschaften, um später in den erfolgreichen Familienbetrieb einzusteigen. In seiner Freizeit verbringt er die meiste Zeit draußen, um dem neuartigen Sport Parkour nachzugehen, oder trainiert im Fitnessstudio. Gemeinsam mit seinen Freunden dreht er Videos, die von tausenden Menschen im Netz gesehen werden. Frauen haben in dieser Welt keinen Platz. Fee ist umgezogen, um zu vergessen. Ein anderer Ort, ein neues Studium – all das soll ihr helfen, den Dämonen der Vergangenheit zu entfliehen. Doch das ist gar nicht so leicht. Als Daniel ihr bei einer Party aus der Klemme hilft, fühlen sich die beiden sofort zueinander hingezogen. Aber Fee will nichts mehr mit Männern zu tun haben – und schon gar nicht mit welchen, die derart bekannt sind. Hat ihre Liebe dennoch eine Chance?
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Weil ich dir traue
Emma S. Rose
1. Auflage
Juni 2017
© Emma S. Rose
Rogue Books, Inh. Carolin Veiland, Franz - Mehring - Str. 70, 08058 Zwickau
Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von AlexGulko / shutterstock.com
Alle Rechte sind der Autorin vorbehalten.
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Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes in andere Sprachen, liegen alleine bei der Autorin. Zuwiderhandlungen sind strafbar und verpflichten zu entsprechendem Schadensersatz.
Sämtliche Figuren und Orte in der Geschichte sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit bestehenden Personen und Orten entspringen dem Zufall und sind nicht von der Autorin beabsichtigt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Für meine wunderbaren Leser.
Geliebt zu werden macht uns stark.
Zu lieben macht uns mutig.
LAOTSE
1. Daniel
2. Fee
3. Daniel
4. Fee
5. Daniel
6. Fee
7. Daniel
8. Fee
9. Daniel
10. Fee
11. Daniel
12. Fee
13. Daniel
14. Fee
15. Daniel
16. Fee
17. Daniel
18. Fee
19. Daniel
20. Fee
21. Daniel
22. Fee
23. Daniel
24. Fee
25. Daniel
26. Fee
27. Daniel
28. Fee
29. Daniel
30. Fee
Epilog
Danksagung
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Über den Autor
»Lass mich los!«
Eine schrille Stimme dringt an mein Ohr. Meine Bierflasche, die ich gerade an den Mund führen wollte, erstarrt in der Luft und ich runzle die Stirn. Das klingt nicht nach Spaß. Ganz und gar nicht. Das Geplapper um mich herum verblasst, als ich horche, ob das Geschrei noch einmal ertönt.
Was es tut.
»Ich sagte, du sollst aufhören!«
Mit einem lauten Knall landet das Astra auf der Fensterbank hinter mir und ich beginne, den Raum systematisch zu scannen.
Unmengen von Menschen tummeln sich im Wohnzimmer, dringen in den Flur und nach draußen auf die Terrasse. Viele Gesichter kenne ich zumindest flüchtig, aber es gibt genug Menschen hier, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. So läuft das, wenn jeder irgendwen mitbringt - und das ist auch in Ordnung. Wenn wir eine Party schmeißen, dann richtig. Wir wollen Spaß. Jeder bringt etwas zu trinken und gute Laune mit, der Rest läuft gewöhnlich von alleine.
Allerdings gibt es Regeln. Und Frauen, die sich beschweren, weil jemand Dinge tut, die sie nicht wollen, fallen eindeutig unter »nicht erlaubt«.
Mein Kiefer spannt sich an, als mein Blick auf die Nische zwischen Schrank und Fenster fällt, nahe der Tür. Dort scheint es ein kleines Gerangel zu geben.
Ich setze mich in Bewegung.
Gelächter dringt an mein Ohr, Wortfetzen, Leute, die nach mir rufen, doch ich reiße mich los, ignoriere die anderen und steuere den Rücken eines Kerls an, der mir nur allzu bekannt ist. Tiefsitzende Baggyhosen, Käppi auf dem Kopf. Das kann nur Benny sein. Und er hat sich vor einer Frau aufgebaut, die vorhin noch geschrien hat, verdammt nochmal!
»Hey, tu nicht so«, höre ich ihn sagen. Er klingt ziemlich betrunken und scheint den Ernst der Lage nicht zu erkennen. »Gerade hast du doch nicht so zurückhaltend gewirkt - hey!«
Er schreit los, als ich ihn mit einem einzigen Ruck von dem Mädchen fortzerre, das er bis eben noch mehr als effektiv vor mir verborgen hat. Wut blitzt in seinen Zügen auf, erlischt jedoch sofort, als er mir ins Gesicht blickt. Seine Augen sind trübe, das kann ich selbst im Dämmerlicht des Wohnraums erkennen.
»Was geschieht hier, Benny?«, knurre ich ihn an. »Ich habe Geschrei gehört. Du weißt, dass ich so eine Scheiße nicht in meinem Haus will.«
Ich bin mir sicher, dass von ihm keine Gefahr mehr droht. Er ist eigentlich in Ordnung. Schlägt manchmal ein bisschen über die Stränge. Ist ziemlich aufgekratzt, weil er sich in letzter Zeit ganz gut mit Timo angefreundet hat und deshalb häufiger hier ein und aus geht, als mir lieb ist. Nach heute umso mehr.
Aber eigentlich ist er harmlos.
Ich wende mich dem Mädchen zu, das er offensichtlich eben noch bedrängt hat, um ihr zu versichern, dass nun alles in Ordnung ist, um mich für sein Verhalten zu entschuldigen oder was auch immer - und erstarre in meiner Bewegung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dämlich aussehen muss, als sich mein Mund öffnet, ohne dass mir auch nur ein Laut entfährt, denn das, was ich nun vor mir sehe, raubt mir im wahrsten Sinne die Worte.
Vor mir steht ein Mädchen, das ich mit Sicherheit noch nie zuvor gesehen habe. Es geht einfach nicht anders, denn ich bin mir absolut sicher, dass sie mir sonst im Gedächtnis geblieben wäre. Als allererstes fällt mir ihr Haar auf. Es ist feuerrot und fällt in weichen Wellen auf ihre Schultern und darüber hinaus. Selbst im trüben Licht erkenne ich, dass ihr Gesicht von einer tiefen Röte überzogen ist, wodurch die Unmengen an Sommersprossen nur noch betont werden, die nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihren Hals und den Teil des Dekolletees bedecken, den ihr schwarzes Shirt entblößt. Ihr Mund ist aufgerissen, scheint mich zu kopieren, und ihre Lippen sind voll und sinnlich. Aus großen, hellblauen Augen starrt sie mich an, wirkt verwirrt, vielleicht auch ein bisschen verängstigt, und sie presst sich flach an die Wand, als würde sie dadurch Halt gewinnen.
»Ist alles okay?«, bringe ich schließlich hervor. Ich fühle mich seltsam peinlich berührt, ein Gefühl, das ich nur selten empfinde. Viel zu lange habe ich sie angestarrt, ohne ein Wort zu sagen. Außerdem halte ich noch immer Benny am Ellenbogen fest, der sich jetzt räuspert und dann von mir löst.
»Bin mal weg. Nichts für ungut, Alter.«
Er taucht in der Menge ab - und plötzlich bin ich mit dem Mädchen alleine, das noch immer ziemlich eingeschüchtert wirkt und kein Wort über die Lippen bringt.
»Ich hoffe, er hat dir nicht wehgetan?«, versuche ich es erneut, und diesmal erzeuge ich eine Reaktion.
Das Mädchen schüttelt kaum merklich den Kopf - und ich atme erleichtert aus. Man kann sich schließlich nie ganz sicher sein.
»Okay. Also ...« Plötzlich überspült mich Verlegenheit. Ich kratze meinen Nacken, werfe einen Blick über meine Schulter, sehe all die Leute, die ausgelassen plaudern und trinken, als wenn sie diese kleine Szene hier gar nicht bemerkt hätten. Dann drehe ich mich wieder zu dem Mädchen um. Spontan fasse ich einen Entschluss. »Komm, ich hole dir was zu trinken.« Meine Hand schießt hervor, ich ergreife ihren Arm, will sie in die Küche lenken, doch als sie unter meinen Fingern stocksteif wird, lasse ich sie ebenso schnell wieder los. Unsere Blicke treffen sich, und die Intensität ihrer Augen raubt mir den Atem. Verwirrt über meine heftige Reaktion drehe ich mich um und lenke meine Schritte Richtung Flur, ohne noch einmal zu überprüfen, ob sie mir folgt oder nicht.
Ich hoffe sehr, dass sie es tut.
* * *
Die Küche ist leer, als ich sie betrete, was einem kleinen Wunder gleicht. Noch immer sind meine Züge zu einem Feixen verzogen, weil ich Maik in Action im Flur entdeckt habe - die Zunge tief im Hals einer kleinen, etwas pummeligen Studentin. Schon jetzt bin ich mir sicher, dass die zwei bald nach oben verschwinden werden, und morgen eine neue Kerbe in Maiks Bettpfosten sein wird. Der Kerl lässt nichts anbrennen. Und sonderlich wählerisch ist er auch nicht.
Er spricht gerne davon, dass er eine Mission hat. Er verteilt seine Liebe. Nur, dass seine Liebe sich einzig auf den Bettsport bezieht. So ist er, der kleine Casanova.
Nun habe ich jedoch anderes im Sinn, als mich mit den Leidenschaften meines Mitbewohners zu beschäftigen. Ich gehe zwei weitere Schritte hinein in das Chaos, was eigentlich unsere Küche darstellt, und drehe mich dann zu dem Mädchen um, das mir zum Glück gefolgt ist.
Grinsend hebe ich meine Arme und deute einmal um mich. »Willkommen im Paradies der Schnapsnasen.« Ich zwinkere ihr zu, frage mich, wieso dabei mein Bauch so hüpft, und füge dann noch hinzu: »Und Biertrinker. Oder Wein. Was auch immer.«
Ihre Mundwinkel zucken kurz nach oben, was ich mit einem zufriedenen Nicken quittiere. Ziel erreicht.
»Was möchtest du trinken? Oder, warte. Lass mich einfach etwas mixen, ja? Ich habe so eine Vorstellung, was dir schmecken könnte.«
Ich versuche tatsächlich, mit ihr zu flirten, irgendwie. Als ich sehe, wie erneut ein blasses Rosa in ihr Gesicht steigt, klopft mein Herz schneller. Es hat etwas verdammt Attraktives, wenn sie errötet, und das Beste ist, dass ich mir sicher bin, dass sie sich dessen nicht bewusst ist.
Wer ist sie? Warum habe ich sie noch nie zuvor gesehen? Wie ist sie hierhergekommen?
All diese Fragen liegen auf meinen Lippen. Ich will sie stellen. Ich muss sie stellen. Aber für den Moment wende ich mich erst einmal dem wilden Flaschengewirr zu und mixe eine Art alkoholischen Kiba zusammen. Keine Ahnung wieso, aber sie scheint mir eine Süße zu sein.
Vielleicht, weil sie auf mich so verdammt süß wirkt.
Mit dem fertigen Glas und einer neuen Flasche Astra wende ich mich ihr wieder zu. Sie lehnt am Tresen neben der Spüle und schaut mich aus ihren großen, blauen Augen an, als wüsste sie nicht, wie sie hier eigentlich gelandet ist. In diesem Punkt fühle ich mich ähnlich - die Situation kommt mir surreal vor. Die Gefühle, die mich durchströmen, kommen mir surreal vor. Denn obwohl ich sie nicht kenne, obwohl ich bisher kaum ein Wort mit ihr gewechselt habe, strahlt sie etwas aus, das mich anzieht. Mich fasziniert.
»Auf den Abend!«, murmele ich und stoße meine Flasche gegen ihr Glas. Sie erwidert den Toast und hebt dann den Drink an ihre rosa glänzenden Lippen. Ich möchte aufstöhnen, weil alleine diese Bewegung so widersprüchlich sinnlich und unschuldig wirkt, und setze die Flasche an. Während wir beide einen Schluck nehmen, bricht unser Blickkontakt nicht ab. Der Moment hat etwas erschreckend Intimes, und ich spüre, wie meine Haut zu prickeln beginnt. Ein Gefühl, das ich schon verdammt lange nicht mehr empfunden habe.
»Hör mal«, sage ich schließlich. »Ich glaube, wir kennen uns noch gar nicht offiziell -«
Ehe ich weiterreden kann, platzt plötzlich eine ganze Horde Leute in die Küche, stürzt sich förmlich auf mich und auf die Alkoholvorräte.
»Yo, Daniel!«, ruft einer von ihnen. »Das neue Video ist der Hammer! Ernsthaft, ich finde, dass ihr euch noch einmal deutlich gesteigert habt!«
Sie umringen mich, sie reden auf mich ein. Der Moment hätte nicht effektiver zerstört werden können. Suchend wende ich meinen Blick in die Richtung, wo bis eben das Mädchen gestanden hat, doch ich erblicke gähnende Leere.
Und ihren Cocktail, von dem sie nur einmal genippt hat, in jenem intensiven, atemberaubenden Moment. Schwach erkenne ich Spuren von Lippenstift.
Das ist alles, was mir bleibt.
Ich kenne nicht einmal ihren Namen.
»Verdammt nochmal, Weib, du kannst doch nicht einfach so abhauen und mich stehenlassen!«
Jemand plumpst neben mir auf die Matratze und reißt mich so aus meinem Schlaf. Ich fühle mich, als wäre ich gerade einmal vor fünf Minuten eingenickt, was vermutlich sogar der Wahrheit entspricht, und knurre ungehalten, als das grelle Licht vom Flur in meinen Augen brennt.
»Mann, Helena, siehst du nicht, dass ich schlafe?«, erwidere ich mürrisch und versuche, die Decke über meinen Kopf zu ziehen, doch natürlich habe ich die Rechnung ohne meine Mitbewohnerin gemacht.
Meine Mitbewohnerin, die erstaunlich kichert und ziemlich nach Alkohol riecht, wenn ihr mich fragt. Ich fürchte, mir steht eine typische Helena-Inquisition bevor.
»Mann, Helena«, äfft sie mich mit einer quengeligen Stimme nach, dann zerrt sie an meiner Decke. Nicht, um sie fortzuziehen, sondern um sich darunterzustehlen. Ich quietsche auf, als ich ihre Zehen an meiner Wade spüre.
»Du bist kalt!«, presse ich hervor und bringe sie nur noch mehr zum Lachen.
»Was denkst du denn? Es ist Oktober, draußen ist es kalt.«
Man könnte meinen, dass sie eine Zicke ist. In Momenten wie diesem muss ich mir mühsam vor Augen halten, dass sie in Wahrheit anders ist. Extrem übermotiviert, ein bisschen vorlaut, aber alles in allem ein lieber Mensch, der mich unter seine Fittiche genommen hat.
Also gebe ich ihr ein Stück von der Decke ab.
»Wieso bist du so schnell wieder verschwunden?«, nörgelt sie fröhlich weiter.
Ich verziehe mein Gesicht, als mich ihre Fahne trifft, und bin insgeheim erleichtert, dass ich den Abend so schnell beendet habe.
»War nicht so mein Ding«, gebe ich leise zurück. Meine Gedanken wandern zu dem Typen, der mich küssen wollte, der in mir eine Welle an schmerzhaften Empfindungen ausgelöst und mich so zum Überreagieren gebracht hat. Mittlerweile ist es mir peinlich, dass ich so heftig reagiert habe, vor allem, weil ich vermutlich falsche Signale ausgesendet habe. Ein normales Mädchen würde auf einer Party nicht angeregt mit einem Jungen quatschen, nur um dann die Option des Näherkommens kategorisch auszuschließen. Lautstark, sozusagen. Aber ich bin eben anders. Die Situation hat etwas in mir ausgelöst. Die dunkle Ecke, die Art und Weise, wie er mich von allen abgeschirmt hat.
Verfluchte Erinnerungen ...
»Schade eigentlich«, seufzt sie auf. »Ich fand es nicht übel. Da waren ein paar echt heiße Jungs.«
Ich nicke in der Dunkelheit. Plötzlich wandern meine Gedanken zu einem ganz anderen Typen. Einem mit Wuschelhaar und erstaunlich grauen Augen. Er war mir zur Hilfe gekommen, als mich dieser andere Kerl küssen wollte. Mehr als deutlich sehe ich immer noch sein wütendes Gesicht vor mir, als er ihn von mir wegzerrte. Ich war nie wirklich in Gefahr gewesen, aber in diesem Moment hatte er reagiert, als hätte er mich schützen müssen. Meine Haut prickelt, wenn ich an seinen intensiven Blick denke. Aber all das sind Dinge, die ich Helena nun bestimmt nicht erzählen werde. Ich bin mir sicher, dass sie dieser Sache viel zu viel beimessen würde. Obwohl Helena und ich uns noch nicht lange kennen, ist sie schon jetzt der Meinung, dass sie meinen Mann fürs Leben finden müsste. Und ihren natürlich gleich dazu. Wenn man sie so erlebt, würde man denken, sie wäre eine unbeschwerte Studentin, die nur auf das Eine aus ist. Doch das ist sie nicht. Und, um ehrlich zu sein, ich schon gar nicht. Das hat allerdings andere Gründe, über die ich jetzt nicht nachdenken kann. Nicht nachdenken werde.
»Also was ist, wieso bist du so früh abgehauen?« Obwohl es dunkel ist, kann ich ziemlich deutlich Helenas neugierigen Blick erkennen. Er brennt sich förmlich in mich.
Ich seufze auf. »Ich war einfach nur müde, Helena. Keine große Sache. Was meinst du, warum ich im Bett liege? Bestimmt nicht, um darauf zu warten, dass du mich wachhältst.« Ich lache auf. Leider klingt es ein bisschen hysterisch. Zum Glück ist Helena betrunken genug, um das nicht zu bemerken.
Sie seufzt ebenfalls. »Dann lass uns einfach schlafen, hm?«
Eine ganze Weile liegen wir dort. Ich lausche ihrem Atem, der immer langsamer wird, fast schon zu einem Schnarchen übergeht. Dann räuspere ich mich. »Helena?«
Sie schnaubt auf. »Was ist denn?«
»Willst du nicht in dein eigenes Bett gehen?«
Die Decke raschelt, als sie sich bewegt. Dann kichert sie leise auf. »Nö. Ist so schön bequem bei dir.«
Ich unterdrücke ein Stöhnen, kuschle mich dann aber wieder in mein Kissen. Es hat keinen Zweck, mit Helena zu diskutieren. Das geht ja schon nicht gut, wenn sie nüchtern ist. Hoffentlich kann ich ein Auge zu tun.
* * *
Als ich am nächsten Morgen wach werde, bin ich alleine im Bett. Der Geruch von Kaffee dringt verführerisch in meine Nase. Ich strecke mich, blinzele in die hereinfallenden Sonnenstrahlen und beschließe dann, dem Duft zu folgen. Müde tapse ich in die Küche, wo Helena gerade alles für ein ausgiebiges Sonntagsfrühstück vorbereitet. Es ist wirklich unfassbar. Wenn ich verkatert bin, schaffe ich es nicht einmal, früh aus dem Bett zu rollen. Helena dagegen ist das blühende Leben. Es ist unfair! Obwohl ich mich nicht beschweren sollte, denn immerhin sorgt Helenas Überschwang dafür, dass ich nun ein Frühstück mit Rührei, Kaffee und frischen Brötchen bekomme.
»Du warst schon beim Bäcker?«
Helena zwinkert mir gut gelaunt zu. »Guten Morgen, Dornröschen!«
Ich ziehe eine Grimasse, sage jedoch nichts.
Helena lacht auf. »Ich dachte, ich könnte mich bei dir erkenntlich zeigen, wenn ich schon bei dir schlafen durfte.«
Ich werfe ihr ein Lächeln zu, das meine Zustimmung darstellen soll. Dann deute ich in den Flur hinter mir, murmele »Bin mich mal frisch machen« und verschwinde im Badezimmer. Ich bin wirklich kein Morgenmensch. Vielleicht werde ich nie verstehen, wie Helena nach einer Party so frisch sein kann, aber ich werde mich bestimmt nicht beschweren. Nicht, wenn ich deshalb so profitiere.
Schließlich sitzen wir gemeinsam an dem kleinen, runden Tisch in unserer Küche. Ich werfe meiner Mitbewohnerin einen Blick zu und stelle wieder einmal fest, wie hübsch sie ist. Dunkles, volles Haar fällt bis zu ihren Schultern. Sie trägt es meist offen, da sie der Meinung ist, dass es wesentlich weiblicher ist, und natürlich muss ich ihr da recht geben. Während meine Haut über und über mit Sommersprossen bedeckt ist, ist ihre glatt und makellos. Im Gegensatz zu mir kann sie sogar in der Sonne baden, ohne sofort von einem Sonnenbrand bedroht zu werden, allerdings gehört sie nicht zu dem Schlag Frau, der sich gerne stundenlang auf eine Liege fläzt und bräunt. Stattdessen schnappt sie sich lieber eine Kamera, pirscht auf der Suche nach Makroaufnahmen durch die Gegend oder surft in irgendwelchen Foren im Netz. Sie ist klein und schmal gebaut und jammert mir oft genug vor, wie gerne sie etwas von meiner Oberweite hätte. Nun, ich teile zwar grundsätzlich gerne, doch gerade diesen einen Vorzug möchte ich nicht hergeben. Tja. Jedenfalls ist Helena ein Hingucker. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn ihr Gesicht hat etwas Elfengleiches, und ihre grünen Augen strahlen mich in diesem Moment gut gelaunt über ihren Kaffeebecher hinweg an.
»Na, endlich wach?«, fragt sie mich grinsend.
Ich zucke mit den Schultern, tue so, als wäre ich mir nicht so sicher, und nehme einen großen Schluck aus meiner eigenen Tasse.
»Schon lustig, dass ich fitter bin als du, obwohl meine Nacht wesentlich kürzer war«, schiebt sie dann hinterher.
Ich werfe ihr einen schrägen Blick zu. »Du bist ja auch ein bisschen komisch.«
»Stimmt auch wieder«, seufzt Helena theatralisch auf.
Ich erwidere nichts darauf, sondern widme mich stattdessen weiter meinem Frühstück. Ich mag schon wacher sein als zuvor, aber um vollständig fit zu sein, braucht es noch etwas. Also beiße ich bedächtig in mein Brötchen, auf dem sich eine dicke Schicht Schokoladencreme befindet, und nippe an meinem Kaffee, während ich meinen Blick schweifen lasse.
Die Küche stellt das Zentrum unserer WG dar. Wenn wir quatschen wollen, wenn wir gemeinsam kochen oder wenn Besuch kommt: Selten verziehen wir uns dann in unsere Zimmer. Zwar ist die Küche nicht groß, aber sie ist gemütlich eingerichtet. Überall hängen Postkarten von allen Orten der Welt. Die meisten hat natürlich Helena erhalten, die schon seit über einem Jahr in dieser Wohnung wohnt. Auch ein paar Karten mit lustigen Sprüchen haben sich hierher verirrt. Die Wände sind in einem kräftigen Gelb gestrichen, das nachmittags strahlt, wenn die Sonne in die Küche scheint. Schaltzentrale ist der große, runde Holztisch, an dem locker sechs Personen sitzen können, zur Not auch mehr - allerdings fehlen uns dafür die Stühle. Auf jeden Fall haben wir zu zweit genug Platz, um, hier zu lernen. Und natürlich ausgiebig frühstücken. Die Geräte sind alt, aber in einem guten Zustand, und wir haben sogar eine Spülmaschine. Ein Luxus, den nicht viele Studenten vorzuweisen haben. Während Helena sich gerne beim Kochen ausprobiert, bin ich eher für das Backen zuständig. Es ist erstaunlich beruhigend, Plätzchen, Kuchen, Muffins und mehr zuzubereiten. Helena stöhnt dann zwar gerne über den Speck auf ihren Hüften, aber da dieser kaum vorhanden ist, nehme ich sie nicht ernst. Wir zwei bilden eine ziemlich gute Symbiose. Als ich vor ein paar Monaten hierher zog, hätte ich niemals gedacht, dass es so gut funktionieren könnte. Von Anfang an nahm Helena mich unter ihre Fittiche, zeigte mir die Uni, half mir bei der Auswahl von Kursen und versuchte auch, mein Sozialleben zu aktivieren. Gestern war wieder einer dieser Versuche. Dass es nicht so leicht ist, mich auf solchen Veranstaltungen zu halten, weiß sie, auch wenn ihr der Grund dafür nicht bekannt ist. Wenn es nach mir geht, kann es so bleiben. Sie soll ruhig denken, dass ich ein schüchternes Mauerblümchen bin, auch wenn sie der festen Überzeugung ist, dass es dafür keinen Grund gibt. Klar, sie erlebt mich ja ständig. Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen, ich bin fröhlich und lache gerne. Früher hätte man mich niemals als introvertiert bezeichnet. Ich hatte einen recht großen Freundeskreis, habe viel unternommen, war sehr gerne feiern, und Alkohol habe ich auch ausreichend getrunken. Doch seitdem ist viel passiert, und ich fühle mich am wohlsten, wenn ich mich mit einem Buch in mein Zimmer verkriechen kann. Ich gehe auch gerne ins Kino, bummle durch die Stadt oder mache Ausflüge, aber sobald größere Menschenmengen ins Spiel kommen, Menschen, die ich nicht kenne, werde ich nervös. Noch schlimmer ist es, wenn sich so etwas in die Abendstunden verlegt. Tja, so ein Pech, dass studentische Aktivitäten dieser Art gerade am Abend stattfinden. Und Helena hat die Absicht, mich überall mit hin zu schleppen. Ab und zu schaffe ich es, sie davon zu überzeugen, dass ich lieber zu Hause bleiben möchte, aber das ist eher die Ausnahme. Und dann passiert so etwas wie gestern. Nicht, dass ich ständig schreiend die Aufmerksamkeit anderer Leute auf mich ziehe. Aber ich fühle mich selten wohl. Und es gibt einfach keinen Weg, das Helena möglichst glaubwürdig zu erklären.
Also kämpfen wir jedes Mal aufs Neue miteinander.
Und Helena gewinnt meistens.
»Du hattest also deinen Spaß, ja?« Ich rühre gedankenverloren in meinem Kaffee. Endlich fühle ich mich wach genug, um ein normales Gespräch mit ihr zu führen.
Helena verdreht die Augen, als hätte ich soeben die Untertreibung des Jahres gemacht. Ihr Mund ist noch voller Rührei, als sie zu einer Antwort ansetzt. »Natürlich, Fee! Das war die Party schlechthin! Ich war total aus dem Häuschen, als Timo mich eingeladen hat. Du weißt schon, dass einige uns darum beneiden werden, weil wir dort waren?« Sie wirft mir einen bedeutsamen Blick zu. »Also mehr oder weniger.«
»Wie meinst du das?« Ich blickte sie verwirrt an.
Helena schluckt das Ei herunter. »Na du weißt schon. Wir waren bei JumpSquad zu Hause. Okay, Ihre Partys sind nicht gerade privat, aber es kann eben auch nicht jeder kommen. Was meinst du, wer alles gerne mit dir getauscht hätte?« Sie wedelt mit ihrer Hand durch die Luft. Ich sehe kleine Bröckchen vom Rührei durch die Gegend fliegen und ducke mich unwillkürlich.
»Wer zum Teufel ist JumpSquad?« Ich betone das Wort, als wäre es etwas Ekliges. In Wirklichkeit habe ich absolut keine Ahnung, worüber Helena da gerade redet.
Und offensichtlich geht es ihr mit mir genauso, denn sie starrt mich an, als hätte ich gerade etwas Ungeheuerliches gesagt.
»Du willst mich verarschen, oder?«
»Ähm?«, erwidere ich. »Eigentlich nicht. Wer ist JumpSquad? Und warum sollten wir beneidet werden?«
»Jetzt reicht es, Fee. Das kann ich mir nicht weiter anhören!« Helena springt aufgebracht vom Tisch. Noch ehe ich wirklich verarbeiten kann, was hier gerade passiert ist, erscheint sie wieder in der Küche - mit ihrem Tablet in der Hand. Gekonnt tippt sie auf dem Bildschirm herum, bis sie offenkundig gefunden hat, was sie sucht, und dann schiebt sie es mir unter die Nase. »Guck es dir an!«
Ich habe zwar immer noch nicht das Gefühl, wirklich zu wissen, was sie von mir will, nehme ihr das Gerät aber gehorsam ab. Sie hat Youtube geöffnet, und nun sehe ich zu, wie ein Video auf dem Bildschirm lädt. Ich kann noch erkennen, dass der Name des Channels JumpSquad und das Video »Just jumping, Vol.1« lautet.
Dann startet es schon.
»Warte, in groß ist es besser«, quiekt Helena. Sie tippt auf den Bildschirm, bis sich besagtes Video über die gesamte Länge ausbreitet, und plötzlich sehe ich nichts mehr.
Nichts, was mich von dem ablenkt, was nun passiert.
Vage bekannte Dubstep-Rhythmen fetzen durch die Küche, als das Video endlich startet und drei Gestalten über unseren Campus springen. Und mit springen ... meine ich springen. So richtig. Zunächst handelt es sich um ferne Aufnahmen. Man sieht, wie die drei in unregelmäßigen Abständen Saltos aus dem Stand machen - so asynchron, dass es schon wieder symmetrisch wirkt, ungezähmt und kraftvoll. Ich keuche auf, als ich sehe, wie plötzlich in einer Nahaufnahme einer von ihnen über das Geländer einer der Außentreppen springt - bestimmt zwei Meter in die Tiefe - und sich am Boden gekonnt abrollt. Als er aus dem Bildschirm rollt, springt die Aufnahme, und dann sieht man wieder jemanden über das Geländer springen. Der gleiche Move, nur dass es sich diesmal um einen anderen Kerl handelt. Keine langen Haare, die zu einem dieser typischen Männerzöpfe zusammengebunden sind, dafür aber volltätowierte Arme und mit Sidecut. Er rollt aus dem Video und dann ...
Keuche ich auf.
Es ist er. Der dritte von ihnen ist der Typ, der mich am Vorabend gerettet und in die Küche gezerrt hat. Ich habe ihn nicht sofort erkannt, weil seine Haare durch eine schwarze Mütze bedeckt sind und die Aufnahmen zunächst aus der Ferne waren. Jetzt jedoch, in derartiger Nahaufnahme, besteht kein Zweifel. Und als ich sehe, wie er über das Geländer springt - nicht ohne vorher unwiderstehlich in die Kamera zu zwinkern - bleibt mein Herz stehen.
»Nein!«, entfährt es mir, und erst, als ich Helenas neugierigen Blick auf mir spüre, weiß ich, dass ich einen Fehler begangen habe.
Helena lässt mir Zeit, bis das Video vorbei ist. Mein Griff ist immer fester geworden, ich umklammere das Tablet wie einen Rettungsanker, und mein Herz rutscht mir mehrfach in die Hose, als ich zusehe, wie die Jungs immer verrücktere Stunts machen. Die Aufnahmen beschränken sich nicht nur auf den Campus, ich erkenne auch ein paar prominente Plätze der Stadt. Ganz offensichtlich vergnügt sich JumpSquad hier vor Ort. Als das Video endet und die Informationen dazu im Bildschirm aufploppen, schnappe ich hörbar nach Luft. Schon Views im sechsstelligen Bereich. Ich kann es kaum glauben.
»JumpSquad, hm?«, sage ich mit belegter Stimme. Ich lege das Tablet beiseite und greife sofort wieder nach meinem Kaffeebecher, der mittlerweile jedoch keine tröstende Wärme mehr abgibt. »Parkour.«
»Du kennst sie doch«, erwidert Helena triumphierend.
Ich schüttele den Kopf. »Nur weil ich diese neumodische Bewegung kenne, kenne ich doch nicht alle, die so einen gefährlichen Kram machen!«
Meine Mitbewohnerin wirft mir einen sehr pointierten Blick zu. »Lenk nicht ab, Fee. Ich habe gesehen, wie du auf Daniel reagiert hast.«
»Daniel?«, echoe ich schwach. Okay. So heißt er. Stimmt, ich erinnere mich ...
Nicht, dass das auch nur irgendeine Rolle spielt.
»Ha!«, macht sie laut. So laut, dass ich zurückzucke und mit einer Hand meine Nasenwurzel umfasse, als würde ich starke Schmerzen erleiden. Ich versuche, vor ihr zurückzuweichen, doch mir ist klar, dass ich in diesem Moment nichts gegen ihre Fragen ausrichten kann. Außer ...
»Das ist nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst!«
»Verdammt, Fee!«, stöhnt Helena gequält auf und bewirft mich allen Ernstes mit einer Scheibe Salami.
Ich betrachte sie aus zusammengekniffenen Augen.
»Du kannst doch jetzt nicht mit diesem lahmen Spruch kommen! Wirklich nicht! Hast du denn gar nichts gelernt, seitdem wir zusammenwohnen?«
»Ich habe eine ganze Menge gelernt«, erinnere ich sie schwach, aber dann beginne ich, meinen Standpunkt weiter zu festigen. »Ich meine es ernst. Du beginnst doch bereits, wieder irgendwelche Dinge in deinem Kopf aufzubauschen. Es stimmt nicht. Was auch immer du denkst.«
Helena blickt mich ungewohnt nachdenklich an. »Dann klär mich doch bitte auf.«
Ich verdrehe übertrieben die Augen. »Ich kenne ihn wirklich nicht. Hör zu, da war so ein Typ. Wir haben uns unterhalten, er hat das wohl falsch verstanden. Ich ... wurde vielleicht ein bisschen laut. Und dann kam Daniel mir zur Hilfe. Er hat mir einen Drink gemixt, ehe ihn eine Wolke männlicher Groupies umschwärmte. Jetzt verstehe ich dieses merkwürdige Verhalten übrigens auch. Und weil ich höllische Kopfschmerzen bekommen habe, bin ich dann abgehauen. Mehr nicht. Bis eben hatte ich seinen Namen längst wieder vergessen. Und er kennt meinen ganz sicher nicht.«
»Wer war es?«, faucht Helena los.
Ich blicke sie verständnislos an.
»Der Kerl, der dich falsch verstanden hat!«
Ein Lachen kitzelt in meiner Kehle. »Keine Ahnung. Und auch das ist keine große Sache. Es ist alles in Ordnung, okay? Ich wusste nicht, dass Daniel zu dieser Truppe gehört. Wusste nicht einmal, dass es sie gibt -«
»Und das grenzt an Blasphemie«, stöhnt Helena so gequält auf, dass ich beinahe lospruste.
Allerdings vergeht mir mein Lachen, als sie mir in der kommenden halben Stunde in aller Ausführlichkeit Dinge über die Jungs erzählt. Ich kann nicht wirklich behaupten, dass mich all das interessieren würde. Es mag sein, dass Daniel mir in einer Situation geholfen hat, die mir am nächsten Tag bestenfalls peinlich vorkommt. Deshalb will ich jedoch längst nicht jedes noch so unwichtige Detail wissen, das Helena aus ihrer Erinnerung pulen kann. Dennoch weiß ich schließlich, dass die Jungs praktisch Parkour machen, seitdem sie sich an der Uni gefunden haben, dass sie in diesem Haus, wo die Party stattgefunden hat, eine WG gegründet haben, dass sie scheinbar ein bisschen lebensmüde sind, mit Sicherheit jedoch Adrenalinjunkies - und dass sie sogar zu viert sind.
»Timo macht die Videos. Er steht lieber hinter der Kamera als davor. Wenn sie öffentlich trainieren, ist er jedoch vollwertig dabei«, erklärt Helena fast schon stolz - und mir wird bewusst, dass sie von dem Typen spricht, der sie zur Party eingeladen hat.
»Stehst du auf ihn?«, hake ich nach, ernte jedoch nur Gelächter. Scheinbar verstehen sich die beiden einfach so ganz gut. Was wiederum Helena erneut dazu bringt, meinen Verstand anzuzweifeln, weil ich bis heute nichts von der Gruppe wusste.
Nun, Asche auf mein Haupt.
Oder auch nicht.
Später am Nachmittag sitze ich brütend über einer Ausarbeitung für eines meiner Seminare. Ich hätte es mir leicht machen und Helenas Angebot annehmen können. Sie selbst hat eine ziemlich ähnliche Arbeit verfasst und mir ihre Unterlagen förmlich an die Brust gedrückt, in der Hoffnung, dass ich dann lieber mit ihr in die Stadt fahren und »herumhängen« würde, doch ich bevorzuge es, mir mein Wissen selbst zu erarbeiten. In Momenten wie diesem habe ich die Stimme meines Vaters im Ohr, der mir ernst verkündet, dass ich für niemand anderen lerne als für mich.
Herrgott, ich vermisse ihn. Und wie ich ihn vermisse! Aber als meine Hand über dem Handy schwebt, kurz davor, ihn anzurufen, erstarre ich und widme mich stattdessen wieder einem recht trockenen Artikel, den ich im Netz gefunden habe. Ich kann nicht garantieren, dass ich stark bleibe, wenn ich jetzt seine Stimme höre, und das letzte, was ich will, ist, dass er sich Sorgen um mich macht. Also - mehr Sorgen als sonst.
Deshalb schlucke ich mein Bedürfnis hinunter, greife stattdessen in die Tüte Weingummi, die schon erschreckend leer ist, und konzentriere mich kauend auf meine Arbeit. Vielleicht kann ich so die Stille auslöschen, die über der Wohnung liegt, seit Helena wie ein Wirbelwind verschwunden ist.
»Alter, das ist nicht dein Ernst.«
»Hm?«
Maik blickt mich aus trüben Augen an. Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert: Die Tatsache, dass er am Montagmorgen, kurz bevor wir zur Uni müssen, noch im Bett liegt, oder aber, dass er dieses Bett scheinbar den ganzen Sonntag nicht verlassen hat, denn er trägt noch immer dasselbe Shirt, das er auch bei der Party an hatte. Ich weiß, dass er sich ganz schön die Kante gegeben hat. Das wissen wir alle. Ich habe das Mädchen gesehen, das in den frühen Morgenstunden verlegen aus unserem Haus geflüchtet ist - zu einem Zeitpunkt, als ich selbst noch mehr als durcheinander im Chaos der Küche gestanden und überlegt habe, ob ich einen Kaffee vertragen kann oder nicht. Sie ist nicht geblieben. Hat es gar nicht erst versucht. Das ist Maik, das sind seine Spielregeln. Die Mädchen, die sich auf ihn einlassen, wissen das. Zwar gibt es immer wieder eine unter ihnen, die das ausreizen will, die denkt, sie wäre die Eine, die alles an ihm ändert, doch er ist und bleibt unser Bad Boy. Und das lässt sich alleine schon an seinem wilden Äußeren ablesen.
»Schwing deinen Arsch hoch und sieh zu, dass du in die Uni kommst!«, herrsche ich ihn an, doch ich weiß, dass es nicht viel bringt. Wenn er nicht will, will er nicht. Und gerade sieht er sogar so aus, als wenn er nicht könnte.
Ich kann nicht abstreiten, dass mir das etwas Sorge bereitet.
»Lass gut sein«, murmelt Jo. Er ist hinter mir erschienen, ohne dass ich es bemerkt habe, und ich zucke zusammen. »Komm, wir hauen ab.« Und dann, an Maik gewandt: »Du weißt, dass wir uns um fünf zum Training treffen. Du solltest besser erscheinen.«
Dann zieht er mich aus dem Türrahmen fort. Maiks Grummeln folgt uns bis tief in den Flur.
Jo ist mein ältester Freund. Das, was andere vermutlich ihren besten Freund nennen würden. Sollte ich irgendwann einmal heiraten, wird er mein Trauzeuge, und das sollte eigentlich schon alles sagen. Mein Blick gleitet über sein Gesicht - er sieht frisch und munter aus. Aber das ist ebenso wenig ein Wunder wie Maiks desolater Zustand, denn Jo reißt sich eigentlich immer zusammen. Das Einzige, was ihn rebellisch erscheinen lassen könnte, ist sein Bart, und der ist so sorgfältig getrimmt, dass er einfach nur ordentlich wirkt. Sein langes, dunkelblondes Haar hat er wie so oft zu einem Bun auf dem Hinterkopf gebunden, was ihm schon viele dumme Sprüche von uns eingehandelt hat. Es gab da mal dieses Bild in den Sozialen Medien - ein paar Promis mit dieser Frisur und daneben ein zugebundener Müllsack. Das obere Ende ähnelte den Zöpfen frappierend und Jo hatte daraufhin ganz schön zu leiden. Aber er hält daran fest, stoisch und selbstbewusst. Seit wir hier wohnen.
Nun verlassen wir gemeinsam unser Haus, das sich etwa zwanzig Minuten vom Campus entfernt befindet, und gleiten in Jos Wagen.
»Seine Eltern haben wieder angerufen.«
Mehr sagt er nicht, als er sich auf die Straße fädelt - doch das reicht.
Ich seufze auf. »Wann?«
Jo zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er hat es nicht gesagt. Ich weiß nur, dass er Samstagnachmittag plötzlich ziemlich gereizt war. Ich schätze also, irgendwann davor.«
Ich runzle die Stirn und starre angespannt aus dem Fenster. Ich will mich hier gar nicht als Chef oder Anführer aufspielen oder so, aber irgendwie stört es mich, dass Jo das weiß, ich aber nicht. Und dass ich es auch erst jetzt erfahre.
Maik und seine Familie ... es ist kompliziert. Es gab eine Zeit, da müssen sie alle sehr glücklich gewesen sein, zumindest gehe ich stark davon aus, denn viel redet Maik nicht. Nicht über seine Familie und schon gar nicht über Zeiten, in denen es besser war. Aber dass es sie gab, da bin ich mir sicher - sonst würde er jetzt nicht so leiden.
Es ist so ... Maik ist ein Zwilling. Er hatte eine Schwester. Sie standen sich verdammt nahe, so wie es bei Zwillingen ja oftmals der Fall ist. Er war damals schon ein kleiner Rebell, die vielen Tattoos haben sich nicht erst in den letzten Jahren auf seine Arme und seinen Oberkörper geschlichen, obwohl es bei einem Großteil sogar stimmt. Dann hat er seine Schwester verloren, was ihn derart aus der Spur brachte. Ich kenne keine Details, niemand von uns, und auch diese Fakten sind mir nur bekannt, weil seine Eltern sie uns gesagt haben. Maik redet nicht darüber, selbst wenn man ihm buchstäblich die Pistole auf die Brust setzt. Er hat seine Gefühle wohl verpackt in sich aufgestaut, hat den Kontakt zu seiner Familie reduziert, und versucht nun schon seit vielen Semestern, wieder einen Zugang zum Leben zu finden. Es besorgt mich - uns alle -, dass er diesen Weg mit Alkohol und unbedeutenden One-Night-Stands pflastern muss, aber wir haben einen Deal: Solange er sich ans Training hält und uns nicht vollkommen ausschließt, lassen wir ihn sein Ding machen. Wir sind seine Freunde, keine Therapeuten oder Vormünder, und das funktioniert soweit gut. Dennoch mache ich mir immer wieder aufs Neue Gedanken, ob er sich an die Regeln hält, denn ich habe das ungute Gefühl, dass er auf einem hauchdünnen Grat balanciert. Das mag im Parkour zwar seine Spezialität und keine große Herausforderung sein, doch im wahren Leben kann ihm ein falscher Schritt das Genick brechen.
Hoffentlich erscheint er heute zum Training.
»Da wären wir.«
Jo biegt auf den überfüllten Hauptparkplatz der Uni ein. Ich bin überrascht - die Zeit ist nur so verflogen. Ich war ziemlich in Gedanken versunken und das hat Jo offensichtlich bemerkt.
»Mach dir nicht so einen Kopf, Daniel«, erklärt er leichthin, während er gekonnt in eine Parklücke gleitet. »Du kennst Maik. Er rappelt sich immer auf. Und er wird nachher da sein. Ich habe schon eine gute Idee, wie wir ihn quälen können. Wird Zeit, dass er aus seinem Loch rauskommt.«
Ich nicke unbestimmt zur Antwort, kann mir jedoch gleichzeitig ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn Jo sagt, dass er Maik quälen will, dann dürfte das ein schweißtreibendes Training werden. Ich freue mich schon auf seinen genervten Gesichtsausdruck.
»Also. Sehen wir uns in der Mensa?«
»Ja, um zwei.«
»Dann bis gleich, Mann.«
Unsere Wege trennen sich. Während ich das große Hauptgebäude vor meiner Nase ansteuere, wo die vielen Wirtschaftskurse stattfinden, biegt Jo nach links ab, um den Informatiker-Trakt zu erreichen. Letztes Semester wäre Maik mit mir mitgekommen, heute mit Jo. Der Kerl hat sich immer noch nicht entschieden, was er mit seinem Leben anfangen will, und seine Eltern machen ihm da bisher keinen Druck.
Ich schüttele den Kopf. Es wird Zeit, dass ich ihn mir aus dem Kopf schlage. Wenn ich mir jetzt den ganzen Vormittag Sorgen um ihn mache, treibt ihn das auch nicht aus dem Bett. Vielleicht trinke ich heute Abend einfach ein Bierchen mit ihm.
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr, stelle fest, dass ich noch etwas Zeit habe, und steuere den kleinen Coffee-Shop an. Koffein ist nun genau das Richtige, um die komplizierten Vorlesungen zu überstehen, die mir bevorstehen.
* * *
Der Vormittag zieht sich. Normalerweise habe ich keine großen Schwierigkeiten, dem Stoff zu folgen, ganz im Gegenteil, doch heute bin ich mit meinen Gedanken stets woanders. Ich gehöre eigentlich zu den aufmerksamen Studenten, die im vorderen Drittel sitzen, sich Notizen machen und an geforderter Stelle mündlich mitarbeiten. Heute starre ich jedoch auf meinen Collegeblock, zeichne mit unbeholfenen Strichen eine Szene aus unserem letzten Video und denke über alles nach, nur nicht über die Notwendigkeit von Wirtschaftspsychologie.
Dabei überlege ich ernsthaft, einen entsprechenden Master zu machen.
Zuerst beherrschte Maik meine Gedanken, aber als ich dann aus der Ferne Benny ausmachte, konzentrierte sich mein gesamter Verstand nur noch auf dieses eine Ereignis mit dem mysteriösen Mädchen.
Komischerweise habe ich den ganzen Sonntag lang kaum einen Gedanken daran verschwendet. Genaugenommen war ich am Samstag sogar ziemlich schnell von ihr abgelenkt. Als ich gesehen hatte, dass das Mädchen verschwunden war, hatte ich mich zwar erst noch ein wenig gewundert und die Räume nach ihr abgesucht, doch mein Gefühl hatte mir deutlich gemacht, dass sie weg wäre - und das war sie auch. Tja, und dann hatten die Jungs schon dafür gesorgt, dass ich bei ihnen blieb. Den Sonntag über waren wir mit den Aufräumarbeiten beschäftigt gewesen und mit der Pflege unseres Katers ...
Und jetzt sitze ich hier, sollte mir eigentlich ganz genau anhören, was Professor Willson zu sagen hat, denke aber stattdessen über die kurze, intensive Begegnung nach. Ich sehe feuerrotes Haar vor mir, das sich weich bis weit über die Schulter ergießt, intensiv hellblaue Augen und Sommersprossen. So viele Sommersprossen!
Erneut frage ich mich, wieso sie mir noch nie aufgefallen ist. Und ich ärgere mich, dass ich sie nicht nach ihrem Namen gefragt habe, nach ihrer Handynummer, irgendwas. Dabei haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Am eindrucksvollsten sind mir ihre Augen in Erinnerung geblieben - groß und rund. Zu Beginn verschreckt, dann eingeschüchtert. Und die ganze Zeit über brannten sie sich tief in mein Hirn.
Mann. Diese Art des Kribbelns habe ich schon lange nicht mehr gespürt.
Nur, dass es ja offensichtlich keine Rolle spielt. Zum einen ist sie verschwunden - ich kenne weder ihren Namen, noch einen anderen Anhaltspunkt, wo sie herkommt. Sie kann die Begleitung eines Studenten gewesen sein, nur fürs Wochenende zu Besuch und längst über alle Berge. Sie kann sonst wo aus der Stadt kommen, muss nicht hier zur Uni gehen. Und ich habe nicht vor, Flugzettel zu verteilen oder so.
Tja, und zum anderen ... ich habe wirklich gar kein Interesse daran, ein Mädchen kennenzulernen. Ich bin im fünften Semester und stecke all meine Energie in mein Studium und in die Runden mit meinen Jungs. Zusätzlich jobbe ich bei einem Kollegen meines Vaters, um die Vorgänge auf Führungsebene kennenzulernen und mit meinen Studieninhalten zu verknüpfen, denn wenn ich irgendwann fertig bin, werde ich zurückkehren und ins Familienunternehmen einsteigen.
Ganz weit oben.
Ich habe weiß Gott nicht viel Freizeit, und die will ich mir nicht mit den Problemen um die Ohren schlagen, die Frauen unweigerlich mit sich bringen.
Selbst wenn sie feuerrotes Haar und intensiv-blaue Augen haben.
Endlich, die Stunde ist vorbei. Allgemeines Geraschel breitet sich aus, Stühlerücken, Gemurmel, dem ich mich gerne anschließe. Die Mittagspause steht bevor und ich kann es kaum erwarten, in die Mensa zu gelangen. Ich muss dringend meinen Kopf frei bekommen und vielleicht hilft mir dabei eine große Portion Kohlenhydrate - gepaart mit den dummen Sprüchen der Jungs.
Ich will mich gerade erheben und meine Tasche schultern, als ich plötzlich angequatscht werde.
»Herr Peters? Haben Sie eine Minute?«
Fuck. Professor Willson. Hat er bemerkt, dass ich mit meinen Gedanken woanders war, und will mich nun darauf ansprechen? Das letzte, worauf ich Lust habe, ist ein Gespräch über Moral - erst recht, weil ich im Normalfall immer vorbildlich bin. In der Erwartung, mich nun rechtfertigen zu müssen, wende ich mich meinem Prof zu - und sehe in ein lächelndes Gesicht.
»Ähm, klar.«
»Schön.« Er zwinkert mir zu. »Eigentlich wollte ich Ihnen nur sagen, dass Ihr letztes Video wirklich besonders gut war. Auch wenn ich mir sicher bin, dass der Gründer unserer Universität sich im Grabe umdrehen würde, wenn er wüsste, wie Sie das Wahrzeichen als Sprungbrett nutzen -« Ich will etwas erwidern, doch er bringt mich zum Schweigen, indem er die Hand hebt. »Nichts für ungut, wirklich. Mir gefällt es. Und mir gefällt es, wie Sie dadurch die Uni ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Außerdem wette ich, dass ich Ihnen Ihren jüngsten Fan präsentieren kann. Meine achtjährige Tochter kann es nie erwarten, bis das nächste Video kommt.«
»Äh ... danke.« Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Schon witzig, dass ich normalerweise mit größter Ernsthaftigkeit über trockenste Theorie reden und dabei wichtig klingen kann, aber jetzt, da mir einer der angesehensten Professoren der Wirtschaftsfakultät ein solches Kompliment gemacht hat, bin ich sprachlos.
»Alles in Ordnung, Herr Peters. Machen Sie einfach weiter so. Und wenn Sie mal wieder einen etwas schwächeren Tag haben, so wie heute, dann weiß ich ja, woran es liegt. Man kann nicht immer an jeder Front 100 Prozent geben. Ich schätze Sie als klugen Studenten, das vergesse ich nicht.«
Er gibt mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, dann verschwindet er.
Und lässt mich mit einer Mischung aus Unbehagen und Verwunderung zurück.
* * *
»Alter, du kommst auch mal!«
»Lustig, dass gerade du das sagst.«
Ich verziehe mein Gesicht zu einer belustigten Fratze, während ich mich auf den freien Stuhl zwischen Maik und Jo fallen lasse. Mein Tablett knallt auf den Tisch - beladen mit einer riesigen Portion Nudeln.
»Ist das dein Ernst?«, fragt Jo mich mit verwundertem Blick und deutet auf diese ach-so-schlimme Mahlzeit. »Dir ist klar ...«
»... dass in drei Stunden Training ist. Ja, Papa.« Ich ernte einen Schlag in den Nacken, tue aber so, als wäre nichts geschehen, und bohre meine Gabel in den köstlich duftenden Berg vor mir. »Ich brauche das jetzt, klar?«
Sofort wird der Blick meines Kumpels ernst. »Was ist los?«
Ich zucke unbestimmt mit der Schulter. »Nichts Besonderes. Ich bin unkonzentriert. War ein anstrengendes Wochenende.«
Das löst Gelächter am Tisch aus. Zum ersten Mal nehme ich bewusst wahr, wer alles bei uns sitzt. Neben Maik, Timo und Jo befinden sich noch ein paar andere Studenten an der Tafel. Die meisten sind Kommilitonen der Jungs, aber ich sehe auch ein paar Mädels, die uns schmachtende Blicke zuwerfen. Oh Gott, dieses Groupie-Verhalten hat vor etwa einem Jahr angefangen. Zu dem Zeitpunkt, als unser Youtube-Channel die Zehntausend-Marke geknackt hat. Mittlerweile sind wir bei 25 angekommen und es gibt eigentlich kaum noch eine Chance, sich über den Campus zu bewegen, ohne erkannt zu werden. Selbst in der Stadt werden wir ständig angequatscht. Niemals hätten wir gedacht, dass es sich so entwickelt. Aber auch wenn es manchmal nervt, ich werde einen Teufel tun, mich deshalb zu beschweren.
»He, Daniel«, ruft plötzlich jemand vom anderen Ende des Tischs.
Ich kaue zunächst zu Ende, ehe ich meinen Blick hebe. Ein Typ, den ich vage den Informatikern zuordne, schaut mich amüsiert an. »Was gibt’s?«
Er grinst. »Was ist denn aus der Rothaarigen geworden?«
Sofort erstarrt wirklich alles in mir. Alles. »Wovon redest du?«, entgegne ich so leichthin wie möglich, kann jedoch kaum verbergen, dass mich die Aufregung packt. Er hat etwas mitbekommen? Vielleicht kennt er sie ja?
Der Kerl blickt mich selbstzufrieden an. »Na du weißt schon. ‚Lass mich los‘. Die Schreierei. Du bist doch dazwischengegangen.«
Er äfft sie so dermaßen ätzend nach, dass ich ihn am liebsten am Kragen packen und durchschütteln würde, doch noch ehe ich meinen Mund aufmachen kann, schaltet sich Jo ein.
»Schreierei? Du bist irgendwo dazwischengegangen? Auf welcher Party war das denn? Ich habe nichts mitbekommen.«
»Es war ja auch nichts Großes«, knurre ich ungehalten und werfe dem Kerl einen so düsteren Blick zu, dass das Grinsen von seinen Zügen bröckelt. Dann wende ich mich Jo zu. »Da war dieses Mädchen. Es wurde von einem Typen bedrängt. Sie wollte es ganz offensichtlich nicht. Ich habe mich um das Problem gekümmert.«
Nun schaut mich Jo unverhohlen neugierig an. »Wieso hast du gar nichts davon erzählt?«
Ich zucke möglichst gelassen die Schultern. »Wie gesagt, es war nichts Großes. Ich habe sie danach noch auf einen Drink eingeladen, aber sie ist ziemlich schnell abgehauen.«
»Hm«, macht Jo, und dann mischt sich Timo ein.
»Moment mal. Ihr redet von einer Rothaarigen, die plötzlich verschwunden ist?«
Nun bin ich eindeutig wach. »Du kennst sie?«
Timo schüttelt den Kopf. »Nö. Aber ich schätze, ich weiß, mit wem sie gekommen ist.«
Zunächst breitete sich Enttäuschung in mir aus, doch dann wirft mir Timo einen Brocken hin, der meine ganze Aufmerksamkeit fesselt. »Ach ja?« Ich versuche, nicht allzu interessiert zu wirken, aber gemessen an den neugierigen Blicken, die mir die Jungs - und eigentlich auch der ganze Rest der Bande vom Tisch - zuwerfen, scheine ich nicht allzu erfolgreich zu sein.
»Jep«, sagt Timo gedehnt. Der Schweinehund merkt ganz genau, dass er gerade meine volle Aufmerksamkeit hat. Und ich weiß, er wird mich dafür bluten lassen. Dieser Arsch. »Aber wenn du sagst, es war keine große Sache, dann interessiert es dich vielleicht gar nicht?«
Ich ziehe eine Grimasse. »Ernsthaft? Ich würde schon gerne wissen, wer in unserer Bude herumschreit.«
Das war gemein. Ich spüre, wie mich eine Welle des schlechten Gewissens überrollt, während die Hälfte der Jungs lacht. Die Mädchen starren mich unverhohlen an.
Timo grinst. »Sie ist die Mitbewohnerin von Helena.«
Als wenn mich das weiterbringt. »Helena ...?«, frage ich ihn herausfordernd und ziehe dabei meine linke Augenbraue in die Höhe.
Timo zuckt mit den Schultern. »Jep. Ist eine Kommilitonin von mir. Wir besuchen ein paar Fotografie-Kurse zusammen.« Und dann, als würde er begreifen, dass er meine Geduld auf die Probe stellt: »Sie hat mich am Samstag irgendwann gefragt, ob ich ihre Mitbewohnerin gesehen hätte und von einer Rothaarigen gesprochen. Da ich jetzt nicht gerade viele Rotschöpfe bei uns gesehen habe, schätze ich, dass es um dasselbe Mädchen geht.«
Ah, okay. Gut. Damit kann ich arbeiten -
Moment. Wieso sollte ich? Ich habe doch noch vorhin festgestellt, dass ich gar kein Interesse an irgendwelchen Frauengeschichten habe ...
Jo klopft mir auf die Schulter. »Alles klar. Geheimnis gelüftet. Und jetzt iss deine Nudeln, Mann, bevor sie ganz kalt sind.«
Ich werfe ihm einen Blick zu, halb belustigt, halb entnervt, folge dann aber seiner Aufforderung.
Und meine Gedanken kreisen um eine unbekannte Rothaarige, deren Namen ich immer noch nicht kenne.
Ich bin dermaßen vertieft in mein Buch, dass ich es schreiend von mir werfe, als Helena plötzlich ohne Vorwarnung in mein Zimmer schneit.
»Verdammt, Weib!«, herrsche ich sie an. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du anklopfen sollst?«
»Was denn?«, erwidert sie kichernd. »Ist ja nicht so, als wenn du dich gerade nackt mit irgendwelchen Kerlen durchs Bett wälzen würdest, oder?«
»Die Betonung liegt auf ‚Kerlen‘«, brummele ich genervt. »Als wenn ich Orgien planen würde.«
»Meine Rede!« Noch immer lachend lässt Helena sich auf das Fußende meines Bettes fallen, auf dem ich mich bis eben noch gemütlich eingerollt hatte. Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick auf meinen Liebesroman. Als ich sehe, dass er ungünstig aufgeklappt auf der Bettdecke zwischen mir und Helena gelandet ist, beuge ich mich schnell vor, um das Buch zu retten. Ich mag es nicht, wenn Seiten Eselsohren bekommen. Weder um eine Seite zu markieren noch weil man nicht pfleglich damit umgeht.
Helena wirft einen bedeutsamen Blick auf den kitschigen Einband. »Mal wieder auf der Suche nach Mister Right?«
»Im Buch. Na klar«, erwidere ich ironisch, beiße mir aber auf die Unterlippe. Helena weiß, dass ich gerne lese. Sie kennt auch meine Vorlieben, immerhin sind sie mehr als deutlich im Regal an der Wand neben dem Bett ausgestellt. Und sie hält nicht allzu viel davon, dass ich mich regelmäßig in diese Welten stürze. Ganz abgesehen davon, dass sie es im Falle der Fälle spannender und blutiger mag, wie sie immer wieder betont, liest sie wesentlich weniger als ich. Ihrer Meinung nach müssen wir schon mehr als genug Fachliteratur lesen.
Nun. Ich mache das gerne. Überraschung.
Ihrer Meinung nach sollte ich mich tatsächlich auf die Suche nach Mister Right begeben und nicht ständig anderen Leuten dabei über die Schulter schauen, wie sie ihr Glück finden.
»Du weißt, das macht es nicht leichter«, sagt sie in diesem Moment auch schon - und ich stöhne entnervt auf. Genau diese Rede habe ich befürchtet.
»Ich weiß«, versuche ich sie zu unterbrechen, doch Helena redet unermüdlich weiter. Sie ist ein verdammter Wasserfall, wenn sie will. Und sie will meistens.
»Wenn du ständig von perfekten Kerlen liest, wird es umso schwerer für dich, einen zu finden, der deinen Ansprüchen genügt!«, führt sie ihre Predigt weiter aus und wirft mir wütende Blicke zu, als ich meine Lippen stumm zu ihren Worten bewege. »Du weißt es! Warum nimmst du dir die Worte nicht zu Herzen?«
Ich blicke sie entnervt an. »Ich kann sehr wohl zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden«, erkläre ich so bestimmt wie möglich und klappe dann das Buch mit einem lauten Schlag zu.