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Ein Mädchen – verschwunden. Die Wahrheit – tief vergraben. Doch manchmal bringt die Zeit selbst das Unvorstellbarste ans Licht …
Ellie Mack war fünfzehn. Klug, gewitzt, der Liebling ihrer Mutter. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Bis sie von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, doch insgeheim hat Laurel nie die Hoffnung aufgegeben, ihre Tochter irgendwann wiederzufinden. Ihr eigenes Glück ist nebensächlich geworden. Dann lernt sie einen Mann kennen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Was ihr jedoch wirklich den Atem raubt, ist die Begegnung mit seiner neunjährigen Tochter – denn diese ist Ellie wie aus dem Gesicht geschnitten. All die unbeantworteten Fragen sind mit einem Mal wieder da: Was geschah damals mit Ellie? Und gibt es jemanden, der endlich Licht ins Dunkel bringen kann?
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Seitenzahl: 388
Buch
Ellie Mack war fünfzehn. Klug, gewitzt, der Liebling ihrer Mutter. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Bis sie von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, doch insgeheim hat Laurel nie die Hoffnung aufgegeben, ihre Tochter irgendwann wiederzufinden. Ihr eigenes Glück ist nebensächlich geworden. Dann lernt sie einen Mann kennen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Was ihr jedoch wirklich den Atem raubt, ist die Begegnung mit seiner neunjährigen Tochter – denn diese ist Ellie wie aus dem Gesicht geschnitten. All die unbeantworteten Fragen sind mit einem Mal wieder da: Was geschah damals mit Ellie? Und gibt es jemanden, der endlich Licht ins Dunkel bringen kann?
Autorin
Lisa Jewell ist eine von Großbritanniens großen Bestsellerautorinnen. Sie wurde 1968 in London geboren und arbeitete viele Jahre in der Modebranche, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in London.
Von Lisa Jewell bereits erschienen
Der Flügelschlag des Glücks · Die Liebe seines Lebens · Der Fremde am Strand
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Lisa Jewell
Weil niemand sie sah
Roman
Deutsch von Carola Fischer
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Then She Was Gone« bei Arrow Books, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2017 by Lisa Jewell
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Limes in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Babette Leckebusch
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Simon & Schuster
Umschlagdesign: Laywan Kwan
Umschlagmotive: plainpicture/Michael Dooney; iStock.com/Povareshka
AF · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-23503-1V001
www.limes-verlag.de
Für Lor
Eine Anmerkung zu dem Figurennamen Sara-Jade Virtue
Der Name wurde mir geschenkt von einer real existierenden Sara-Jade Virtue, der Gewinnerin der »Get In Character«-Auktion des Vorjahres, mithilfe derer Spenden für die englische Wohltätigkeitsorganisation CLIC Sargent gesammelt werden. Sara-Jade ist eine der großartigsten, leidenschaftlichsten und einflussreichsten Menschen, die aktuell in der britischen Verlagsbranche arbeiten, und ich war superstolz, ihren Namen in meinem Roman verwenden zu dürfen.
CLIC Sargents Mission ist es, jungen Menschen zu helfen, die die Diagnose Krebs erhalten. Sie sind der Überzeugung, dass krebskranke Kinder und Jugendliche das Anrecht auf die bestmögliche Behandlung, Fürsorge und Unterstützung haben, während ihrer Erkrankung und darüber hinaus. Und sie verdienen die bestmögliche Chance, ihr Leben zu genießen, wenn ihre Krebsbehandlung vorüber ist.
http://www.clicsargent.org.uk/
Diese Monate, die Monate, bevor sie verschwand, waren die besten. Wirklich die besten. Jeder Moment erschien ihr wie ein Geschenk, das sagte: Hier bin ich, ein weiterer perfekter Augenblick. Sieh mich an, bin ich nicht zauberhaft? Jeder Morgen war ein Wirbelsturm aus Wimperntusche, Schmetterlingen im Bauch, einem höherschlagendem Herzen und strahlender Freude, sobald ihre Augen ihn entdeckten. Die Schule war kein Gefängnis mehr, sie war die hell erleuchtete quirlige Filmkulisse für ihre Lovestory.
Ellie Mack konnte nicht glauben, das Theo Goodman mit ihr ausgehen wollte. Theo Goodman war der bestaussehende Junge der zehnten Klasse, ohne Ausnahme. Er war auch der bestaussehende Junge der neunten Klasse gewesen, sowie der achten und der siebten. Allerdings nicht in der sechsten. Kein Junge der sechsten Klasse sah gut aus. Das waren alle kleine, glupschäugige Babys in riesigen Schuhen und viel zu großen Schuluniformen.
Theo Goodman hatte noch nie eine Freundin gehabt, und alle dachten, er sei vielleicht schwul. Er war ziemlich hübsch für einen Jungen und sehr dünn. Und einfach richtig nett. Ellie hatte jahrelang davon geträumt, mit ihm zusammen zu sein, schwul hin oder her. Es hätte sie schon glücklich gemacht, nur mit ihm befreundet zu sein. Jeden Tag begleitete seine junge, hübsche Mutter ihn zur Schule. Sie trug Sportklamotten und hatte ihre Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Meist führte sie einen kleinen weißen Hund aus, den Theo hochhob und auf die Schnauze küsste, bevor er ihn wieder vorsichtig auf dem Boden absetzte. Anschließend küsste er seine Mutter und schlenderte durch das Schultor. Es war ihm egal, wer zusah. Er schämte sich weder für den Chinesischen Schopfhund noch für seine Mutter. Er war selbstbewusst.
Im vergangenen Jahr, gleich nach den Sommerferien, hatte er ein Gespräch mit ihr begonnen. Einfach so. In der Mittagspause, über Hausaufgaben oder etwas in der Art, und Ellie, sonst eher ahnungslos, hatte augenblicklich gewusst, dass er nicht schwul war und dass er sie angesprochen hatte, weil er sie mochte. Das war offensichtlich. Und dann waren sie Freund und Freundin geworden, einfach so. Sie hatte sich das komplizierter vorgestellt.
Doch eine falsche Bewegung, ein Knick in der Zeitachse, und alles war vorüber. Nicht nur ihre Lovestory, sondern alles. Jugend, Leben, Ellie Mack. Alles vorüber. Für immer. Wenn sie die Zeit zurückdrehen, sie wie ein verheddertes Wollknäuel entwirren und neu aufrollen könnte, würde sie die Knoten im Garn sehen, die Warnzeichen. Rückblickend schien alles auf der Hand zu liegen. Doch damals, als sie noch vollkommen ahnungslos war, hatte sie es nicht kommen sehen. Offenen Auges war sie in die Falle gelaufen.
Erster Teil
Laurel schloss die Tür zur Wohnung ihrer Tochter auf. Drinnen war es, selbst an diesem hellen Tag, düster und dunkel. Das Fenster zur Vorderseite war von Glyzinien verhangen, die andere Seite der Wohnung wurde vollkommen von dem angrenzenden Waldstück überschattet.
Ein Spontankauf war das gewesen. Hanna hatte gerade ihren ersten Bonus ausgezahlt bekommen und wollte das Geld für etwas Vernünftiges ausgeben, bevor es ihr zwischen den Fingern zerrann. Die vormaligen Besitzer hatten die Wohnung wunderschön eingerichtet, aber Hanna hatte nie Zeit, Möbel zu kaufen, weshalb sie nun wie eine traurige, dezimierte Geschiedenen-Bleibe aussah. Hanna hatte nichts dagegen, dass ihre Mutter bei ihr sauber machte, während sie nicht da war, und das bewies, dass die Wohnung für sie nichts anderes als ein geräumiges Hotelzimmer war.
Laurel huschte durch den schäbigen Flur direkt in die Küche und holte das Putzzeug unter der Spüle hervor. Anscheinend war Hanna letzte Nacht nicht zu Hause gewesen. Keine Müslischale in der Spüle, keine Milchspritzer auf der Arbeitsfläche, keine offene Wimperntusche neben dem Vergrößerungsspiegel auf dem Fensterbrett. Laurel lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Hanna kam immer nach Hause. Hanna ging nie irgendwo anders hin. Sie nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche und tippte mit zittrigen Fingern Hannas Nummer. Ihre Hand bebte, als der Anruf direkt auf die Mailbox umgeleitet wurde, wie immer, wenn Hanna bei der Arbeit war. Das Telefon fiel ihr aus der Hand und landete seitlich auf ihrem Schuh. Es war heil geblieben.
»Mist«, zischte sie, hob das Telefon auf und starrte es ausdruckslos an. »Mist.«
Es gab niemanden, den sie anrufen und fragen konnte: Hast du Hanna gesehen? Weißt du, wo sie ist? So funktionierte ihr Leben nicht. Es gab keine Verbindungen. Nur kleine Inseln von Leben hier und da.
Es war möglich, aber unwahrscheinlich, dass Hanna einen Mann kennengelernt hatte. Hanna hatte noch nie einen Freund gehabt, nicht einen einzigen. Irgendjemand hatte einmal die Theorie aufgestellt, dass Hanna aus Schuldgefühlen allein blieb, weil ihre kleine Schwester nie einen Freund haben würde. Dieselbe Theorie ließ sich auch auf ihre schmucklose Wohnung und ihr nicht existentes Privatleben anwenden.
Laurel wusste sofort, dass sie überreagierte, und auch, dass sie nicht überreagierte. Für die Mutter eines Kindes, das eines Morgens mit einem Rucksack voller Bücher das Haus verlassen hatte, um in der fünfzehn Minuten entfernt gelegenen Bibliothek zu lernen, und nie wieder nach Hause zurückgekehrt war, gab es keine Überreaktionen. Wenn sie sich nun in der Küche ihrer erwachsenen Tochter vorstellte, diese würde tot in einem Graben liegen, weil keine Müslischale in der Spüle stand, war das im Rahmen ihrer Erfahrungen vollkommen vernünftig und verständlich.
Sie gab den Namen von Hannas Firma in die Suchmaschine ein und tippte auf den Link der Telefonnummer. Die Zentrale stellte sie zu Hanna durch, und Laurel hielt den Atem an.
»Hanna Mack am Apparat.«
Da war sie, die Stimme ihrer Tochter, harsch, farblos.
Laurel sagte nichts, sondern drückte nur auf »Anruf beenden«. Dann steckte sie das Telefon wieder in ihre Tasche. Sie öffnete Hannas Geschirrspüler und begann, das Geschirr auszuräumen.
Wie hatte Laurels Leben vor zehn Jahren ausgesehen, als sie noch drei, nicht nur zwei Kinder gehabt hatte? War sie jeden Morgen mit einem Hochgefühl aufgewacht? Nein, war sie nicht. Laurel war immer schon ein Mensch gewesen, für den das Glas halb leer und nicht halb voll war. Stets gab es so vieles, worüber sie sich selbst an guten Tagen beklagen konnte, und die Freude über eine gute Nachricht wurde durch eine neue Sorge zu einem flüchtigen Augenblick zurechtgestutzt. Jeden Morgen beim Aufwachen war sie davon überzeugt, schlecht geschlafen zu haben, auch wenn das nicht der Fall war. Sie sorgte sich, dass ihr Bauch zu dick, ihr Bankkonto zu leer, ihr Ehemann zu faul, ihre Kinder zu laut oder zu leise waren oder dass sie bald von zu Hause ausziehen oder niemals ausziehen würden. Wenn sie aufwachte, fielen ihr die hellen Katzenhaare auf dem schwarzen Rock über dem Stuhl im Schlafzimmer auf, der fehlende Hausschuh, Hannas Augenringe, der Wäscheberg, den sie schon seit Wochen zur Reinigung bringen wollte, der Riss in der Tapete im Flur, der pubertäre Pickel auf Jakes Kinn, der Geruch nach Katzennahrung und der Mülleimer, den alle immer weiter vollstopften und niemand Anstalten machte, ihn zu leeren.
So hatte sie früher ihr perfektes Leben gesehen: Als eine endlose Abfolge von schlechten Gerüchen, unerledigten Pflichten, unnötigen Sorgen und unbezahlten Rechnungen.
Eines Morgens war ihr Mädchen, ihr Augenstern, ihre Jüngste, ihr Baby, ihre Seelenverwandte, ihr ganzer Stolz, aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.
Und wie hatte sie sich während dieser wenigen qualvollen Stunden von Ellies Verschwinden gefühlt? Was war in ihren Gedanken, in ihrem Herzen an die Stelle der unnötigen Sorgen getreten? Nackte Angst. Reine Verzweiflung. Großer Kummer. Pures Entsetzen. Seelische Schmerzen. Innerer Aufruhr. Tiefes Leid. Furcht. So viele melodramatische Worte, doch alle unzulänglich.
»Sie ist bestimmt bei Theo«, sagte Paul. »Ruf doch seine Mutter an.«
Sie wusste sofort, dass sie nicht bei Theo war. Ihre letzten Worte waren: »Zum Mittagessen bin ich wieder da. Ist noch etwas von der Lasagne übrig?«
»Noch eine Portion.«
»Gib sie nicht Hanna! Auch nicht Jake! Versprich es mir!«
»Ich verspreche es.«
Die Tür fiel ins Schloss, mit einer Person weniger war es plötzlich leiser im Haus, der Geschirrspüler musste eingeräumt, ein Anruf erledigt, Paul, dessen Erkältung das größte Ärgernis ihres Lebens zu sein schien, eine heiße Zitrone ans Bett gebracht werden.
»Paul hat eine Erkältung.«
Wie vielen Menschen hatte sie das in den vergangenen Tagen erzählt? Ein hörbarer Seufzer, ein genervter Blick. »Paul hat eine Erkältung.« Mein Kreuz. Mein Leben. Ich bin zu bemitleiden.
Sie rief Theos Mutter trotzdem an.
»Nein«, sagte Becky Goodman. »Tut mir wirklich leid. Theo war den ganzen Tag zu Hause, und wir haben nichts von Ellie gehört. Falls ich irgendetwas tun kann …?«
Als der Nachmittag zum frühen Abend wurde, nachdem sie sämtliche Freunde von Ellie angerufen hatte und bei der Bibliothek gewesen war, wo man ihr die Aufnahmen der Videoüberwachung zeigte – Ellie war an jenem Tag nicht dort gewesen –, als die Sonne allmählich unterging und die kalte Dunkelheit des Hauses in Sekundenabständen von den weißen Lichtpfeilen eines Gewitters am Himmel erhellt wurde, gab sie schließlich der drängenden Sorge nach und rief die Polizei an.
An diesem Abend hasste sie Paul zum ersten Mal, als er dort in seinem Bademantel stand, nach Bettwäsche und Rotz riechend, immerzu schniefte, dann die Nase putzte, das unerträgliche Schnauben, der schwere Atem, der in ihren hypersensiblen Ohren wie die Todesqualen eines Monsters klang.
»Zieh dich an«, fuhr sie ihn an. »Bitte.«
Er fügte sich wie ein gescholtenes Kind. Ein paar Minuten später kam er wieder, er trug sommerliche Cargoshorts und ein buntes T-Shirt. Ganz falsch. Vollkommen falsch.
»Und putz dir die Nase«, sagte sie. »Richtig, so, dass alles rauskommt …«
Auch diesmal tat er wie geheißen. Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu, als er das Taschentuch zusammenknüllte und ermattet durch die Küche zum Mülleimer schlappte.
Dann kam die Polizei.
Und die Sache begann.
Die Sache, die kein Ende nahm.
Manchmal fragte sie sich, ob alles anders gewesen wäre, wenn Paul an jenem Tag nicht erkältet gewesen wäre, wenn er aus der Arbeit nach Hause geeilt wäre, in einem zerknitterten schicken Anzug, voller Tatendrang, wenn er aufrecht neben ihr gesessen hätte, seine Hände um ihre gelegt, wenn er nicht gekeucht, geschnieft und wie eine Vogelscheuche ausgesehen hätte – hätten sie es dann gemeinsam durchgestanden? Oder hätte sie ihn für etwas anderes gehasst?
Um halb neun verließ die Polizei das Haus. Kurz darauf erschien Hanna in der Küchentür.
»Mum«, sagte sie in entschuldigendem Tonfall. »Ich habe Hunger.«
»Oh, tut mir leid.« Laurel warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Meine Güte, du musst ja am Verhungern sein.« Sie stand schwerfällig auf und inspizierte zusammen mit ihrer Tochter den Inhalt des Kühlschranks.
»Das hier?« Hanna nahm die Tupperdose mit der letzten Portion Lasagne heraus.
»Nein.« Sie griff nach der Dose, zu forsch. Hanna blickte sie verwundert an.
»Warum nicht?«
»Weil ich Nein gesagt habe.« Diesmal klang ihre Stimme freundlicher.
Sie hatte ihr Toast mit Bohnen gemacht, sich zu ihr gesetzt und ihr beim Essen zugesehen. Hanna. Ihr mittleres Kind. Das schwierige, anstrengende Kind, mit dem sie nicht auf einer einsamen Insel stranden wollte. Ein schrecklicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf, so blitzschnell, dass sie ihn kaum registrierte.
Du solltest verschwunden sein, und Ellie sollte hier sitzen und Bohnen auf Toast essen.
Mit dem Handrücken berührte sie sanft Hannas Wange, dann stand sie auf und ging aus der Küche.
Als Allererstes hätte Ellie keine schlechte Note in Mathe schreiben dürfen. Wenn sie mehr gelernt hätte, schlauer gewesen wäre, wenn sie an dem Tag der Schulaufgabe nicht so müde und unkonzentriert gewesen wäre, nicht mehr Zeit mit Gähnen als mit Nachdenken verbracht hätte, wenn sie eine Eins anstatt einer Zwei plus bekommen hätte, wäre all das nicht passiert. Wenn man weiter zurückging, vor die Zeit der Matheschulaufgabe, hätte sie sich nicht in Theo verliebt, sondern in einen Jungen, der schlecht in Mathe war, ein Junge, der sich nichts aus Mathe oder Schulnoten machte, ein Junge ohne Ehrgeiz, oder am besten hätte es gar keinen Jungen gegeben, dann hätte sie nicht so gut wie er sein wollen, sie wäre mit ihrer Zwei plus zufrieden gewesen und hätte ihre Mutter nicht um Mathenachhilfe angebettelt.
Da war er, der erste Knick in der Zeitachse. Um halb fünf an einem Mittwochnachmittag im Januar.
Voller Zorn war sie nach Hause gekommen. Sie war oft zornig, wenn sie aus der Schule kam. Sie tat es nie absichtlich, es passierte einfach. Sobald sie ihre Mutter sah oder deren Stimme hörte, wurde sie wütend und all die Worte, die sie in der Schule heruntergeschluckt hatte – denn in der Schule galt sie als nettes Mädchen, und so einen Ruf sollte man sich nicht verderben –, schossen aus ihr heraus.
»Mein Mathelehrer ist scheiße«, sagte sie und pfefferte ihre Schultasche auf die Bank im Flur. »Echt scheiße. Ich hasse ihn.« Sie hasste ihn nicht. Sie hasste sich selbst, weil sie versagt hatte. Aber das konnte sie nicht sagen.
Ihre Mutter, die an der Spüle stand, antwortete: »Was ist denn passiert, Liebling?«
»Das hab ich dir doch gerade gesagt!« Hatte sie nicht, aber das war egal. »Mein Mathelehrer ist total schlecht. Bei den Abschlussprüfungen werde ich durchfallen. Ich brauche einen Nachhilfelehrer. Unbedingt!«
Sie stürmte in die Küche und ließ sich mit einer dramatischen Bewegung auf einen Stuhl fallen.
»Einen Nachhilfelehrer können wir uns nicht leisten«, sagte ihre Mutter. »Du könntest nachmittags zum Matheclub in der Schule gehen, was meinst du?«
Das war der nächste Knick. Wenn sie nicht so verwöhnt gewesen wäre, nicht geglaubt hätte, dass ihre Mutter alle ihre Probleme für sie lösen würde, wenn sie auch nur die leiseste Ahnung von den finanziellen Verhältnissen ihrer Eltern gehabt hätte, wenn sie sich nicht nur für sich selbst interessiert hätte, wäre das Gespräch an dem Punkt beendet gewesen.
Sie hätte gesagt: Okay, das verstehe ich. Ich gehe zum Matheclub.
Aber das sagte sie nicht. Sie drängte ihre Mutter immer weiter. Sie bot an, die Stunden von ihrem eigenen Geld zu bezahlen. Sie führte Klassenkameraden an, die viel ärmer als sie waren und private Nachhilfe bekamen.
»Und wenn du jemanden aus der Schule fragst?«, schlug ihre Mutter vor. »Einen Schüler aus der Oberstufe, der sich für ein paar Pfund und ein schönes Stück Kuchen mit dir hinsetzt?«
»Was? Auf keinen Fall! Das wäre schrecklich peinlich!«
Weg war sie, eine weitere Chance, sich zu retten, entglitt ihr wie ein glitschiges Ding. Vorbei. Und sie wusste es nicht einmal.
Bis vor zwei Minuten hatte es keinen konkreten Anhaltspunkt zu ihrem Verschwinden gegeben. Nicht einen einzigen, seit dem Tag im Mai 2005, als Ellie nicht nach Hause gekommen war.
Das letzte Mal war Ellie um zehn Uhr dreiundvierzig von der Videoüberwachung in der Stroud Green Road erfasst worden, als sie kurz anhielt, um im Seitenfenster eines Wagens ihr Aussehen zu überprüfen. (Eine Zeit lang hatte man geglaubt, sie wäre stehen geblieben, um einen Insassen anzusehen oder mit dem Fahrer zu sprechen, aber der Besitzer des Wagens konnte beweisen, dass er zu dem Zeitpunkt im Urlaub war und sein Wagen die ganze Zeit dort parkte.) Mehr gab es nicht. An diesem Punkt endeten die Aufzeichnungen ihres Weges.
Die Polizei hatte jedes Haus in der unmittelbaren Nachbarschaft durchsucht, alle bekannten Pädophilen vorgeladen, sämtliche Videoaufzeichnungen aller Ladenbesitzer in der Stroud Green Road durchgeschaut, Laurel und Paul hatten sich in einem Aufruf an die Bevölkerung gewandt, den fast acht Millionen Menschen im Fernsehen sahen, aber sie kamen keinen Schritt weiter, das Kamerabild von Ellie auf der Straße um zehn Uhr dreiundvierzig blieb der letzte Anhaltspunkt.
Ellie trug an diesem Tag ein schwarzes T-Shirt und Jeans. Für die Polizei war das ein Problem. Ihr hübsches goldblondes Haar hatte sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden, ihr Rucksack war blau, ihre weißen Turnschuhe waren gewöhnliche Supermarktware. Alles ein Problem. Es schien, als hätte sie sich unsichtbar machen wollen.
Zwei Kommissare mit aufgekrempelten Hemdsärmeln durchstöberten vier Stunden lang Ellies Zimmer. Anscheinend hatte Ellie nur ihre üblichen Sachen mitgenommen. Vielleicht hatte sie Unterwäsche eingesteckt, denn Laurel wusste nicht, ob etwas in ihren Schränken und Schubladen fehlte. Vielleicht hatte sie auch etwas zum Wechseln mitgenommen, denn Ellie hatte, wie die meisten fünfzehnjährigen Mädchen, viel zu viele Klamotten, als dass Laurel den Überblick hätte behalten können. Aber in Ellies Sparschwein befanden sich noch die sorgsam gefalteten Zehn-Pfund-Noten, die sie nach jedem Geburtstag hineinsteckte. Ihre Zahnbürste war noch im Bad, ebenso ihr Deo. Ellie hatte noch nie irgendwo übernachtet, ohne ihre Zahnbürste und ihr Deo mitzunehmen.
Zwei Jahre später schränkte die Polizei die Nachforschungen nach Ellie ein. Laurel wusste, was sie dachten. Sie dachten, Ellie sei von zu Hause weggelaufen.
Aber warum hielt die Polizei Ellie für eine Ausreißerin, wenn sie auf keinem Überwachungsvideo der Bahnhöfe, Bushaltestellen oder Straßen der Umgebung zu sehen war? Es gab nur diese eine Aufzeichnung. Die Einschränkung der Suche war niederschmetternd.
Noch niederschmetternder war Pauls Reaktion auf diese Nachricht.
»Das heißt wohl, dass sie die Suche einstellen.«
Das war der Sargnagel für ihre Ehe.
Die Kinder machten weiter wie bisher, wie Züge auf den Schienen hielten sie ihren Fahrplan ein. Hanna beendete die Schule. Jake schloss sein Studium als Landvermesser an einer Universität in West Country ab. Paul bemühte sich um eine Beförderung im Job, kaufte sich Anzüge, redete von einem neuen Auto und zeigte ihr im Internet Hotels mit Spezialangeboten für den Sommer. Paul war kein schlechter Mann. Paul war ein guter Mann. Sie hatte einen guten Mann geheiratet, genau wie sie es immer vorgehabt hatte. Aber seine Art und Weise, wie er mit dem riesigen Loch umging, das durch Ellies Verschwinden in ihr Leben gerissen worden war, hatte ihr gezeigt, dass er nicht stark genug war – er war nicht wahnsinnig genug.
Die Enttäuschung über Paul nahm unter all ihren Gefühlen so wenig Platz ein, dass sie sie kaum bemerkte. Als er ein Jahr später auszog, war das kaum mehr als ein Wimpernschlag in ihrem Leben. Wenn sie jetzt an diese Zeit zurückdachte, konnte sie sich nur an weniges erinnern. Das Einzige, was sie noch wusste, war das zwingende Bedürfnis, die Suche nach Ellie fortzusetzen.
»Könnten wir nicht noch einmal ein paar Hausdurchsuchungen machen?«, bat sie die Polizei. »Das letzte Mal ist schon über ein Jahr her. Sicherlich würden wir jetzt etwas entdecken, das wir damals nicht gefunden haben.«
Der Kommissar lächelte. »Wir haben darüber gesprochen«, sagte er. »Und wir haben entschieden, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Vielleicht in einem Jahr oder so. Vielleicht.«
Doch im Januar hatte die Polizei sich überraschend gemeldet und gesagt, dass Crimewatch einen Beitrag zum zehnjährigen Verschwinden von Ellie bringen wollte. Eine Rekonstruktion. Sendetermin war der 26. Mai. Es gab keine neuen Beweise. Niemand hatte Ellie gesehen.
Es änderte nichts.
Bis jetzt.
Am Telefon hatte der Kommissar vorsichtig geklungen. »Vielleicht ist da gar nichts dran, aber Sie sollten aufs Revier kommen.«
»Was haben Sie gefunden?«, fragte Laurel. »Eine Leiche? Was ist es?«
»Bitte kommen Sie her, Mrs. Mack.«
Zehn Jahre lang nichts. Und plötzlich war da etwas.
Sie griff nach ihrer Handtasche und verließ das Haus.
Damals
Eine Nachbarin aus der Straße hatte sie empfohlen. Sie hieß Noelle Donnelly. Als es an der Tür klingelte, stand Ellie auf und spähte den Flur hinunter, wo ihre Mutter die Tür öffnete. Noelle war ziemlich alt, so um die vierzig, und hatte einen Akzent, irisch oder schottisch.
»Ellie!«, rief ihre Mutter. »Ellie, bitte sag Noelle Guten Tag.«
Sie hatte hellrote Haare, die sie am Hinterkopf mit Spangen festgesteckt hatte. Sie blickte lächelnd auf Ellie herab und sagte: »Guten Tag, Ellie. Ich hoffe, du hast dein Gehirn eingeschaltet.«
Sie wusste nicht, ob Noelle einen Witz machen wollte oder es ernst meinte, deshalb erwiderte sie ihr Lächeln nicht, sondern nickte nur.
»Schön«, sagte Noelle.
Für die erste Nachhilfestunde hatten sie eine Ecke des Esszimmers hergerichtet. Sie hatten eine Lampe aus Ellies Zimmer geholt, das Chaos auf dem Tisch beseitigt und zwei Gläser und eine Wasserkaraffe sowie Ellies Federmäppchen mit den schwarzen und roten Punkten bereitgestellt.
Laurel ging in die Küche, um für Noelle eine Tasse Tee zu kochen. Als Noelle den Kater auf dem Klavierhocker entdeckte, hielt sie inne.
»Hey«, sagte sie. »Das ist ein großer Bursche. Wie heißt er?«
»Teddy«, sagte Ellie. »Teddy Bear. Kurz Teddy.«
Die ersten Worte, die sie an Noelle richtete. Sie würde sie nie vergessen.
»Nun ja, ich verstehe, warum ihr ihn so nennt. Er sieht wirklich wie ein großer haariger Bär aus!«
Hatte sie Noelle daraufhin gemocht? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie hatte sie nur angelächelt und ihre Hand in dem weichen Fell des Katers vergraben. Sie liebte ihren Kater und war froh, dass er da war, ein Puffer zwischen ihr und dieser Fremden.
Noelle Donnelly roch nach Frittierfett und ungewaschenen Haaren. Sie trug Jeans und einen beigen Schlabberpullover, eine billige Armbanduhr, abgewetzte braune Stiefel. Eine Lesebrille hing an einer grünen Schnur um ihren Hals. Sie hatte breite Schultern, einen wulstigen Nacken und lange, dünne Beine. Sie sah aus, als hätte sie ihr Leben in einem Raum mit einer sehr niedrigen Decke verbracht.
»Also gut«, sie setzte ihre Lesebrille auf und fasste mit einer Hand in ihre braune Aktentasche. »Ich habe dir ein paar alte Prüfungsblätter mitgebracht. Die wirst du gleich bearbeiten, dann kann ich deine Stärken und Schwächen erkennen. Vorher erklär mir doch bitte noch einmal mit eigenen Worten, wo genau deine Probleme liegen.«
In dem Moment kam Mum mit einem Becher Tee und einigen Schokoladenkeksen auf einem Unterteller herein. Rasch und geräuschlos stellte sie beides auf dem Tisch ab. Sie benahm sich, als ob Ellie und Noelle Donnelly ein Date hätten oder ein streng geheimes Treffen abhielten. Ellie wollte sagen: Bleib hier, Mum. Bleib bei mir. Ich kann mit dieser fremden Frau nicht allein sein.
Sie bohrte ihren Blick in den Rücken ihrer Mutter, als Laurel sich aus dem Zimmer stahl und die Tür hinter ihr zuschnappte, leise, entschuldigend.
Noelle Donnelly wandte sich Ellie zu und lächelte sie an. Sie hatte sehr kleine Zähne. »Also gut«, sie setzte die Brille wieder auf die schmale Nase. »Wo waren wir stehen geblieben?«
Die Welt schien voller böser Omen, während Laurel, ein bisschen schneller als erlaubt, zur Polizeiwache in Finsbury Park fuhr. Die Menschen auf der Straße sahen finster und zwielichtig aus, als würden sie jeden Moment ein schreckliches Verbrechen begehen. Markisen flatterten im frischen Wind wie die Flügel von Raubvögeln; Plakatwände waren so aufgestellt, als würden sie jeden Moment auf die Straße kippen und sie ins Jenseits befördern.
Adrenalin bahnte sich kraftvoll einen Weg durch ihre Müdigkeit.
Seit 2005 hatte Laurel nicht mehr richtig geschlafen. Sieben Jahre lang lebte sie schon allein; erst im Haus der Familie und später in der Wohnung, in die sie vor drei Jahren gezogen war, als Paul eine andere Frau kennengelernt und damit jede Chance auf Versöhnung zunichtegemacht hatte. Die Frau hatte ihm angeboten, mit ihr zusammenzuleben, und er hatte eingewilligt. Laurel hatte nie begriffen, wie er das geschafft hatte, wie er unter den Trümmern ihres Lebens diesen gesunden Kern in sich gefunden hatte. Aber sie machte ihm keinen Vorwurf. Nicht im Geringsten. Sie wünschte, sie könnte das Gleiche tun: einige große Koffer packen und sich selbst Auf Wiedersehen sagen, sich eine schöne Zukunft wünschen, sich für all die Erinnerungen bedanken, liebevoll auf sich selbst blicken, nur einen Moment lang, um dann leise die Tür zu schließen und erhobenen Hauptes im Schein der Morgensonne einer glänzenden neuen Zukunft entgegenzugehen. Sie würde es tun, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
Auch Jake und Hanna waren weggezogen. Schneller, vermutete sie, und früher, als sie es getan hätten, wenn ihr Leben nicht zehn Jahre zuvor aus der Bahn geschleudert worden wäre. Sie hatte Freunde mit Kindern im gleichen Alter wie Jake und Hanna, die immer noch zu Hause wohnten. Ihre Freunde klagten über die leeren Orangensaftflaschen im Kühlschrank, die fürchterlichen Sexgeräusche und den Lärm der betrunkenen Nachtschwärmer, der sie um vier Uhr morgens aus dem Schlaf riss. Laurel würde alles dafür geben, eines ihrer Kinder am frühen Morgen im Haus herumstolpern zu hören. Sie würde sich über die Spur von benutztem Geschirr und zerknüllten Jogginghosen inklusive Unterwäsche überall auf dem Fußboden freuen. Aber ihre beiden Kinder hatten nicht ein einziges Mal zurückgeschaut, sobald sie ihre Fluchtmöglichkeit erkannt hatten. Jake lebte in Devon mit einer jungen Frau namens Blue, die ihn nicht aus den Augen ließ und schon nach einem Jahr Beziehung von Babys redete. Hanna lebte nur eine Meile von Laurel entfernt in ihrer winzigen, düsteren Wohnung und arbeitete täglich vierzehn Stunden und an den Wochenenden in der City of London für nichts anderes als ein gutes Gehalt. Keiner von beiden sorgte für Furore, aber wessen Kinder machten das schon? All die Hoffnungen und Träume und das Gerede über Primaballerinas und Popstars, Konzertpianisten und bahnbrechende Wissenschaftler. Letztlich arbeiteten sie alle in einem Büro. Ausnahmslos.
Laurel wohnte in einem Neubau in Barnet, zwei Schlafzimmer, eines für sie, eines für Besucher, ein Balkon, groß genug für Tisch und Stühle sowie ein paar Blumenkübel, eine glänzend rote Kücheneinrichtung und ein Privatparkplatz. Sie hatte sich nie vorgestellt, dass sie eines Tages so wohnen würde, aber es war sicher und bequem.
Wie füllte sie ihren Tag, seit ihre Kinder aus dem Haus waren? Seit ihr Ehemann weg war? Seit selbst der Kater nicht mehr da war, obwohl er sie fast einundzwanzig Jahre lang nicht allein gelassen hatte? Drei Tage in der Woche hatte Laurel einen Job. Sie arbeitete in der Marketingabteilung des Einkaufzentrums in High Barnet. Einmal in der Woche besuchte sie ihre Mutter im Pflegeheim in Enfield. Und einmal in der Woche putzte sie Hannas Wohnung. Die restliche Zeit verbrachte sie mit vermeintlich wichtigen Dingen, wie zum Beispiel Balkonpflanzen im Gartencenter zu kaufen oder Kaffee mit Freunden zu trinken, die ihr nicht mehr wichtig waren, und Gespräche zu führen, die sie nicht interessierten. Einmal pro Woche ging sie schwimmen. Nicht um fit zu bleiben, sondern weil sie das immer getan hatte und keinen guten Grund fand, damit aufzuhören.
Nach all diesen Jahren war es seltsam, die Wohnung mit einem Gefühl der Dringlichkeit, einem Ziel zu verlassen, um etwas wirklich Wichtiges zu tun.
Man würde ihr etwas zeigen. Ein Knochenstück vielleicht, einen blutbefleckten Stofffetzen, ein Foto von einer aufgedunsenen Leiche, die in einem entlegenen Gewässer trieb. Sie würde etwas wissen, nachdem sie zehn Jahre lang nichts gewusst hatte. Vielleicht würde man ihr Beweise vorlegen, dass ihre Tochter noch lebte. Oder Beweise dafür, dass sie tot war. Die schwere Last auf ihrer Seele verriet, dass sie Letzteres glaubte.
Ihr Herz pochte wild in der Brust, als sie zur Polizeiwache in Finsbury Park fuhr.
Damals
Mit jedem ihrer wöchentlichen Besuche in diesem Winter wuchs Noelle Donnelly Ellie ein klein wenig mehr ans Herz. Nicht sehr. Nur ein bisschen. Hauptsächlich weil sie eine gute Lehrerin war und Ellie jetzt zu den Besten der Besten in der Klasse mit Aussicht auf Spitzennoten zählte. Aber es gab auch andere Gründe: Noelle brachte Ellie oft eine Kleinigkeit mit: Ohrringe von Claire’s Accessoires, einen Lippenbalsam mit Fruchtgeschmack, einen hübschen Stift. »Für meine beste Schülerin«, sagte sie dann. Und wischte Ellies Protest mit einem »Ich war gerade in der Gegend, das ist wirklich nicht der Rede wert« vom Tisch.
Sie fragte auch jedes Mal nach Theo, den sie bei ihrer zweiten oder dritten Stunde bei Ellie angetroffen hatte. »Und wie geht es deinem hübschen Freund?« hätte beschämend geklungen, wenn Noelle nicht diesen reizenden irischen Akzent gehabt hätte, der sie witziger und interessanter wirken ließ, als sie war.
»Theo geht’s gut«, antwortete Ellie, und Noelle schenkte ihr ein kühles Lächeln. »Den solltest du dir warmhalten.«
Die Abschlussprüfungen rückten bedrohlich näher. Es war März, und Ellie zählte die Zeit bis zu den Prüfungen jetzt nicht mehr in Monaten, sondern in Wochen. Durch die dienstägliche Stunde mit Noelle war ihr Gehirn in Fahrt gekommen, war aufnahmefähiger für Fakten und Formeln geworden. Sie arbeiteten schnell, in einem aufgepeitschten Rhythmus. Ellie bemerkte sofort Noelles Stimmungswechsel an diesem ersten Dienstag im März.
»Guten Tag, Ellie.« Sie stellte ihre Tasche auf dem Tisch ab und öffnete sie. »Wie geht es dir?«
»Mir geht’s gut.«
»Das ist schön, freut mich. Und wie bist du mit den Übungsblättern zurechtgekommen?«
Ellie schob die ausgefüllten Blätter über den Tisch. Normalerweise hätte Noelle ihre Lesebrille aufgesetzt und die Aufgaben sofort korrigiert, aber heute legte sie nur ihre Hand aufs Papier und trommelte geistesabwesend mit den Fingern. »Braves Mädchen«, sagte sie. »Du bist ein sehr braves Mädchen.«
Ellie schaute sie fragend aus dem Augenwinkel heraus an, sie wartete auf ein Zeichen, dass die Stunde begann. Aber nichts geschah. Noelle starrte weiterhin ausdruckslos auf die Übungsblätter.
»Sag mal, Ellie«, begann sie schließlich und blickte sie mit starren Augen an. »Was ist das Schlimmste, was dir je passiert ist?«
Ellie zuckte die Achseln.
»Also was?«, drängte Noelle. »Ist dein Hamster gestorben? Zum Beispiel.«
»Ich habe noch nie einen Hamster gehabt.«
»Was? Dann war’s wohl genau das. Du hattest keinen Hamster, und das ist das Schlimmste, was dir je passiert ist. Ja?«
Ellie zuckte wieder die Achseln. »Ich wollte eigentlich nie einen haben.«
»Also, was wolltest du dann haben? Was wolltest du unbedingt haben, aber es wurde dir nicht erlaubt?«
Im Hintergrund konnte Ellie den Fernseher in der Küche laufen hören, im Stockwerk über ihr saugte ihre Mutter Staub und ihre Schwester telefonierte. Ihre Familie machte einfach weiter, während sie mit ihrer Mathenachhilfelehrerin eine seltsame Unterhaltung über Hamster führen musste.
»Nichts Besonderes, denke ich. Das Übliche: Geld, Klamotten.«
»Wolltest du nie einen Hund haben?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Noelle seufzte und zog Ellies Übungsblätter zu sich heran. »Dann bist du ein Glückskind. Ein echtes Glückskind. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen.«
Ellie nickte.
»Das ist gut. Denn wenn du erst einmal so alt bist wie ich, wird es Vieles geben, was du dir wünschst und was die anderen bekommen, sodass du denkst: Jetzt bin ich bald an der Reihe. Und dann siehst du deine Chance an dir vorüberziehen. Und du kannst nichts dagegen tun. Rein gar nichts.«
Einen Moment lang herrschte beredtes Schweigen, schließlich setzte Noelle ihre Brille auf und nahm sich das erste Übungsblatt vor. »Na, dann schauen wir mal, wie meine beste Schülerin diese Woche gelernt hat.«
»Ellie, erzähl mal, was sind deine Hoffnungen, deine Träume?«
Ellie stöhnte lautlos. Noelle Donnelly war wieder einmal in dieser sonderbaren Stimmung.
»Ich will richtig gut in diesen Prüfungen abschneiden, mehr nicht. Und später an einer angesehenen Uni studieren.«
Noelle schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum seid ihr jungen Leute bloß so besessen von der Uni? Meine Güte, wenn ich an das Trara denke, als ich am Trinity angenommen wurde! War das eine große Sache. Meine Mutter hat es jedem erzählt. Ihr einziges Mädchen an so einer renommierten Universität! Und jetzt? Bin ich bettelarm.«
Ellie lächelte und wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Nein, es gibt noch mehr im Leben als nur die Uni, Fräulein Neunmalklug. Es gibt noch was anderes als Zeugnisse und Studienabschlüsse. Ich habe mehr als genug davon. Und jetzt sitze ich hier in eurem schönen warmen Zuhause, trinke euren wunderbaren Earl Grey Tee und bekomme einen Hungerlohn dafür, dass ich dein Gehirn mit meinem Wissen fülle. Ich habe nichts im Leben.« Sie drehte sich abrupt um und starrte Ellie an. »Wirklich nichts, das ist mein Ernst.« Dann seufzte sie und lächelte, setzte die Brille auf und wandte den Blick von Ellie ab. Die Stunde begann.
Später ging Ellie zu ihrer Mutter in die Küche. »Mum, ich möchte mit den Nachhilfestunden aufhören.«
Ihre Mutter drehte sich um und sah sie fragend an. »Oh, wirklich?«, sagte sie. »Warum?«
Ellie dachte daran, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie dachte daran zu sagen: Sie jagt mir eine Heidenangst ein, und sie sagt wirklich seltsame Sachen, und ich will nicht mehr jede Woche eine Stunde lang mit ihr allein sein. Wie sehr sie sich wünschte, sie hätte die Wahrheit gesagt. Wenn sie die Wahrheit gesagt hätte, vielleicht hätte ihre Mutter die Situation klären können, und alles wäre anders gekommen. Aber aus irgendeinem Grund erzählte Ellie nicht die Wahrheit. Vielleicht glaubte sie, ihre Mutter würde das für eine dumme Idee halten, die Nachhilfestunden so kurz vor den Prüfungen zu beenden. Oder vielleicht wollte sie Noelle Ärger ersparen, vermeiden, dass die Situation schwierig wurde. Doch aus irgendeiner irrigen Annahme heraus sagte sie: »Ich bin einfach davon überzeugt, dass ich alles von Noelle gelernt habe, was sie mir beibringen kann. Sie hat mir alle Übungsblätter von sich gegeben, die kann ich weiter bearbeiten. Außerdem sparst du so Geld.« Sie lächelte gewinnend und wartete, was ihre Mutter sagen würde.
»Also, es ist schon etwas merkwürdig, so kurz vor den Prüfungen.«
»Das ist der Punkt. Ich denke, ich sollte jetzt besser für andere Fächer lernen. Geografie zum Beispiel. Ich könnte gut noch etwas Zeit zum Geografielernen gebrauchen.«
Das war die hundertprozentige Unwahrheit. Ellie beherrschte all ihre Fächer aus dem Effeff. Die eine Stunde würde keinen Unterschied machen. Aber sie lächelte ihre Mutter weiter charmant an und wartete darauf, dass sie sich äußerte.
»Also, Liebling, es ist natürlich deine Entscheidung.«
Ellie nickte ermutigend, das Echo von Noelles emotional aufgeladenen Worten, der Essensgeruch und die ungewaschenen Haare, die Stimmungsschwankungen und die unpassenden Fragen wirbelten ihr durch den Kopf.
»Bist du dir sicher? Es wäre schön, sich diese extra Geldausgabe zu sparen.«
»Stimmt.« Erleichterung durchströmte sie. »Ganz genau.«
»In Ordnung.« Ihre Mutter öffnete die Kühlschranktür, nahm ein Glas Bolognese-Soße heraus und schloss sie wieder. »Ich rufe sie morgen an und sage es ihr.«
»Super«, sagte Ellie leichthin. Sie spürte, wie ihr eine dunkle Last von der Seele genommen wurde. »Danke.«
Der junge Polizist im Anzug, der Laurel begrüßte, wirkte leicht nervös und gestresst, sein Händedruck war feucht. Er führte sie in ein Gesprächszimmer. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er, als ob die Möglichkeit bestanden hätte fernzubleiben. Tut mir leid, aber heute habe ich schon eine Menge vor. Vielleicht nächste Woche?
Jemand ging ihr ein Glas Wasser holen. Einen Moment später öffnete sich erneut die Tür, und Paul kam herein.
Paul, meine Güte, natürlich, Paul. Sie hatte nicht einmal an ihn gedacht. Sie hatte sich so verhalten, als ob das allein ihre Sache wäre. Aber in der Wache hatte man an Paul gedacht. Er stürmte in den Raum, wehendes silbergraues Haar, zerknitterter Anzug, den herben Geruch der Londoner City auf der Haut. Im Vorbeigehen legte er kurz seine Hand auf Laurels Schulter, aber sie brachte es nicht über sich, zu ihm aufzusehen, sondern lächelte nur gezwungen, falls jemand die Begrüßung beobachtete.
Er nahm den Platz neben ihr ein, eine Hand an der Krawatte, während er sich hinsetzte. Jemand holte ihm einen Tee aus der Maschine. Sie war verärgert über den Tee. Sie war verärgert über Paul.
»Wir haben ein Gelände in der Nähe von Dover abgesucht«, sagte der Kriminalbeamte mit Namen Dane. »Ein Spaziergänger hat uns angerufen. Sein Terrier hat eine Tasche ausgegraben.«
Eine Tasche. Laurel nickte, gereizt. Eine Tasche war keine Leiche.
Dane holte einige Fotos aus einem festen Umschlag. Er schob sie über den Tisch zu Laurel und Paul. »Erkennen Sie diese Gegenstände wieder?«
Laurel zog die Fotos zu sich heran.
Das war Ellies Tasche. Ihr Rucksack, den sie sich über die Schulter gehängt hatte, als sie vor all diesen Jahren das Haus verlassen hatte, um zur Bibliothek zu gehen. Der Rucksack hatte ein kleines rotes Logo, das bei dem landesweiten Aufruf der Polizei eine zentrale Rolle gespielt hatte, denn an jenem Tag war es tatsächlich das einzige hervorstechende Merkmal an Ellie gewesen.
Das zweite Foto zeigte ein schwarzes T-Shirt, ein weit geschnittenes Teil mit U-Boot-Ausschnitt und kurzen Flügelärmeln. Auf dem Schildchen stand »New Look«. Sie hatte das T-Shirt vorn in die Jeans gesteckt.
Der dritte Gegenstand war ein BH: grau mit kleinen schwarzen Punkten. Auf dem Schildchen stand »Atmosphere«.
Der vierte Gegenstand war eine Jeans. Hellblaues Denim. Auf dem Schildchen innen stand »Top Shop«.
Als Fünftes kamen ein Paar schmuddelige weiße Turnschuhe.
Als Sechstes ein schlichter schwarzer Kapuzenpullover mit einer weißen Kordel. Auf dem Schildchen innen stand »Next«.
Der siebte Gegenstand war ein Schlüsselbund. Der Anhänger war eine kleine Plastikeule, deren Augen aufleuchteten, wenn man einen Knopf auf ihrem Bauch drückte.
Auf dem achten Foto waren ein Stapel Schulhefte und -bücher zu sehen, grün und modrig.
Auf dem neunten war ein Federmäppchen: schwarz-rot gepunktet, mit vielen Filz- und Buntstiften.
Der zehnte Gegenstand war eine Packung Tampons, aufgequollen, obszön.
Der elfte war ein kleiner Laptop, altmodisch und abgenutzt.
Der letzte Gegenstand war ein Reisepass.
Sie zog das Foto näher zu sich heran; Paul beugte sich zu ihr hinüber, und sie schob das Foto zwischen sie beide.
Ein Reisepass.
Ellie hatte ihren Reisepass nicht mitgenommen. Laurel bewahrte ihn immer noch auf. Manchmal nahm sie ihn aus der Kiste mit Ellies Sachen, betrachtete das Geistergesicht ihrer Tochter und dachte an die Reisen, die sie nie unternehmen würde.
Während sie auf den Reisepass starrte, wurde ihr klar, dass der nicht von Ellie war.
Es war Hannas Reisepass.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Das ist der Reisepass meiner älteren Tochter. Wir dachten, sie hätte ihn verloren. Aber …« Sie starrte wieder auf das Foto, ihre Finger berührten es an den Rändern. »… er ist hier. In Ellies Rucksack. Wo haben Sie den gefunden?«
»In einem dichten Waldgebiet«, erwiderte Dane. »Nicht weit vom Fährhafen. Sie könnte auf dem Weg nach Europa gewesen sein, das überprüfen wir gerade. In Anbetracht des Reisepasses.«
Eine jähe Wut packte Laurel. Das war ganz und gar verkehrt. Die Polizei suchte nach Beweisen, um die lang gehegte Theorie der Ausreißerin von zu Hause zu untermauern. »Aber ihre Tasche«, sagte sie. »Da waren doch nur die Sachen drin, die sie damals mit fünfzehn von zu Hause mitgenommen hat? Und mit genau denselben Sachen soll sie Jahre später das Land verlassen? Das ergibt gar keinen Sinn.«
Dane blickte sie beinahe zärtlich an. »Wir haben die Kleidung untersucht. Sie wurde zweifellos sehr oft getragen.«
Laurel stockte der Atem bei dem Gedanken an ihr perfektes Mädchen, immer sauber und wohlriechend, das jahrelang in denselben Klamotten herumlief. »Also … wo ist sie? Wo ist Ellie?«
»Wir suchen nach ihr.«
Sie spürte Pauls Blick, er brauchte ihre Zuwendung, um diese vielen Informationen verarbeiten zu können. Aber sie konnte seinem Blick nicht begegnen, sie konnte ihm nichts von sich geben.
»Wissen Sie, ein paar Jahre nach Ellies Verschwinden wurde bei uns eingebrochen. Ich habe der Polizei damals gleich gesagt, dass das Ellie war. Die Dinge, die fehlten, kein gewaltsames Eindringen, dieses Gefühl von …« Sie brach ab, denn sie wollte nicht über schwammige Gefühle sprechen. »Damals muss sie Hannas Reisepass mitgenommen haben. Das muss sie …«
Sie verstummte. Konnte die Polizei von Anfang an richtig gelegen haben? War Ellie von zu Hause fortgelaufen? Hatte sie ihre Flucht geplant?
Aber von wo aus? Und wohin? Und warum?
In dem Moment ging die Tür auf, und ein weiterer Kriminalbeamter betrat den Raum. Er ging zu Dane und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Beide Männer schauten Laurel und Paul an.
Dane setzte sich gerade hin, rückte seine Krawatte zurecht und sagte: »Unsere Kollegen haben menschliche Überreste gefunden.«
Instinktiv fand Laurels Hand die von Paul.
Sie drückte so fest zu, dass sich seine Knochen bogen.
Damals
»Was sollen wir diesen Sommer machen?«
Theo, dessen Kopf auf Ellies Schoß lag, drehte ihr sein Gesicht zu und lächelte sie an. »Nichts«, sagte er. »Lass uns einfach gar nichts machen.«
Ellie legte ihr Buch aus der Hand und berührte Theos Wange. »Auf gar keinen Fall«, sagte sie. »Ich will alles machen. Alles außer Lernen, Pauken, Büffeln. Wie wär’s mit Paragliding? Sollen wir das mal ausprobieren?«
»Also du hast allen Ernstes vor, diesen Sommer zu sterben?« Theo lachte. »Du bist echt verrückt.«
Sie schlug ihn sanft auf die Wange. »Ich bin nicht verrückt. Ich bin nur bereit zu fliegen.«
»Wortwörtlich?«
»Ja, wortwörtlich. Übrigens, Mum hat gesagt, dass wir ein paar Tage in das Ferienhaus meiner Oma fahren könnten. Wenn wir wollen.«
Theo strahlte sie an. »Im Ernst? Also, nur wir beide?«
»Oder wir könnten mit Freunden fahren.«
»Oder vielleicht nur wir beide?« Er nickte eifrig, neckisch, und Ellie musste lachen.
»Ja, auch das.«
Es war ein Samstagnachmittag im Mai, eine Woche vor den Abschlussprüfungen. Sie waren in Ellies Zimmer und machten eine Lernpause. Draußen schien die Sonne. Teddy Bear, der Kater, lag neben ihnen auf dem Bett, Pollen und Hoffnung schwebten in der Luft. Ellies Mutter sagte oft, dass der Mai der Freitagabend des Sommers war: Die schönen Tage lagen noch vor einem, hell und strahlend warteten sie darauf, gelebt zu werden. Ellie spürte den Ruf des pulsierenden Lebens von der anderen Seite des dunklen Prüfungstunnels her, sie konnte warme Nächte und lange Tage fühlen, die Unbeschwertheit des Nichtstuns. Sie dachte an all die Dinge, die sie tun konnte, sobald dieses Kapitel in ihrem Leben abgeschlossen war, all die Bücher, die sie lesen würde, all die Picknicks, Jahrmärkte, Shoppingtouren, Urlaube und Partys. Bei dem Gedanken erfasste sie atemlose Spannung; sie hatte Schmetterlinge im Bauch, und ihr Herz machte Freudenhüpfer.
»Ich kann es kaum erwarten«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten, dass alles vorbei ist.«
Die Polizeiermittlungen zum Einbruch in Laurels Haus hatten damals zu keinem Ergebnis geführt. Nirgendwo auf dem Grundstück wurden auffällige Fingerabdrücke gefunden, und auf den Aufzeichnungen der Überwachungskamera von den zwei Stunden, die Laurel außer Haus gewesen war, war niemand zu sehen, auf den Ellies Beschreibung oder die eines Mädchens in ihrem Alter passte. Der »Dieb« hatte einen alten Laptop mitgenommen, Pauls altes Handy, etwas Bargeld, das Laurel bei ihrer Unterwäsche versteckt hatte, ein Paar Art-déco-Kerzenleuchter, ein Hochzeitsgeschenk von sehr reichen Leuten, mit denen sie inzwischen nicht mehr befreundet waren, und einen Kuchen aus der Küche, den Hanna am Vortag gebacken hatte.
Der Dieb hatte nichts von Laurels Schmuck genommen – nicht einmal den Ehe- und den Verlobungsring, die sie seit einiger Zeit nicht mehr trug und die offen auf einer Kommode dalagen. Der Einbrecher hatte nicht den Mac entwendet, der neuer und wertvoller war als der Laptop – und auch nicht ihre Kreditkarten, die sie in einer Küchenschublade aufbewahrte, damit sie ihr nicht auf der Straße gestohlen wurden.
»Vielleicht hatten sie nicht mehr Zeit«, sagte einer der Polizisten, die nur zehn Minuten nach ihrem Anruf bei der Polizei vor ihrer Haustür standen. »Oder sie haben im Auftrag gestohlen, wussten schon, was sie weiterverkaufen können und an wen.«
»Das fühlt sich seltsam an.« Laurel schlang die Arme um ihren Körper. »Das fühlt sich – ich weiß nicht. Meine Tochter ist vor vier Jahren verschwunden.« Sie blickte die Polizisten fest und unnachgiebig an. »Ellie Mack? Erinnern Sie sich?«
Die beiden tauschten einen Blick aus und sahen dann wieder zu ihr.
»Ich konnte sie spüren«, sagte sie. Sie klang wie eine Verrückte, aber das war ihr egal. »Als ich das Haus betrat, konnte ich meine Tochter spüren.«
Die beiden Männer tauschten noch einen Blick aus. »Fehlt etwas von ihren Sachen?«
Sie schüttelte den Kopf, dann zuckte sie die Achseln. »Ich denke, nein. Ich war in ihrem Zimmer, es sieht genauso aus wie immer.«
Es herrschte Schweigen, während die Polizisten verlegen von einem Fuß auf den anderen traten.
»Wir haben keine Einbruchspuren an Fenstern oder Schlössern gefunden. Wie ist der Dieb ins Haus gekommen?«
Laurel blinzelte bedächtig. »Das weiß ich nicht.«
»War eines der Fenster offen?«
»Nein, ich …« Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. »Ich glaube nicht.«
»Verstecken Sie einen Schlüssel im Garten?«
»Nein, nie.«
»Haben Sie einen Schlüssel bei Nachbarn oder Freunden hinterlegt?«
»Nein, nein. Nur wir haben Schlüssel zum Haus. Mein Mann, meine Kinder und ich.«
Während sie die Worte aussprach, fing ihr Herz an zu rasen und ihre Hände wurden feucht. »Ellie«, sagte sie. »Ellie hatte einen Schlüssel. Als sie verschwand. In ihrem Rucksack. Vielleicht …«
Die Polizisten schauten sie erwartungsvoll an.
»Vielleicht ist sie zurückgekommen. Von dort, wo sie die ganze Zeit war. Vielleicht war sie verzweifelt? Das würde erklären, warum nur Dinge fehlen, an denen uns nichts liegt. Sie weiß, dass ich diese Kerzenleuchter nicht mag. Ich habe oft gesagt, dass ich sie eines Tages in der Antiques Roadshow im Fernsehen schätzen lasse, weil sie wahrscheinlich ein Vermögen wert sind. Und der Kuchen!«
»Der Kuchen?«
»Ja, in der Küche stand ein Schokoladenkuchen. Meine Tochter hat ihn gebacken. Meine andere Tochter. Ich meine, welcher Einbrecher nimmt schon einen Kuchen mit?«
»Ein hungriger Einbrecher?«