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Eine wahre Geschichte, anhand authentischer Ermittlungsakten und Verhörprotokolle als Kriminalroman zu Ende erzählt. Hochschwarzwald, Mai 1928. Auf der Weißtannenhöhe werden zwei Frauen ermordet aufgefunden. Die beiden waren Cousinen und in den Pfingstferien auf Wanderschaft. Die Umstände der Tat sind schockierend: Den Frauen wurde zweimal in den Kopf geschossen und die Kehle durchgeschnitten. Gerd Tanner und Hans Kaltenbach, zwei Ermittler, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, gehen bei der Suche nach dem Täter zunächst getrennte Wege. Dann geschieht ein weiterer Mord, und erschütternde Geheimnisse kommen ans Licht.
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Seitenzahl: 413
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Christof Weiglein, geboren 1964 bei Deutschlands höchsten Wasserfällen, wohnt in Villingen-Schwenningen. Seit einem schweren Unfall ist er auf Rollstuhl und Aufzüge angewiesen. Er hat Maschinenbau studiert, schreibt Romane und wundert sich, wie das zusammenpasst.
Dieser Roman beruht auf einer wahren Begebenheit. Am 31. Mai 1928 wurden zwei Frauen auf der Weißtannenhöhe im Hochschwarzwald ermordet. Die Tat wurde nie aufgeklärt. Basierend auf Verhörprotokollen, Tatortbeschreibung und Obduktionsberichten wird hier der Fall neu aufgerollt und zu einem fiktiven Ende gebracht. Hinweis: Der Tathergang wurde entsprechend den Unterlagen der Staatsanwaltschaft Freiburg und Zeitungsberichten rekonstruiert. Alles Weitere ist eine Vermischung von Realität und Fiktion. Der Übergang ist fließend, reale Personen werden Teil der fiktionalen Handlung. Um nicht gegen den Persönlichkeitsschutz zu verstoßen, wurden deshalb die Namen der realen Personen geändert. Im Anhang findet sich eine Aufstellung der tatsächlichen Begebenheiten und der Interpretationen des Autors. Außerdem ein Personenregister.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli, unter Verwendung eines Motivs von Pexels/Matthew Montrone
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-073-0
Originalausgabe
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Für Sabine
Der heilige deutsche Wald
»Von verbrecherischen Händen sind im Schwarzwald zwei blühende Menschenleben frühzeitig dem Tode ausgeliefert worden.
Zwei Menschen, die sich als Aufgabe ihres irdischen Daseins die Erziehung der deutschen Jugend erwählt hatten, fielen Kreaturen zum Opfer, die ihrer Wünsche Ziel nur durch Anwendung von Gewalt zu erreichen suchten. Mit Abscheu wendet sich jeder noch der eigenen Achtung fähige Mensch von Verbrechern ab, die wehrlose Menschen überfallen und zu Boden treten und rauben, was hehr und wertvoll ist.
Der heilige deutsche Wald, er ist nicht mehr. Mit der Tatsache müssen wir uns abfinden, und wenn sie mit rauer Faust die Gedanken verwirrt.«
Auszug eines Kommentars in der »Freiburger Zeitung« vom 7. Juni 1928, erstes Blatt
Von oben betrachtet sah es aus wie immer. Gleichgültig erwarteten Feldberg, Herzogenhorn und Belchen, die Könige des Südschwarzwalds, deren Gipfel sich über eintausendvierhundert Meter erhoben, den nächsten Tag. Und auch ihr Nachbar, die dicht bewaldete Weißtannenhöhe, schenkte den Geschehnissen im Mai 1928 keine Beachtung. Es kümmerte sie nicht, dass ein offensichtlich verwirrter junger Mann abseits der Wege durch Unterholz und Gestrüpp zu ihrem Gipfel hinaufhetzte.
»Sünde, Sünde, Sünde«, keuchte er und zog sich an einer Baumwurzel den steilen Abhang hoch. Seine Haare klebten an seinem Kopf, Schweiß tropfte auf sein Hemd. »Weiter, weiter«, befahl er sich und begann zu rennen, da der Anstieg nun flacher wurde. Seine Lungen schmerzten, sein Herz raste. Er biss sich auf die Unterlippe. Blut vermischte sich mit Speichel, den er ausspuckte und der ihm im Mundwinkel hängen blieb.
Weiter, weiter, immer weiter, bis zur totalen Erschöpfung und darüber hinaus. Nur so konnte er die Lust austreiben, diese giftige Schlange, die seinen Geist vernebelte, die Gott erzürnte. Seine Mutter hatte ihn einmal erwischt, als er unter der Decke nach Erleichterung suchte. Dem Vater hatte sie es gesagt, und der Vater hatte es ihm gezeigt. Mit dem Ochsenziemer auf nackter Haut, bis das Blut spritzte. Geschrien hatte er so laut, dass der Hofhund anschlug. Doch noch lauter schrie der Vater, während der heilige Zorn seine Hand führte. Gott um Verzeihung bat der Vater, den Teufel verfluchte er. Der Teufel, der ihm diese missratene Kreatur untergeschoben hatte. Diesen Nichtsnutz, der so schwer von Begriff war, der nicht richtig reden konnte, der immer stotterte. Depp nannte er ihn, Depp war sein Name, einen anderen kannte er nicht.
Ja, er war ein Depp, und er war ein Sünder, ein Sünder, der immer und überall von unzüchtigen Gedanken verfolgt wurde. Schuld daran war das Foto, das er immer bei sich trug, das in seiner Hosentasche glühte, das er verbrennen musste, was er aber nicht konnte, weil die Lust so groß war, weil der Teufel selbst seine Hand führte. Sein Bruder hatte es ihm gegeben, das Foto. »Damit kannst du hobeln, bis die Rute rot wird«, hatte er gesagt. »Und wenn du’s dem Vater verrätst, bring ich dich um.«
Das Foto zeigte eine halb nackte Frau auf einem Sofa. Bekleidet nur mit einem Hut mit langer Feder, einem Schal und Strümpfen, die bis zu den Schenkeln reichten. Ihr Busen war schwer, er hing zur Seite, weil sie sich dem Betrachter zuwandte. Ihre Hüften waren ausladend, das eine Bein war ausgestreckt, das andere angewinkelt. Und dort, wo sich ihre Beine trafen, dort war das dunkle Dreieck. Der geheimnisvolle Ort, das Zentrum der Lust, die Verheißung. »Genau da, da musst du ihn reinstecken«, hatte sein Bruder gesagt. »Dort ist es feucht und warm. Wenn du die Frauen dort berührst, fangen sie an zu stöhnen, bis sie ohnmächtig werden.«
Einmal hatte er das Dreieck mit der Lupe untersucht. Ein gefährliches Unternehmen, weil jeden Augenblick jemand in die Stube hätte kommen können. Hätte man ihn ertappt, hätte der Vater ihn totgeprügelt. Doch es hatte sich gelohnt, denn die Lupe hauchte dem Foto Leben ein, führte ihn ganz dicht an den verbotenen Ort. Die Aufregung, die Lust, die Angst – noch nie war er so erregt gewesen. Ein Gefühl, das nur vom Teufel stammen konnte, denn in diesem Moment stand er kurz davor, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Und hätte sich ein Weib gezeigt, egal, ob alt oder jung, schön oder hässlich, dann wäre er über sie hergefallen, dann hätte er das Geheimnis gelüftet.
»Am Anfang sträuben sie sich«, hatte sein Bruder gesagt. »Das ist immer so. Doch wenn du sie richtig rannimmst, wenn du sie zwischen den Beinen packst, wenn sie dein Ding spüren, dann werden sie weich wie Butter, dann machen sie alles, was du willst.«
Es war nicht mehr weit. Vorn kam die Mulde, in die er sich hineinlegen und die er dann mit Zweigen abdecken konnte. Hier wollte er das Foto verbrennen, den Teufel vertreiben. Aber schon längst schwächte das Abwegige sein Vorhaben. Seine Schritte verlangsamten sich, und mit jedem Schritt wuchs seine Erregung. Jetzt war alle Sünde vergessen, jetzt beherrschte die Vorfreude auf das Foto, auf das dunkle Dreieck und die Entladung seiner Lust sein Denken.
Die Stimmen hörte er erst, als es fast so weit war. Er spähte aus seinem Versteck und sah zwei Frauen – eine jüngere und eine ältere. Sie gingen den Höhenweg Richtung Titisee. Die jüngere kam aus dem Wald und schob ihren Rock nach unten. Für einen Augenblick hatte er ihre Schenkel gesehen – sein Atem stockte. War heute der Tag, war das die Gelegenheit? Mit fiebrigen Händen schloss er seine Hose, in seinen Lenden pochte es, er war bereit. Musste er ihnen erst Angst einjagen? Würde er dazu das Messer brauchen?
Die Frauen gingen nicht weiter, sie unterhielten sich lachend auf einer kleinen Lichtung. Sollte er rennen oder langsam auf sie zugehen? Wäre nur eine nicht besser? Sollte er mit der Jüngeren beginnen? Was würde die Ältere tun? Unschlüssig verharrte er in der Mulde. Die Ältere schaute plötzlich auf und drehte ihm den Rücken zu. Dann hob sie ihren Arm und winkte. »Bis ihr hier oben seid, ist Winter«, rief sie.
Zwei Männer kamen in sein Sichtfeld, offensichtlich die Begleiter der Frauen. Er duckte sich tief in sein Versteck und wartete. Die beiden Pärchen zogen sich gegenseitig auf, dann gingen sie weiter. Ihre Stimmen wurden leiser und verloren sich im Wald. Allmählich ebbte seine Erregung ab. Nichts Verbotenes war geschehen – er war froh darum. Doch tief in seinem Inneren hatte sich ein entsetzlicher Gedanke festgesetzt.
Eine Woche später, am Mittwoch, dem 30. Mai 1928, im Gasthof Zum Thurner, Hochschwarzwald
Rosa Reichert, die zweiundzwanzigjährige Tochter des Wirts, wischte über den Tresen und stellte dann das Speckvesper und ein Glas Bier auf das Tablett. Ihr Vater nahm einen großen Schluck Wasser und verschwand in der Küche, er hatte ordentlich zu tun. Das Wirtshaus war gut besucht, dichte Rauchschwaden mischten sich mit dem Geruch von Bratkartoffeln und Bier. Sie öffnete das kleine Seitenfenster und sog gierig die frische Luft ein. Die Abendsonne tauchte die sanft geschwungenen Hügel des Schwarzwalds in warmes Licht, schon bald würde sie hinter dem Gipfel des Rosskopfs verschwinden. Rosa seufzte und brachte, nicht mehr ganz so beschwingt wie gewohnt – ihr Arbeitstag war lang und schwer –, das Bestellte zu Ruth Fehrenbach, einer kultivierten Frau mittleren Alters, die allein an einem Ecktisch saß.
»Das sieht aber gut aus«, sagte Ruth Fehrenbach. »Darauf habe ich mich den ganzen Tag gefreut.«
»Nach dem Wandern schmeckt’s immer am besten«, entgegnete Rosa Reichert freundlich. »Wo ist denn Ihre Schwester, hat sie keinen Hunger?«
»Clara ist auf unserem Zimmer geblieben. Sie ist aber nicht meine Schwester, sie ist meine Cousine.« Ruth Fehrenbach rückte ihr Essen zurecht und strich die Serviette glatt. »Clara behauptet, keinen Hunger zu haben, was natürlich Unsinn ist. Sie will abnehmen, glaube ich, was genauso unsinnig ist. Seit geraumer Zeit liest sie Magazine, in denen junge Frauen wie Hungerhaken aussehen. Sie ist etwa in Ihrem Alter. Denken Sie auch so? Muss die moderne Frau gertenschlank sein?«
»Äh, ich lese keine Magazine. Ich hab gar keine Zeit dazu. Ich schaff viel, und damit ich schaffen kann, ess ich. Die Kleider sollten halt passen, aber deswegen abnehmen?«
»Ich stelle seltsame Fragen, nicht wahr? Aber die Zeiten sind ja auch seltsam, und dann bin ich auch noch Lehrerin, die stellen schon von Berufs wegen seltsame Fragen.«
»Ja, manchmal schon«, kicherte Rosa.
»Clara ist auch Lehrerin. Wir wohnen beide in Mannheim und nutzen die Pfingstzeit zur Erholung. Heut früh sind wir in Triberg losgewandert, morgen geht es über die Weißtannenhöhe nach Titisee. Von dort fahren wir mit der Bahn bis Bärental und wandern dann zum Feldberg.«
»Da haben Sie einiges vor. Ist aber ein schöner Weg, und das Wetter soll auch gut sein. Es wird Ihnen gefallen.«
»Ja, in der Heimat ist es immer am schönsten. Wissen Sie, ich bin ja gebürtig aus Bittelbrunn bei Engen. Das liegt auf der Hegaualb. Kennen Sie den Hegau?«
»Vom Namen her. Ist zwar nicht weit, aber ich komm nicht viel rum.«
»Den Hegau kennzeichnen erloschene Vulkane, und Bittelbrunn ist bekannt für die jüngst gemachten steinzeitlichen Funde im Brudertal.«
Rosa Reichert schaute sich um. Das Ehepaar Birmele am großen Tisch machte auf sich aufmerksam. »Ich muss jetzt –«
»Oh, ich rede mal wieder zu viel und halte Sie von der Arbeit ab, Entschuldigung.«
»Ist schon in Ordnung, ich schwätz gern mit den Gästen.« Rosa Reichert lächelte, und ihr Blick traf sich mit dem von Herrn Lot aus Magdeburg. Er saß beim Kachelofen und hatte anscheinend ihr Gespräch verfolgt. Was sollte er auch sonst tun, begnügte er sich doch schon seit Stunden mit einem Glas Bier und starrte in die Runde. Auch jetzt machte er keine Anstalten, etwas zu bestellen, wollte er denn nichts essen? Rosa wandte sich den anderen Gästen zu. Sie mochte Lots Blick nicht, er war stechend. Seine zu großen Augen passten nicht zu seinem feisten Gesicht, das ein hölzernes Lächeln zeigte.
Zurück am Tresen schenkte die Wirtstochter Getränke ein und versorgte Geschirr. Währenddessen beobachtete sie Lot, der über den Tisch hinweg mit Ruth Fehrenbach sprach. Anfänglich entwickelte sich eine Unterhaltung, doch je länger sie ging, desto einsilbiger wurde die Lehrerin. Rosa Reichert konnte einen gewissen Widerwillen in ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Haltung erkennen. Irgendwann stand Ruth Fehrenbach abrupt auf und verließ die Wirtsstube mit kurzem Gruß. Zurück blieben ihr leerer Teller, ihr leeres Glas und Lot, der sich unbeeindruckt wieder der Beobachtung der anderen Gäste widmete.
Die Zeit schritt voran, und Lot hatte, gedankt sei Gott, Abendbrot bestellt, das er mit unendlicher Langsamkeit verzehrte. Inzwischen verließen die letzten Gäste die Stube, auch ihr Vater hatte sich zurückgezogen und sich vermutlich schon schlafen gelegt. So blieb ihr nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass der Gast bald ins Bett ging. Ein Gähnen mühsam unterdrückend, kehrte sie die Stube aus und trocknete Geschirr ab – es gab immer etwas zu tun. Später deckte sie noch die Frühstückstische im Nebenraum, somit konnte sie morgen zumindest ein bisschen länger liegen bleiben. Bei alldem rührte Lot sich nicht, nur seine Augen verfolgten Rosa, und allzu gern hätte sie ihm den Wischmopp in die Hand gedrückt, damit er sich nützlich machen konnte.
Endlich, es war schon kurz nach elf, erhob sich Lot und kündigte seine Nachtruhe an. Wie es sich gehörte, zeigte Rosa ihm den Weg zu den Gästezimmern, die im ersten und zweiten Stock lagen. Im Erdgeschoss befand sich der Zugang zu den privaten Räumen. Ungefragt öffnete Lot diese Tür und spähte in den dahinterliegenden Gang.
»Das ist privat.« Ein scharfer Ton lag in Rosas Stimme. »Steht auch auf dem Schild an der Tür.«
»Ja, ja, natürlich. Ich sehe nicht mehr so gut und bin manchmal etwas orientierungslos. Verzeihen Sie.«
»Einfach weiter geradeaus und dann die Treppe hoch. Ihr Zimmer ist die Zwölf.«
»Ich weiß, ich weiß. Sagen Sie, kommt hier eigentlich manchmal die Polizei vorbei, um nach dem Rechten zu schauen?«
Rosa Reichert trat einen Schritt zurück und fixierte Lot – dieser Herr war ihr wirklich unangenehm. Er war ein bisschen größer als sie und untersetzt. Er trug Knickerbocker und hatte kurze, scharf gescheitelte blonde Haare. Seine vollen Lippen lächelten, seine Augen nicht.
»Natürlich, jeden Tag.«
»Das ist gut, das ist sehr gut. In diesem verkommenen Land braucht es Ordnung. Und dafür können nur die Polizei und das Militär sorgen.«
»So ist es. Wenn Sie jetzt aber bitte weitergehen würden. Es ist schon spät.« Rosa wies Lot den Weg.
»Der Mensch braucht seinen Schlaf, Sie haben recht. Und morgen warten große Dinge, da muss man ausgeruht sein.«
Erwartungsvoll musterte Lot sie, doch Rosa ging auf seine Bemerkung nicht ein, sie wollte nur ins Bett.
»Wie gesagt die Zwölf. Das ist die sechste Tür links.«
Lot nickte und ging behäbig die Treppe hinauf. Rosa wartete unten. Wie immer knarrte die letzte Stufe. Jetzt fehlte nur noch das Öffnen und Schließen der Tür. Doch das Geräusch war nicht zu hören, jedoch das abermalige Knarren der Stufe. Lots massige Gestalt warf einen langen Schatten auf die Treppe. Rosa erschrak.
»Ich wollte nur das Licht löschen«, sagte er.
»Das mache ich schon«, entgegnete sie. Ihre Stimme zitterte leicht. »Und wenn Sie heute Nacht Licht im Gang brauchen, dann gibt es bei der Treppe zum zweiten Stock einen Schalter.«
»Das ist ein gutes Haus, ein wirklich gutes Haus.« Lot wandte sich grußlos ab, und diesmal ging kurz darauf die Tür.
Rosa löschte das Licht. Für einen Moment war die Dunkelheit vollkommen. Schneller als gewohnt tastete sie sich den Gang entlang und schloss zweimal hinter sich ab.
Donnerstag, der 31. Mai 1928, Gasthof Zum Thurner
Rosa Reichert hatte sich noch nie gedrückt. Früher nicht vor dem langen Schulweg, auch wenn es dunkel und eisig kalt gewesen war und die Buben vom Reiterhof ihr aufgelauert hatten, um sie zu erschrecken. Heute nicht vor schwerer Arbeit oder dem Schlachten, auch wenn ihr die Viecher leidtaten. Deshalb stand sie auch an diesem schönen, frühlingsfrischen Morgen um halb acht vor dem Gasthaus und erklärte Theodor Lot, so gut es ging, den Weg zum Kandel. Jeden Gast gleich freundlich behandeln, das war ihre Devise. Sie mochte ihre Arbeit, und die Menschen sollten sich wohlfühlen, dafür war sie da. Theodor Lot war also eine Prüfung, die sie bestehen musste, egal ob ihr der Mann unsympathisch oder sogar unheimlich war.
»Da müssen Sie hin«, sagte sie und zeigte auf den höchsten unbewaldeten Punkt in Richtung Nordwesten. »Ihr Weg führt durch St. Märgen. Dort helfen Ihnen Hinweisschilder weiter. Sollten Sie trotzdem nicht zurechtkommen, dann fragen Sie am besten jemanden. Oder Sie schauen in Ihrer Karte nach – Sie haben doch eine?«
»Mit Karten habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Nur Linien und Bögen willkürlich zu Papier gebracht, um Geld zu verdienen. Karten lügen oft, fragen ist viel besser, fragen hilft immer.«
»Ganz wie Sie meinen«, sagte Rosa befremdet – dieser Lot war von allen guten Geistern verlassen. »Die Leute im Ort sind freundlich, sie helfen gerne. Ich muss jetzt aber rein – die Arbeit ruft. Ihnen wünsche ich noch einen schönen Tag.«
Lot sagte nichts, sondern starrte nur. Rosa verharrte kurz, dann ging sie zum Haus, seinen Blick im Rücken. Auf halbem Weg drehte sie sich um. Lot hatte sich noch nicht gerührt. Doch als sie sich wieder abwenden wollte, löste sich seine Starre, und er ging los. Jedoch in die falsche Richtung.
»Nicht da lang«, rief Rosa. »Da geht es zur Weißtannenhöhe. Sie müssen umdrehen.«
»Ich weiß, was ich tue. Der Tag ist noch jung, ich schlage nur einen kleinen Bogen.«
Rosa schüttelte den Kopf, sollte er doch machen, was er wollte. Hauptsache, er war weg.
***
Die weiße Strickjacke passte gut zu dem blauen Sommerkleid, das Clara Fehrenbach trug. Ruth ging ein Stück hinter ihr. Sie ist eine adrette junge Frau, dachte sie. Keine Spur von ihrer gelegentlichen Schwermut – der Urlaub tat ihr gut. Beschwingt schloss sie zu ihrer Cousine auf.
Die beiden hatten sich gerade von Rosa Reichert verabschiedet und strebten mit strammen Schritten der Weißtannenhöhe entgegen. Es war kurz nach acht in der Früh. Vor etwa einer Dreiviertelstunde hatte sie diesen unangenehmen Herrn Lot das Haus verlassen sehen. Zum Glück war sie ihm nicht noch einmal begegnet. Er redete wirr und stellte aufdringliche Fragen. Solche Leute musste man sich vom Hals halten. Umso angenehmer war es, mit Clara zu wandern. Die Luft war würzig frisch, der Tag ein einziges Versprechen. Im Westen reichte der Blick über Freiburg hinweg in die Rheinebene und ließ die Vogesen erahnen.
»Großartig, nicht wahr?«, sagte Ruth.
»Ja, wunderschön. Die Berge, die Natur, der endlose Himmel. Da ist man dem Schöpfer ganz nah, da fällt alles von einem ab.«
»Nicht zu vergessen das Frühstück. Reichhaltig und gut. So fängt ein Tag doch gleich richtig an.«
»Wie man’s nimmt. Ich habe viel zu viel gegessen«, entgegnete Clara und fasste an ihren Bauch. »Aber manchmal kann man einfach nicht widerstehen.«
»Ist schon recht so. Du isst einfach zu wenig. Irgendwann fällst du vom Fleisch.«
»Ja, Mama«, sagte Clara und verdrehte ihre Augen.
»Du sollst mich nicht so nennen, ungezogenes Gör«, lachte Ruth und drohte mit ihrem Spazierstock.
»Ist gut, Mama.«
»Oh, Clara. Du bist unverbesserlich.« Ruth blieb stehen. »Sag mal ehrlich, warum willst du abnehmen?«
Clara wandte sich ihr zu. »Will ich das?«
»Es liegt an diesen scheinbar modernen Frauen, die so oft in deinen Magazinen abgebildet sind. Stimmt’s?«
»Du schaust dir meine Magazine an?«
»Ja, und ich bin entsetzt. Wie werden die jungen Dinger noch einmal genannt?«
»Du meinst Flapper?«
»Genau, Flapper. Sie tragen kurze Röcke und kurze Haare. Dann schminken sie sich noch und hören diese entsetzliche Musik. Das ist nicht schön und gehört sich nicht für eine deutsche Frau.«
»Ach, Ruth. Moralisch taugen die Flapper gewiss nicht als Vorbilder, das weiß ich auch. Den meisten geht es nur ums Vergnügen. Aber sie bieten eine andere Sicht auf das Leben. Sie stehen für die Unabhängigkeit vom Mann, für Selbstbestimmung, sie sind auf ihre Art moderne Frauenrechtlerinnen.«
»Diese verwöhnten Weibsbilder? Die stehen nur für sich selbst. Sie sind egoistisch und narzisstisch, sie übernehmen keine Verantwortung, sie leben wider ihre Natur. Und was ich von der sogenannten Frauenbewegung halte, weißt du ja. Viel gefährliches linkes Gedankengut und wenig bürgerliche Vernunft. Es braucht keine Unabhängigkeit vom Mann. Das weibliche Dasein findet seinen Sinn in der Mutterschaft, im Klosterleben oder darin, sich ungeteilt seinem Beruf zu widmen.«
»Und schon reden wir wieder über das Lehrerinnenzölibat.«
»Ja, weil es wichtig ist. Das Zölibat ist eine Tugend. Und mir scheint es, du hast Zweifel daran.«
»Tugend bedeutet nicht Unterdrückung. Wir dürfen nicht heiraten, die Kleidung wird uns vorgeschrieben, ebenso, was wir zu lehren haben, und dann verdienen wir noch bedeutend weniger als die Männer. Was soll daran gut sein?«
»Es ist uns erlaubt, in einem wunderbaren Beruf zu arbeiten, und das ohne die Ablenkung einer Ehe. Man kann nur Mutter oder Lehrerin sein – beides geht nicht. Und vergiss nie: Die Jungfräulichkeit ist ein Gottesgeschenk.«
»Ruth, ich bin gern Lehrerin. Ich liebe die Lehre, ich liebe die Kinder. Aber der Preis ist hoch – und der ist nicht nur das Eheverbot. Wir müssen uns von fragwürdigen Kollegen vorschreiben lassen, wie und was wir zu unterrichten haben. Denk doch nur einmal an den Lohmann. Der kennt nur den Rohrstock und Geschrei – die Schüler haben alle Angst vor ihm.«
»Wegen ein paar schwarzer Schafe muss nicht gleich das ganze System schlecht sein. Natürlich ist der Lohmann unsäglich, aber das muss man aushalten. Wir Lehrerinnen müssen geduldig sein. Ich bin sicher, dass unsere Stellung stärker werden wird. Auf jeden Fall ist der Rahmen, den das Zölibat vorgibt, richtig.«
»Ist er nicht. Das Zölibat schneidet mir die Luft zum Leben ab.«
»Clara, red bitte nicht so. Hast du etwa ernste Absichten? Gibt es jemanden, der dir nahesteht?«
»Ja, nein. Ach, ich weiß nicht. Es ist mehr eine Sehnsucht. Es ist alles so eng, es muss doch mehr geben.«
»Warum? Dir fehlt es doch an nichts. Natürlich sagen die Götzen der Moderne etwas anderes. Aber hör nicht auf sie. Lass dich nicht von dem, was du jüngst gesehen oder erlebt hast, blenden.«
»Du denkst an Berlin?«
»Ja, seit du dort warst, hast du dich verändert. Die Hauptstadt hat dir nicht gutgetan.«
»Ganz im Gegenteil. Berlin hat mir die Augen geöffnet, Berlin ist Leben.«
»Genau davor warne ich dich. Berlin ist das Wahrzeichen des fehlgeleiteten Fortschritts. Du siehst nur die leuchtende Fassade. Doch dahinter herrschen Sodom und Gomorrha. Nirgends ist die Versuchung größer, nirgends kann man tiefer fallen. Diese Stadt ist künstlich, ein Moloch der neuen Zeit. Lass dich nicht verführen, wahres Glück findest du nur in einem gottgefälligen Leben. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
Clara winkte ab. »Ich bin nicht wie du. Ich will auch nicht so –«
»Was? So enden wie ich?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich meine –«
»Ich weiß, was du meinst!« Ruth beschleunigte ihren Schritt, Clara seufzte und folgte ihrer Cousine in einem gewissen Abstand.
Sie war zu weit gegangen, das wusste Clara, und es tat ihr leid. Doch Ruth brachte sie mit ihrem bigotten Verhalten und ihrem rückwärtsgewandten Denken zur Verzweiflung. Ruth lebte im Gestern, sie hätte am liebsten den Kaiser zurückgehabt. Aber sie war auch eine äußerst scharfsinnige Frau, und sie hatte recht – Berlin hatte ihr Leben verändert, Berlin beschäftigte sie immerzu. Augenblicklich schoben sich die Bilder des letzten Sommers in ihren Kopf.
Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Anna war sie mit dem Fernzug von Offenburg nach Berlin gefahren. Eine Zwischenstation auf ihrer großen Reise, die sie auf die Insel Rügen und weiter über Malmö bis nach Stockholm hatte führen sollen. Beinahe acht unvergessene Wochen im Juli und August. Acht Wochen, in denen ihre ohnehin angeschlagene Psyche noch weiter außer Tritt gekommen war. Eine Zeit zwischen Schwermut und Hoffnung, weil der Anfang dieser Reise ihr bisheriges Leben in Frage gestellt hatte: Berlin war für Clara ein Kulturschock gewesen. Geboren in der Provinz, war Mannheim für sie schon eine Metropole, doch Berlin, die Hauptstadt der Republik, überstrahlte alles:
Berlin war Bewegung – der Potsdamer Platz war der verkehrsreichste Platz Europas. Ein endloser Strom aus Fahrzeugen und Menschen, ein getaktetes Chaos, eine Orgie des Fortschritts.
Berlin war Politik, Kunst und Kultur. Da war der Reichstag, dieses imposante Gebäude zum Wohle des deutschen Volkes, dann das Neue Museum mit der Büste der Nofretete und den Schätzen aus aller Welt und natürlich die große Berliner Kunstausstellung mit zeitgenössischen, zum Teil verwirrenden Gemälden und Plastiken.
Berlin war Schauspiel, Musik und Tanz. In unzähligen Bars gaben sich nationale und internationale Stars von Gustaf Gründgens über Marlene Dietrich bis Josephine Baker die Hand.
Berlin war Licht und Technik. Die Leuchtreklame machte die Nacht zum Tag, und im Femina-Palast ließ sich das Tanzparkett heben und das Dach öffnen – man tanzte unter freiem Himmel über der Stadt!
Berlin war aber auch Leid. Eine Armee von Arbeitslosen kroch zur besten Einkaufszeit aus ihren Baracken und suchte mit ihren ausgehungerten Kindern nach Essbarem. Kriegsversehrte, deren Gesichter von Geschossen und Splittern zerfressen und deren Gliedmaßen amputiert waren, mahnten an Straßenecken und auf Gehsteigen. Sie forderten Anerkennung und ernteten stattdessen Mitleid und Abscheu.
Und Berlin war Sünde. Alle Arten und Abarten der Sexualität wurden angeboten. Für jede erdenkliche Vorliebe, für jede Perversion gab es einen Ort – Gesetze galten hier nicht.
Zuerst mieden Clara und Anna das Berlin bei Nacht, denn Kultur und Kunst, Bauwerke und Sehenswürdigkeiten erfüllten auch so ihren Tag. Doch wenn sie sich in ihre Pension zurückzogen, lockten die Lichter und Leuchtreklamen, das Unbekannte und immer Strahlende, die Versprechungen, die diese Stadt, die niemals schlief, machte. Und so wagten sie sich einmal nach dem Abendessen auf die Straße. Zwei junge Damen aus der Provinz auf der Suche nach ein bisschen Abenteuer.
Ihr Ausflug fing ganz harmlos im Lunapark an. Ein Rummelplatz, der Tanz, Feuerwerk und spektakuläre Fahrgeschäfte bot. Weiter gingen sie über den Ku’damm – ein Bad im Licht. Varietés und Kabaretts und eine nicht überschaubare Anzahl von Kinos warteten auf sie. Sie entschieden sich fürs Kino und sahen »Metropolis«, diesen Zukunftsfilm von Fritz Lang, der sie mit seinen Massenszenen und seiner Tricktechnik berauschte.
Danach hätten sie nach Hause gehen sollen, doch die Stadt ließ sie nicht los, und sie atmeten die Luft der Schriftsteller und Intellektuellen im Romanischen Café, und sie staunten über die Auslagen im Kaufhaus des Westens. Aufgedreht und euphorisiert wagten sie sich in Richtung Nollendorfplatz, wo das Zentrum des Lasters liegen sollte, und standen schließlich vor dem Toppkeller, einem berühmt-berüchtigten Vergnügungsort, der vor allem Frauen, die anders fühlten, anzog.
Ob Anna oder sie selbst den Ausschlag gegeben hatte, das Etablissement zu betreten, konnte Clara nicht mehr sagen. Wohl war sie es gewesen, denn Neugier und geheime Sehnsüchte waren starke Antriebsfedern. Der Tanzsaal des Toppkellers war berstend voll und mit Papiergirlanden geschmückt, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Die große Pracht war das nicht, dafür war jedoch das Publikum zum Teil von außerordentlicher Eleganz – noch nie hatte Clara so schöne Frauen gesehen. Eng umschlungen tanzten sie zu bekannten, oft frivolen Schlagern, die eine untersetzte, aber durchaus hübsche Sängerin zum Besten gab.
An den hinteren Tischen fanden Clara und Anna Platz, eingezwängt von Frauen, die sie mit unverhohlener Neugier taxierten. Offensichtlich blieb Anna ungerührt, doch Clara wurde zusehends nervöser, schenkte man ihr doch wissende Blicke, die sie erröten ließen. Clara fühlte sich bedrängt, ihr sorgsam gepflegtes Weltbild geriet ins Wanken. Unvermittelt stürzte sie nach draußen, ihre überraschte Freundin im Schlepptau. Ohne auf die Richtung zu achten, brachte sie mit schnellen Schritten eine möglichst große Distanz zwischen sich und dem, was nicht sein sollte.
Auf Annas Fragen fand sie keine schlüssigen Antworten. Mehr als zu große Enge und zu wenig Luft fiel ihr nicht ein. Doch damit nicht genug: Ihr überstürzter Aufbruch hatte die beiden in eine dunkle Nebenstraße, gesäumt von Hinterhöfen, verschlagen. In einiger Entfernung konnte sie Autos vorbeihuschen und eine in einem Eckhaus gelegene Bar sehen. Vor der Bar standen nur Männer. Die meisten in Matrosenkostümen oder in Lederkluft. Die Männer betatschten und küssten sich – es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Auf der Suche nach einem Straßenschild weckte ein anzügliches Geräusch ihr Interesse. Rhythmisches Keuchen drang aus einem Hinterhof, ein Feuerzeug flammte auf. Clara schaute in Richtung des Lichts und sah ein ihr bekanntes Gesicht: einen Mann, der genüsslich eine Zigarette rauchte. Vor dem Mann kniete ein anderer – die Situation war eindeutig. Nur kurz währte ihre Schockstarre, dann wandte sie sich ab und zog Anna mit sich. Sie hoffte, der Mann hatte sie nicht erkannt, denn er würde sicher alles tun, um seine Neigung zu verheimlichen – und sein Einfluss war groß.
Erst viel später war ihr klar geworden, dass sie durch ihr Wissen aber auch erheblich an Stärke gewonnen hatte.
Der Warnruf eines Eichelhähers riss Clara aus ihren Gedanken. Neben ihr ging Ruth. Ihr Schritt war energisch, ihr Blick starr geradeaus gerichtet. Sie jetzt anzusprechen ergab keinen Sinn, das wusste Clara. Also schenkte sie ihre Aufmerksamkeit dem Wald, der den größten Teil des Höhenwegs einnahm. Die Morgensonne schuf Inseln des Lichts, im Unterholz raschelte es, ab und zu ertönte das Pfeifen eines Vogels, gefolgt von einer andächtigen Stille, die sie veranlasste, stehen zu bleiben und zu lauschen. Clara stellte sich in einen Lichtkegel und spürte die Wärme der Sonne. Sie breitete ihre Arme aus und atmete tief ein. Ein Schauer durchfuhr sie – selten fühlte sie sich Gott so nah.
Auch Ruth hielt jetzt inne, ihre Züge entspannten sich, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Clara erwiderte das Lächeln und begann zu summen. Eine warme Melodie, deren Zauber sich ihre Cousine nicht entziehen konnte. Ruth fiel mit ein, und dann begannen die beiden zu singen:
»Kein schöner Land in dieser Zeit
als hier das unsre weit und breit,
wo wir uns finden
wohl unter Linden
zur Abendzeit,
wo wir uns finden
wohl unter Linden
zur Abendzeit.
Da haben wir so manche Stund’
gesessen wohl in froher Rund’
und taten singen,
die Lieder klingen
im Eichengrund …«
Mit dem Ausklingen der letzten Strophe suchte Ruth Claras Blick. »Ist ein schönes Lied«, sagte sie. »Es erinnert an das, was das Leben ausmacht: Heimat, Natur, Glaube, Gemeinsinn.« Clara nickte verhalten, Ruth seufzte. »Wir haben es doch schön, wir zwei. Die Schule, die Kinder, der Kirchenchor, die Literaturabende und die Diskussionen, die Ausflüge und das Wandern. Weißt du, Clara, du bist mir kleine Schwester und Freundin. Ich hoffe, ich wünsche – also –, ich hätte gern, dass alles so bleibt – für immer.« Ruth schaute zu Boden.
»Ach, komm«, sagte Clara und nahm Ruth in den Arm. »Manchmal rede ich halt schneller, als ich denke. Es ist gut, wie es ist. Und was die Zukunft bringt, weiß man ohnehin nicht.«
Ruth lächelte und wischte sich verstohlen über ihre Augen. »Manchmal neigt die Frau Lehrerin zu Sentimentalitäten«, sagte sie. »Wie ein altes Waschweib. Aber jetzt hat die Frau Lehrerin wieder Oberwasser, und sie weiß zu allem ein Gedicht.«
»Ich höre«, sagte Clara.
»Nun, wenn es um die Zukunft geht, passt Schiller.« Ruth richtete sich auf und begann zu rezitieren:
»Dreifach ist der Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.«
»Sehr schön, gut gesprochen, Frau Lehrerin«, applaudierte Clara. »Und was sagt uns das?«, fügte sie an.
»Die Vergangenheit ist unverrückbar. Sie hat uns geprägt, sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Die Gegenwart ist nicht zu greifen, ein stetiger Fluss. Hält man sie fest, ist sie vergangen. Ja, und die Zukunft, die ist ein schüchternes Wesen, weil sie Freud und Leid bringt, weil sie geliebt und gehasst wird, weil sie nicht unterscheidet zwischen Gut und Böse.« Ruth lauschte dem Nachklang ihrer Worte und sagte dann: »Genauso ist es. Aber jetzt lass uns pfeilschnell weitergehen, wir haben noch einiges vor.«
Clara nickte und schaute sich um. »Da vorne ist ein Wegweiser«, stellte sie fest und ging darauf zu. »Weißtannenhöhe eins Komma zwei Kilometer«, las sie vor. »Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass wir noch niemandem begegnet sind?«
»Jetzt, wo du es sagst. Ungewöhnlich für die Ferienzeit. Wie ausgestorben. Alles ist so still.«
»Da will ich Schiller noch einmal aufgreifen. Offensichtlich stehen wir an einer Schwelle. Die Gegenwart hält die Luft an, und die Zukunft hat sich noch nicht entschieden.« Clara lächelte unsicher. »Hoffentlich ist sie uns gut gesinnt.«
Dienstag, der 5. Juni 1928, Weißtannenhöhe bei Breitnau
Gerade setzte ein leichter Nieselregen ein und verfing sich im dichten Geäst des Waldes. Polizeirat Gerd Tanner von der Kriminalpolizei Freiburg blieb stehen und nahm seinen Hut ab. Sein Atem ging schwer, die willkommene Abkühlung verschaffte ihm etwas Luft. Du hast zwanzig Kilo zu viel, du hast einen zu hohen Blutdruck und ein schwaches Herz, hörte er seinen Arzt sagen. Wenn du so weitermachst, erlebst du deine Pension nicht mehr. Die zwei Jahre schaffe ich noch, dachte Tanner und wischte sich mit einem Taschentuch über seine Stirnglatze.
Inzwischen war er der Letzte in dem Tross aus Vertretern der Staatsanwaltschaft Freiburg samt Oberstaatsanwalt Tauenstein, dem Bezirksarzt Dr. Kneis, dem Erkennungsdienst und weiteren Polizeibeamten, der sich die Weißtannenhöhe hinaufmühte. Schräg vor ihm wartete Oberkommissar Hans Kaltenbach. In seinem Blick lagen Spott und die ihm eigene Arroganz. Tanner winkte und setzte sich wieder in Bewegung. Im Krieg hätte er mich vermutlich zurückgelassen, dachte Tanner. Kaltenbach war ein Kriegsheld, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse. Als Offizier hatte er außerordentlichen Mut bewiesen, und dieser Mut, der mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit und Kälte einherging, verschaffte ihm überall Respekt – selbst in Verbrecherkreisen.
Noch ein Stück weiter oben ging, nein marschierte der junge Kriminalsekretär Benedikt Falk. Er gehörte erst seit einem Monat zu Tanners Mannschaft und wurde gerade eingearbeitet. Tanner hatte ihn nach vorn geschickt, um die Abläufe zu kontrollieren. Keiner sollte den Tatort verändern. Das war zwar allgemein bekannt, wurde aber nicht immer eingehalten – die modernen Ermittlungsmethoden setzten sich nur schleppend durch.
Falk erfüllte seine Aufgabe mit Feuereifer, wie es einem Berufsanfänger anstand. Jedoch passten das Marschieren und Kontrollieren auch gut zu ihm – hatte er doch die gleiche Zuhälterfrisur wie der österreichische Postkartenmaler Adolf Hitler, nur in Blond. Und er hatte kein Bärtchen – zum Glück. Falks Frisur spiegelte seine Ansichten. Seinen Äußerungen war zu entnehmen, dass er politisch am äußersten rechten Rand stand. Aber trotz seiner fragwürdigen Gesinnung machte Falk seine Sache ziemlich gut.
Die Ermittlungen hatte er ins Rollen gebracht. Er hatte die Vermisstenanzeige von Lothar Fehrenbach, dem Vater von Clara Fehrenbach, bearbeitet und sich mit ihm auf die Suche nach dessen Tochter und dessen Nichte Ruth gemacht. Als sich der Verdacht eines Verbrechens erhärtete, hatte er Tanner mit Nachdruck dazu gedrängt, die Staatsanwaltschaft zu informieren. Diese hatte wiederum die Bereitschaftspolizei alarmiert, die mit einhundert Mann die Strecke Thurner – Titisee abgesucht hatte, mit bitterem Erfolg. Am heutigen Morgen um zehn Uhr hatte man die Leichen der Lehrerinnen Clara und Ruth Fehrenbach auf der Weißtannenhöhe gefunden. Fünf Tage nachdem sie zum letzten Mal gesehen wurden.
Alle stellten sich in einem gewissen Abstand um eine graue Decke auf, unter der sich ein menschlicher Körper abzeichnete. Ihre Augen ruhten auf Tanner, der als Einziger direkt neben der Leiche stand. Der Regen hatte inzwischen ausgesetzt, ein Tropfen löste sich von einem Ast und fiel auf Tanners Hutkrempe.
Tanner blickte sich um. Die Leiche lag circa fünfzehn Meter abseits des Weges.
Ein Mann vom Erkennungsdienst räusperte sich und sagte: »Das ist Clara Fehrenbach. Lehrerin, fünfundzwanzig Jahre alt. Ihre Cousine, Ruth Fehrenbach, auch Lehrerin, fünfunddreißig Jahre alt, liegt dahinten auf der anderen Seite des Weges.« Der Mann zeigte in Richtung Südosten.
Tanner nickte, nahm einen Zipfel der Decke und zog sie langsam nach hinten, bis die Leiche vollkommen frei lag.
Jemand stöhnte.
Tanner wankte. Jedoch nur innerlich. Äußerlich blieb er ungerührt. Äußerlich bewegten sich nur seine Augen, wanderten über die Tote. Clara Fehrenbach lag auf dem Rücken. Ihr schönes Gesicht war durch zwei Einschusslöcher an beiden Schläfen verunstaltet. Ihre Züge zeigten keine Angst, sie waren seltsam ruhig, als würde sie schlafen. Ein Kehlenschnitt hatte ihren Hals durchtrennt, ihr Kleid war bis zur Brust hochgeschoben, der Unterleib entblößt, die Beine gespreizt.
Was hat man dir nur angetan, dachte Tanner. Wieder begab er sich in die Abgründe des menschlichen Seins, wieder wühlte er im Dreck. Und warum? Auf die Frage gab es zwei Antworten. Die erste: Weil es seine Arbeit war, weil sie sinnvoll war. Die zweite: Weil er das Rätsel liebte und gut war im Rätsellösen.
Tanner wandte sich an den Bezirksarzt Dr. Kneis. »Sie können mit der Leichenschau beginnen«, sagte er. Dr. Kneis nickte und fuhr über seinen Spitzbart, während sein Assistent das Notizbuch zückte. »Und wir«, Tanner schaute zu seinen Mitarbeitern, »wir gehen zum zweiten Opfer.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, setzte Tanner sich in Bewegung.
Falk schloss zu Tanner auf und fragte: »Sollten wir nicht erst Dr. Kneis’ Erkenntnisse abwarten?«
»Nicht nötig, ich habe genug gesehen. Den Rest erfahren wir nachher bei der Schlussbesprechung, außerdem erfolgt ja noch die Obduktion mit abschließendem Bericht.«
»Ah ja«, entgegnete Falk überrascht und blickte zu Kaltenbach, der scheinbar gleichmütig die Umgebung in Augenschein nahm.
»Wurde Clara Fehrenbachs Rucksack gefunden?«, erkundigte sich Tanner bei Falk. »Sie hatte doch sicher einen?«
»Ja, natürlich«, entgegnete dieser. »Er lag ungefähr zwanzig Schritte von ihr entfernt.«
»Lag?«
»Ja, der Suchtrupp hat ihn leider eingesammelt, noch bevor der Erkennungsdienst die Spuren sichern konnte.«
»Warum wundert mich das nicht?«, brummte Tanner. »Das Gleiche gilt bestimmt auch für den Rucksack der Cousine?«
Falk nickte.
»Sie werden die Verantwortlichen ordentlich zusammenfalten, Falk. Ich will, dass das nicht mehr vorkommt.«
Falk nickte abermals.
»Erzählen Sie mir etwas über den Inhalt der Rucksäcke.«
Falk bemühte sein Notizbuch. »Nichts Außergewöhnliches. Clara Fehrenbach hatte folgende Dinge dabei: einen Lodenmantel, frische und gebrauchte Wäsche, Esswaren, einen Rosenkranz, Notizblock, eine ›Badische Presse‹ vom 20. März 1928, ein illustriertes Magazin, Taschenfahrplan, Trinkbecher, Essgeschirr, Schreibzeug, Hygieneartikel. Ihr Rucksack ist blutbespritzt und wurde offen und durchwühlt aufgefunden. Ihr Geldbeutel lag leer im Gebüsch. Zu Ruth Fehrenbach: Ihr Rucksack lag neben ihr, er war geöffnet, die Trageriemen abgerissen. Der Inhalt war zum Teil verstreut, zum Teil im Rucksack verblieben. Dabei handelt es sich um folgende Gegenstände: einen Briefumschlag mit sechzig Reichsmark, eine silberne Geldbörse mit zehn Reichsmark, einen Schwarzwald-Führer, frische und gebrauchte Wäsche, Hygieneartikel, Brille, Haube, Mantel, Baskenmütze, Nähbeutel, Esswaren, Essgeschirr.«
Tanner zog die Stirn kraus. »Wichtig ist, was fehlt«, mahnte er. »Täter behalten oft Souvenirs. Machen Sie eine Liste, zeigen Sie die den Angehörigen, fragen Sie, ob ihnen etwas auffällt.«
Falk notierte eifrig.
Die drei Polizisten querten den Höhenweg. Das Gelände wurde leicht abschüssig. Ein Gendarm stand zwischen den Tannen. Er hatte seinen Helm mit dem badischen Hoheitszeichen abgenommen. Zu seinen Füßen lag unter einer ebenfalls grauen Decke das zweite Opfer. Als er die Ermittler bemerkte, setzte er seinen Helm auf und nahm Haltung an.
Tanner grüßte und blickte in ein übermüdetes Gesicht. »Sie hatten wohl wenig Schlaf, Herr Wachtmeister«, stellte er fest.
»Eigentlich gar keinen. Bin seit gestern Abend im Dienst. Macht aber nichts. Hauptsache, wir kriegen den Mörder.«
Tanner nickte und hob die Decke an. Der Wachtmeister drehte sich weg. »Ihre erste Leiche?«, fragte Tanner.
»Nein. Ich habe sie aber schon gesehen. Einmal reicht. Manche Bilder vergisst man nie.«
Seufzend schlug Tanner die Decke zurück: Ruth Fehrenbach schien zu schreien. Todesangst hatte sich tief in ihr Gesicht eingegraben, mitten auf ihrer Stirn klaffte ein Einschussloch. Ihre Kehle war durchtrennt. Im Nacken, vom Haaransatz verdeckt, fand sich ein zweites Einschussloch. Sie lag auf dem Rücken, ihr Kopf war links zur Seite gedreht, ihre Arme zeigten in die entgegengesetzte Richtung. Ihr Unterleib war entblößt, das linke Bein war seitlich angewinkelt, das rechte Knie lag auf dem linken Unterschenkel.
Tanner deckte die Leiche wieder zu und schaute in die Runde. Falk versuchte, unbeeindruckt zu wirken, Kaltenbach war es. Seine Miene zeigte keine Regung, sondern nur nüchterne Neugier.
»Alles in allem sieht es nach einem Sexualverbrechen aus. Was meinst du, Hans?«, fragte Tanner.
»Clara Fehrenbach wurde Geld entwendet, Ruth Fehrenbach nicht. Der Täter hat also nicht direkt nach Geld gesucht, deshalb scheidet Raubmord aus – ein Lustmord ist im Moment das Naheliegendste.«
»Und wie ist es abgelaufen?«
»Zu einem so frühen Zeitpunkt ist eine Einschätzung gewagt. Aber die vielen Hinweise zeichnen ein mögliches Bild.«
»Na, dann los.«
Kaltenbach neigte seinen Kopf leicht zur Seite und starrte auf die graue Decke. »Der Einfachheit halber werde ich die beiden Opfer beim Vornamen nennen«, sagte er und verharrte eine Weile. Dann richtete er sich auf und ging wortlos zurück zum Höhenweg. Tanner verabschiedete sich von dem Wachtmeister und folgte mit Falk.
Als Kaltenbach den Weg erreicht hatte, blieb er stehen und schaute von einer Fundstelle zur anderen. Tanner und Falk gesellten sich zu ihm. »Der Täter war Clara und Ruth seit geraumer Zeit abseits des Weges gefolgt«, eröffnete er. »Clara musste austreten. Ruth wartete, und zwar genau da, wo wir jetzt stehen. Clara stellte ihren Rucksack ab. Der Täter befand sich in ihrer unmittelbaren Nähe. Er hatte sich hinter einem Baum versteckt – Clara war ihm direkt in die Arme gelaufen. Der Täter beobachtete Clara, er wartete. Als sie ihm den Rücken zudrehte, sprang er vor. Die Waffe hielt er bereits in seiner Hand. Er schoss einmal. Er traf Clara in die Schläfe – sie war sofort tot, sie hatte keine Chance, sie hatte den Täter gar nicht gesehen. Deshalb sind ihre Züge auch entspannt. Nun war Ruth dran. Aufgeschreckt durch den Schuss, sah sie den Täter auf sich zueilen. Sie war sich der Lage sofort bewusst. Sie schrie, sie flüchtete. Warum sie nicht dem Höhenweg folgte, ist nicht ganz klar, vermutlich war sie in Panik, oder sie hoffte, sich verstecken zu können. Der Täter verfolgte sie. Ruth hatte ungefähr fünfzehn Meter Vorsprung und wurde nach rund vierzig Metern eingeholt. Ruth war schlank und mit fünfunddreißig Jahren recht jung, das Gelände ist unwegsam – der Täter muss also sportlich sein. Er packte sie am Rucksack, die Trageriemen rissen ab. Ruth wehrte sich, es kam zum Kampf. Er schoss ihr in den Nacken. Ruth brach zusammen. Er schoss ein zweites Mal, jetzt in die Stirn. Dann zückte er sein Messer und schnitt ihr die Kehle durch. Warum? Vielleicht war sie nicht gleich tot, vielleicht wollte er aber auch sichergehen, vielleicht traute er den Kopfschüssen nicht. Oder, und das ist am wahrscheinlichsten, der Kehlenschnitt gehört zum Spiel, er ist Teil seiner sexuellen Perversion. Ruths Blut tränkte den Boden, er entkleidete sie und verging sich an ihr. Danach durchwühlte er ihren Rucksack. Inzwischen waren mehrere Minuten vergangen, dennoch ging er zurück zu Clara – und das, obwohl die Gefahr, ertappt zu werden, sich mit jeder Sekunde vergrößerte. Entweder ist er eiskalt, oder er verfiel in eine Art Rausch und vergaß jede Vorsicht. Als er Clara erreichte, lag sie tot vor ihm, dennoch schoss er ihr zum zweiten Mal in den Kopf, und zwar in die andere Schläfe. Dann schnitt er ihr die Kehle durch, riss ihr die Kleider vom Leib und machte sich ebenfalls über sie her. Die Duplizität der Vorgehensweise ist bemerkenswert und stützt meine Annahme einer Zwangshandlung. Tatsache ist, beide Opfer verloren viel Blut, der Täter badete förmlich darin, seine Kleidung würde ihn verraten. So konnte er unmöglich unter Leute gehen, er hatte aber Ersatz dabei, er war vorbereitet. Nachdem der Rausch verflogen war, durchsuchte er im Gehen noch Claras Rucksack, steckte ihr Geld ein und ließ ihn achtlos, ein paar Meter vom Tatort entfernt, liegen.«
Tanner nickte. »Zweimal das gleiche Schema: zwei Kopfschüsse, der Kehlenschnitt, der entblößte Unterleib. Nachdem der Täter sich an Ruth vergangen hatte, beendete er bei Clara sein unvollständiges Werk. Auf mich macht das den Eindruck eines Buchhalters, der seine Arbeit ordentlich abschließt – also kein Rauschverhalten. Deshalb favorisiere ich einen Täter, der sehr beherrscht ist, der einem Plan folgt.« Kaltenbach zuckte mit den Schultern, Tanner fuhr fort: »Wie auch immer. Es könnte ein Serientäter sein, wir müssen frühere Fälle auf Übereinstimmungen prüfen.«
»Sehe ich auch so«, sagte Kaltenbach, »obwohl ich von ähnlichen Fällen noch nichts gehört habe.«
Tanner überlegte. »Warum gehst du eigentlich von einem Täter aus? Warum nicht zwei? Schnellere Durchführung, weniger Risiko.«
»Triebtäter arbeiten eigentlich immer alleine. Zwei, die sich absprechen, die die gleichen abartigen Veranlagungen haben, kann ich mir nicht vorstellen. Es sei denn, der eine befiehlt und der andere führt aus. Ein Meister und sein Diener, wenn man so will. Generell gegen zwei oder mehrere Täter spricht aber die Lage der Leichen – die große räumliche Distanz. Zwei Männer hätten die Frauen besser in Schach halten können – unwahrscheinlich, dass eine so weit hätte fliehen können. Aber hier müssen wir nicht spekulieren. Lasst uns einfach die Obduktion abwarten, dann können wir eine genaue Aussage treffen. Falls die Schussverletzungen aus derselben Waffe stammen, war es ein Täter.«
»Weil sich zwei kaum die Waffe geteilt hätten.«
»Genau.«
»Gut, belassen wir es vorerst dabei und nehmen deine Theorie zum Tathergang als Arbeitsgrundlage.«
Falk, der sich bisher Notizen gemacht hatte, ergriff das Wort. »Eines könnte ich noch hinzufügen. Und zwar gibt es einen entscheidenden Hinweis, der den Täterkreis stark eingrenzt.«
»Und der wäre?«, fragte Tanner.
»Der Kehlenschnitt. Die Frauen sollten ausbluten. Sie wurden geschächtet.«
»Und daraus schließen Sie was?«
»Der Täter kann kein Deutscher gewesen sein. Es war ein Jude!«
Kaltenbach schaute interessiert von Falk zu Tanner. Der kniff die Augen zusammen, sein Bluthochdruck meldete sich. Immer sachlich bleiben, hatte sein Arzt geraten. Nicht brüllen, ruhig atmen. »Einen guten Polizisten zeichnet eine objektive Ermittlung aus«, sagte er und atmete tief ein und aus. »Er lässt sich weder durch persönliche Abneigungen noch durch Rassismus leiten.« Wieder atmete er tief ein und aus. »Ein Mensch ist dann ein Verbrecher, wenn er ein Verbrechen begangen hat, und nicht, weil es Ihnen in den Kram passt, Falk. Außerdem sind mehr als ein Prozent der Deutschen Juden, und das schon seit mehreren Generationen.«
Falks Miene verfinsterte sich. »Das mag sein, aber es sind keine richtigen Deutschen. Deutschsein ist mehr als nur ein Pass. Die Juden haben sich in unser Volk eingeschlichen, sie verunreinigen unser Blut. Sie machen uns schwach und kränklich. Aber davon abgesehen sprechen objektiv betrachtet sogar zwei Indizien für einen jüdischen Täter: erstens das Schächten und zweitens die Niedertracht.«
»Falk«, sagte Tanner heiser und näherte sich ihm bis auf wenige Zentimeter. »Sie halten jetzt am besten Ihr Maul, sonst können Sie ab morgen hier oben den Verkehr regeln.« Falk wich ein Stück zurück. Tanner setzte nach. »Haben Sie verstanden?«
Falks Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Ja«, presste er hervor.
»Was, ›ja‹?«
»Ja, Herr Polizeirat.«
»Gut.« Tanner ließ Falk nicht aus den Augen. »Aber wenn Sie schon so gut Bescheid wissen, dann kehren wir doch zu den Fakten zurück: Wann sind die Frauen denn aufgebrochen?«
Leicht nervös blätterte Falk in seinen Notizen. »Am Morgen des 31. Mai zwischen acht Uhr fünfzehn und acht Uhr dreißig.«
»Wie lange braucht man vom Thurner bis hierher?«
Falk schaute von Tanner zu Kaltenbach und dann wieder zu Tanner. »Das, äh, weiß ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Es gab viel zu tun. Die Bearbeitung der Vermisstenanzeige, die Suche nach den Vermissten, die Tatortsicherung –«
»Und da vergisst man Grundlegendes? Die möglichst genaue Eingrenzung der Todeszeit ist die Basis der gesamten Ermittlungen!«
»Ich werde mich darum kümmern.«
»Machen Sie das, Falk. Aber jetzt gleich. Hopp, hopp.« Tanner machte eine wegwerfende Handbewegung. Falk zog scharf die Luft ein. Widerwillig ging er zu den Schutzpolizisten, die aus der Gegend stammten.«
»Du weißt doch, wie lange man braucht«, sagte Kaltenbach.
»Ja, eine Stunde und fünfzehn Minuten, wenn man stramm läuft. Und am liebsten hätte ich es, dass Falk den Weg einmal selbst macht, und zwar in der tiefsten Gangart.«
Inzwischen hatte sich der Tross aus Erkennungsdienst, Staatsanwaltschaft und Rechtsmedizin zu Ruth Fehrenbachs Leiche begeben. Bei Clara standen nur noch ein Gendarm und ein mittelgroßer, hagerer Mann in einem abgetragenen Anzug. Er war ungefähr in Tanners Alter.
»Ist das ein Angehöriger?«, fragte der.
»Ja, Lothar Fehrenbach«, antwortete Kaltenbach. »Er ist Claras Vater und auch Lehrer – aber im Ruhestand. Die ganze Familie ist gewissermaßen eine Lehrerdynastie. Er hat die Vermisstenanzeige aufgegeben und ließ sich nicht davon abhalten, bei der Suche zu helfen.«
»Mein Beileid«, sagte Tanner und reichte Fehrenbach die Hand. Dessen Miene war versteinert, seine Augen lagen in tiefen Höhlen. »Ich bin Polizeirat Tanner, Oberkommissar Kaltenbach kennen Sie ja. Um uns ein genaues Bild zu machen, versuchen wir, die letzten Tage zu rekonstruieren. Können Sie mir schildern, wie es zur Vermisstenanzeige kam?«
Tonlos begann Fehrenbach zu erzählen: »Wir, meine Frau und ich, hatten mit Clara vereinbart, dass sie sich täglich meldet. Meine Frau ist sehr empfindsam, sie bestand darauf. Die letzte Nachricht erhielten wir am 1. Juni per Nachmittagspost. Es war eine Postkarte vom Thurner, wo Clara und Ruth genächtigt hatten.«
»Haben Sie die Karte noch?«, fragte Tanner.
»Ja, einen Moment bitte.« Fehrenbach öffnete seine abgewetzte Aktentasche und gab Tanner die Karte. Fehrenbachs Hand zitterte leicht. Die Karte zeigte den Thurnergasthof, im Hintergrund den Kandel. Sie war am 31. Mai von der Breitnauer Post abgestempelt worden. Aus dem Text ging hervor, dass Clara sie am Morgen desselben Tages geschrieben hatte, also kurz vor ihrem Tod. Der Text beschrieb ihre bisherige Reise und die nächsten Stationen – nichts Außergewöhnliches, nichts, was auf ein Verbrechen hindeutete. Tanner gab die Karte zurück und sagte: »Manchmal ist es gut, wenn man die Zukunft nicht kennt.«
Fehrenbach nickte abwesend. »Am Samstag, das war der 2. Juni, hätten Clara und Ruth zurück sein sollen«, fuhr er fort. »Ich wartete am Bahnhof Gengenbach auf sie. Als niemand kam, dachte ich, sie hätten den Zug verpasst und kämen mit dem anschließenden. Ich wartete also weiter. Als auch der letzte Zug die beiden nicht brachte, ging ich sorgenvoll nach Hause. Auch der darauffolgende Tag verstrich ohne Lebenszeichen. Am 4. Juni fuhr ich dann nach Freiburg und erstattete bei der Kriminalpolizei Anzeige. Der Herr Kriminalsekretär Falk nahm sich sofort meiner an und –«
»Es ist gut, Herr Fehrenbach. Den Rest der Geschichte kennen wir.«
Fehrenbach, ohne den Halt seiner Erzählung verloren, stellte seine Aktentasche umständlich ab. Als er bemerkte, dass der Boden noch feucht war, nahm er sie wieder auf.
»Ist Ihnen vor der Abreise Ihrer Tochter etwas aufgefallen?«, fragte Tanner.
»Nein. Clara war guter Dinge. Sie hatte sich sehr auf die drei Tage gefreut. Sie nahm sogar den Damenspazierstock mit, den ich ihr geschenkt hatte, obwohl sie dafür viel zu jung sei, wie sie sagte.«
»Ein Spazierstock? Wie sah der aus?«
»Gelb, aus Holz, mit geschwungenem Griff.«
Tanner wandte sich an Kaltenbach. »Der war bei den gefundenen Gegenständen nicht dabei, hab ich recht, Hans?«
Kaltenbach nickte.
Dann wandte Tanner sich wieder Fehrenbach zu. »Wir haben noch eine Liste mit den Sachen, die Ihre Tochter bei sich führte. Kriminalsekretär Falk wird sie Ihnen zeigen. Bitte schauen Sie, ob noch etwas fehlt. Ansonsten danke ich Ihnen fürs Erste, Herr Fehrenbach. Sie sollten sich für weitere Fragen zur Verfügung halten.« Tanner streckte Fehrenbach die Hand hin.