Weites Land der Träume - Anne McCullagh Rennie - E-Book

Weites Land der Träume E-Book

Anne McCullagh Rennie

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Beschreibung

Ein Leben zwischen Schmerz und Hoffnung Nachdem sie ihre Familie bei einem verheerenden Buschfeuer verlor, wächst die junge Alice mit ihrem Bruder Ben bei ihrer Tante in dem abgelegenen Ort Billabrin auf. Die Schönheit und Weite des Outbacks hilft Alice nach und nach, wieder neuen Lebensmut zu fassen. Hier lernt sie auch den allseits begehrten Robert McIain kennen, dessen sanfte Augen, sie vom ersten Moment an berühren. Mit jedem Tag wächst ihr gemeinsamer Traum, eine eigene Schaffarm aufzubauen – doch nicht jeder in Billabrin gönnt dem jungen Paar eine glückliche Zukunft. Als das Schicksal erneut zuschlägt, muss Alice eine schwere Entscheidung treffen, die ihr Leben für immer verändern wird … Eine bewegende Australiensaga mit unwiderstehlichem Sehnsuchtsfaktor: für alle Fans von Di Morissey und Elizabeth Haran. »Das Outback war schon Inspiration für einige der unvergesslichsten Geschichten der australischen Literatur. ›Weites Land der Träume‹ gehört nun offiziell dazu.« New Idea Magazin »Ich habe dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite geliebt.« Goodreads-Leserin

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Über dieses Buch:

Nachdem sie ihre Familie bei einem verheerenden Buschfeuer verlor, wächst die junge Alice mit ihrem Bruder Ben bei ihrer Tante in dem abgelegenen Ort Billabrin auf. Die Schönheit und Weite des Outbacks hilft Alice nach und nach, wieder neuen Lebensmut zu fassen. Hier lernt sie auch den allseits begehrten Robert McIain kennen, dessen sanfte Augen, sie vom ersten Moment an berühren. Mit jedem Tag wächst ihr gemeinsamer Traum, eine eigene Schaffarm aufzubauen – doch nicht jeder in Billabrin gönnt dem jungen Paar eine glückliche Zukunft. Als das Schicksal erneut zuschlägt, muss Alice eine schwere Entscheidung treffen, die ihr Leben für immer verändern wird …

Über die Autorin:

Anne McCullagh Rennie wurde in Cambridge, England geboren und studierte in London und Wien Musik. In Österreich lernte sie ihren Ehemann Jim kennen und zog mit ihm nach Australien, wo sie zusammen eine Familie gründeten. Die Liebe zu ihrer Wahlheimat und zur Musik bringt sie in ihren Romanen zum Ausdruck.

Von Anne McCullagh Rennie erscheinen bei dotbooks die Australienromane: »Der Himmel über Australien«, »Das Lied der Honigvögel«, »Die Sterne über Australien« und »Wohin der Wind uns trägt«.

Die Autorin veröffentlichte außerdem ihre Sammelbände »Das Land der Eukalyptusblüten« und »Der Traum vom roten Land«.

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eBook-Neuausgabe November 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »Reach for the Dream« bei Arrow/Random House Australia.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1996 by Anne Rennie

Published by Arrangement with Anne McCullagh Rennie

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2005 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/qingtiger dorn, Arimag und AdobeStock/Aghavini

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-565-8

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Anne McCullagh Rennie

Weites Land der Träume

Australienroman

Aus dem Englischen von Gloria Ernst

dotbooks.

Widmung

Für Jim, der mir Mut gemacht hat, an

meinen Traum zu glauben, und an Selwa,

die mir half, ihn wahr werden zu lassen.

Motto

Sei kühn. Wage es zu träumen.

Denn die Träume von heute sind die

Wirklichkeit von morgen.

TEIL I

Kapitel eins

Alice Ferguson wünschte sich, der heutige Tag möge niemals enden. Der 23. Februar 1952 war der schönste Tag in ihrem bisherigen achtjährigen Leben, und als sie aus dem Schulbus stieg, quoll ihr Herz förmlich über vor Glück. Sie hielt das braune Papierpäckchen so fest vor die Brust gedrückt, dass sich ihre Knöchel weiß verfärbten. Heute war ihr Traum wahr geworden, denn nun hatte sie alles erreicht, was sie sich immer gewünscht hatte. Sie konnte es kaum erwarten, das frohe Gesicht ihrer Mutter zu sehen. Kurz blieb sie stehen, damit ihr fünfjähriger Bruder Ben sie einholen konnte, bevor sie ihren Weg über die holperige Staubpiste nach Hause zu der winzigen Farm im fruchtbaren Ackerland von Victoria fortsetzten.

Trotz der Hitze schritt Alice rasch aus. Aus ihrem zarten herzförmigen Gesicht leuchteten riesige, strahlend blaue Augen, die sich von ihrem hellen irischen Teint abhoben. Da sie die Freude über ihr Glück unbedingt mitteilen musste, streckte sie das kostbare Päckchen auf Armeslänge von sich und rief in den Wind hinein:

»Danke, Mum, danke, danke, danke.« Mit diesen Worten wirbelte sie einmal um die eigene Achse und drückte einen Kuss auf das Einwickelpapier. Das Geschenk, das Alice so glücklich machte, war ein Buch, und zwar nicht irgendeines, sondern das erste, das sie jemals besessen hatte. Und heute hatte sie es als Nachwuchstalent in dem angesehenen Schülerwettbewerb gewonnen.

Ihre Mutter hatte verstanden, wie sehr Alice sich dieses Buch wünschte und was es für sie bedeutete. Noch nie zuvor hatte sie ein eigenes Buch besessen und sich ihren bisherigen Lesestoff stets vom Bücherbus ausgeliehen, der regelmäßig vorbeikam.

Ihrer Mutter verdankte sie die Entschlossenheit und den Mut, sich trotz ihrer altersmäßigen Unterlegenheit und der Hänseleien der größeren Kinder, die nicht so klug waren wie sie, der Herausforderung zu stellen.

»Lass dich nicht unterkriegen«, pflegte ihre Mutter immer zu sagen. »Wissen ist das Tor zu Wohlstand und Macht, und du hast genauso ein Recht darauf wie all die anderen. Du wirst nur manchmal darum kämpfen müssen.«

Selbst um halb vier Uhr nachmittags stiegen die Temperaturen noch, und der heiße trockene Westwind, der sich bei Morgengrauen erhoben hatte, machte keine Anstalten sich wieder zu legen. Obwohl der Heimweg wegen des kräftig wehenden Gegenwinds ziemlich anstrengend war, wollte Alice sich den glücklichen Tag nicht vom Wetter verderben lassen. Ein vertrauter Geruch nach warmem Holz stieg ihr in die Nase, als sie, vergnügt und in Tagträume versunken, weitertrottete. Nur hin und wieder warf sie einen Blick auf Ben, um sich zu vergewissern, dass er ihr noch folgte. Auf beiden Seiten des Wegs bog sich das dürre Gras in der starken Brise. Schafe und Rinder drängten sich auf wenigen schattigen Fleckchen. Seit über vier Monaten hatte es keinen nennenswerten Regen gegeben, und alles war knochentrocken. In der Ferne zeichnete sich dichter Busch in der dunstigen Hitze ab; dahinter lag ihre Farm.

In den nächsten zwanzig Minuten setzten die beiden Kinder schweigend ihren Weg fort. Staub wehte ihnen in die zusammengekniffenen Augen, und es wurde immer heißer. »Wer zuerst am Busch ist!«, rief Ben plötzlich, rannte an Alice vorbei und zupfte sie beim Laufen an einem ihrer dicken rabenschwarzen Zöpfe.

Alice, die sich zu spät weggeduckt hatte, schob das rosafarbene Band, das sich gelöst hatte und ihr über den Mund gerutscht war, aus dem Gesicht. Heute würde ihr geliebter Dad wieder nach Hause kommen. Obwohl er ihr so viele Haarbänder kaufen würde, wie sie nur wollte, würde er mit dem Buch sicher nicht einverstanden sein und auch nicht verstehen, wie viel ihr der Preis bedeutete. In seinen Augen waren Frauen nämlich dazu da, zu kochen, die Männer zu bedienen und Kinder großzuziehen. Selbst in seinen kühnsten Träumen wäre es ihrem Vater nie eingefallen, dass eine Frau auch ein Recht auf Selbstständigkeit hatte.

Alice schickte Ben ein nachsichtiges Lächeln hinterher. Heute würde sie ihn gewinnen lassen, denn nichts auf der Welt konnte ihre Hochstimmung trüben. Doch in letzter Minute beschloss sie, sich trotzdem an dem Wettlauf zu beteiligen, und die beiden Kinder erreichten keuchend und mit geröteten Gesichtern den Busch.

Trotz des dichten Blätterdachs der grauen Gummibäume war es hier nur unwesentlich kühler. Aber wenigstens hatte der Wind nachgelassen, und die Luft war nicht mehr so bewegt. Auch hier war das Unterholz braun und ausgedörrt, und der Boden war von der Hitze ganz brüchig. Der sonst so angenehme Eukalyptusduft war jetzt drückend schwer. Als die beiden Geschwister das letzte Stück Weg zurücklegten, schien die Welt um sie herum förmlich zu knistern. Alice, der unheimlich zumute wurde, ging schneller und trieb Ben zur Eile an.

»Ich habe Durst«, jammerte Ben.

»Ich auch«, erwiderte Alice, die die körperliche Anstrengung schon bereute. Sie rückte den Tornister auf ihrem schmalen Rücken zurecht, blieb plötzlich stehen und lauschte. Im Busch war es still geworden.

»Die Vögel singen nicht mehr, Ben.« Ihre Stimme klang in dem Schweigen unnatürlich laut. Kein Blatt regte sich. Zwischen den Bäumen leuchtete ein unheimliches gelbes Licht am Himmel. Die trockene Luft war wie elektrisiert.

»Schnell, wir müssen nach Hause«, drängte Alice und ging rasch weiter. Als sie sich noch einmal umschaute, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Ben, der ihre Angst spürte, folgte ihrem Blick. Während sie noch hinsahen, wurde die Rauchsäule immer dicker.

Alice brauchte nichts mehr zu sagen. Kinder, die im Busch aufwuchsen, lernten von Geburt an, wie sie sich in einem solchen Notfall verhalten mussten, und Buschfeuer waren nun einmal ein Teil ihres Lebens. Erst letzte Woche hatten Alice, Ben und ihr zweijähriger Bruder Timmy die Feuerübung absolviert, die sie auf Beharren ihrer Mutter alle drei Monate wiederholen mussten.

»Ich will sicher sein, dass euch nichts passiert, denn schließlich könnte auch ein Buschfeuer ausbrechen, wenn ich einmal nicht zu Hause bin«, hatte Mutter verkündet. Alice hatte es beim bloßen Gedanken das Herz zusammengeschnürt.

Also hatten sie so getan, als ob wirklich ein Feuer ausgebrochen wäre. Sie waren durchs Haus geeilt, hatten alle Türen und Fenster geschlossen und die Ritzen mit feuchten Handtüchern verstopft. Dann hatten sie Eimer mit Wasser gefüllt und sie an verschiedenen Stellen verteilt. Wie hatten sie gelacht, als der kleine Timmy, einem weißen Gespenst gleich und in ein riesiges nasses Handtuch gehüllt, in der Küchentür stand, sodass das Wasser auf den Schieferboden tropfte. Mutter hatte den kleinen Jungen auf den Arm genommen und alle mit einem freundlichen Lächeln und liebevoll, allerdings mit Nachdruck, daran erinnert, dass es sich um einen echten Notfall handelte.

Gemeinsam waren sie ihr ins kühle Badezimmer gefolgt, wo sie sich kichernd unter zwei riesige Handtücher und umgeben von Wassereimern in die alte emaillierte Badewanne hockten. Die Augen vor Aufregung weit aufgerissen, kauerte der kleine Timmy auf dem Knie seiner Mutter und zupfte mit seinen Händchen an dem Handtuch über ihren Köpfen, während Ben auf Alices Schoß herumzappelte. Alice hatte an dem dichten schwarzen Haar ihrer Mutter herumgespielt, das so sehr ihrem eigenen ähnelte, und gesehen, wie ihre blauen Augen vor Liebe überflossen. Sie hatten gelauscht, während Mutter ihnen die Verhaltensregeln bei einem Buschfeuer aufzählte, und ihre Worte hatten sich in Alices Gedächtnis eingebrannt. »Denkt immer daran, zuerst ins Haus zu gehen. Bei einem Buschfeuer brennt das Haus zuletzt und ist deshalb der sicherste Zufluchtsort. Erst wenn das Haus Feuer fängt, dürft ihr nach draußen, und haltet euch immer dort auf, wo der Boden bereits abgebrannt ist.«

Nachdem sie alles noch einmal geübt hatten, waren sie endlich wieder hinaus in den Sonnenschein gelaufen und hatten Brot mit wildem Honig gegessen und dazu köstliche hausgemachte Limonade getrunken.

Doch obwohl Alice bestens Bescheid wusste, spürte sie, wie sie der Mut verließ. Sie beschleunigte ihren Schritt. Mit einem Blick auf Ben, der neben ihr hereilte, betete Alice, ihre Mutter möge inzwischen vom Arzt zurück sein: Timmy war nun schon zum dritten Mal an einer Mandelentzündung erkrankt, und Mutter hatte sie vorgewarnt, es könne ein wenig später werden.

Plötzlich erfasste ein Windstoß Bens Kappe und wehte sie ins Unterholz. Ohne nachzudenken, lief der kleine Junge seiner Kopfbedeckung nach. Im selben Moment zerriss ein fürchterlicher Knall die Luft, sodass die beiden Kinder vor Schreck einen Satz machten. Dicht neben Ben brach eine winzige Flamme aus dem trockenen Gebüsch. Im nächsten Augenblick züngelte eine zweite und dann eine dritte empor, die jedoch rasch wieder erstarb.

Allerdings reichte das, um die Geschwister in Angst zu versetzen. Hand in Hand rannten sie so schnell sie konnten auf das Ende des von dichten Bäumen gesäumten Pfades zu, der sie in das offene Gelände oberhalb ihrer Farm führen würde. Inzwischen war der Wind stärker als zuvor, fächelte die fast erloschenen Flammen wieder an und trieb kleine Rauchwolken vor sich her, die die Kinder umwaberten und immer dichter wurden, während sie weitereilten. Alices vor Furcht weit aufgerissene Augen blickten hastig hin und her, und sie spürte, wie ihr auf ihrer wilden Flucht das Herz in der Brust klopfte.

»Duckt euch! Keine Panik!« Trotz ihrer Angst gingen ihr immer wieder die Worte ihrer Mutter im Kopf herum. »Ein Feuer braucht Zeit, um sich aufzubauen. Am Anfang ist der Rauch viel gefährlicher.« Solange der Wind aus dieser Richtung wehte, konnte ihnen verhältnismäßig wenig geschehen. Allerdings wusste Alice, dass sich das jederzeit ändern konnte. Dann würde der Wind die Flammen direkt auf sie zutreiben. Ringsherum hörten sie das Knistern brennenden Laubes, als der Wind zunahm und das Feuer auf das Gestrüpp Übergriff. Der Busch rechts von ihnen war noch unversehrt, aber mit jedem Schritt ließ die Sicht nach, und vom Rauch brannten ihnen bereits die Augen. Ben begann zu husten.

»Dein Hemd!«, keuchte Alice, als ihr ebenfalls Rauch in die Lungen drang. Das kostbare Buch immer noch umklammert, lüpfte sie ihren Rock und hielt ihn sich vors Gesicht.

»Ich habe Angst«, wimmerte Ben, von Hustenanfällen geschüttelt.

Alice blieb stehen. Rasch stopfte sie das Buch in ihren Tornister und schulterte die Schultasche wieder. Mit zitternden Händen zog sie Ben das Hemd aus der Hose und bedeckte damit sein angstverzerrtes Gesicht, um Nase und Mund zu schützen. Ben brach in Tränen aus.

»Alles wird gut, Ben! Gleich sind wir zu Hause bei Mum und Timmy«, beruhigte sie ihn, die Stimme durch den Rock gedämpft. Sie zwang sich zu einem Lachen, als sie stolperten und beinahe gestürzt wären. Bens bleiches Gesicht wirkte schon weniger verängstigt. Zusammen hasteten sie weiter den Pfad entlang. Immer wieder loderten neue Flammen neben ihnen auf und griffen mit ihren zerstörerischen orangefarbenen Zungen gierig nach dem trockenen Busch. Jedes Mal schnappte Alice vor Schreck nach Luft. Vergeblich sah sie sich nach einer Lichtung im Busch um, während ihr die Warnung ihrer Mutter in den Ohren hallte: Buschfeuer konnten mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit außer Kontrolle geraten. Als sie sich das vor Augen hielt, bekam sie wieder Herzklopfen.

Auf ihrer wilden Flucht den schmalen Pfad hinunter und durch dicke Rauchschwaden mussten sie immer wieder fliegenden Funken ausweichen. Bald waren sie von oben bis unten mit Asche bedeckt, und vom Qualm tränten ihnen die Augen, sodass ihnen rußige Rinnsale die Wangen hinunterliefen. Erleichtert bemerkte Alice im Nebel ein weißliches Schimmern, das bedeutete, dass sie den Busch fast hinter sich hatten. Als sie das Flussbett erreichten, brannte das Unterholz um sie herum lichterloh, und die Hitze drohte ihnen die Haut zu versengen. Die Flammen züngelten mit beängstigender Geschwindigkeit die hohen Gummibäume hinauf, deren Wipfel binnen weniger Minuten brannten wie Zunder.

Gefolgt von Ben, hastete Alice das Flussbett hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Dahinter befanden sich die sicheren Koppeln, und als sie an die beschützenden Arme ihrer Mutter und an Timmys aufgeregtes Juchzen dachte, wurde sie noch schneller. Zitternd vor Angst und Erschöpfung, sogen sie in tiefen Zügen die frische Luft ein und rannten über die große Koppel zum Haus. Ben bekam vor Angst einen Schluckauf.

»Mum sagt, es kommt nicht über das Flussbett«, meinte Alice beruhigend, eilte aber dennoch in unverminderter Geschwindigkeit auf das Haus zu.

Als sie feststellte, dass der Wagen nicht auf dem Hof stand, verließ sie erneut der Mut. Mutter und Timmy waren noch nicht zurück. Hinter sich hörte sie, wie Bäume krachend zu Boden fielen, sodass Fontänen aus Asche und Funken in die Luft gewirbelt wurden. Mit entsetzlicher Geschwindigkeit sprang das Feuer von Baum zu Baum über und hatte sich binnen Sekunden nach allen Seiten ausgebreitet. Nur das Flussbett verhinderte, dass es den Hügel hinunter und auf das Haus zufegte.

Schluchzend vor Erschöpfung stürmte Alice die hölzerne Treppe zur Veranda hinauf, wobei sie zwei Stufen auf einmal nahm. Oben angekommen, drehte sie sich, erleichtert, wieder zu Hause zu sein, zu Ben um. »Jetzt kann uns nichts mehr passieren, Ben«, keuchte sie. »Dad hat rings ums Haus eine Feuersperre angelegt. «

Sie schlang den Arm um ihren kleinen Bruder und umarmte ihn rasch, während sie mit tränenden Augen ängstlich den brennenden Busch absuchte. Wie lange konnte der Graben das Feuer abhalten?

»Jetzt müssen wir es machen wie in der Übung, Ben«, verkündete sie dann, während sich ihre Gedanken überschlugen.

Sie schob Ben durch die Fliegengittertür zur Vordertür hinein in das leere Haus. Nachdem sie ihre Schultasche auf den Boden geworfen hatte, eilte sie zum offenen Fenster.

»Mum!«, rief Ben ängstlich. Er ließ seinen Tornister neben den von Alice fallen und rannte in die Küche.

»Sie kommt bald nach Hause. Hilf mir, alles zuzumachen, Ben!«, rief Alice und schloss hastig Türen und Fenster. Sie konnte sehen, dass das Feuer auf der anderen Seite des Grabens verharrte, fühlte sich aber weniger selbstsicher, als sie klang. Warum hatte es ausgerechnet heute passieren müssen? Die Worte ihrer Mutter hallten ihr in den Ohren. »Es könnte auch sein, dass ich einmal nicht zu Hause bin ...«

»Bitte mach, dass sie gleich da ist«, schickte Alice ein Stoßgebet zum Himmel. Sie spürte, wie die Panik zurückkehrte. Doch sie nahm sich zusammen. Als sie in die Küche ging, wäre sie fast mit Ben zusammengestoßen, der ihren schwarzen Welpen auf dem Arm trug. Matty war ein Geschenk ihrer Mutter. Das Hündchen bellte aufgeregt und zappelte verstört herum.

»Ach, der arme Matty!«, rief Alice und war kurz von ihren eigenen Ängsten abgelenkt. Sie streichelte das winzige, unruhige Tier und ließ sich von seinem weichen, warmen Körper trösten.

»Jetzt kann uns doch nichts mehr zustoßen, oder, Alice?«, fragte Ben ängstlich und drückte Matty fest an sich.

»Natürlich nicht«, erwiderte Alice. Wieder eilte sie zum Fenster und betete, ihre Mutter möge endlich zurückkehren. Eine Herde aufgescheuchter Kängurus hoppelte über die Weide. Die Straße lag verlassen da. Doch im nächsten Moment sah Alice zu ihrer Erleichterung das Familienauto durch die brennenden Bäume auf das Haus zurasen.

»Sie ist da!«, schrie sie so laut sie konnte, um ihrer aufgestauten Angst Luft zu machen. Gefolgt von Ben, der Matty immer noch umklammert hielt, rannte sie aus dem Haus auf das Auto zu. Sie sah, dass ihre Mutter nervös das Lenkrad umfasste. Auf dem Rücksitz konnte sie den kleinen Timmy erkennen. Nun würde alles gut werden.

Plötzlich brach ein riesiger brennender Ast von einem Eukalyptusbaum ab und fiel auf das Auto. Ohne nachzudenken und den Mund zu einem Schreckensschrei aufgerissen, stürmte Alice auf das Auto zu und wies mit weit ausgestreckten Armen auf den lodernden Ast. Den Regen aus Funken und brennenden Holzstückchen, der sich über sie ergoss, nahm sie überhaupt nicht wahr. Als sie noch einen Schrei ausstieß, riss ihre Mutter hastig das Steuer herum – aber zu spät. Wegen der hohen Geschwindigkeit geriet das Heck des Wagens ins Schleudern, und der brennende Ast landete mit voller Wucht auf der Motorhaube. Die Hitzewelle ließ Alice mitten im Lauf innehalten. Als sie auf die Wagentür zulief, erkannte sie durch Rauch und Flammen, dass ihre Mutter heftig mit den Armen ruderte, und sie hörte sie schreien:

»Bleib zurück, Alice! Bleib zurück!«

Alices Schreckensrufe gingen in dem Tosen der Flammen unter. Hilflos und ungläubig beobachtete sie, wie ihre Mutter vergeblich versuchte, die Wagentür zu öffnen. Dann zog sie, in dem verzweifelten Versuch, den kleinen Jungen mit ihrem Körper zu schützen, Timmy an sich. Ein Zweig hatte sich mit der Tür verkeilt, sodass sie sich nicht aufdrücken ließ.

Und Alice konnte wegen der sengenden Hitze nicht an den Wagen heran.

Alice beobachtete, dass ihre Mutter sich duckte, als das Auto Feuer fing, und musste starr vor Schrecken mit ansehen, wie Wagen, Mutter und kleiner Bruder von einer Flammenwand verschlungen wurden.

Ben, der immer noch Matty umklammert hielt, rannte an Alice vorbei und auf das brennende Fahrzeug zu. Seine schrillen Schreie holten sie in die Wirklichkeit zurück. Ben würde bei lebendigem Leib verbrennen. Alice nahm all ihre Kraft zusammen, stürzte ihrem Bruder nach und griff nach seinem Arm und seinem Haar, um ihn aufzuhalten. Nur ein kurzes Stück von dem brennenden Auto entfernt, gelang es ihr, den um sich schlagenden Jungen mitsamt seinem Welpen zu Boden zu werfen. Er sträubte sich immer noch, als sie sich auf ihn warf und ihn festhielt, bis er jeden Widerstand aufgab. Dann nahm sie ihren wimmernden Bruder in die Arme und wiegte ihn, von herzzerreißenden Schluchzern geschüttelt, hin und her.

Hitze und Qualm nahmen immer mehr zu, und inzwischen drohten auch sie von den Flammen erfasst zu werden. Alice, die erkannte, dass ihrer beider Überleben nun allein von ihr abhing, zog Ben auf die Füße. Entsetzt stellte sie fest, dass der brennende Ast dem Feuer eine Brücke über den Graben geschlagen hatte und der Brand nun über das Gras der Koppeln in Richtung Haus vorrückte. Inzwischen wütete das Feuer schon so lange, dass es den Höhepunkt seiner Hitzeentwicklung erreicht hatte, und verschlang alles, was sich ihm in den Weg stellte. Flammen züngelten im dürren Gras und die Stämme der umliegenden Bäume empor, sprangen von Wipfel zu Wipfel und steuerten auf die Feuersperre zu, wo sie den Kindern den Weg abzuschneiden drohten.

»Zurück zum Haus! Wir müssen zurück zum Haus!« So tief geduckt wie möglich und Matty in den Armen, schob Alice Ben auf das Haus zu. Umweht von Funken und Glut-Stückchen, die ihnen die Beinhaare versengten, um sie herum auf den Boden prasselten und unter das Haus geweht wurden, hasteten sie weiter.

Nachdem Alice den zitternden Ben ins Haus geschoben hatte, schloss sie die Tür und lehnte sich an das dicke stabile Türblatt. Vor Anstrengung keuchend, versuchte sie ihr eigenes Beben zu unterdrücken, während sie fieberhaft überlegte, was sie nun tun sollte. Sie ließ Matty los, wischte sich mit der Hand über das rußverschmierte Gesicht und machte einen Schritt vorwärts. Doch das Schloss der Vordertür funktionierte schon seit Jahren nicht mehr richtig. Ein plötzlicher Windstoß riss die Tür auf, sodass ihr eine dichte Wolke aus Dunst, Rauch und Asche entgegenschlug, die sie zornig umwehte und drohte, ins Haus einzudringen.

»Ben! Hilf mir!«, kreischte Alice. Gemeinsam warfen sie sich gegen die Tür und drückten sie zu. Dann schleppte Alice einen Lehnsessel hinüber und klemmte ihn unter den Türknauf. Das war zwar nur eine vorübergehende Lösung, aber mehr konnte sie im Moment nicht tun.

»Du musst es so machen, wie wir es mit Mum geübt haben«, befahl Alice Ben. »Geh und füll die Eimer!« Ben brach wieder in Tränen aus. Alice war kurz davor, den Mut zu verlieren, und auch sie hatte Mühe, das Weinen zu unterdrücken.

»Du musst mir helfen, Ben«, flehte sie und schob ihn in Richtung Waschküche.

In den nächsten Minuten hastete Alice durchs Haus und schloss verzweifelt Fenster und Türen. Die hektische Betriebsamkeit half ihr, sich von dem Grauen der letzten halben Stunde abzulenken. Während sie Ben Anweisungen gab und versuchte, dabei nicht über Matty zu stolpern, der bellend um sie herumsprang und ihnen im Weg stand, fühlte sie sich, als wache ihre Mutter über sie.

Als sie ins Badezimmer gingen, spürte Alice hysterisches Gelächter in sich aufsteigen. »Siehst du, Mum«, rief sie, ohne nachzudenken. »Ich habe zugehört und mir alles gemerkt.« Doch dann fiel es ihr wieder ein. Ihre Augen verdunkelten sich und sie versuchte, nicht an das furchtbare Erlebnis zu denken.

»Müssen wir auch sterben wie Mummy und Timmy?«, fragte Ben, der verängstigt unter dem Waschbecken kauerte.

»Natürlich nicht, du Dummerchen«, erwiderte Alice laut, um das Dröhnen des Buschfeuers zu übertönen. Sie durfte jetzt nicht an ihre Mutter und Timmy denken. Stattdessen betete sie, dass die Feuersperre ihres Vaters halten würde, denn dann konnte ihnen nichts geschehen. Allerdings gab es keine absolute Gewissheit.

Obwohl die in die Türritzen gestopften nassen Handtücher nicht genügten, um das Eindringen des Rauches zu verhindern, war das Badezimmer mit seinem Betonboden und dem einen winzigen und fest geschlossenen Fenster für den Augenblick der sicherste Raum im Haus.

»Wir müssen in die Wanne klettern, Ben«, sagte Alice und hielt ihrem Bruder die Hand hin. Als Ben unter dem Waschbecken hervorkam, half sie ihm über den Rand der alten Badewanne. Nachdem sie den jaulenden Matty auch hineingesetzt hatte, stieg sie auch in die Wanne und zog Ben auf ihr Knie. Wieder begann der kleine Junge zu weinen.

»Ich will zu Mummy«, schluchzte er.

Alice drückte ihn fest an sich. Bei seinen Worten schnürte es ihr die Kehle zusammen, und eine einsame Träne rann ihr die Wange hinab. Dies war die Wirklichkeit, vor der Alice sich immer gefürchtet hatte. Diesmal würde es kein Honigbrot bei Sonnenschein geben.

Kapitel zwei

Im Busch tobte bereits das Feuer, als Thomas Ferguson nach drei Monaten vom Schafescheren zurückkehrte und aus dem Zug aus Innamincka sprang, bevor dieser noch richtig zum Stehen gekommen war. Die ganze Welt hatte sich orange verfärbt.

Die Stadt war bedroht, und die Bevölkerung wurde evakuiert. Überall sah man Menschen, die ihre Häuser mit Schläuchen abspritzten oder mit Wertgegenständen, die sie vor den Flammen zu retten versuchten, zu ihren Autos eilten. Die Männer von der freiwilligen Feuerwehr brüllten Befehle und bemühten sich, das Dröhnen der Flammen übertönen, während sie dicke Schläuche zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten schleppten.

Beim Anblick des Rauches und der Flammen auf der Straße, die zu seiner Farm führte, schnürte es Thomas vor Angst die Kehle zu. Er dachte nur an die Sicherheit seiner Frau und seiner Kinder, als er zu einem seiner Bekannten hinüberhastete, der am Steuer eines Löschzugs saß. Ohne zu überlegen, riss er die Tür des Fahrzeugs auf und versuchte, den kräftig gebauten Mann vom Fahrersitz zu zerren.

»Hey! Was zum Teufel soll das?«, fragte der Feuerwehrmann überrascht.

»Ich muss zu Mary Ellen und den Kindern!«, schrie Tom.

»Da ist kein Durchkommen, alter Junge. Du würdest bei lebendigem Leibe gebraten.«

»Ich muss zu ihnen.« Thomas versuchte, seine Panik zu unterdrücken, und packte den Feuerwehrmann wieder am Arm. Aus der folgenden Rangelei ging der Feuerwehrmann als Sieger hervor. Hustend taumelte Thomas zurück.

»Sei doch kein Narr, Mann. Was hat deine Familie davon, wenn du dich umbringst?«, schimpfte der Feuerwehrmann, als Tom erneut eine Schlägerei anzetteln wollte. Rasch wühlte er in seinen Taschen und warf Thomas einen Schlüsselbund zu. »Hier, nimm meinen Pickup, falls du wirklich lebensmüde bist. Die Karre steht drüben vor dem Laden.«

Ohne die Warnung zu beherzigen, stürmte Thomas zu dem Geländefahrzeug, sprang hinein und brauste in den Qualm und Nebel. Doch schon wenige Sekunden später wurde ihm klar, dass weiterfahren unmöglich war. Die Augen tränten ihm vom Rauch, so dass er kaum etwas sehen konnte, und bald hustete er so heftig, als würde es ihm jeden Moment die Brust zerreißen. Ihm blieb nichts anderes übrig als umzukehren.

Verzweifelt half er bei den Evakuierungsmaßnahmen und ergriff mit den anderen die Flucht, als die Flammen durch das Städtchen rasten und eine Schneise der Verwüstung zurückließen. Erst als das Feuer spät am Nachmittag vorbei war, machte sich der inzwischen völlig erschöpfte Thomas auf den Weg zu seiner fünfzehn Kilometer entfernten Farm. Unterwegs klatschten dicke Regentropfen gegen seine Windschutzscheibe.

In all den Jahren, die Thomas nun dieses Land bewirtschaftete, hatte er noch nie eine solche Verheerung gesehen. Sein Magen krampfte sich zusammen, als der Geländewagen durch die verkohlte Landschaft holperte. Am Straßenrand lagen die Kadaver der Schafe, die sich in ihrer Todesangst zusammengedrängt hatten. Der Wagen war von einem beißenden Geruch erfüllt. Welche Chance hatten Mary Ellen und die Kinder in dem tosenden Inferno gehabt?

Und dann öffnete der Himmel seine Schleusen.

Der Regen ließ bereits nach, als Thomas den Wagen ruckartig vor den verkohlten Überresten seines Zuhauses zum Stehen brachte. Er sprang aus dem Fahrzeug, suchte nach einem Lebenszeichen und hoffte, seine Familie möge wie durch ein Wunder überlebt haben. Nach dem heftigen Regenguss dampfte der heiße Boden noch. Von dem Haus, das er liebevoll mit eigenen Händen gebaut hatte, war nur noch der Backsteinkamin übrig. Dieses Haus war das einzige Versprechen an seine Frau Mary Ellen, das er je gehalten, der einzige ihrer Träume, den er ihr je erfüllt hatte. Nun konnte er sehen, wo die Steine in der unbeschreiblichen Hitze zerplatzt waren. Die Metallteile waren geschmolzen und flüssig geworden wie Wasser. Entsetzt starrte er auf die geisterhaft schwarzen Umrisse der massiv gemauerten Nebengebäude und der früher so majestätischen Bäume.

Als er die ausgebrannte Karosserie des Autos bemerkte, dessen Motorhaube von einem verkohlten Ast eingedrückt worden war, blieb ihm fast das Herz stehen. Wie in Zeitlupe rannte er auf den Wagen zu, wo ihm ein Blick seine grausige Vermutung bestätigte. Seine geliebte Mary Ellen, im Tod fast nicht zu erkennen, war über der Leiche seines jüngsten Sohnes zusammengesackt. Ungläubig betrachtete er die sterblichen Überreste seiner Frau und seines Kindes, ohne das Grauen wirklich erfassen zu können. Doch dann durchdrang langsam ein Gedanke den Nebel der Verzweiflung: Alice und Ben waren nicht im Wagen. Es bestand immer noch Hoffnung, dass sie das Feuer überlebt hatten. Mit neuem Mut rannte Thomas zurück zum Geländewagen, ließ den Motor an, legte den Gang ein um dann schlagartig innezuhalten. Wohin sollte er nur fahren?

Das plötzliche Nachlassen des Lärms sagte Alice, dass das Feuer vorbei war. Das schreckliche Dröhnen und Knistern war verklungen, und man hörte nur immer wieder ein Krachen, da im Busch weiterhin brennende Bäume umstürzten. Allerdings hatte sich ihre Angst noch nicht völlig gelegt. Vorsichtig hob sie das Handtuch und schnupperte. Die Luft in dem winzigen Badezimmer war verhältnismäßig frisch. Nachdem sie sich von dem schlafenden Ben losgemacht hatte, griff sie nach Matty und kletterte aus der Badewanne auf den Betonboden. Sie setzte den Hund ab und zog langsam einen Zipfel des feuchten Handtuchs von der Tür weg. Als kein Rauch zu sehen war, machte sie die Tür langsam einen Spalt auf, bis die Lücke so groß war, dass sie in den Flur hinausschlüpfen konnte. Matty trottete hinter ihr her. Erleichtert stellte sie fest, dass sie wieder Luft bekam. Doch als sie einen Blick auf den Boden warf, wurde ihr klar, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Die Glutstückchen, die unter das Haus geweht worden waren, hatten Feuer gefangen, und Rauch quoll durch die Bodendielen.

»Ben, schnell, wir müssen hier raus!« Alice eilte zurück ins Badezimmer und rüttelte ihren Bruder wach. Ben riss erschrocken die Augen auf, und Alice zerrte ihn aus der Wanne.

Hastig schob sie ihn zur Vordertür hinaus über die qualmende Veranda. Obwohl das Feuer vorbei war, wusste sie, dass immer noch Gefahr drohte. Die Schneise, die die Flammen geschlagen hatten, war zwar deutlich zu sehen, doch es gab immer noch genug Brennbares. Außerdem konnte der Wind jeden Moment drehen, sodass sich der umliegende Busch erneut entzündete. Es fehlte nicht viel und die Glut sprang auf die trockenen Bodendielen über und setzte das ganze Haus in Brand. Vor ihnen erhoben sich kahle geschwärzte Baumstämme aus den Rauchschwaden, die jederzeit ohne Vorwarnung umstürzen konnten. Die bereits gefallenen Bäume lagen, umgeben von glühenden Holzstückchen, auf dem Boden. Dahinter stand das Wrack des ausgebrannten Autos. Wieder war es die Erinnerung an die Worte ihrer Mutter, die Alice riet, den Ort zu verlassen, der ihnen das Leben gerettet hatte, und abgebrannten Boden aufzusuchen.

Sie spürte, wie die Hitze durch die dünnen Sohlen ihrer Schuhe drang, während sie die verkohlte Weide überquerten und das Flussbett hinaufkletterten. Oben angekommen, drehten sie sich um und sahen, dass das Haus inzwischen in Flammen stand. Energisch drängte Alice ihre Tränen zurück. Dann kehrte sie dem Zuhause, in dem sie so viel Schönes erlebt hatte, den Rücken und ging mit Matty auf dem Arm und Ben fest an der Hand davon.

Verhältnismäßig sicher von einem verkohlten Baumstumpf oben auf dem Hügel beobachteten die beiden, wie ihr Zuhause dem Erdboden gleichgemacht wurde. Tränen der Hilflosigkeit rannen Alices Wangen hinunter und tropften ihrem Bruder auf den Kopf, als sie sich dicht aneinanderdrängten. Matty leckte ihnen abwechselnd das Salz von den Gesichtern. Plötzlich, als ob der Himmel mit ihnen fühlte, begann es zu regnen. Zuerst waren es nur vereinzelte Tropfen, die man fast mit in der Luft schwirrenden Insekten hätte verwechseln können. Dann prasselte ein heftiger Schauer auf sie hernieder und durchweichte ihre schmutzigen Schuluniformen bis auf die Haut. Es gab kaum etwas, das sie vor der Sintflut hätte schützen können. Alice kauerte sich auf den Boden und zog den bibbernden Ben an sich, um ihn zu wärmen. Matty schmiegte sich eng an die beiden. Ganze dreißig Minuten lang öffnete der Himmel seine Schleusen und löschte die glühenden Funken, die im ersterbenden Licht zischend Dampfwolken ausstießen.

Schließlich ließ der Regen nach. Alice hob den Kopf und spähte in die Dunkelheit. Dann spitzte Matty die Ohren. Plötzlich schoss er unter Alice hervor und verschwand, aufgeregt bellend und mit wedelndem Schwanz sauste er den Hügel hinunter. Mit klopfendem Herzen sprang Alice auf. Auch sie hatte den Pickup gehört. Als sie sich suchend umblickte, überkam sie Erleichterung. Der Mann, der zwischen den Ruinen herumging, war unverkennbar ihr Vater.

»Es ist Daddy! Es ist Daddy!«, rief Alice aus und klatschte in die Hände. Sie und Ben rannten den Hügel hinunter, so schnell sie ihre Beine trugen, und schrien und winkten dabei, bis ihnen die Lungen schmerzten. Doch es war zu dunkel, und der Wind trug ihre Stimmen davon. Ganz gleich, was sie auch taten, ihr Vater bemerkte sie einfach nicht, und sie mussten verzweifelt zusehen, wie er kehrtmachte und zum Wagen ging. Hinter ihm hatte der Himmel eine leuchtend orangene Färbung angenommen, als wolle der Sonnenuntergang der angerichteten Verwüstung trotzen. Alice wurde von Verzweiflung überwältigt, als sie den Motor hörte und sah, wie der Pickup sich langsam in Bewegung setzte. Nun wusste sie, was Hoffnungslosigkeit bedeutete.

Doch im nächsten Moment musste sie trotz ihrer Tränen lachen. Sie fasste Ben bei der Hand und rannte los. Matty war blitzschnell über die Weide gelaufen und sprang nun bellend umher. Alice sah, wie ihr Vater die Wagentür öffnete und Matty ihm in die Arme sprang. Thomas stieg aus und blickte suchend über die Weide. Inzwischen war Alice nah genug herangekommen, um sein Gesicht zu erkennen, in dem sich Ungläubigkeit abzeichnete.

»Daddy! Daddy!«, rief sie.

Nun hatte er sie auch wahrgenommen, eilte auf sie zu und war mit wenigen Schritten bei ihnen. Er schlang seine großen, kräftigen Arme um Alice und Ben, und dann schmiegten die drei sich aneinander und weinten vor Freude, Trauer und Erleichterung. Von Schluchzern geschüttelt, berichtete Alice ihrem Vater von den tragischen Ereignissen, die in wenigen kurzen Stunden ihr Leben zerstört hatten. Anschließend klammerten sich die Menschen, die von der kleinen Familie noch übrig waren, aneinander und vergossen gemeinsam bittere Tränen.

An einem sonnigen Märznachmittag um halb fünf

Nach dem Feuer unterstützten die Bewohner des Städtchens die Familien, die alles verloren hatten, und stellten ihnen Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung. Alice, Ben und ihr Vater waren im Nachbarstädtchen untergebracht worden. Inzwischen war eine Woche vergangen, und nun saßen sie auf der Veranda der Familie Adams und beobachteten den Sonnenuntergang.

Mr. und Mrs. Adams konnten nur allzu gut nachvollziehen, was Verlust bedeutete, denn ihr einziger Sohn war bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Sie waren sehr großzügig, gütig und verständnisvoll gewesen, und da sie wussten, wie wichtig es war, der Trauer Raum zu geben, hatten sie Thomas und seine Kinder nach dem Abendessen allein gelassen.

Für Alice war es, als verschwänden die Ereignisse der letzten Woche hinter einem Nebel. Am Anfang hatten die Versorgung mit Lebensmitteln und Schlafgelegenheiten und die Suche nach Vermissten so im Vordergrund gestanden, dass kaum Zeit zum Nachdenken geblieben war. Selbst die Beerdigung von ihrer Mutter und Timmy drei Tage nach dem Feuer nahm sie nur verschwommen wahr, und sie verbrachte ihre Tage schweigend und unter Schock.

Doch als sie nun in der drückenden Sommerhitze auf der Veranda einer fremden Familie saß, traf sie die entsetzliche Gewissheit mit übermächtiger Wucht. Ihre Mutter und Timmy waren fort. Es würde nie mehr Brot mit Wildhonig bei Sonnenschein geben. Nie wieder würde sie das pechschwarze Haar ihrer Mutter streicheln oder ihrer sanften Stimme lauschen können. Nie wieder würde sie den kleinen Timmy auf dem Arm halten oder in den Augen ihrer Mutter ein liebevolles Lächeln aufblitzen sehen. Nun würde sie ihr nicht mehr erzählen können, dass sie den Preis gewonnen hatte. Nie wieder würde sie mit ihr darüber sprechen, was Bildung bedeutete. Traurig blickten ihre Augen aus ihrem bleichen jungen Gesicht ihren Vater an.

»Warum, Daddy? Warum mussten sie sterben?«, fragte Alice, und Tränen glitzerten in ihren Augen.

»Das weiß ich nicht, Prinzessin«, erwiderte Thomas seufzend. Aus seinem Blick sprach große Traurigkeit.

Alice ahnte nicht, dass er sich als Versager fühlte, wenn er seine kleine Tochter betrachtete, die seiner geliebten Frau so sehr ähnelte. Doch sie sah, dass er genauso litt wie sie. Alice konnte die Trauer in ihrem Herzen und den Schmerz ihres Vaters nicht ertragen. Als sie zu ihm hinüberging, legte er die Arme um sie, und sie schluchzte herzzerreißend. Auch Ben klammerte sich, verwirrt und verloren, an seinen Vater.

Thomas drückte seine Kinder an sich, und sie trösteten einander, auch wenn jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Während er Alices seidiges Haar streichelte, fragte er sich, wie er dieses unbeschreibliche Leid nur verwinden sollte. Kurz konnte er das grüne Gras im Frühjahr sehen, und Mary Ellens blaue Augen, die denen von Alice so ähnlich waren und aus ihrem freudestrahlenden Gesicht leuchteten. So hatte sie ihn stets bei seiner Rückkehr empfangen, und so wollte er sie in Erinnerung behalten. Sie hatte so viel Lebenslust gehabt. Bei seinem letzten Besuch zu Hause war der kleine Timmy gerade erst achtzehn Monate alt gewesen. Er hatte ihn nur drei Monate seines kurzen Lebens gekannt. Nun war er tot. Thomas hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Als sie bei der Überschwemmung vor zwei Jahren die Hälfte ihrer Schafe verloren hatten, hatte Mary Ellen ihm den Rücken gestärkt. Sie hatte sich nicht beklagt, als er vom Schafescheren nur mit Auszeichnungen und Versprechungen zurückgekehrt war. Nie hatte sie ihm Vorhaltungen gemacht, weil er beruflich keinen Erfolg hatte.

»Wir fangen wieder von vorne an«, pflegte sie zu sagen, und ihre Kraft hatte ihm jedes Mal den Mut gegeben, es noch einmal zu versuchen. Stets hatte sie ein offenes Ohr für seine Träume gehabt, ganz gleich, wie versponnen und wirklichkeitsfremd sie auch sein mochten und wie oft er seine Pläne wieder verworfen hatte. Nun war sie fort, und er hatte niemanden mehr zum Träumen. Doch diesmal, so nahm er sich fest vor, würde er Mary Ellen nicht enttäuschen. Diesmal würde er selbst die Kraft für einen Neuanfang aufbringen. Aber als er die Augen öffnete, verließ ihn erneut der Mut, und er wusste, dass er ihr Zuhause nie wieder aufbauen konnte, nicht an einem Ort, der ihn jeden Tag daran erinnern würde, was er verloren hatte – daran, dass die Frau, die ihm das Wichtigste auf der Welt gewesen war, nicht mehr lebte.

»Was machen wir denn jetzt, Daddy? «, riss ihn Alices traurige Stimme aus seinen gequälten Grübeleien.

Thomas spürte ihren erwartungsvollen Blick. Ab jetzt war er allein für diese beiden wundervollen Kinder verantwortlich. Sie waren das Vermächtnis seiner Liebe zu Mary Ellen. Allerdings wurde ihm schon im nächsten Moment klar, dass die Last zu schwer für ihn war. Er fühlte sich völlig überfordert. Und als er ihre beiden kleinen, vertrauensvollen Gesichter betrachtete, mit den vom Weinen rot geränderten Augen, die so unendlich müde wirkten, hatte er plötzlich eine Idee.

»Hört mal zu«, antwortete er, während er sie an sich zog. Thomas hatte einen Kloß im Hals, als er zu sprechen begann. In der abendlichen Stille war nur seine Stimme zu hören.

»Ich liebe euch beide sehr, und ich habe auch Mummy und Timmy sehr geliebt. Aber jetzt sind sie in einer besseren Welt, wo sie sicher und glücklich sind und wo ihnen nichts mehr passieren kann.« Er hielt inne, um sich wieder zu fassen, und wagte kaum, seinen Kindern ins Gesicht zu sehen. »Ich werde euch auch an einen sicheren Ort bringen.«

Er hob den Kopf und blickte über sie hinweg in die Ferne. Tränen traten ihm in die Augen, während er seinen Erinnerungen nachhing.

»Als kleiner Junge bin ich mit meiner großen Schwester Bea über die Ebenen geritten, die mit schwarzer Erde bedeckt waren. Der Wind wehte uns ins Gesicht, peitschte die Mähnen unserer Pferde und machte die Tiere nervös. Oft stürmte es so heftig, dass selbst die Vögel am Himmel kaum von der Stelle kamen. Ich fragte mich oft, wie sie es überhaupt schafften zu fliegen. Bea fand es genauso erstaunlich. Meine alte Großmutter sagte immer, es wäre ein Wunder. ›Tommy, mein Junge‹, meinte sie. ›Schau dich um. Sei froh, dass du am Leben bist. Das hier ist ein ganz besonderer Ort.‹ Dann beugte sie sich ganz ernst vor und fügte hinzu: ›Ich kenne sonst nämlich keine Gegend auf der Welt, wo die Krähen rückwärts fliegen.«

Alices Augen in dem herzförmigen Gesicht weiteten sich vor Erstaunen, als sie sich ausmalte, was ihr Vater soeben erzählt hatte. Seine verheißungsvollen Geschichten hatten sie schon immer verzaubert, so auch jetzt, wo sie dringend Trost brauchte.

»Ich habe schon mal eine Krähe rückwärts fliegen gesehen«, beteuerte Ben.

Thomas lachte auf, und in seinem Herzen regte sich ein kleiner Hoffnungsschimmer.

»Kommen wir wieder hierher zurück, Dad?«, fragte Alice wehmütig.

Sanft strich Thomas mit der Fingerspitze über ihr trauriges müdes Gesichtchen, und seine Miene wurde wieder ernst. »Wir haben hier nichts mehr, Prinzessin«, flüsterte er, und kurz geriet er ins Schwanken. Doch als er fortfuhr, war er sich seiner Sache wieder sicher. »Wir werden diesen Zauber finden, Alice, und dann baue ich dir ein Schloss in der Ebene, wo es schwarze Erde gibt. Es wird das schönste Schloss auf der Welt, voller Lachen und Sonnenschein und Glück. Und dann wirst du erleben, wie die Krähen rückwärts fliegen.«

Er sah es schon vor sich. Bea würde ihm helfen. Sie würde wissen, was zu tun war. Und wenn es überhaupt noch Träume gab, würden sie dort wahr werden. Thomas blickte seine Kinder voller Liebe an, und in seinen Augen standen Tränen, als er verkündete: »Wir fangen wieder von vorne an. Wir bauen uns ein neues Leben auf.«

Entschlossen schob Alice den leichten Anflug von Zweifel beiseite, der sich in ihr breit zu machen drohte.

Kapitel drei

Tante Bea war mit Raymond Downing verheiratet und lebte mit vieren ihrer sechs Kinder in dem winzigen Städtchen Billabrin im Norden von Neusüdwales. Onkel Ray war zehn Jahre älter als Bea und ein schweigsamer Mensch mit schottischen und irischen Vorfahren, dem es im Leben vor allem auf Ordnung und Disziplin ankam. Meist war er streng und mürrisch, und seine sanfteren Seiten bekam, wenn überhaupt, höchstens seine Frau zu sehen. Tante Bea hingegen war eine warmherzige, offene und freundliche Irin, deren Lächeln einen Raum zum Leuchten bringen konnte. Im Umgang mit ihrem schwierigen Ehemann hatte sie inzwischen Übung.

Die vier Kinder, die noch zu Hause wohnten, waren Nicholas, ein leicht zurückgebliebener Zehnjähriger, den alle nur Buddy nannten, Katie, die drei Monate jünger war als Alice, und die sechsjährigen Zwillinge Don und Dan. Die beiden älteren Söhne, der fünfzehnjährige Billy und der dreizehnjährige Paddy, lebten und arbeiteten über zweihundert Kilometer entfernt auf der großen Schafzucht- und Wollfarm Wangianna.

Tante Bea sprühte vor Energie. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie noch viel mehr Nachwuchs in die Welt gesetzt, doch Onkel Ray war dagegen gewesen. Seit sie nur noch vier Kinder zu versorgen hatte, engagierte sie sich für die Schwächeren in der Gemeinde, was bedeutete, dass es im Haus stets von pflegebedürftigen Tieren sowie von Nachbarskindern wimmelte, von denen manche eigentlich Hunderte von Kilometern entfernt lebten. Beas Großzügigkeit war häufig der Anlass für Streit zwischen ihr und Ray, und so wunderte sie sich sehr, dass sie kaum auf Widerstand stieß, als sie vorschlug, Thomas und seine beiden Kinder könnten doch bei ihnen wohnen.

»Die armen Kleinen, Alice und Ben. Wie werden sie je darüber hinwegkommen, dass sie auf so tragische Weise ihre Mutter und ihren Bruder verloren haben? Ich wage gar nicht, daran zu denken.« Bea schüttelte den Kopf. »Ich habe Mary Ellen nicht gut gekannt, aber sie hat Tommy glücklich gemacht. Es ist doch das Mindeste, dass wir ihnen ein Dach über dem Kopf anbieten, bis Tommy wieder auf eigenen Füßen steht.« Sie drückte Ray die Hand. »Dann wird unsere Familie eben wieder so groß sein wie früher, bevor die Jungen nach Wangianna gezogen sind.«

Onkel Ray wandte den Blick ab und räusperte sich. Auch ihm war der Schreck in die Glieder gefahren, als er von der Katastrophe erfahren hatte, und er hatte seine eigene Familie wieder schätzen gelernt. Dennoch war ihm nicht wohl bei dem Gedanken. Seiner Ansicht nach hatte Thomas sich immer viel zu sehr auf Bea verlassen. Allerdings fiel es Ray schwer, seiner Frau etwas abzuschlagen, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.

Also wurde beschlossen, dass Thomas, Alice und Ben bei den Downings einziehen sollten, und Tante Bea begann, sich mit den praktischen Einzelheiten zu befassen.

An einem sonnigen Märznachmittag um halb fünf bog Thomas müde in die Hauptstraße von Billabrin ein. Die Fahrt hatte eine Woche gedauert. Alice spähte aus dem Fenster, plauderte mit Ben und ermunterte ihn, nach dem Laden ihres Onkels Ausschau zu halten. Der Verlust ihrer Mutter hatte Alice viel tiefer getroffen, als sie es sich anmerken ließ. Da sie die Veränderung an ihrem Vater bemerkte, hatte sie ihr eigenes Elend verdrängt und versucht, Ben die Mutter zu ersetzen. Seit dem schrecklichen Tag war ihr sonst so aufgeweckter Bruder schweigsam und in sich gekehrt. Während der gesamten Fahrt von Victoria nach Neusüdwales hatte er kaum mehr als fünf Wörter von sich gegeben. Nun versuchte sie ihn aufzuheitern. Die Neugier trug das Ihre dazu bei, denn die beiden Kinder waren ihrer Tante und ihrem Onkel nie begegnet. Allerdings hatte ihr Vater oft liebevoll über Bea gesprochen und sie gewarnt, ihren Onkel bloß nicht zu verärgern. Als der Wagen langsamer wurde, drückten Alice und Ben sich die Nasen an der Fensterscheibe platt.

»Tja, das wird es wohl sein!«, verkündete Thomas und brachte den Wagen knirschend vor einem kleinen, schäbigen Holzhaus mit rotem Blechdach zum Stehen. Oben waren noch in verwitterten Buchstaben die Worte »R.K. Downing und Söhne 1892« zu lesen.

»Ich hab es zuerst gesehen, ich hab es zuerst gesehen!«, jubelte Ben.

Nachdem Thomas die Handbremse gezogen hatte, stiegen alle aus. Alice ergriff Bens Hand. Während sie auf das abgestoßene Holzschild mit der abblätternden Farbe starrte, fragte sie sich, wie es wohl werden würde, mit ihren Cousins zusammenzuleben.

»Wir sind da!«, rief sie und versetzte Ben einen aufgeregten Rippenstoß. »Gibt es hier Pferde, auf denen wir reiten können, Daddy?« Alice hatte auf dem Pferd der Nachbarn reiten gelernt, als sie vier war, und Thomas hatte ihr versprochen, ihr eines Tages ein eigenes Pferd zu schenken.

»Ich weiß nicht, Prinzessin.«

»Ich habe Hunger«, jammerte Ben.

»Ich bin viel zu aufgeregt, um Hunger zu haben«, erwiderte Alice lachend. Alles war so neu, dass sie ihre Trauer kurz vergaß. Ben ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken, und die beiden Kinder hüpften den kleinen Pfad entlang, der am Laden vorbei und durch das Tor führte.

An den Haushaltswarenladen der Downings war ein kleines Haus mit drei Zimmern angebaut, das eine teilweise mit Fliegengittern versehene Veranda besaß.

Hinter dem winzigen, aber erstaunlich gepflegten Garten befanden sich drei große Koppeln. Die erste beherbergte zwei Ziegenpferche, die zweite war leer, und auf der dritten tummelten sich ein paar Zicklein, und dann gab es noch einen Schweinekoben und einige verfallene Wellblechhütten zu sehen. Alice jubelte vor Freude, als sie die erwachsenen Ziegen bemerkte, die geduldig vor dem Pferch der Zicklein warteten.

»Glaubst du, Tante Bea erlaubt mir, dabei zu helfen, sie zu versorgen?«, fragte sie atemlos. Traurig erinnerte sie sich an den kleinen Matty, den sie bei einem freundlichen Nachbarn zurückgelassen hatten.

»Das werden wir bald herausfinden«, erwiderte ihr Vater, als die Vordertür aufging, und Tante Beas beleibte Gestalt in Sicht kam. Lächelnd breitete sie die Arme aus.

»Thomas!« Tante Bea fiel ihrem Bruder um den Hals und küsste ihn. Dann betrachtete sie liebevoll die beiden erwartungsvollen Kindergesichter.

»Na, du bist bestimmt Alice. Und das muss Ben sein.« Sie drückte die Kinder an sich. Alice schlang ihrer Tante schüchtern die Arme um die umfangreiche Taille und spähte in ihr Gesicht. Mit sechsunddreißig war Tante Bea noch immer eine attraktive Frau. Aus einem sonnengebräunten Gesicht voller Lachfältchen blitzten haselnussbraune Augen, und ihr kastanienbraunes Haar zeigte keine einzige graue Strähne. Alice war vor allem von ihrem Lächeln begeistert, denn es schien weit über ihre vollen Lippen und die geröteten Wangen hinauszureichen.

»Wie schön, euch zu sehen!« Zärtlich musterte die Tante nacheinander die beiden Kinder, legte dann rasch den Arm um sie und führte sie ins Haus, wo die ganze Familie wartete, um ihre Cousins höflich zu begrüßen. Alle Kinder waren sauber geschrubbt und trugen ihre Sonntagskleider.

In Tante Beas Küche roch es nach frischen Kräutern. Alice lächelte schüchtern, als sie dem ziemlich pummeligen Buddy und den beiden Lausbuben Don und Dan vorgestellt wurde, deren Ohren im rechten Winkel unter dem blonden militärischen Haarschnitt herausragten. Aber das Lächeln erstarb Alice auf den Lippen, als sie ihre Cousine Katie erblickte. Eigentlich hatte sie mit einer freundlichen Begrüßung von dem hübschen achtjährigen Mädchen gerechnet, dessen blonde Zöpfe ebenso lang und dick waren wie ihre eigenen. Doch zu ihrem Entsetzen musste sie erkennen, dass die gelbgrünen Katzenaugen ihrer Cousine sie hasserfüllt ansahen und ihr starres Lächeln gekünstelt war.

»Du schläfst bei Katie auf der Veranda«, verkündete Tante Bea fröhlich. »Es ist zwar ein bisschen eng, aber so seid ihr Mädchen unter euch. Ben kommt zu den Jungen ins Doppelbett.«

Alice verließ der Mut. Schließlich wurde sie mit Onkel Ray bekannt gemacht, der hinter Katie stand. Bei einem Blick in sein wettergegerbtes Gesicht erkannte sie den abweisenden und harten Ausdruck in seinen wässrig blauen Augen. Onkel Ray nahm die kalte Pfeife aus dem Mund und lächelte ihr und Ben gelangweilt zu. Eine Hand hatte er auf Katies Schulter liegen, die andere streckte er aus, um die von Thomas zu schütteln.

»Hallo, alter Junge, willkommen an Bord«, meinte er gedehnt. Aber er bewegte die Lippen kaum, und es klang nicht, als ob er es auch so meinte.

Alice drehte sich zu Tante Bea um, die den Nachmittagstee vorbereitete. Auf einmal verspürte sie entsetzlichen Hunger.

Auf dem sauber geschrubbten, vom jahrelangen Gebrauch zerschrammten Holztisch stand ein großer Schokoladenkuchen neben einem Teller mit selbst gebackenen Plätzchen. Tante Bea reichte Onkel Ray und Thomas jeweils ein Glas Bier.

»Ihr werdet euch schon bald in unserer komischen Familie zurechtfinden«, sagte Bea aufmunternd. »Am Anfang ist alles ein bisschen neu, aber es dauert nicht lang, richtig, Ray?«

Onkel Ray brummte nur etwas Unverständliches und bedachte Alice und Ben mit einem argwöhnischen Blick. Alice erschauderte, und ihre Zuversicht von vorhin war mit einem Mal wie weggeblasen.

Nach einigen beklemmenden Augenblicken leerte Onkel Ray rasch sein Glas und stellte es auf den Tisch. »Tja, alter Junge, am besten gehe ich wieder an die Arbeit.«

Thomas trat vor, nahm seinen Schwager bei den Schultern und sah ihm dankbar in das mürrische, faltige Gesicht. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Ray.«

»Bezahl einfach für Unterkunft und Verpflegung. Mehr erwarte ich nicht«, knurrte Ray. Als er sich mit einer unwirschen Bewegung die Pfeife in den Mund steckte, stieß sie heftig gegen seine Zähne. Er machte kehrt und verschwand in Richtung Laden.

Thomas wirkte zwar ein wenig betreten, doch sobald Ray fort war, lockerte sich die Stimmung sichtlich auf. Die Kinder scharten sich um Alice und Ben, und alle redeten durcheinander. Selbst Katies eisiger Blick schien milder zu werden.

Thomas wischte sich verstohlen die Augen und wandte sich an seine Schwester. »Immer noch großzügig wie eh und je, was, Bea?«, rief er aus.

Lächelnd zog Bea Alice und Ben an sich und streichelte bewundernd Alices seidiges schwarzes Haar. »Es ist schön, dass du hier bist«, erwiderte sie liebevoll. »Und du hast sehr hübsche Kinder.« Sie tätschelte Ben mütterlich und strich ihm eine dichte kastanienbraune Locke glatt. »Und jetzt setzt euch und esst. Ihr müsst nach der langen Reise am Verhungern sein.« Rasch räumte sie die leeren Gläser weg und stellte eine große Teekanne auf den Tisch, während alle geräuschvoll Platz nahmen. Neugierig sah Alice zu, wie ihre Tante sich bückte und in den großen Herd spähte, bevor sie zum Tisch zurückkehrte, um den Kuchen aufzuschneiden. Unter einem alten Handtuch hatte sie zwei winzige, wuschelige Kätzchen entdeckt.

»Sie wurden letzte Nacht geboren. Ihre Mutter hat sie auf die Türschwelle gelegt«, erklärte Bea lächelnd, als sie Alices Begeisterung sah. Mit einem scharfen Messer schnitt sie in den saftigen Schokoladenkuchen. »Es gibt hier viel zu tun, was dir Spaß machen wird. Später kannst du mir helfen, sie zu füttern, und morgen früh soll Katie dir zeigen, wie man die Ziegen melkt, bevor wir dich in deine neue Schule bringen. Und nach dem Tee führen deine Cousins dich ein bisschen herum, damit ihr euch alle besser kennen lernt.« Angesichts dieser Pläne erhellte sich Alices Miene. Beschützend legte sie den Arm um Ben, der schweigend dasaß, und verzog kurz den Mund zu einem Lächeln. Als Katie ihr lächelnd die Plätzchen hinhielt, nahm sie dankbar eines. Vielleicht würde es hier ja doch schön werden. Und den gehässigen Augenausdruck ihrer Cousine hatte sie sich wegen ihrer Müdigkeit sicher nur eingebildet.

Erleichterung überkam Thomas nach der langen Fahrt und er fühlte sich im Haus seiner Schwester sicher und geborgen. Er sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vors Gesicht. Tante Bea drückte jedem Kind ein extra Stück Kuchen in die Hand und scheuchte alle mit der Ermahnung, bloß die guten Sachen zu schonen, nach draußen. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu.

Alice führte Ben aus dem Haus. Einerseits fühlte sie sich verpflichtet, ihrem trauernden Vater zur Seite zu stehen, andererseits aber sehnte sie sich danach, endlich wieder einmal unbefangen zu spielen. Bald kehrte ihre kindliche Unbeschwertheit zurück, als Katie und die drei Jungen ihnen Haus und Garten zeigten.

»Du schläfst da drüben«, verkündete Katie unvermittelt. Sie zeigte auf die andere Seite des schmalen Bettes, das auf der winzigen Veranda stand. Diese war auf drei Seiten mit einem dicken, mit zerschlissenem Fliegengitter bespannten Holzrahmen abgetrennt.

»Schlafen«, wiederholte Buddy, rempelte Alice versehentlich an und jagte ihr einen ziemlichen Schrecken ein, als er sich tot stellte und auf das Bett fallen ließ. Die Federn quietschten laut, und Katie zog ihn lachend wieder auf die Beine. Daraufhin sprangen die Zwillinge auf dem Bett hin und her und beschmutzten dabei die dünne Decke.

Katies Gelächter wurde von Wut abgelöst. »Wenn ihr nicht gleich verschwindet, werd ich es euch zeigen!«, schrie sie und holte nach ihnen aus. Die beiden ergriffen johlend die Flucht.

»Können wir uns die Ziegen anschauen?«, schlug Alice vor, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass nicht sie die Schuld an dem Wutanfall ihrer Cousine trug.

Katie rümpfte die Nase und verzog das Gesicht. »Dämliche Mistviecher.« Ihr Blick verfinsterte sich, als sie ihren Vater über die Koppel kommen sah. »Mein Dad sagt, er kann es sich nicht leisten, dass du und Ben bei uns wohnt. Er meint, wir hätten schon genug Mäuler zu stopfen und bräuchten keine Gäste mehr. « Katie streifte die Gummibänder von ihren dicken Zöpfen und schüttelte ihr goldenes Haar aus. Dann warf sie Alice einen triumphierenden Blick zu. »Aber wir schaffen das schon. Mum findet immer einen Weg«, fügte sie gönnerhaft hinzu.

Alice schluckte die Trauer hinunter, die in ihr aufsteigen wollte. Durch die Worte ihrer Cousine fühlte sie sich wie ein Eindringling, und dass Katie ihre Mutter erwähnt hatte, führte Alice ihren eigenen Verlust nur umso schmerzlicher vor Augen. Sie spürte ein Stechen in der Brust.

Die Zeit reichte ohnehin nicht mehr für einen Besuch bei den Ziegen, aber Alices Stimmung erhellte sich ein wenig, als Tante Bea ihr erlaubte, die winzigen verwaisten Kätzlein in die Hand zu nehmen. Dabei plauderte die Tante fröhlich über die Freundschaften, die sie und Ben sicher in ihrer neuen Schule schließen würden. Beim Zubettgehen freute sich Alice bereits auf den nächsten Tag.

Alices erste Nacht in ihrem neuen Zuhause war bei weitem nicht so schön und aufregend, wie sie es sich ausgemalt hatte. Auf der Veranda war es kühl, aus der Dunkelheit klangen fremdartige Geräusche, und Katie wälzte sich, wild um sich tretend, hin und her. Immer wenn Alice sie ansah, waren ihre Augen fest geschlossen, und ihr Atem ging regelmäßig. Am nächsten Morgen war Alice wegen der nächtlichen Strampelei von blauen Flecken übersät. Aber sie ließ sich die Zuversicht nicht nehmen, als sie auf Anweisung ihrer Tante mit Katie in die Küche ging, um die Eimer zum Ziegenmelken zu holen.

»Sie mögen keine Fremden«, zischte Katie gehässig, während sie in die Morgensonne hinaustraten.

Als sie durch das Tor schlüpften, das den Garten von der Koppel trennte, bekam Alice den Eimer gegen das Schienbein, entschied jedoch, an einen Zufall zu glauben. Sie warf ihre langen schwarzen Zöpfe zurück, blinzelte kräftig, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen, und war fest entschlossen, sich von nichts den Morgen verderben zu lassen. Zum Glück war die ganze Familie heute besonders früh aufgestanden, um die neuen Cousins zu begleiten, weshalb Katie keine Gelegenheit zu weiteren Boshaftigkeiten bekam. Wenn Tante Bea dabei war, verhielt sich Katie stets freundlich und hilfsbereit. Sie zeigte Alice, wie man die Ziegen in das hölzerne Gestell einspannte, das Onkel Ray gebaut hatte und das ihren Kopf zwischen zwei Latten festhielt, damit sie gemolken werden konnten. Dann erklärte sie ihr, wie man das Bein der Ziege mit einem Seil festband, damit das Tier nicht austrat und den Eimer mit der Milch umwarf.

Liebevoll sah Tante Bea zu, wie ihre Tochter eine Melkstunde gab, und mischte sich nur ein, weil sich das Seil lockerte und die Ziege sich sträubte und um sich trat. Freudig lachte Alice auf, als die drei anderen struppigen Tiere auf der Suche nach etwas Essbarem an ihrem Rock knabberten. Sanft streichelte sie ihre rauen Rücken und verliebte sich auf Anhieb in die kleinste der Ziegen, die sie aus wehmütigen braunen Augen ansah und sie spielerisch anstupste.

Als Alice mit dem Melken an der Reihe war, ließ sich die Ziege geduldig festbinden und rührte sich nur, um durch ein Zucken ihres verkrüppelten Ohrs die Fliegen zu verscheuchen. Hass und Neid malten sich in Katies Gesicht.

»Du bist ja ein Naturtalent«, rief Tante Bea aus. Alice erwiderte ihr Lächeln und errötete stolz. Aus blauen Augen warf sie einen kurzen Blick auf Katie und hoffte, dass die schlechte Laune ihrer Cousine nicht von Dauer sein würde. Wie gerne wäre sie nach Hause gelaufen, um alles ihrer Mutter zu erzählen. Dann wurden die Ziegen wieder freigelassen, und Tante Bea scheuchte Buddy, Ben und die Zwillinge rasch aus dem Zickleinpferch.

»Wenn wir uns nicht beeilen, haben wir keine Zeit mehr zum Frühstücken«, verkündete sie nach einem raschen Blick auf die Uhr.

Als die Zwillinge mit rudernden Armen an Ben vorbeistürmten, bekam dieser versehentlich einen Schlag auf den Hinterkopf ab. Er brach in Tränen aus, worauf er sich ein lautes »Heulsuse!« gefallen lassen musste. Das wiederum brachte den beiden Übeltätern eine Gardinenpredigt von Tante Bea ein, und sie rannten über die Koppel davon.

Besorgt legte Alice den Arm um Ben. »Mach dir keine Gedanken über sie. Das war keine Absicht«, flüsterte sie. Dankbar sah Ben seine Schwester an und wischte sich die Tränen ab. Dann folgten sie den anderen ins Haus.

Nach dem Frühstück lud Tante Bea die Kinder in ihr verbeultes altes Auto und fuhr sie in die winzige Dorfschule, wo alle Klassen gemeinsam unterrichtet wurden. Alices Herz klopfte ängstlich, als sie neben Tante Bea den kleinen Schulhof überquerte. Er bestand aus fest gestampfter Erde, aus der hie und da ein trockenes Grasbüschel ragte. Einige Gummibäume spendeten spärlichen Schatten. Ben umklammerte ihre Hand so fest, dass es wehtat, doch sie empfand seinen Griff als beruhigend. Als die Schulglocke läutete, packte Katie, die widerstrebend in einigem Abstand gefolgt war, Buddy bei der Hand und lief mit ihm zu den anderen Kindern hinüber, die in das einzige Klassenzimmer strömten. Die Zwillinge waren längst verschwunden. Während Alice und Ben die restliche Strecke zurücklegten, erschien die Lehrerin in der Tür. Tante Bea küsste die Kinder rasch, tätschelte sie aufmunternd und ging davon.