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»Fortschritt« klingt nicht immer nach einer Entwicklung zum Besseren hin; er kann auch als Bedrohung erscheinen. Zwar benötigen wir wirtschaftliches Wachstum, um das Versprechen des »Wohlstands für alle« aufrechtzuerhalten, es hat aber auch Kehrseiten: Die Anpassung der Staaten an die Gesetze des Kapitals, eine immer schnellere Taktung von Entscheidungen und die Beschleunigung aller Lebensbereiche tragen zu einer Entsolidarisierung zwischen den Menschen bei. Matthias Machnig will Fortschritt neu erfinden, ihn wieder zu einem Hoffnungs- und Zukunftsprojekt machen. Dafür hat er in diesem Band Sozialwissenschaftler und Vertreter aus Verbänden und Politik eingeladen, Alternativen zur derzeitigen Gesellschaftspraxis zu entwerfen. Im Zentrum steht die Kritik am politischen System, insofern es dem Primat des Kapitals folgt. Mit Beiträgen von: Sigmar Gabriel, Berthold Huber, Volker Hauff, Jochen Flassbarth, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Michael Hartmann, Christoph Butterwegge, Stephan Lessenich, Claus Offe, Michael Vassiliadis und anderen.
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Seitenzahl: 369
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Matthias Machnig (Hrsg.)
Welchen Fortschritt wollen wir?
Neue Wege zu Wachstum und sozialem Wohlstand
Information zum Buch
Die Hoffnung, durch technischen Fortschritt auch einen gesellschaftlichen Fortschritt für die Menschen zu erreichen, steht auf dem Prüfstand. Wir leben in dem Widerspruch, dass einerseits Wachstum notwendig erscheint, um das moderne Versprechen des Wohlstands für alle aufrechterhalten zu können. Andererseits sehen wir täglich, welch negative Folgen – etwa ökologische und gesellschaftliche Schäden – genau dieser Ökonomismus verursacht. Matthias Machnig will Fortschritt wieder zu einem Hoffnungs- und Zukunftsprojekt machen. Dafür hat er in diesem Band prominente Vertreter aus Sozialwissenschaften, Politik und Verbänden eingeladen, Alternativen zur derzeitigen Gesellschaftspraxis zu entwerfen. Die großen Themen sind die Verselbständigung der Finanzmärkte, gerechte Verteilung und Chancengleichheit sowie das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie: Es braucht eine gesellschaftliche Debatte über die Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaft.
Informationen zum Herausgeber
Matthias Machnig ist seit 2009 thüringischer Wirtschaftsminister. Zuvor war er Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, davor Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Von 1999 bis 2002 war Machnig Bundesgeschäftsführer der SPD.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2011 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
ISBN der Printausgabe: 978-3-593-39604-0
E-Book ISBN: 978-3-593-41708-0
www.campus.de
Einleitung
Matthias Machnig
Wir müssen wieder lernen, von der Zukunft her zu denken!
Interview mit Burkart Lutz
Dem Fortschritt eine neue Richtung geben
Sigmar Gabriel
Was, wenn überhaupt, können wir uns heute unter politischem »Fortschritt« vorstellen?
Claus Offe
Kein sozialer Fortschritt ohne Mitbestimmung und Teilhabe
Berthold Huber
Mehr Gleichheit, weniger Wachstum: Für das Primat der Politik
Albrecht von Lucke
Fortschritt für die Unterprivilegierten!
Christoph Butterwegge
Einkommensverteilung, Sparen, Konsum und Wirtschaftsleistung – ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre
Karl Brenke
Die doppelte Spaltung der Gesellschaft
Michael Hartmann
Arbeitsmarktpolitik bis 2020: integrativ – investiv – innovativ
Gerhard Bäcker, Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf
Demokratie und rationale Wirtschaftspolitik – der natürliche Gegensatz?
Heiner Flassbeck
Die Krise der Ökonomie als Krise der Politik
Jan Machnig
Fruits to find – Früchte des Fortschritts
Michael Vassiliadis
Der Fortschritt des Fortschritts tut weh – das Beispiel Kernenergie
Volker Hauff
Wohlstand durch Umweltschutz
Jochen Flasbarth
Keine Angst vor guten Preisen!
Ernst Ulrich von Weizsäcker
Die Wiederaneignung des Sozialen
Stephan Lessenich
Das neue Gemeinsame
Benjamin Mikfeld
Grüner Kapitalismus – Leitbild für eine zukunftsträchtige Reformstrategie?
Klaus Dörre
Warum Neuer Fortschritt nötig und möglich ist
Matthias Machnig
Die Autoren
Matthias Machnig
Die Hoffnung, durch technischen Fortschritt auch einen gesellschaftlichen Fortschritt für die Menschen sowie ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen, steht heute – nicht erst nach dem Schock von Fukushima – auf dem Prüfstand.
Fortschritt wird zunehmend widersprüchlich – inzwischen oft als bedrohlich erlebt. Menschen fühlen sich als Spielball von Märkten und vermeintlichen technischen oder sozialen Sachzwängen. Sie fühlen sich alleingelassen und sehen sich einer Gesellschaft gegenüber, in der anonyme Prozesse und Akteure regieren.
Wir leben in dem Widerspruch, dass einerseits Wachstum notwendig erscheint, um das moderne Versprechen des Wohlstands für alle aufrechterhalten zu können und andererseits erleben wir täglich, welche negativen Folgen – zum Beispiel ökologische und gesellschaftliche Schäden – genau dieser Ökonomismus verursacht.
Die Einheit von Fortschritt, guter Arbeit, gutem Einkommen, sozialer Sicherheit, Nachhaltigkeit und Demokratie steht heute in Frage. Zunehmend rückt ins Bewusstsein, dass die Globalisierung und die angeblich alternativlose Anpassung der Staaten, der Unternehmen, der Menschen hohe ökonomische Schäden und gesellschaftliche Kosten verursacht und die Gesellschaft fragmentiert.
Fortschritt war ein Versprechen auf eine bessere Zukunft, ein Versprechen auf mehr Entwicklungschancen, ein Versprechen für mehr Gerechtigkeit und ein Versprechen, dass sich individuelle Leistung lohnt und für jeden mehr Sicherheit, Chancen und Wohlstand bedeutet. Heute scheint sich der Fortschritt gegen seine Erfinder zu wenden. Der Fortschritt »frisst seine Kinder«.
Ökonomisches Wachstum stößt an ökologische Grenzen. Der Finanzmarkt hat sich von der Realwirtschaft entkoppelt, die Finanzmärkte sind zu einem selbstreferentiellen System mutiert. Die Spaltung der Arbeitsmärkte |8|in gut bezahlte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse spaltet die Gesellschaft. Und die Demokratie geht angesichts dieser Entwicklung in eine Legitimations- und Vertrauenskrise.
Wir brauchen ein neues Verständnis globalen und gesellschaftlichen Fortschritts. Wir müssen Fortschritt neu erfinden. Er muss wieder zu einem Hoffnungs- und Zukunftsprojekt werden. Wo der Fortschritt keine Hoffnung, keinen Wohlstand für alle, nicht mehr Lebensqualität und Teilhabe ermöglicht, brechen Demokratie- und Fortschrittskonflikte aus. Ich bin überzeugt: Neuer Fortschritt ist möglich. Das gelingt dann, wenn wir dem Fortschritt seine produktive, emanzipatorische Kraft zurückgeben und seine Richtung definieren.
Die Zukunft ist offen. Das ist eine Chance, das bisherige Fortschrittsmodell zu verändern. Jeder Fortschritt ist neu, aber nicht alles Neue ist Fortschritt. Die unübersehbaren ökologischen und sozialen Grenzen einer auf Natur- und Rohstoffverbrauch ausgerichteten Industrialisierung zwingen zur Modernisierung unseres Fortschrittsverständnisses.
Dieses neue Fortschrittsverständnis muss an erster Stelle und als Ausgangspunkt den Menschen in den Blick nehmen und die Frage nach dem guten Leben wieder in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellen. Unsere Gesellschaft braucht eine neue Idee von Fortschritt. Eine Veränderung zum Besseren ist in vielen Bereichen nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Damit verbunden ist eine andere Form der Nutzung von Wissenschaft durch Politik. Gutachten, Meinungsumfragen, Dokumentationen, Politikberatung und Politikmarketing stehen meist unter den gleichen Vorzeichen einer in Dienst nehmenden instrumentellen Vernunft. Wir wollen dagegen eine Debatte um Fortschritt neu anstoßen und brauchen dafür das kritische Denken in den Wissenschaften, in der Politik und den gesellschaftlichen Organisationen.
Die Beiträge in diesem Buch einigt das Bestreben, Bedingungen und Voraussetzungen für eine »bessere Zukunft« zu nennen und Wege zu einem neuen Verständnis von Wachstum und sozialen Wohlstand zu skizzieren. Nicht alle Autoren machen sich dabei den Begriff des Neuen Fortschritts ausdrücklich zu eigen. Deutlich wird aber gleichwohl die Notwendigkeit, das Andere und Neue auch begrifflich auf den Punkt zu bringen.
In allen hier versammelten Beiträgen ist klar, dass Konsequenzen aus den Erfahrungen der zurückliegenden Jahrzehnte gezogen werden müssen. Realwirtschaft und Finanzmärkte müssen wieder in eine vernünftige Balance gebracht werden. Gerechtigkeit und gleiche Chancen in der Arbeitsmarktpolitik |9|und der sozialen Verteilung müssen wiederhergestellt werden. Das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie muss gerade im Zeichen der Energiewende neu justiert werden. Es braucht eine gesellschaftliche Debatte und eine breite Beteiligung über die Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaft.
Die zentrale Herausforderung lautet deshalb: Wir müssen wieder mehr Politik und Demokratie wagen. Wir müssen heute die entscheidenden politischen Richtungsfragen stellen und damit Grundüberzeugungen in politische Forderungen zuspitzen. Wir müssen bereit sein zur Leidenschaft und zur inhaltlichen Auseinandersetzung um eine bessere Gesellschaft. Nur so kann man sich an die Spitze einer neuen Fortschrittsbewegung stellen. Diese Aufsatzsammlung soll dazu einen Beitrag leisten.
Interview mit Burkart Lutz
Reinhold Rünker: Prof. Lutz, wir befinden uns gegenwärtig in einer Phase, von der wir noch nicht genau sagen können, ob wir am Ende einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise oder noch mitten in einer solchen stehen. Spekulationen auf den Finanzmärkten beeinflussen regionale Wirtschaftssysteme in ungewohnter Form. Staatspleiten, auch in europäischen Ländern, scheinen den Bereich der Utopie verlassen zu haben. In den vergangenen Jahren erlebten wir, dass die großen sozialstaatlichen Errungenschaften massiv in Frage gestellt wurden. Unsere in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren auf- und ausgebauten Sozialsysteme scheinen an der Grenze ihrer Finanzierbarkeit angelangt zu sein. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?
Burkart Lutz: Ich glaube, wir befinden uns gegenwärtig in einer Lage, die sowohl ungemein spannend wie ausgesprochen risikoreich ist. Was wir derzeit erleben, ist ein starker Beweis dafür, dass unser Wirtschaftssystem in sich krisenträchtig ist. Dies sollte uns eigentlich längst bewusst sein, gab es doch immer wieder kleinere oder größere Krisen. Unsere Wirtschaftskraft steigt nicht völlig störungsfrei und nicht linear. Gleiches gilt auch für den Wohlstand unserer Gesellschaften.
Was bedeutet das?
Ein Blick auf unsere eigene neuere Geschichte lässt sehr schnell erkennen, dass die Entwicklung moderner Gesellschaften vor allem anderen als Wechsel von mehr oder minder langen Prosperitätsphasen und längeren Übergangsperioden mit hohem Krisenrisiko zu deuten ist. Im Zeitverlauf werden zwei Grundtendenzen deutlich: Zum einen werden die Prosperitätsphasen zunehmend konflikthaltig und krisenhaft. Und zum anderen wird zunehmend unsicher, wie die nächste Übergangsphase ablaufen wird, wie lange sie dauern und in welche gesellschaftlichen Strukturen sie münden wird.
|12|Die Prosperitätsphase, in der (oder an deren Ende) wir uns gegenwärtig noch befinden, begann nach einer langen und schwierigen Übergangsphase im Wesentlichen in den frühen 1950er Jahren. Ihre Blütezeit fiel in die 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Seitdem mehren sich die Indikatoren dafür, dass es sich bei den zu beobachtenden Krisensymptomen nicht lediglich um vereinzelte, zum Teil sicherlich sehr schmerzhafte Rezessionseffekte handelt, wie dies während der Ölkrise in den 1970er Jahren, dem Ende der sogenannten New Economy und jetzt der Fall war bzw. ist. Vieles spricht vielmehr dafür, dass wir gegenwärtig das Ende einer sehr langen Prosperitätsphase erleben und geradewegs auf die nächste Übergangsphase zusteuern.
Heißt dies, dass wir uns bereits in einer großen Krise befinden?
Ob die jetzigen krisenhaften Ereignisse und Entwicklungen bereits den Beginn einer großen Krise mit ausgeprägt systemischem Charakter bezeichnen oder ob es sich bei ihnen nicht eher um Vorläufererscheinungen einer kommenden großen Krise handelt, lässt sich wohl erst im Rückblick entscheiden. Ein zentrales Kennzeichen unserer derzeitigen Problemlage besteht ja genau darin, dass viele der Entwicklungen, die möglicherweise diese große Krise auslösen, kennzeichnen und beenden können, erst mit großen Verzögerungen von der Dauer einer oder mehrerer Generationen wahrnehmbar werden. Und dann kann es vielleicht längst zu spät sein, um durch politisches Handeln wenigstens das Schlimmste zu verhüten und dauerhaften funktionalen Ersatz für das zu schaffen, was die Krise nicht überstehen konnte. Deshalb können wir erst in der Rückschau mit hinreichender Sicherheit feststellen, ob das System tatsächlich in großen Teilen überfordert war oder nicht.
Der Grund dieser hohen Unsicherheit liegt vor allem darin, dass sich große Krisen systemischer Art, wie ich sie hier im Blick habe, sehr wohl aus einer Krise entwickeln können, bei der es sich scheinbar um einen ganz normalen Konjunkturzyklus handelt, bevor sich herausstellt, dass sie nicht allein durch systemimmanente Mechanismen überwunden werden können, sondern nur dann, wenn es zu einer wirklichen gesellschaftlichen Neukonfiguration kommt.
Sie zeichnen ein wenig optimistisches Bild unserer Zukunft. Was genau macht denn die aktuelle Prosperität aus?
Noch gibt es meiner Überzeugung nach gute Gründe für einigen – allerdings eher gemäßigten und ausreichend kritischen – Optimismus, auch wenn ich |13|die gegenwärtige Situation durchaus mit großer Sorge betrachte. Kennzeichnend für die derzeitige Lage ist ja, dass schon die Verwendung eines Begriffes wie Prosperitätsphase nicht unproblematisch ist, weil dies letztlich voraussetzt, dass demnächst alles wieder in Ordnung kommen könnte, wenn die Verantwortlichen das Richtige tun.
Doch genau dies ist keineswegs gesichert.
Um dies zu erklären, ist es notwendig, sich nochmals vor Augen zu halten, wo wir heute, gegen Ende einer sehr langen Periode großer Wohlfahrt, stehen.
Kennzeichnend für die Prosperitätsphase des letzten halben Jahrhunderts, die mit hoher Wahrscheinlichkeit demnächst oder bereits zu Ende geht, sind ganz unterschiedliche Strukturmerkmale, verbunden mit einer Ideologie des freien Marktes. Diese Konstellation hat sich durch eine große Zahl von wissenschaftlichen Analysen, aber auch im Handeln der Politik und der Wirtschaft gesellschaftlich weitgehend verfestigt.
Ein besonders wichtiges Strukturmerkmal ist die Zentralität von Lohnarbeit, die seit dem Beginn der Prosperitätsphase wesentliche gesellschaftliche Strukturen tiefgreifend verändert hat. Sehr viele Menschen, die bisher noch auf dem Land oder in kleinen Siedlungen lebten und an ganz überwiegend traditionellen Arbeitsplätzen ihren Lebensunterhalt verdienten, zogen in die Städte, um dort Arbeit zu suchen. Diese typischen Folgen des wohlfahrtskapitalistischen Wachstums zerstörten dann innerhalb von zwei oder drei Jahrzehnten den Großteil der traditionellen Wirtschafts- und vor allem Lebensformen. Zugleich vollzieht sich eine immer stärkere Technisierung großer gesellschaftlicher Bereiche. Beides ermöglicht Produktivitätszuwächse in zuvor ungeahnten Größenordnungen und eine entsprechende Steigerung dessen, was man global als »Wohlstand« bezeichnen kann.
Allerdings stößt die Kombination von Produktivitätssteigerung und Wohlfahrtswachstum zunehmend an Grenzen. Die Leistungsversprechungen, die uns unser gegenwärtiges System einst gab, werden angesichts erodierender Sozialsysteme fragwürdig. Es fehlen die Antworten auf die großen Fragen, die wir lösen müssen, insbesondere in der Altersversorgung, in der Demografie, im Bildungssystem und in der Umweltpolitik. Es geht gerade auch darum, jungen Menschen eine Perspektive zu geben, die vielen von ihnen schon jetzt nicht mehr geboten werden kann.
|14|Was, meinen Sie, muss geschehen, um unseren Wohlstand, den viele Generationen vor uns erarbeitet haben, zu erhalten oder gar auszubauen? Was müssen wir also tun?
In erster Linie ist es notwendig umzudenken. Prosperitätsphasen unterscheiden sich in struktureller Hinsicht tiefgreifend und vermutlich immer stärker voneinander. Wenn es richtig ist, dass wir uns gegenwärtig auf dem absteigenden Ast einer sehr lange währenden und sehr dynamischen Prosperitätsphase befinden, lassen sich die wesentlichen Charakteristiken der aktuellen, im Niedergang befindlichen Prosperität nicht einfach auf die Zukunft übertragen. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass der Übergang umso länger dauert und umso größere Opfer erfordert, je mehr wir uns an die alten Lösungen klammern.
Wir haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg in den meisten entwickelten Ländern, wie man heute so schön sagt, neu aufgestellt. Wir haben große Teile der Verwaltung reformiert, wir haben Strukturen neu geschaffen, die es vorher nicht gegeben hat. Wir haben sehr viel Macht delegiert, zum Beispiel an Verbände. Wir haben verschiedenförmige Governance-Strukturen aufgebaut.
Wir sind allerdings irgendwann in der Entwicklung stehen geblieben. Die prägenden Strukturen, Denkmuster und Akteurskonstellationen, aus denen die Prosperität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Potenzial bezog, haben sich über die Jahrzehnte miteinander fest verzahnt, gewissermaßen verdrahtet. Wir sind deshalb oft nicht einmal mehr in der Lage, die zu überwindenden Defizite zu definieren. Und noch weniger sind wir in der Lage, uns in dieser Hinsicht weiterzuentwickeln und wesentliche Strukturen neu zu denken.
Wenn sich eine Prosperitätskonstellation erschöpft hat, wenn die Weltwirtschaft erst in eine kleinere Krise (oder in eine Folge von kleinen Krisen) gerät, aus denen sie in eine große Krise rutscht, dann gibt es, davon bin ich überzeugt, keinen Ausweg aus dieser Krise ohne sehr ernsthafte politische Reflexion und ohne mutiges politisches Handeln. Doch derzeit sind wir nicht handlungsfähig, denn Handlungsfähigkeit setzt Verständnis voraus. Große Teile der Gesellschaft weigern sich jedoch, Fragen überhaupt zuzulassen, durch deren Beantwortung vielleicht wesentliche Elemente des Arrangements von Rechtsverhältnissen und Machtstrukturen, von Positionen und Privilegien als nur flüchtige und vergängliche Ausdrücke einer historischen Übergangssituation erscheinen können.
|15|Brauchen wir also so etwas wie einen neuen Fortschrittsbegriff?
Fortschritt war jahrzehntelang ein sehr mächtiges Instrument, vor allem des aufstrebenden Bürgertums. Da haben sich sozial Gleiche zusammengesetzt und haben versucht, sich gemeinsam ein Bild davon zu schaffen, was sein müsste oder sein könnte. Das Konzept des Fortschritts in diesem Sinne war für die Arbeiterbewegung dann auch ein wesentliches Motiv, Anschluss an wichtige Teile des Bürgertums zu suchen und zu finden. Hierbei hat der Sozialstaat einen wichtigen Beitrag geleistet, indem er den Arbeitern erlebbar machte, dass Fortschritt nicht nur eine Sache der bürgerliche Klasse bleiben muss. Ich bin aber skeptisch, ob das heute noch trägt. Die Zeit, in der man aus dem Begriff des Fortschritts eine so klare, zukunftsorientierte Zielfunktion ableiten konnte, ist vermutlich vorbei.
Menschen haben aber doch weiterhin das Bedürfnis, sich weiterzuentwickeln, am gesellschaftlichen Reichtum beteiligt zu werden. Ist es nicht unsere Aufgabe, darauf eine Antwort zu finden und durchzubuchstabieren, was Fortschritt heute heißt?
Hier gäbe es eine Menge zu fragen, auszudenken und zu experimentieren. Der Fortschrittsbegriff war immer eng mit Wohlstand und Wachstum verbunden. Es könnte sein, dass er in der Zukunft eine erstaunliche Renaissance erlebt, wenn es gelingt, hier eine neue Allianz ins Leben zu rufen. Doch sollte man dabei auch bedenken, dass vielleicht ganz andere Begriffe auftauchen und unerwarteten Widerhall finden werden. Sicher scheint mir, dass wir, um die Zukunft zu gestalten, Begriffe brauchen, die motivierend und zielführend sind und für die Menschen sich begeistern können, wenn und weil sie Änderungen erreichen wollen.
Entscheidend ist in jedem Fall, wie wir unsere Zukunft gestalten können und gestalten wollen. Hierzu genügt es nicht, das, was seit Jahrzehnten existiert, ein wenig zu verbessern. Notwendig ist es vor allem umzudenken. Wir müssen endlich wieder anfangen, von den Problemen aus zu diskutieren und nicht immer nur von den Lösungen her. Wir haben in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Strukturen geschaffen und Prinzipien formuliert, die sehr wirkungsmächtig waren, solange es in erster Linie darum ging, die Probleme zu lösen, die sich damals stellten. Inzwischen haben sich diese Strukturen verfestigt. Sie haben eine Eigenlogik entwickelt, aus der wir uns heute angesichts ganz neuer Problemlagen und Aufgaben weithin lösen |16|müssten, was allerdings nur mit großer Mühe gelingen kann. Und wenn wir nunmehr, was ich vermute, mit Problemen konfrontiert sein werden, die neu sind oder die zwar seit Langem existieren, aber von niemandem wirklich beachtet wurden und unerwartet aufbrechen, wie dies zum Beispiel in Japan mit der Kernenergie der Fall war, so müssen wir oftmals feststellen, dass für diese Probleme unser gegenwärtiges Lösungsinstrumentarium nicht passt. So existiert in großen Bereichen unserer Gesellschaft eine ausgesprochen arbeitsteilige Zuständigkeit. Die Dinge, Aufgaben ebenso wie Mechanismen, werden nicht zueinander in Beziehung gesetzt, Wechselwirkungen werden nicht berücksichtigt. Deshalb sitzen – zum Beispiel bei der Lösung von gesellschaftlichen Protestbewegungen – keineswegs immer die wirklich wichtigen Leute am runden Tisch, wie sich etwa in Stuttgart sehr deutlich gezeigt hat.
Geht es also darum, die Zukunft aus einem anderen Blickwinkel neu zu diskutieren, neue Lösungswege für die Probleme unserer Zeit zu suchen?
Ja. Wir müssen uns einerseits mit den heutigen Problemen auseinandersetzen, sie andererseits aber aus einem zukunftsorientierten Blickwinkel betrachten.
Der Beginn einer neuen Prosperitätsphase setzt ja mit hoher Wahrscheinlichkeit weitreichende und tiefgreifende Veränderungen in vielen Bereichen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft voraus, und diese Veränderungen können nur Realität werden, wenn sie von der Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Dazu braucht es Visionen, das heißt rational begründete oder zumindest rational begründbare, zukunftsgewandte Konzepte und Projekte mit starkem symbolischen Potenzial, als Bilder geformte Theorien über die gegenwärtige und über die denkbare gesellschaftliche Entwicklung und deren Ergebnis. Menschen brauchen zukunftsbezogene Fixpunkte, an denen sie sich orientieren und aus denen sie die Ziele gemeinsamen Handelns ableiten können. Sie benötigen mit hoher Dringlichkeit verlässliche Auskunft darüber, welche Zukünfte wünschens- und daher erstrebenswert oder aber zu fürchten und deshalb zu vermeiden sind.
Wie entwickeln wir diese Visionen oder wer soll sie entwickeln? Wie werden sie mehrheitsfähig?
Das wichtigste ist: Wir müssen uns ganz neu aufstellen. Wir müssen vorsichtig, aber doch sehr bestimmt, die Ressourcenfrage stellen – stofflich, materiell, |17|intellektuell. Wir müssen wieder anfangen zu diskutieren, und wir müssen wieder lernen, gegen den Strich der vorherrschenden Meinungen zu denken. All dies geschieht heute noch viel zu wenig, zu scheu und zurückhaltend. Eine sehr wichtige Rolle könnte hierbei die Schaffung neuer Räume zur Analyse der derzeitigen gesellschaftlichen Lage in der ausklingenden Prosperität und zu ihrer Diskussion spielen. Reflexivität und Folgenabschätzung der sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung sind in jedem Falle unverzichtbar. Wie wichtig hierbei positive Ausstrahlungseffekte sein können, lässt sich sehr gut am Beispiel der Umweltdebatte zeigen. Vor allem wird es jedoch darum gehen, überhaupt einmal zu verstehen, was weltweit vor sich geht und welches Krisenpotenzial Ereignisse wie die internationale Finanzkrise freisetzen können.
Eine sehr große Bedeutung wird in diesem Zusammenhang dem Zeitfaktor zukommen. Denn wenn wir gegenwärtig an der Schwelle zu einer großen, systemischen Krise stehen, sind ausreichend lange Vorlaufzeiten eine unverzichtbare Voraussetzung wirksamen Handelns. Dies lässt sich sehr gut an der Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen. Bereits um 1900 haben aufgeklärte Philanthropen und Wissenschaftler in einigen hochentwickelten Ländern über wesentliche Bestandteile sozialstaatlicher Leistungs- und Regelungssysteme nachgedacht: Die Ergebnisse stellten wichtige Vorarbeiten für das dar, was dann Jahrzehnte später, nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Modell des Wohlfahrtsstaates wurde. Das wird auch heute wieder zu einer großen Herausforderung: Die Konzeption und die Einführung guter, meist ausgesprochen innovativer Lösungen setzen rechtzeitige, zugleich sorgfältige und kühne Vorarbeiten voraus.
Welche Aufgabe haben in diesem Kontext Politik und Wissenschaft?
Die Frage, wohin wir denn eigentlich wollen, stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit. In der Wissenschaft ist das Interesse an den großen Themen jedoch weitgehend erlahmt. Offenbar meinen große Teile der als zuständig geltenden Wissenschaft, nach dem angeblichen »Ende der Geschichte« bedürfe es keiner gesellschaftlichen Großtheorien mehr, sondern allenfalls noch der Detailanalyse problemhaltiger Partikularphänomene. Auf diese Weise wandeln sich mit Hilfe der Wissenschaft gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Problemlagen zu Sachzwängen und deren Vollzug. Dies liegt mir als Sozialwissenschaftler besonders am Herzen. Große Teile der Wissenschaft |18|weigern sich heute, ernsthaft über langfristige Entwicklungstendenzen und Entwicklungsperspektiven unserer Gesellschaft nachzudenken, obwohl wir genau dies am dringlichsten bräuchten.
Zu klären wäre in dieser Perspektive zunächst einmal, welche Kräfte, Eigengesetzlichkeiten und Zwangsläufigkeiten in der Vergangenheit die Modernisierung vorangetrieben haben, welchen Preis diese »In-Dienstnahme« gekostet hat bzw. immer noch kostet und inwieweit dieser Preis gegebenenfalls mit Wechseln auf die Zukunft bezahlt wurde, die erst wir und die nachkommenden Generationen einzulösen haben.
Hierauf aufbauend ist der Frage nachzugehen, wie Gesellschaften lernen können und wie dies geschehen soll, wenn die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse nicht wenigstens in groben Zügen von der Wissenschaft analysiert sind. Dazu gehören dann zum Beispiel die Analyse von Technikentwicklung als gesellschaftlichem Prozess und die systematische Vernetzung von Ökonomie und Sozialwissenschaften.
Und was ist in diesem Zusammenhang die Aufgabe der Politik?
Hier möchte ich mich auf einige Stichworte beschränken.
Jeder halbwegs gute Politiker weiß natürlich, dass Forschungen und Diskussionen zu diesen Themen auch unangenehme Ergebnisse haben können – vielleicht umso mehr, je wichtiger diese Ergebnisse an sich sind. Doch fehlt es weithin an dem Mut, der notwendig wäre, diese Art von Wahrheiten auch auszusprechen. Das Suchen nach zukunftsorientierten Problemlösungen wird ergebnislos bleiben, wenn wir uns der Wirklichkeit verweigern.
Hinzu kommt, dass wir eine Menge von teilweise hoch qualifizierten Personen mit teilweise sehr großen Zuständigkeiten beschäftigen, deren Kompetenzen sich jedoch oftmals auf ganz schmale Bereiche beschränken – obwohl sich möglicherweise die benötigten Problemlösungen sehr viel mehr durch breite Vernetzungen charakterisieren.
Unserem politisch administrativen System fällt es sehr schwer, über den Zeithorizont von Legislaturperioden und Wahlterminen hinaus zu denken. Es ist wie in einem Käfig gefangen, in einem Gerüst von langfristig austarierten Interessen und Einflussstrukturen, von Kompetenzdefinitionen und segmentierten Zuständigkeiten.
Der Blick in die Geschichte beweist die herausragende Stellung von Politik. Sie war es, die mit entsprechenden Maßnahmen und Praktiken etwa die |19|Zentralität der Lohnarbeit forcierte, bis heute Personalpolitiken und Personalstrukturen der Industrie und großer Teile der modernen Dienstleistungen tiefgreifend prägt – nicht zuletzt, indem sie Menschen gesellschaftliche Rollenbilder zuweist. So verbinden sich beispielsweise mit der ursprünglichen Unterscheidung von Arbeitern und Arbeitnehmern bis heute erhebliche Differenzen in Verdienst, Berufsperspektiven und Arbeitsbedingungen, die nur als Ausdruck unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft der einen und der anderen Sinn ergeben.
Politik hat also einen erheblichen Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse und Strukturen. Und sie sieht sich derzeit einem wachsenden, sehr starken Handlungsdruck ausgesetzt. Zu Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise musste Politik sehr schnell handeln. Da musste sie ohne längere vorbereitende Überlegungen gesellschaftliche Wirkungszusammenhänge in Gang setzen, Szenarien durchdenken und sie praktisch ausprobieren. Da konnte man meinen, es fände in der Politik ein Umdenken statt. Parlamentarische Mehrheiten änderten sich, die gesellschaftliche Akzeptanz für Änderungen ebenso. Der Eindruck sollte jedoch keineswegs dauerhaft sein. Die eingeleiteten Reformen fanden ohne gesellschaftliche Diskussionsprozesse statt, ohne spürbare Wandlungsprozesse in der Wissenschaft, ohne tiefgreifende Reformen.
Diese Kritik spitzt sich aktuell immer wieder zu, nehmen wir die Auseinandersetzung um die Atomenergie – erst die überhastete Laufzeitverlängerung im Herbst 2010, im Sommer 2011 der Ausstieg aufgrund der Ereignisse von Fukushima – oder die Entscheidungen über die EU-Finanzkrise. Grundlegende Diskussionen werden kaum geführt, immer wieder werden Adhoc-Entscheidungen eingefordert. Wie lässt sich der notwendige Diskurs entwickeln?
Es braucht Initiatoren, die die materiellen, intellektuellen und politischen Ressourcen haben, um die notwendigen Räume des Nachdenkens und der Diskussion zu schaffen. Auch ist nicht selten ein recht hohes Reputationsniveau der Teilnehmer notwendig. Erst wenn man damit rechnen kann, dass ein nennenswerter Teil der Eingeladenen der Meinung ist, er könne es sich nicht erlauben, dort nicht eingeladen zu sein, können Veranstaltungen zu attraktiven Selbstläufern werden. In den 1950er Jahren waren beispielsweise die Evangelischen Akademien für meine Generationen solche Räume, in denen wir Neues und damals Unzeitgemäßes diskutierten.
Ich habe allerdings keine genaue Vorstellung davon, wo so etwas heute angesiedelt sein könnte. Man muss es immer wieder probieren. Das sehe |20|ich als eine ganz wichtige Aufgabe der Politik: Die Möglichkeit zu schaffen, Zukunftsentwürfe zu diskutieren und vielleicht sogar experimental umzusetzen. Die Zeit dafür drängt. Sie drängt umso mehr, als wir gegenwärtig auch erleben, dass die Ausreifungszeiten von Reformen mit zunehmender Internationalisierung und organisationsübergreifender Vernetzung länger werden, während der gesellschaftliche Innovations- und Steuerungsbedarf rasch ansteigt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise darf daher nur als Ausgangspunkt eines Diskussionsprozesses gesehen werden, als Initialwirkung für das Neudenken von Visionen, für eine umfassende Analyse unseres Systems und des Findens von Antworten, aber auch für den Mut, Neues auszuprobieren und Szenarien auszutesten.
Sie sagen also, Politik muss gewissermaßen die Initialzündung eines neuen Reformprozesses geben? Sehen Sie die Diskussion um eine Neudefinition des Fortschrittsbegriffs als eine solche Initiative?
Das kann gut sein. Wie gesagt, es geht darum, die Menschen mitzunehmen, die Debatte am Leben zu halten, Mobilisierungseffekte zu erzeugen bei der Analyse der Situation und dabei gemeinsam Visionen zu entwickeln, hinter denen dann möglichst Viele stehen, die von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragen werden, damit Politik das umsetzen kann, was sie selbst einmal initiierte oder andere für sie vorgedacht haben.
Politik hat die Aufgabe, Perspektiven aufzuzeigen, einen Ausgleich zwischen denjenigen zu organisieren, die von den angestrebten Veränderungen profitieren werden und denjenigen, die man vielleicht zu den großen Gewinnern der nun ausklingenden Prosperitätsphase zählen kann, die jedoch jetzt zunehmend davon bedroht sind, zum Verlierer zu werden. Es geht darum, sozialen und gesellschaftlichen Frieden zu organisieren und die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für neue Diskussionsprozesse zu schaffen. Dazu gehören auch die weitere Vernetzung von Wissenschaft und Ökonomie, die Förderung von innovativen Denkprozessen und die Notwendigkeit des politischen Weitblicks, von Zukunftsprognosen und der Umsetzung von Handlungsoptionen.
Nach all dem Gesagten möchte ich dann doch noch die Frage anschließen: Was bedeutet für Sie eigentlich Fortschritt heute?
Fortschritt muss künftig mehr sein als nur die Verteilung von Wohlstand und Wachstum. Ich würde in diesem Sinne zwei Aspekte hervorheben.
|21|Erstens: Fortschritt muss ausgehen von den Besorgnissen der Leute. Es gibt sehr viele Leute, die wirkliche Besorgnisse haben. Sie haben gelernt, dass sie in festen Zuständigkeitsstrukturen leben müssen, in denen sie keinen Platz finden, das wirklich auszudiskutieren, was sie umtreibt und ein wenig klarer zu sehen, wohin der Weg sie führen kann.
Zweitens: Wir müssen lernen, vom Ende, vom Zukünftigen her zu denken. Deshalb auch mein Appell in Richtung Politik: Tut was für die Jungen! Sie sind es, die die Zukunft gestalten. Wir müssen ihnen dafür die Voraussetzungen schaffen und auch die Chancen geben.
Burkart Lutz, vielen Dank für das Gespräch!
Sigmar Gabriel
Warum Politik die Vorstellung von Zukunft braucht
In letzter Zeit ist wieder häufiger von Fortschritt die Rede. Interessanterweise nicht im politischen Teil der Tagespresse, sondern im Feuilleton. Das war einmal anders. Denn ursprünglich war Fortschritt ein politischer Leitbegriff. Heute finden wir den Fortschrittsbegriff eher in der Alltagssprache, zum Beispiel im Bereich der Medizin, wenn es Fortschritte bei der Bekämpfung schwerster Krankheiten zu vermelden gibt. In der politischen Arena scheint der Fortschrittstopos seine beste Zeit hinter sich zu haben. Da werden immer noch Fortschritte bei Konferenzen und Gipfelgesprächen gefeiert, aber im politischen wie grammatikalischen Singular wirkt der Begriff wie aus einer fernen Zeit: dem Beginn und der Hochzeit des Industriezeitalters.
Wahr ist: Der Fortschritt ist in die Jahre gekommen, der Begriff hat längst selbst seine eigene Geschichte, seine Reflexivität ist unübersehbar. Vorbei die Zeiten, in denen Fortschritt gerade von der politischen Linken als Synonym einer durchaus gewollten, ja fast zwangsläufigen Entwicklung begriffen und sogar erhofft wurde. Auch schon lange vorbei die Zeit, in der Fortschrittsoptimismus zum guten Ton auf SPD-Parteitagen und Gewerkschaftskongressen gehörte. Denn Ende der 1970er Jahre geriet der Fortschrittsglaube der bundesdeutschen Linken in die Krise. Davon hat sich der Begriff bis heute nicht erholt, auch weil sich die Fortschrittsskeptiker fortan mehr kultur- und zivilisationskritischer als sozioökonomischer Argumente bedienten.
Ging es seit Beginn der Industrialisierung und dem Aufkommen der sozialdemokratischen Bewegung stets um die soziale Aneignung der Ergebnisse des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, so nahm in den letzten Jahrzehnten die kulturelle Fortschrittsskepsis zu. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung dreht sich nicht mehr um die richtige Balance zwischen privater und sozialer Verteilung der Fortschrittsgewinne, sondern sie richtet sich inzwischen vielerorts gegen jede Form der Veränderung, die von den |23|wirtschaftlichen und politischen Eliten bisweilen gern zu »Fortschrittsprojekten« erklärt werden. Kurzum: Der Fortschritt selbst wird in Frage gestellt und eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Fortschrittsbegriffs blieb aus.
Für eine moderne Volkswirtschaft – wie die bundesdeutsche – ist eine solche Entwicklung gefährlich, weil sie auf wissenschaftlich-technischen Fortschritt angewiesen ist. Denn gerade eine älter werdende Gesellschaft – wie die deutsche – braucht eine dynamische und wachsende Volkswirtschaft, sonst wird sie nicht nur ärmer, sondern die Verteilungskonflikte zwischen Jung und Alt sowie Arm und Reich würden rapide zunehmen. Mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft – zum Beispiel Generationengerechtigkeit, mit Blick auf Klimawandel und Staatsverschuldung, wäre ohne Fortschritt und Veränderungsbereitschaft nicht denkbar. Dazu gehören auch die Entwicklung und Verwirklichung von großen und nie unumstrittenen Infrastrukturprojekten wie Pipelines, Flughäfen oder Kraftwerken.
Die Zeit ist also reif, den Fortschrittsbegriff politisch neu zu entdecken, ihn inhaltlich zu erweitern und zu schärfen und vor allem zum Gegenstand einer Diskussion zu machen, die über die erwartbare Gegenüberstellung von Chancen und Risiken hinausgeht. Dies kann aber nur dann gelingen, wenn die Entkopplung des ökonomisch dominierten technisch-wissenschaftlichen Fortschritts vom gesellschaftlich ebenso relevanten sozial-ökologischen Fortschritt endlich beendet wird. Denn genau diese schleichende Alltagserfahrung vieler Menschen in den vergangenen Jahrzehnten ist ausschlaggebend dafür, dass politische Fortschrittsversprechen seit Langem seltsam hohl in den Ohren der Adressaten klingen: Immer weniger Menschen glauben daran, dass ein ungeregelter Fortschritt eine soziale Dividende in Form von mehr Sicherheit und mehr Wohlstand für sie bereithält. Aus dem vergesellschafteten Fortschritt für alle in den Nachkriegsjahrzehnten ist seit geraumer Zeit ein privatisierter Fortschritt für wenige geworden.
Wer also will, dass der wirtschaftlich dominierte Fortschritt auch weiterhin eine breite gesellschaftliche Akzeptanz erfährt, der muss dem Fortschritt endlich wieder eine klare politische Richtung geben. Und der muss sagen, wohin unser Land bewegt werden muss, damit in Zukunft Wohlstand kein Privileg für immer weniger und Sicherheit kein Luxus für Eliten wird. An dieser Herausforderung ist die Politik bislang kläglich gescheitert. Damit das anders wird, müssen politische Parteien den Menschen wieder eine Vorstellung von Zukunft vermitteln. Und dafür müssen sie den Menschen die Welt und sich stärker als bisher erklären und sie zugleich an diesem neuen Fortschritt stärker beteiligen.
|24|Zur Lage des Landes
Wenn es im letzten Jahrzehnt eine kollektive Erfahrung gab, die viele in Deutschland verband, dann die der wachsenden Unsicherheit bei gleichzeitigen Wohlstandsverlusten, während der Wohlstand im oberen Zehntel der Einkommenspyramide enorm und auch sichtbar zugenommen hat. Der gediegene, oft auch hart erarbeitete Aufbau von Status und Vermögen in Deutschland durch unsere Elterngeneration während der lang anhaltenden Phase einer scheinbar immerwährenden wirtschaftlichen Prosperität erfuhr seine ersten Erschütterungen in den 1970er und 1980er Jahren. Nicht nur die globalen »Grenzen des Wachstums« in den westlichen Industriegesellschaften, sondern auch die des Wohlstands für alle wurden erstmals spürbar. Vor allem der soziale Aufstieg geriet ins Stocken, der Traum von ganz unten wenigstens in die Einkommensmitte der Gesellschaft zu kommen, blieb einem zunehmenden Teil der Menschen versperrt.
Nach dem Abschied von der alten Bundesrepublik griff diese Erfahrung auf mehr und mehr Bevölkerungsgruppen (im Osten mit ungleich höherem Tempo) über. Das vereinigte Deutschland sortierte sich gesellschaftlich neu, allerdings in einer bisher nicht gekannten Differenziertheit und Unübersichtlichkeit, deren Ende noch nicht absehbar ist. Ein paar der damit einhergehenden Begleiterscheinungen beobachten wir immer dann, wenn politische Entscheidungen und mediale Ereignisse – so wie im vergangenen Jahr – zusammenfielen, wie zum Beispiel bei der Sarazzin-Debatte, den Protesten gegen Stuttgart 21 und den Castor-Transporten oder der Schulreform in Hamburg. Tatsächlich äußert ein wachsender Teil der Bevölkerung sein allgemeines Unbehagen und seinen zornigen Missmut mit vielem, was politisch entschieden wird oder einfach passiert. Ein untrügliches Zeichen für sich überlagernde Defizite und Krisen, die sich inzwischen tief in das Bewusstsein der Bundesbürger eingenistet haben.
Unübersehbar ist, dass die psychologische, soziale und kulturelle Entfremdung gegenüber dem Handeln und den Zukunftsversprechen herkömmlicher demokratischer Politik drastisch zugenommen hat. Zudem spüren immer mehr Menschen am eigenen Leib, wie hilflos und ohnmächtig der Politikbetrieb angesichts längst globalisierter Kräfte und Zwänge agiert. Das hat über die Jahre hinweg zu Defiziten und Krisenphänomenen in unserem politischen System geführt, die unsere Demokratie noch auf harte Proben stellen werden. Denn ihre feste Grundlage erhielt sie stets durch die Balance |25|von wirtschaftlichem Wachstum auf der einen und sozialem Ausgleich und sozialer Sicherheit auf der anderen Seite – das war und ist der begriffliche und gefühlte Kern der sogenannten sozialen Marktwirtschaft.
Besonders augenfällig wurde diese Ohnmacht der Politik bei gleichzeitig zunehmendem Gerechtigkeitsdefizit in der gerade überwunden geglaubten Finanzmarktkrise: Während ein Teil der Kleinanleger seine Sparinvestments fürs Alter »abschreiben« und damit verloren geben musste, zahlt die mit Steuergeldern gerettete Finanzmarktbranche schon wieder Boni und Super-Boni. Während die Finanzmärkte und ihre Akteure nichts zur Tilgung der durch sie verursachten gigantischen Staatsverschuldung beitragen müssen, zwingt die Notwendigkeit zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte Städte und Gemeinden zur Schließung von Kultur- und Freizeiteinrichtungen, verkommen Schulen und Kindergärten und fällt die ohnehin spärliche Unterstützung für ehrenamtliche Jugend- und Vereinsarbeit dem Rotstift zum Opfer. Bis heute ist keiner der Risiko-Banker, die mit Milliarden jonglierten und Landeshaushalte an den Abgrund brachten, rechtskräftig verurteilt worden. Und während die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Masse der Arbeitnehmer die Rente mit 67 als alternativlos verordnen, erhalten drei Vorstände der Pleite-Bank Hypo Real Estate jeweils knapp 20.000 Euro Pensionsanspruch ab dem sechzigsten Lebensjahr nach nicht einmal zweijähriger Tätigkeit, was der Ex-Aufsichtsratsvorsitzende der Bank als durchaus »branchenüblich« kommentierte. Man muss nicht den Vorwurf von Sozialneid fürchten, um festzustellen: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hätte dies zu vorrevolutionären Verhältnissen geführt, heute wenden sich die Leute entweder einfach ab durch Nichtwahl oder stimmen für die Linkspartei als Ausdruck schlichten Protests.
Neben die Vertrauenskrise der parlamentarischen Demokratie sind aber nicht nur unverkennbar Handlungsdefizite der Politik getreten, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Von einem wachsenden Teil der Wirtschaftselite wird der politische Betrieb zudem nur noch als notwendiger Dienstleistungsfaktor belächelt. Immer weniger Wirtschaftsführer sehen sich noch als tragende Säule der sozialen Marktwirtschaft. Schlimmer wiegt: Die soziale Erosion der Gesellschaft hat dazu geführt, dass die mühsam erkämpften Wohlstandsareale der Vermögens- und Einkommensmittelschichten zunehmend nach unten ausfransen. Die Folge: Wohlstandseinbußen und Abstiegsängste befördern bei einem wachsenden Teil der Bürger sozialen Statusfanatismus und gesellschaftlichen Gruppenegoismus gleichermaßen. Man versucht, sich nach unten abzuschotten und zugleich jede Veränderung im unmittelbaren |26|Lebensumfeld abzuwehren – sei es nun der Bau eines Bahnhofs, eines Flughafens, einer Industrieanlage oder anderer Infrastrukturvorhaben.
Die Geburt des so entstandenen und genannten »Wutbürgers« im vergangenen Jahr hat also eine längere Vorgeschichte, die auch etwas mit den Individualisierungsschüben seit Mitte der 1980er Jahre zu tun hat. Denn die Bürger verhalten sich nicht anders als ein wachsender Teil ihrer parlamentarischen Repräsentanten: Immer weniger fühlen sich inzwischen fürs Ganze verantwortlich und kämpfen für das Gemeinwohl und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und immer weniger bemühen sich Teile der politischen Elite, ihre Ziele zu erklären und zu vermitteln, wohin unser Land gemeinsam mit den Bürgern gebracht werden soll. Im Gegenteil: Mit ihren Subventionen für bestimmte Lobbygruppen hat die Bundesregierung die Vertrauenskrise gegenüber der Politik eher befördert. Höchste Zeit also, dass die wachsende Distanz zwischen Politik und Bürgern als Signal zur Umkehr begriffen wird, denn sie enthält alle Ingredienzien, die zu einer echten Demokratiekrise führen könnten. Eine neue Debatte um Fortschritt muss daher den künftigen gesellschaftlichen »Mehrwert« zum Ziel haben: nämlich mehr Sicherheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität, mehr Demokratie und damit mehr Lebensqualität für alle.
Was zu tun ist
Die Erfahrung der vergangenen 150 Jahre Industriegeschichte lehrt: Nur mit den Mitteln der Industriegesellschaft lassen sich auch ihre Probleme bewältigen. Das gilt analog auch für den Fortschritt: Die negativen Begleiterscheinungen, Schäden und Risiken eines ungezügelten und eindimensionalen Fortschritts in unseren hoch komplexen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften können nur mit mehr Fortschritt – und das meint ein erweitertes Fortschrittskonzept – gelöst werden. Die Krise des politischen Fortschrittsbegriffs bietet zugleich die beste Chance zu seiner Revision und Rekonstruktion. Deutschland zur Heimat eines erweiterten Fortschritts zu machen, das muss das politische Ziel im gerade begonnenen Jahrzehnt sein.
Bei allen politischen und theoretischen Kontroversen, die es vor allem in Deutschland über die Philosophie von Karl Marx gab und gibt: Seine Idee von der notwendigen Verbindung zwischen wissenschaftlich-technischem mit dem sozialen Fortschritt bleibt bis heute wegweisend. Nur ein |27|dynamischer Kapitalismus, so Marx, schafft die Voraussetzungen für sozialen Fortschritt. Es geht also künftig darum, den bisher vornehmlich ökonomisch dominierten Fortschritt endlich wieder mit einem Freiheitsgewinn für alle und mit sozialem und kulturellem wie ökologischem Fortschritt zu verbinden. Nur so erhält der Fortschritt, als Ausdruck des politisch gewollten Wandels, wieder mehr demokratische Legitimation. Der weitere Zerfall in verschiedene Einzelfortschritte, der von vielen bei uns als sozialer Rückschritt empfunden wird, wäre damit beendet. Wir könnten den Fortschritt endlich wieder neu denken.
Notwendige Bedingung dafür: den Fortschritt als Weiterentwicklung des Einzelnen und der Menschheit insgesamt wieder mit den Alltagserfahrungen der Menschen zu verknüpfen. Die Bürger wollen vom Fortschritt mehr spüren als die Vergrößerung der Speicherchips, die Miniaturisierung ihrer Handys, die Leistungssteigerung ihrer Unterhaltungselektronik, ihrer Haushaltsgeräte und Autos. Gewiss, auch dieser Fortschritt freut viele. Wichtiger als das ist aber das soziale Lebensgefühl, das über technische Innovationen hinausreicht: nämlich die Schaffung von mehr kollektiver und individueller Sicherheit und Gerechtigkeit. Dieses Gefühl wurde bei vielen Menschen in den vergangenen Jahren erschüttert. Das reicht von der Qualität unserer Betreuungs- und Bildungseinrichtungen über unsichere berufliche Ein- und Aufstiege im Arbeitsmarkt wie unfaire Bezahlung und mehr und mehr befristete Beschäftigungsverhältnisse bis zur nicht mehr auskömmlichen Sicherung im Alter. Ungerechtigkeit und Unsicherheit sind zu festen Bestandteilen des sozialen Wandels geworden.
Gewiss hat eben diese Erfahrung auch zur Sinnkrise des Fortschritts beigetragen. Während ein Teil der vom Wohlstand abgehängten Menschen fatalistisch diesen Zustand hinnimmt und für sich kaum noch Chancen sieht, kämpfen große Teile der Einkommensmittelschichten umso verbissener um ihr erarbeitetes Vermögen. Jeden Tag erlebt ein Großteil der Menschen, dass die ganz normale soziale Ordnung ihres Landes verloren geht: Eine gute Ausbildung ihrer Kinder führt nicht zu sicherer und fair bezahlter Arbeit. Und Leistung führt nicht zu Wohlstand und sozialer Sicherheit. Öffentliche Güter, wie ein gutes Bildungs- und Gesundheitswesen, werden trotz steigender Steuern und Sozialabgaben nicht in angemessenem Umfang zur Verfügung gestellt.
Um den einen wieder Ein- und Aufstiege zu ermöglichen und den anderen Sorgen und Ängste zu nehmen, braucht es deshalb mehr als nur eine intellektuelle Debatte um die künftigen Früchte des Fortschritts. Wir brauchen |28|eine merkliche Veränderung der Politik, bei der das »Soziale« in der Marktwirtschaft wieder größer geschrieben und eine faire soziale Ordnung im Alltag wieder erfahrbar wird. Zugleich muss Politik den Menschen erklären, wohin und welchen Weg unser Land zu gehen hat, um wirtschaftliches Wachstum, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung endlich in eine Balance zu bringen.
Dazu ist ein klares Setzen politischer Prioritäten unerlässlich. Und das beginnt bei den prinzipiellen Voraussetzungen, die für einen neuen Fortschritt konstitutiv sind: nämlich Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Zuerst müssen wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise mit der begrenzten Leistungsfähigkeit unseres Planeten in Einklang bringen. Dies ist nur mit einer revolutionären Effizienzsteigerung von Energie und Rohstoffen möglich. Denn wir können es uns nicht mehr leisten, auf Kosten der Zukunft und damit der uns nachfolgenden Generationen zu leben. Das schließt die notwendige Konsolidierung unserer öffentlichen Haushalte ebenso mit ein wie die Konzentration von öffentlichen und privaten Investitionen in die Bereiche Betreuung, Bildung und umweltverträgliche Technologien, Produkte und Produktionsverfahren. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Nur eine nachhaltige Wirtschafts- und ökologische Industriepolitik bringt Innovationsschübe, Wachstums- und Beschäftigungsimpulse. Diesen Transformationsprozess in unserer Wirtschaft müssen wir konsequent fortsetzen, damit Deutschland auch künftig führende Exportnation bleibt.
Ebenso wichtig wie Nachhaltigkeit ist das Prinzip der Gerechtigkeit. Gerade in Zeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs und der Transformation ist eine Politik, die für eine faire und gerechte Lastenverteilung und soziale Balance sorgt, unerlässlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hier besteht dringender Nachholbedarf, denn die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland hat sich in den letzten zwanzig Jahren merklich auseinanderentwickelt. Während zum Beispiel die Lohnquote bei uns einen historischen Tiefstand erreicht hat, haben Unternehmensgewinne ebenso deutlich zugenommen wie die Vergütungen im Top-Management der DAX-Unternehmen. Hinzu kommt die rasche Zunahme prekärer und zudem befristeter Beschäftigungsverhältnisse sowie Armutslöhne bei Geringverdienern. Diese sozialen Desintegrationstendenzen zerstören langfristig den sozialen Konsens und lassen ein neues Fortschrittsverständnis bei den Betroffenen gar nicht erst entstehen.
Schließlich ist in kaum einem anderen Land der Status des Elternhauses so entscheidend für den künftigen Bildungsweg eines Kindes wie bei uns. |29|Diese Ungerechtigkeit verhindert nicht nur das Ausschöpfen von natürlichen Ressourcen in den Köpfen unserer Kinder, sondern kostet zugleich Zukunftschancen. Noch immer bleiben viel zu viele Kinder bei uns auf der Strecke und verlassen unsere Schulen ohne einen Schulabschluss, der eine selbstbestimmte und auskömmliche Beschäftigung erlaubt. Dies kann sich Deutschland nicht länger leisten. Ebenso folgenreich ist die anhaltend desolate finanzielle Situation der meisten Städte und Gemeinden, die ihre Funktion der Daseinsvorsorge und als Hort lokaler Demokratie nicht mehr wahrnehmen können. Damit verlieren sie zugleich ihre Fähigkeit, die wichtige Integrationsinstanz neben unseren Schulen zu sein. So viel ist sicher: Ohne finanziell vernünftig ausgestattete Bildungseinrichtungen und Kommunen wird es keinen weiteren gesellschaftlichen Fortschritt geben.
Facetten eines neuen Fortschritts
It’s the economy, stupid! Natürlich brauchen wir wirtschaftliches Wachstum, um den Fortschritt neu zu gestalten. Allerdings brauchen wir dazu eine andere Wirtschaftspolitik und ein neues Modell der Wohlstandsproduktion. Dieses Modell setzt auf eine drastisch erhöhte Energie- und Ressourceneffizienz, auf die verstärkte Förderung von umweltverträglichen Technologien, auf Prävention und Schadensvorsorge, gerechte und gute Bezahlung in allen Branchen (Mindestlöhne), einen leistungsfähigen Sektor der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie mehr demokratische Teilhabe auch im Wirtschaftsleben (mehr Mitbestimmung). Es sind also Transformation und Neuformierung unseres wirtschaftlichen Denkens und Handelns und ein neuer Wohlstandsindex notwendig. Die Märkte haben dem Primat der Politik zu folgen und nicht umgekehrt. Dass dabei dennoch nachhaltiges Wachstum und dauerhafte Wohlstandsgewinne möglich sind, davon sind viele Ökonomen inzwischen überzeugt. Die Debatte um neuen Fortschritt ist keine Verzichtsdebatte.
Der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, ist die wichtigste zivilisatorische Leistung des letzten Jahrhunderts. Damit ist er zugleich Wesensbestandteil und Grundlage der sozialen Marktwirtschaft wie der sozialen Demokratie. Wer nicht will, dass Verteilungskämpfe als Unterhaltungselemente in den Boulevardmedien verhandelt werden, der muss dafür sorgen, dass die |30|soziale Balance in Deutschland wiederhergestellt wird. Dazu bedarf es der Stärkung des Solidarprinzips ebenso wie einer Neuformierung des sozialstaatlichen Handelns. Wir brauchen mehr Prävention, also Vorsorge, ohne dass die Nachsorge entbehrlich wäre. Allerdings muss künftig – stärker als bisher – in die gesellschaftliche Problemerzeugung eingegriffen werden. Dass zum Beispiel ein Kind mangels vernünftiger Betreuung auf die schiefe Bahn gerät oder keinen Schulabschluss macht, kann sich ein Land wie Deutschland weder sozial noch volkswirtschaftlich leisten – von den finanziellen Folgekosten für den Staat einmal völlig abgesehen. Der Sozialstaat muss in Zukunft drei Ziele gleichwertig erfüllen: Er muss mehr Gerechtigkeit schaffen, mehr Solidarität ermöglichen und mehr Konsens stiften. Wir wissen aus jüngsten internationalen Studien, dass ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit Gesellschaften leistungsfähiger und zugleich weniger konfliktanfällig macht. Ein derart neuer Fortschritt ist nicht nur machbar, sondern entspricht dem Wunsch vieler Bürger.
Angesichts der weiter zunehmenden internationalen Verflechtung auf den Finanzmärkten, wie auf den übrigen Märkten für Waren und Dienstleistungen, brauchen wir außerdem dringend mehr Regulierung, Koordinierung, Kooperation und Partizipation. Ohne die Beseitigung des Geburtsfehlers der Währungsunion – dem Fehlen einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik – wird das nicht möglich sein. Wir brauchen deshalb einen Quantensprung auf dem Weg zur politischen Union in Europa. Der erste Schritt ist eine wirtschaftspolitische Koordinierung und Zusammenarbeit in Europa, die den Namen wirklich verdient. Gerade für uns Deutsche, das spüren wir doch bei jeder Erschütterung des Welthandels, ist diese Weiterentwicklung inzwischen evident. Deshalb müssen wir zum Motor dieses internationalen Fortschritts innerhalb der EU werden.
Die Sozialdemokratie als Partei eines neuen Fortschritts
Die Sozialdemokratie ist seit ihren Anfängen Partei des gesellschaftlichen Fortschritts. Von Beginn an setzte sie sich dafür ein, die wirtschaftlichen Früchte des Fortschritts gerecht zu verteilen. Wirtschaftlicher und technischer Fortschritt sollte allen Menschen zugutekommen, um ihnen zu einem höheren Lebensstandard, mehr sozialer Sicherheit und individueller Selbstbestimmung |31|zu verhelfen. Dieser Fortschrittsgedanke der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert ist emanzipatorisch und damit ein Kind der Aufklärung. Nicht von ungefähr gehören Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu den konstitutiven und unveräußerlichen Grundwerten der SPD. Aber das alte Fortschrittsmodell war nicht fortschrittlich genug, könnte man ironisch anmerken – das musste auch die SPD bisweilen schmerzlich erfahren.