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Alltag. Romantik. Ereignisse. Dasein. Ich ging an einem späten Novembertag die Berliner Friesenstraße hinunter und auf die Kreuzberger Markthalle zu. Ein abschüssiger Weg. Ich passierte einen Blumenladen, der passend zur Jahreszeit auch Kränze in der Auslage anbot. Das gab mir zu denken, und das ohne dass ich zu denken dachte.
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Seitenzahl: 56
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Grundlos unter Azur
Weltgewitter
Formen
Duisburg
Die Amsel (nach Seneca)
für meine Mutter
Sergei Eisenstein, Alexander Newski
Nachtmeerfahrten
Am Schlachtensee
Ballard Power
Die Natur der Dinge
(nach Lukrez)
Rheinkilometer 555
Die große Müdigkeit
Von fernen Feuern
für Anton
Die Stunde der wahren Empfindung
Oranienburg
Sweet but Psycho
Im Lauf der Zeit
Erste Liebe
Letzte Liebe
Betrachtungen bei der Betrachtung eines Bechers
Welt und Ich
Schopenhauer und seine Geliebte machen eine Kahnpartie
Gala
Letzte Lockerung
Ein sehr kurzes Gedicht über die Liebe
Frühling (jung)
Prinzenstraße
Letzte Lockerung II
Ein sehr kurzes Gedicht über die Unmöglichkeit der Liebe
Die nette D.
für E.
An langen Sommerabenden
Gleisdreieck
Ein Märchen
Spätsommertage am Stadtrand
Post Festum
für Jürgen Ebert
Banale Mystik
Formen II
Das Paralleluniversum
Am Guadalquivir
Die Amsel II
Formen III
Die Seele Kants
Betrachtungen bei der Betrachtung eines Bechers II
Über die allmähliche Annäherung an Platon im Alltag
In einer Novembernacht
Masse und Energie
Die Stufen der Anschauung
Der todessüchtige Benn
An eine ferne Freundin
für Katharina
Blumen und Kränze
Nachwort
Kaum, dass das Ich aus dem riesigen Affenarsch
der Evolution herausgekrochen ist,
wird es auch schon gemobbt, gebasht und gedisst.
Leider nimmt dieses Ich alles so persönlich,
wird paranoid wie Rousseau, sein Entdecker,
oder schießt sich, siehe Werther,
eine Kugel durch den gerade erst erleuchteten Kopf.
Ein christliches Begräbnis wird ihm – natürlich – verwehrt.
King Kong kann ziemlich nachtragend sein.
Das Ich, ein possierliches Personalpronomen,
der Nullpunkt, allerdings: des gesamten Bezugssystems;
kaum, dass es auf eigenen Füßen steht,
hat es einen schlechten Stand.
Es ist vorzugsweise unglücklich, leer, abstrakt, dummdreist,
betreibt das durchsichtige Scheinen in sich selbst (alles Hegel)
und kann noch nicht einmal dieses Scheinen,
sprich: sich selbst verstehen,
denn dazu bedarf es der Sprache,
und die ist nun einmal Allgemeingut (Wittgenstein).
Zweihundert Jahre Ich, zweihundert Jahre Einsamkeit,
Verbalgewucher, Highbrow, Mascara und Masturbation.
Das hat es nun davon, das liebe Ich,
dass es sich gerne an Strohfeuern wärmt:
Apart lässt es einen Kanarienvogel an seinen Lippen schnäbeln,
und der wiederum küsst mit dem so geküssten Schnabel
die Lippen der geliebten Frau. Man könnte heulen vor Glück!
Alle drei: bestimmt ganz wunderschöne Seelen
und doch so nah am Wassertod.
Tja, das Ich ist unrettbar und so gut wie hoffnungslos verloren.
Ihm muss keiner was erzählen. Es hat bodentiefe Spiegel im Bad.
Auch ist es nicht blind. Selbst Schaufensterscheiben können reden.
Doch nicht nur Schaufensterscheiben reden mit ihm,
Anmutungen gibt es überall, Codes und Kantilenen,
die Mystik eines Freibads, die Atemzüge eines Sommertages,
der Blitz im Wald, ansonsten nur lausige Föhren und Birken
und mitten darin dieses Ich, eine ontologische Vollabsurdität.
Es ist seinsmäßig bereits sozialauffällig geworden,
und dennoch schaut es den Dingen,
Dingen, die wesentlich größer sind,
kackfrech in ihr blödes Gesicht.
Nennen wir es einmal altdeutsch: Die Lichtung,
das Licht und die Dinge, sie kommen nur in ihm zusammen,
als Ton, als Bild, als Lied vielleicht, vielleicht auch als Dichtung,
wird nur in ihm das Licht die Dinge entflammen.
Dies Ich, so fadenscheinig, ein besserer Zwitter,
halb Biomasse und halb auch viel mehr,
steht ganz allein in diesem Weltgewitter,
ja: Es stellt das Weltgewitter überhaupt erst her.
Es ist der einzige Punkt inmitten des Alls und der Dinge,
der überhaupt irgendetwas sieht und hört,
der im Rausch der Besamung, im Tausch der Ringe,
der ruchlose Reigen, der Tod und Besamung stört.
Dies Ich, so oft schon belächelt, ja: offen verlacht,
ist Blitz, oder altdeutsch gesagt: Der Hüter des Seins,
ansonsten gäbe es nur Energie und Masse und Nacht
und eine Welt, die weltlos ist wie die Welt eines Steins.
Wo man Formen sieht,
da ist nur Ermattung,
ist äußerst erschöpfte Entelechie,
ein Wurf im Zenit
der dunklen Begattung,
doch Formen? Nie!
Ist das Haus gebaut,
so beginnt auch das Sterben,
die letzte Ernte steht auf dem Feld,
ein Wanken, ein Wünschen und Werben,
dass die Stunde – so schwertnah – noch hält.
Was als Haben erscheint, das ist nur ein Halten,
ein Hoffen, an dem es schon zieht,
ein Zaudern, ein Zögern im Zug der Gestalten,
so sichelschwer wissend,
dass es geschieht.
Ich denke gerne an Meiderich.
Ruhrgebiet, Borinage,
so sieht Manchester in schweren Träumen aus.
Abgeblätterte Häuser,
schwarz-weiße Reihenhaussiedlungen,
steingewordene Paranoia.
Doch die Menschen,
die ich nach dem Weg fragte,
und ich fragte oft
in diesem schwarz-weißen Albtraum
zwischen Rhein und Ruhr,
schmucklose, aber sehr präsente Existenzen.
Gerne denke ich an sie zurück:
den hageren Endfünfziger etwa,
ein frühpensionierter Hauer vielleicht,
wie er mit seiner hochtoupierten Frau
federleicht durch den Sommer-
und Lebensabend fährt.
Und der führt entlang des Rhein-Herne-Kanals,
mehr Kies- als ein Radweg,
eine grandiose Monotonie
zwischen Hafenanlagen und Schrottladeplätzen,
doch auch hier blüht, wie Unkraut, das Glück.
Ein Rentner mit sehr spitzen Fingern
pflückt die Brombeeren
von den staubigen Sträuchern
und platziert sie mit letzter Liebe
in seine viel zu große Tupperware-Dose.
Ein bulliger Türke
fährt mit einem Bike den Kies auf und ab,
während sein Kumpel
den bereits bronzenen Körper
von der späten Sonne vergolden lässt.
Geglückte Existenzen!
Mehr wird inmitten des Ruhrpotts
in diesen Jahrzehnten
einfach nicht zu holen gewesen sein.
Ruhrgebiet, Sehnsuchtsland, Kythera!
Dieser Mut des reinen Lebens!
Frühe Schafsmilch und gefiederte Abendluft.
Keinerlei Ferne lastet hier.
Nun hoffen alle,
dass es genau so bleibt,
dass das ganz kleine Glück
noch eine gute Weile fortspinnen mag,
inmitten dieses spätsommerfarbenen Traums.
So lange werden vom Kiesweg hinab
offenen Auges die Kanus bestaunt,
wie sie leichthin auf dem Kanal ihre Spur ziehen,
an den Frachtschiffen vorbei,
schwer beladen mit Kohle und Schrott.
für meine Mutter
Leichthin stürzt die Amsel zur Erde,
es ist wie ein Windhauch mitten im Flug,
ein Ach und Aus, kein Stirb und Werde,
ihr ist der Hauch der Erde genug.
Einen solchen Sturz hatte sie nie gesehen.
Sie lebte, als würde sie immer leben.
Sie ließ keinen Augenblick vergehen,
ohne sich das ganze Glück zu geben.
Ihr Glück, das war der Dienst am Bauch,
war Balz, Begattung, ja: Vielweiberei,
war reiner Gesang, nicht mehr als ein Hauch,
im Hauch der Erde, dem großen Vorbei.
Sie hatte nie das Morgen gehegt
und dabei das Heute versetzt,
sie hat den Tag in die Thermik gelegt,
sie war immer das absolute Jetzt.
Über ihre Zeit waren die Schwingen
des himmlischen Friedens gebreitet.
Wem konnte jemals mehr gelingen,
als ihr, die so weit dem Schicksal entgleitet.
Auch dieser Sturz ist noch vielmehr ein Gleiten,
durch den jetzt vertikalen Raum,