Weltherrschaft durch Liebe - Olaf Trier - E-Book

Weltherrschaft durch Liebe E-Book

Olaf Trier

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Beschreibung

Oskar Tivoli hadert mit der Welt. Überall um sich herum sieht er Liebe, Liebe zum eigenen Selbst, zum Konsum und zu faulen Hunden. Die Welt hält Oskar durch Streitlust auf Abstand, was seinen Beziehungstherapeuten auf Trab hält. Und den Rest der Welt erst recht.

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KAPITELÜBERSICHT

Ich bin pure Liebe

Ziegenkäse

Magenta, der alles verschlingende Feuerteufel

In der Hitze der Nacht

Oase

Eisberg

Veränderungen

Kevins Avantgarde

Fünf mal sieben ist zu viel

Die undichte Wagenburg

Fremdwort Ästhetik

Keramik

Alles Zufall

Gut temperiert

Vulkan

97 Euro

Der Morgen, der die Entscheidung brachte

Kapitelübersicht

Der Autor

„Sie meinen, Sie wollten selbstständig zu dem Eisberg schwimmen, anstatt sich dort hinfahren zu lassen? Im Sinne einer Selbstwirksamkeit?“

Dr. Prometheus Alwin Friedrich Wenkman

ICH BIN PURE LIEBE

So steht es in großen Lettern auf dem Poster an der Wand. Diese Behauptung passt nicht zu ihr. Ich bin zwar planlos, aber voller Energie und guten Willens, das würde ich ihr sofort abnehmen. Claire faselt, ich kann ihr nicht folgen, will das auch gar nicht, obwohl ich müsste, schließlich schreibe ich ihr später die Rechnung, und überhaupt schaue ich zu oft auf die Uhr. Die Zeit verrinnt und es geht nicht vorwärts.

Auf dem Poster hinten links lese ich Ich spüre die Energie des Lebens in mir. Davor sitzt die Junior Brand Managerin. Sie leidet unter einer heftigen Allergie inklusive roter Triefnase und niest kraftvoll und mit beeindruckender Regelmäßigkeit. Jeder Nieser geht in ein neues Taschentuch aus der bereitstehenden Maxi-Taschentuchbox im hellblauen Wolkendesign. Das ist natürlich nicht nachhaltig, aber Hygiene hatte in unserer Gesellschaft schon immer Vorrang vor Nachhaltigkeit. Zumindest hat Leonie, so heißt das schniefende Ding, das vorhin in einem ihrer seltenen Redebeiträge mitgeteilt. Wenn Leonie redet, pausiert ihr Schnupfen. Das freut mich für sie. Wenn jedes Aufmerksamkeitsdefizit so fatale Folgen für die Umwelt hätte, sähe es düster aus. Wahrscheinlich schminkt sie sich vor dem Sex komplett ab, und weil das so zeitaufwendig ist, kommt sie meistens ganz drum herum. Der Mensch ist anpassungsfähig, zumindest innerhalb seiner engen, selbst gesteckten Grenzen.

Wo ich mich niederlasse, ist der richtige Ort für mich. Ein Satz, dessen immense Länge in diesem Umfeld die Ausnahme sein dürfte. Man kann ihn auf dem Poster hinten rechts erblicken. Die junge Frau, die Senior Brand Managerin, die sich am richtigen Ort niedergelassen hat, heißt Marie. Der Reim ist doof, stimmt aber, Marie glänzt durch Apathie. Vorhin sorgte sie für die einzige Schrecksekunde des Vormittags, als sie mit einer ungewohnt hektischen Bewegung ihren grünen Smoothie umstieß. Glücklicherweise nahmen ihre erstaunlich saugfähigen Notizen einen Großteil der Flüssigkeit schnell auf, was die Reinigungsarbeiten vereinfachte. Aus meinem Blickwinkel sehe ich noch einige übersehene gröbere Gemüserückstände an ihrem mauvefarbenen Füller haften, aber ich möchte sie nicht unnötig erneut in Aufruhr versetzen. Marie sagte in der Vorstellungsrunde, sie hätte in New York, Barcelona und Kapstadt gelebt und nun möchte sie durch ihre Arbeit mit diesen tollen, innovativen Unternehmerinnen aktiv etwas zur Reduktion des Kohlenstoffs und anderer Stoffe in der Atmosphäre beitragen. Sie haben alle dieses schlechte Gewissen, woraus der zwanghafte Hang zur Weltverbesserung resultiert, ganz egal, ob die Welt will oder nicht. Warum wollen Menschen dauernd irgendwelche Stoffe oder zumindest ihr Gewicht reduzieren, damit sie sich in den Augen ihrer Mitmenschen konform verhalten? Das wäre für mich ein guter Anlass gewesen, mal ein paar Zielkonflikte anzusprechen, aber ich soll hier ja nur unterstützen und nicht für Klarheit sorgen, da ist mein Arbeitsauftrag ganz klar. Zumindest verstehe ich ihn so. Marie bespricht in ihrer natürlich sehr knapp bemessenen Freizeit Liebesromane und teilt der Welt ihre Erkenntnisse auf weniger als 250 Zeichen mit. Das bedeutet wohl, sie kürzt den Klappentext so lange, bis er ins Raster passt.

Die Schriftgröße auf den cremefarbenen Postern ist aus mir unbekannten Gründen auf Menschen mit starker Sehschwäche abgestimmt. Wahrscheinlich sitzen hier hin und wieder noch ältere Menschen als ich, die etwas Positives mitnehmen sollen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, meine Produktivität ist suboptimal. Ich bin pure Liebe. Solche Aussagen in gedruckter Form am späten Vormittag finde ich etwas heftig. In meinem ersten Büro hing ein Plakat, das ein zerstörtes Fenster in der Außenwand eines Wolkenkratzers zeigte, darunter der Satz Elvis has left the building. Fand ich gut, damals wie heute. Bei meinem ersten Kundenbesuch vor vielen Jahren waren die Wände kahl und der Geschäftsführer sagte zur Einstimmung „Wo ich bin, ist vorne. Daran können Sie sich orientieren.“ So was hört man heute nicht mehr, da hat sich kommunikativ wirklich was getan, dafür ist die Orientierung schwieriger geworden. Es ist wie bei den Viren, eine Variante folgt auf die nächste, ein natürlicher Prozess, aber unter Fortschritt stelle ich mir lieber etwas Schöneres vor.

Etwas Abwechslung bietet der Blick durch die Glaswand in den mit grauem Teppich ausgelegten Flur. Dort, an der hellgrauen Wand, hängen die quietschend-bunt gestalteten Fahrradhelme der drei Konferenzraum-Insassinnen. Ein Soziologe, oder war es Sportreporter?, hat mal gesagt, solcherart Kopfbedeckungen mit leicht infantiler Farbgebung wären Ausdruck für das eigene, völlig übersteigerte Sicherheitsbedürfnis inmitten der sichersten aller Gesellschaften. Deshalb bleibt der Helm auch in der Bäckerei auf, zuungunsten ästhetischer Aspekte.

Sie glauben, sie können die Welt verändern und nebenbei etwas Geld scheffeln. Ihre Frisuren sollen so aussehen, als ob sie aus dem Bett gestiegen und direkt, ohne Umweg über das Bad, hierher geradelt sind. Dabei haben sie heute früh ausgiebig an ihrem Haupthaar rumgeschraubt, während normale Menschen entspannt Zeitung lesen und frühstücken. Überhaupt, die Frisuren. Die können nicht einfach zum Friseur gehen und sagen: „Mach mir ne´ schöne Frise.“ Geht nicht. Erst muss ein medial hyperpräsentes Vorbild ausgewählt werden. Dieses Vorbild wird mit dem ganz persönlichen Hairstylisten unter Gesichtspunkten wie Aktualität, Style und Nachhaltigkeit diskutiert, bevor es ans Werk geht. Wenig später sitzen sie auf dem Rad, den Helm auf dem Kopf und merken, dass etwas nicht stimmt. Sie sind ein Produkt ihrer Zeit. Letztes Jahr waren ganz kurz bunte Kopftücher zu schwarzem bauchfreiem Top und kurzen, gestreiften Hosen der neueste Trend. Im Dezember. Da hatte sich ein fortgeschrittenes Rollenmodell etwas Ironie erlaubt, die Herde lief hinterher und lag bald mit Unterkühlung flach. Manche Lernprozesse sind unterhaltsam. Bei Scholl-Latour im Mekong Delta ging das damals nicht so glimpflich aus.

Drei Mal hellgrau gefärbte Haare, Pullis in Pastellfarben und dazu weiße Turnschuhe, Verzeihung, ich meine natürlich Sneaker. Sie verlangen von mir mehr sichtbare Diversity in ihren Werbetexten, ich hätte optisch gerne etwas Diversity. Da sehe ich mein und ihr derzeitiges Kernproblem: Sie wissen nicht, welche Message sie für die Welt haben könnten, ich weiß es auch nicht, aber wir reden ausführlich, um nicht zu sagen ziellos, über diese unschöne Gemeinsamkeit, weil sie sich nicht festlegen können. Es gibt zu viele Optionen. Letztendlich beschäftige ich mich mit den unfertigen Gedankengängen einer Generation, die mich nicht wirklich interessiert, die ich aber auch nicht rundweg ablehne. Seit Jahrzehnten haben Konsumkinder eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, man kann ihnen nichts vorwerfen, ihre Eltern waren überfordert und haben sie mit Zucker und Elektronik ruhig gestellt. Die Sitzmöbel im Wohnzimmer gruppieren sich seit über einem halben Jahrhundert um den übergroßen Fernseher. Anstatt Bücher zu lesen, werden die Kundenmagazine aus der Drogerie durchgeblättert und parallel Nichtigkeiten hektisch elektronisch ausgetauscht. Da ist der Weg vom Konsumkind hin zum umfassend desinteressierten, aber aktivistisch veranlagten Erwachsenen vorprogrammiert.

Das Schlimme ist, sie sind hier, an diesem Ort, in diesem Konferenzraum, mit diesen albernen Postern an der Wand, goldrichtig. Ich bin an vielen Orten richtig, aber nicht hier. Das zeigt auch das Bewirtungsangebot deutlich, püriertes Obst und Gemüse statt Koffein, dazu frische Möhrenspalten statt Gebäck. Man muss nicht mal stundenlang in ein Krisengebiet fliegen, um die hässlichen Seiten der Welt zu sehen. Ich lese noch mal den Text auf der cremefarbenen Visitenkarte vor mir auf dem Tisch, und, ja, es steht wirklich da und es ist genau so gemeint:

Claire-Hedwig Schlicht-Kind

Unternehmerin, Feministin und Aktivistin

Vor allen drei Selbstbezichtigungen steht ein nur schwach erkennbares, hellgraues Hashtag. Das muss natürlich sein.

„Was sagen Sie dazu, Herr Tivoli?“ höre ich Claire-Hedwig in meine Richtung fragen und sie lächelt ein perfektes Business Women-Lächeln. Eine ungünstige Situation, ich weiß nicht ansatzweise, um was es gehen könnte. Wie ferngesteuert rühre ich den mir zugewiesenen widerlichen lauwarmen Smoothie um und nehme einen großen Schluck. Eine Handlung, die ich augenblicklich bereue.

„Sie wissen doch, was ich hören will“, sagt Claire bekräftigend, taucht ein wehrloses Stück Karotte in ihren Fruchtgemüsemischmasch, beißt geräuschvoll ab und lächelt. Ihr Lächeln wirkt durch die grau-braunen Pürierrückstände zwischen den Zähnen farblich nun etwas gedämpfter.

Ich weiß, was sie hören will? Ich kenne sie erst seit ein paar Stunden und dieser Zeitraum erscheint mir endlos lang und ebenso sinnlos. Was könnte sie von mir hören wollen? An einem späten Samstagabend würde ich sagen: Du willst es doch auch. Im Urlaub wäre es vielleicht Vamos à la Playa. Aber es ist Dienstagvormittag und ich bin in der Nordstadt, wo Restaurants Agammendon´s oder Ottoman´s heißen und wo Sultan´s Frühschtük komplett, also inklusive Softgetränk aus der Dose, für unter 5 € feilgeboten wird.

Erneut greife ich zum Glas und trinke einen weiteren mächtigen Schluck. Übelkeit und völlige Desorientierung sind keine gute Kombination. Was will sie von mir hören, damit es hier weitergeht? Wo waren wir vor meiner mentalen Abwesenheit stehen geblieben?

Sie schauen mich gespannt an, sie erwarten Orientierung oder sogar eine Entscheidung von mir. In mir arbeitet das widerliche Gesöff und ich muss aufstoßen. Durch das große Fenster an der Stirnseite des Raumes fällt das Sonnenlicht auf die Oberflächen ihrer Tablets und bringt eine Vielzahl von Wischspuren und sonstiger Schmierflecken schön zur Geltung. Richtig!, Claire-Hedwigs Firma will eine Linie neuer Hygieneartikel auf den Markt bringen, oder war es Kosmetik?, egal, ich bin wieder im Thema. Diese Erkenntnis und der Anblick der mehr als unhygienischen Arbeitsgeräte entspannen mich fühlbar. Ich schenke ihnen mein schönstes Lächeln und die drei engagierten Wohlfühl-Feministinnen belohnen mich dafür mit ihrem allerschönsten Lächeln.

„Claire, was ich hier heute Vormittag gehört habe, Ihre Ideen und die Ihres Teams, das ganze Konzept zeigt, dass Sie auf einem guten Weg sind. Aber…“ , ich wechsele in einen strengeren Tonfall „… es fehlt die Stringenz, die Genauigkeit, das Zwingende, das, was Ihre Kundschaft, die, wie sie wissen, sehr sensibel und kritisch bei dieser Produktgruppe ist, auf Anhieb überzeugen könnte.“ Ein Satz ohne zu viel Inhalt, der selbst in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow negativ auffallen würde, aber hier funktioniert er. Das Schamgefühl muss ich auf später verschieben.

Claire-Hedwig ist überrascht, ihre beiden Jungmanagerinnen zucken wie gewohnt bei jedem zarten Anklang von Kritik und Änderungsbedarf zusammen. „Okay, das überrascht mich Herr Tivoli. Ich dachte, wir wären weiter. Aber sie haben die Erfahrung und ich möchte ein tolles Outcome.“ Sie holt tief Luft, schaut ihre Mädels streng an und sagt „Ihr habt es gehört, wir sind noch nicht überzeugend genug. Wir müssen aber die Besten sein, um zu bestehen. Marie, Leonie …“, die Angesprochenen zucken synchron zusammen, „… wir müssen disruptiv sein, sonst werden wir niemals Innovationsführer!“

Wenn in Meetings unwidersprochen mit Phrasen hantiert wird, ist der Sauerstoffmangel akut und folglich der Gipfel der Ahnungslosigkeit erreicht. Claire-Hedwig atmet tief durch, schaut mich entschlossen an, lächelt makellos und sagt: „Gut, gehen wir den Market Launch Plan noch einmal gemeinsam durch“.

Das bedeutet für mich weitere Stunden gut bezahlte Ödnis. Unersetzbare Lebenszeit wird sinnfrei verrinnen. Mein Körper begreift das sofort und reagiert, das Grummeln in der Magengegend steigert sich zum Grollen. Sofort freue ich mich auf die in Kürze anstehende kurze Auszeit in den geschmackvoll steingrau gestalteten Rest Rooms. Es blinkt, eine neue Nachricht auf meinem digitalen Arbeitsmittel will gelesen werden. Ich lese und mein Magen gerät noch mehr in Wallung.

Hi Oskar, lange nichts mehr von dir gehört. Der alte Ransbehr stellt aus, Grünzwang Gasse 10, Sonntag ab 15 h. Komm vorbei. Lohnt sich! Bis dahin. David.

Ich fühle ich mich wie ausgeschaltet und ohne jeden Antrieb. Davids Existenz hatte ich in den letzten Monaten erfolgreich verdrängt. Leonie und Marie beginnen einen hingebungsvollen Streit über eine völlig nebensächliche Formulierung für die Onlinewerbung. Claire-Hedwig hört schweigsam zu, sie denkt nach und sieht mich konzentriert an. Ihr Lächeln ist verschwunden. Sie hat rote Flecken am Dekolleté, das ist mir bisher nicht aufgefallen, vielleicht ist es eine Abwehrreaktion ihres Körpers auf die fremdartige Zusammensetzung der Flüssigkeitszufuhr. Aufzustoßen scheint sie aber nicht. Ich erwidere wortlos ihren Blick und versuche eine aufmunternde Geste, aber eine Wirkung bleibt aus.

Es ist Quatsch, ich weiß, aber sie und ihre Mädels tun mir leid. Viel zu früh kriegen sie ihr erstes Handy. Dauernd schminken, Haare waschen, die ganzen Schönheitsideale aushalten. Ein paar schaffen noch das Abi. Dann wird aus der Heranwachsenden eine vollwertige Konsumentin, Konsum zum Kompensieren der vielen medial eingeredeten Defizite. Etwas Bulimie, Psychotherapie, eine Ausbildung anfangen und abbrechen, noch eine Therapie, die Reihenfolge dieser Ereignisse ist natürlich variabel, dann Quereinstieg als Social Media Managerin oder gleich Influencerin. Für sie bin ich in dieser Runde der Silberrücken, der Erfahrung hat, sich aber in der modernen Welt nicht mehr zurechtfindet, der bald selber Unterstützung braucht, der nicht mehr lange hat. Aber sie brauchen mich, weil sie ahnen, dass ihnen etwas fehlt. Sie können beidhändig Kurznachrichten schreiben, in atemberaubender Geschwindigkeit. Aber eben nur kurze Kurztexte, durchsetzt mit vielen bunten Einsprengseln. Dann ist die Aufmerksamkeit erschöpft. Sie sind lange Single, weil ihre sorgfältig ausgesuchten, genauso superoptimierten Gegenparts mit genauso schmalem Weltbild genauso bekloppt sind wie sie.

Durch ausprobieren habe ich gelernt zu kochen, folglich saß immer wieder eine hungrige Esserin in meiner Küche und ließ sich von mir überzeugen. Sie suchen das Glück in Form eines solventen Ernährers, aber finden immer nur gute Esser. Ich weiß, ich bin ungerecht, ich bewerte. Ich weiß gar nichts über diese Frauen. Aber ich weiß genug, um diesen Auftrag abzuwickeln, das reicht mir heute.

ZIEGENKÄSE

Fast hätte sie mich so weit gebracht, fast wäre ich authentisch geworden. Das wäre wirklich das Letzte, authentisch sein, nur um sich an irgendwelche albernen Erwartungshaltungen anzupassen. Ich selbst zu sein ist völlig ausreichend und mehr als anstrengend. Gerade weil dieser volatile Ich-Zustand bei Erstbegegnungen erst mal auf Unverständnis und Überforderung stößt. Wenn ich diese Art Reaktionen als Maßstab heranziehe, bin ich im weitesten Sinne natürlich schon authentisch. Das bereitet mir etwas Unbehagen.

Es war knapp, es war sogar sehr knapp. Das hätte ihr so gepasst, ein gesundes, selbst zusammenmontiertes Abendessen, zwei Stunden Unterhaltung quer durch niedere bis maximal mittlere Abstraktionslevel, ein paar Gläser Wein und schon knicke ich ein. Ihre Selbststilisierung zum Opfer und sonstige Banalitäten hat sie so geschickt formuliert, dass ein unaufmerksamer Mensch in die Falle getappt wäre und jeder ihrer betont unverfänglichen Zustandsbeschreibungen unserer Gesellschaft zugestimmt hätte. So wird man vereinnahmt und spätestens nach dem dritten Wein sitzt man entspannt auf ihrer Couch und sie plötzlich mit angezogenen Beinen auf meinem Schoß. Ihr ist angeblich kalt, sie erfriert regelrecht, und deshalb ist jetzt ganz dringend Nähe angesagt. Dieser übersichtlichen Argumentationskette kann und wollte ich im aktuell tropisch geprägten Hochsommer nicht folgen. Ansonsten bin ich guten niederen Beweggründen gegenüber immer offen. Aber es hat einfach nicht gepasst, ganz grundsätzlich nicht. Sie muss es gerochen haben! Menschen, die regelmäßig Ziegenkäse, „Ganz frisch von meiner Lieblingskäserei!“, mit selbst gemachter Birnenmarmelade und deutlich zu viel heiligem Ernst verzehren, nehmen eher früher als später den Geruch ihrer Leibspeise an. Da halte ich mich lieber außerhalb der Riechweite auf. Ihr Aufenthalt auf meinem Schoß war schon unter olfaktorischen Gesichtspunkten inakzeptabel und weckte in mir den akuten Wunsch nach räumlicher Distanz und der Vermeidung jeder weiteren Kontaktaufnahme. Grundsätzlich halte ich Ziegen auf Abstand, besonders wenn sie knutschen wollen.

Sie tut mir leid, das muss ich zugeben. Ihre Eltern haben sie, ihre geliebte Tochter, auf den Namen Echo getauft, ein ausgefallener und schöner Name. Der Sage nach gab es eine griechische Nymphe mit diesem Namen. Der heutigen Echo fehlt jemand, der liebevoll ihren schönen Namen in ihre kleinen Ohren haucht. Der letzte Hauch dürfte etwas her sein. Das könnte auch am Erscheinungsbild ihrer Wohnung liegen, in der kann es nur schwerlich ein liebevolles Echo geben kann. Es fehlt der Resonanzraum. Die Regale sind voll, sie quellen über. Überall Fotoschachteln und Bücher, die meisten vermutlich ungelesen, die Kleiderschränke standen offen, auch sie knallvoll. Und Echo jammert, dass sie nichts wegwerfen kann. Wenn sie mit den Büchern zum Themenkreis Glücklich werden und zu sich selbst finden durch Ausmisten anfangen würde, die sie angeblich verschlungen und verinnerlicht hat, wären sofort zwei Regalmeter frei und sie hätte ein schönes Erfolgserlebnis, welches weitere Räumarbeiten begünstigen würde. Diesbezügliche Vorschläge wären zwar sinnhaft, aber auch übergriffig gewesen. Deshalb halte ich mich mit Bekehrungsversuchen lieber zurück.

Überraschend waren die Gesprächsthemen. Sie redete eingangs davon, dass sie diesen ach so schrecklichen Hyperkonsum in unserer Gesellschaft ablehnt. Klar, logisch, ihre Wohnung ist übervoll, das ist ihr Thema. Da geht nichts raus, weil sie nicht so gut loslassen kann, und nichts mehr rein, weil der Platz fehlt. Verstanden. Sie hat kaum über ihren Job gesprochen, Hebamme oder Holzmechanikerin oder so was, dafür viel über ihre Familie und ihre Herkunft. Viel Innenschau und das war wirklich interessant. Und sie hat den ganzen Abend nicht ein einziges Mal heteronormativ oder lecker gesagt. Nicht, dass ich es vermisst hätte, im Gegenteil, das Weglassen dergleicher Worthülsen fällt ungemein positiv auf. So was ist selten. Kritisches Reflexionsvermögen wird ständig mit moralischem Eifer verwechselt. Ich sage ja auch nicht sofort Menschenverachtend! wenn ich eine Frau mit missglücktem Haarschnitt erblicke, auch wenn die Fakten optisch eindeutig sind.

Die U-Bahn hält. Jemand hat an die Wand des Bahnsteigs Tschiston Timbalacke ist Gaad gesprüht, mit hellgelber Sprayfarbe auf gelbe Fliesen. Sofort kommen mir wieder diese nagenden Zweifel, ob die nachkommenden Generationen den Herausforderungen unserer Zeit auch nur ansatzweise gewachsen sind. Natürlich, ich weiß, die Befürworter visueller Mitteilungen werden sagen, dass der Themenkomplex Rechtschreibschwäche in unserer Gesellschaft auf diese Weise gut sichtbar gemacht werden kann. Dem kann ich mit gutem Gewissen entgegenhalten, dass Menschen die sprachlich missglückte Botschaften mit hellgelber Farbe auf gelbem Grund sprühen, das Konzept der Sichtbarmachung von irgendetwas nicht verstanden haben. Aber was weiß ich denn schon? Vielleicht war es ein junges Mädchen, noch ein halbes Kind, das der Welt ihre Sehnsucht oder gar Liebe zu einem prominenten Zeitgenossen mitteilen wollte. Immerhin, lautsprachlich ist ihr die Mitteilung weitgehend gelungen. Wie es besser geht, kann man an der Haltestelle Max-Goldt-Platz bewundern. Straffreiheit für alle klimaaktivistischen Terrorist:Innen! steht da an der Wand des Justizpalastes, mit weißer Farbe auf rotbrauner Wand. Der Text ist gut lesbar, es gibt eine klare inhaltliche Aussage und der Anwendung von Grammatik wird widerstanden. Aus Sicht der Verursachenden eine runde Sache. Daneben hat jemand mit schwungvollem breitem Pinselstrich und grüner Farbe den schönen Satz Hier könnte was Sinnvolles stehen temporär verewigt.

Echo hat nicht nach meinem Alter gefragt. Das wird sie im Vorfeld geklärt haben, bevor die Einladung in die heimischen vier Wände ausgesprochen wurde. Vorher dachte ich wirklich, dass sich die Altersfrage gar nicht stellt. Tut sie aber doch, und zwar ungefragt. Ihre Jugendlichkeit, Echo ist Mitte dreißig, musste sie mir durch die lebhafte Schilderung der vielen regelmäßig stattfindenden Kochabende mit ihren Heimatkumpanen unter Beweis stellen. Dann lachen alle ganz viel, trinken noch mehr und spüren ganz deutlich ihre gemeinsamen Wurzeln in der Ferne. Bei diesen Heimatabenden ist das Essen besser und die Getränke kühler. Das Essen, wieso scheitert es so oft am Essen? Sie hätte die Dinkel-Amarant-Kruste auch gern in nicht karamelisiertem Zustand belassen und dafür den Wein ein paar Minuten eher ins Kühlfach stellen können. Das hätte den Abend zwar nicht gerettet, aber um eine Nuance erträglicher gestaltet. Ablenkung durch nicht ausreichend gekühlte Kaltgetränke funktioniert nicht. Dann bleibe ich in meinem Verhaltensmuster, denke an den kommenden, unvermeidlichen Kopfschmerz und nippe trotzdem immer weiter am Glas. So wird aus dem Genuss- ein unfreiwilliges Wirkungstrinken.

Neos Unberechenbarkeit hat ihren Reiz. Nach dem zweiten Rotwein kam ihr urplötzlich die Erkenntnis, dass die meisten Männer eine Großstörung haben müssen, sonst wäre deren Verhalten in Beziehungen als auch in freier Wildbahn nicht erklärbar. Da musste ich spontan den Kopf etwas neigen, leicht skeptisch gucken und sie wiederholte ihre steile These, allerdings in deutlich schärferem Tonfall. Ich würde heute Abend unaufmerksam auf sie wirken, sagte sie. Ein wirklich interessanter Gedanke, weil ich sie und sie mich, also wir uns, heute Abend erst zum dritten Mal gesehen und zum ersten Mal ausführlich miteinander gesprochen haben.

„Echo, ich spüre deutlich einige atmosphärische Störungen“, habe ich geantwortet, nachdenklich an meinem zu vollen Glas genippt und seufzend in die Ferne geschaut. Hat funktioniert, sie hat sofort das Thema gewechselt und ihren durchaus vorhandenen Charme wieder rausgekramt.

Großstörung – das hat sie bei einem ihrer zahlreichen Seminare aufgeschnappt. Wenn bei der Bahn die Lokführer streiken und die meisten Zuge ausfallen, wird das im schlimmsten PR-Deutsch als Großstörung bezeichnet. Wenn in deutschen Küchen zwanghaft große Mengen Ziegenkäse verarbeitet, frittiert und alles andere karamellisiert werden muss, scheint mir der Ausdruck Großstörung sinngemäßer. Natürlich, Ziegenkäse wird durch frittieren deutlich aufgewertet, deswegen ist das Ergebnis aber längst noch nicht als genießbar zu bezeichnen.

Die folgende Unterhaltung war nett, das muss ich zugeben. Neo kann nett und ungezwungen sein. Da ein Scherz, da ein Hinweis auf Gemeinsamkeiten, es floss einfach, wirklich angenehm. Bis, ohne Grund und Vorwarnung, die nächste Klippe auftauchte. Ich solle jetzt bitte unverzüglich meine Gefühle ihr gegenüber offenlegen. Kann ich so nicht beurteilen, müsste ich nackt sehen, wollte ich sagen, aber gerade noch rechtzeitig fiel mir auf, dass sie nach meinen Gefühlen gefragt hat, nicht nach meinen Bedürfnissen. Meine Gefühle hatte ich bei der Präsentation des frittierten Hauptgangs mimisch deutlich mitgeteilt. Wenn das Essen geschmacklich durchfällt, fällt auch ein Schatten auf die kreative Anwenderin am Herd, ist doch logisch. Das kann ihr nicht entgangen sein. Ein weiterer Beleg für ihre nicht vorhandene Aufmerksamkeit mir gegenüber. Wobei, auf Saras Geburtstagsfeier habe ich deutlich in ihrer, also Neos Anwesenheit gesagt, dass Ziegenkäse ohne Umweg über die Küche in den Biomüll gehört. Sie hat gelacht, und mich offenbar maximal missverstanden. Sie hätte vorab klären können, welches Essen auf Entgegenkommen trifft und welches gar nicht erst in Betracht gezogen werden sollte. Gute Gastgeber tun so was beizeiten. Immerhin, früher wäre ich bei solchen Fehltritten noch deutlicher geworden oder kommentarlos gegangen. Da hat eine Verhaltensänderung stattgefunden. Vielleicht bringen die Gespräche mit Dr. Wenkman doch etwas.

Dann kam dieser eine, dieser spezielle Moment, der endlich Klarheit brachte. Erst dachte ich an eine Prüfung, aber es war etwas anderes, ein überdeutlicher Hinweis, der mir eine Erkenntnis brachte und nebenbei das Ende dieses wechselhaften Abends einläutete. Sie redet, sie sprudelt, sie lächelt wie ein sensibles Baby, das die Löcher in der Steckdose für Augen hält, gestikuliert mit der Gabel in der Hand, ein Stück Ziegenkäse löst sich von dieser umherschwirrenden Gabel und fällt herab. Sie hatte ihre ansehnlich gebräunten Beine gut sichtbar übereinandergeschlagen. Bis dahin hatte ich mich mit ihren Beinen und Füßen nicht beschäftigt, was ein Fehler gewesen sein mag. Den Fall des kleinen Käsestückes von den Zinken der Gabel bis hinunter zu ihrem Fuß habe ich aus der Nähe genau mitverfolgen können. Der Fall verlief wie in Zeitlupe und ich wusste, dass mehr als nur Schwerkraft am Werk war. Das kleine Stückchen frittierter Ziegenkäse fiel und landete auf dem grau lackierten Nagel ihres großen Zehs. Grau ist angesagt, es ist die Farbe unserer Zeit. Es entspricht der Grundstimmung vieler leistungsorientierter und ausgebrannter Menschen, es passt zur freudlosen Architektur der letzten Jahrzehnte in diesem Land, und es ist ein schöner Gegensatz zur grellbunten Welt des Konsums und der Werbung. Warum sollten Frauen sich als Ausdruck ihrer ungezügelten Lebensfreude nicht die Zehennägel grau lackieren? Das kleine frittierte Stückchen Ziegenkäse und das Grau ihres Zehennagels harmonierten ausgezeichnet miteinander. Das ist neutral und völlig wertfrei ausgedrückt. Etwas weniger neutral betrachtet, wurde mir in diesem Moment klar, was es heißt, wenn ästhetische Defizite sich visuell mitteilen und so individuell erfahrbar werden. Ich sah ihre grau lackierten Nägel und sah eine Baustelle mit zehn kleinen grauen zementverseuchten Pfützen. In einer der Pfützen schwimmt ein weiß-braunes, ölig glänzendes Stück Plastik. Für mich ein unschöner Anblick. Ja, es stimmt, diese Gedanken hätte ich Neo gegenüber nicht so direkt aussprechen sollen. Für mich war der endgültige Tiefpunkt des Abends erreicht, ich musste aufstoßen, konnte aber das Schlimmste verhindern. Wenn ich am falschen Ort bin und mich mit den falschen Menschen beschäftige, darf ich das ändern. Da waren Neo und ich uns nach einem kurzen, sehr heftigen Gedankenaustausch schnell einig.

Die U-Bahn hält an, die Türen öffnen sich, ein paar Fahrgäste steigen aus, ein paar ein, die Türen schließen sich und die Fahrt geht weiter. Bevor ich es begreife, ist mein Körper in akuter Alarmbereitschaft. Die Anspannung ist sofort da, ich spüre Druck auf den Schläfen und mir wird kalt. Ich betrachte die neu zugestiegenen Fahrgäste etwas genauer. Es ist nicht die junge schwarzhaarige Frau mit dem sonnenverbrannten roten Gesicht und den widerwärtig buschigen, rechts etwas schief aufgetackerten Wimpern. Es ist der Typ mit der Gitarre neben ihr, der sich mehr in den Waggon geschoben hat, als das er einstieg. Er ist rundlich, hat quantitativ mehr Bartstoppeln als Haupthaar, trägt eine Akustikgitarre vor dem Bierranzen und dürfte altersmäßig jünger sein, als es sein Aussehen vermittelt. Er ist gut drauf, er grinst, er ist in dieser Stadt zuhause, findet die Eingeborenen, die Stadtviertel und den örtlichen Balltreterverein super und will uns, den wehrlosen Fahrgästen, das alles nun in seinem schrecklichen Dialekt musizierend mitteilen.

Es ist zu spät, die Türen sind zu, die Bahn fährt, und ich bin gefangen. Ich sitze weit hinten im letzten Wagen und der Typ steht unmittelbar vor dem nächsten Ausstieg. Es gibt keinen Ausweg mehr, weder räumlich noch akustisch. Es pocht in den Schläfen und die Kontrolle über meinen Körper schwindet. Ich weiß, im Ernstfall, also genau jetzt, soll ich denken: Jede Panikattacke geht früher oder später vorbei. Geschlossene, enge Räume, dieser Dialekt und diese … Musik? Mein Verstand weiß es, es ist nicht böse gemeint, sie können nicht anders, sie finden das sogar richtig gut, sie fühlen sich mit ihrer Heimat verbunden und müssen das sich und anderen Menschen ganz oft mitteilen, sonst verfallen sie der Schwermut, unternehmen ausgedehnte Einkaufstouren in überfüllten Fußgängerzonen oder stürzen sich von Brücken in Gewässer, die für solche Vorhaben zu flach sind. Es gibt diesen Heimatautismus an vielen Orten, aber bei mir löst das die schlimmste Form der Klaustrophobie aus, die akustische Klaustrophobie, ein besonders bösartige Form der Panik. Früher dachte ich ganz naiv, wie lästig das allgegenwärtige Zugeproste mit der örtlichen Biersimulation doch ist. Da hatte ich noch keine Ahnung von den gefährlichen Grenzbereichen der hiesigen Existenz. Der dicke, grinsende Mann beginnt seine Gitarre zu bearbeiten und behauptet singend, das wir hier, an diesem Ort, dieser wunderbaren Stadt, immer zusammenstehen werden und das auf diese Weise immer alles gut sein und bleiben wird. Trotz der Alarmstimmung meines Körpers begreife ich den schrecklichen Sinn seiner Worte. Ich fühle in mir eine ausweglose Enge und soll nun mit allen Leuten in diesem U-Bahn Waggon fröhlich eng zusammenstehen? Das ist mehr, als jeder einigermaßen klar denkende Mensch ertragen kann. Mein Puls rast, ich will schreien, kann es aber nicht. Die Halteschlaufen am Geländer an der Decke! Kann ich mich mit einer der Halteschlaufen kurz und bündig erdrosseln und dem Wahnsinn entfliehen? Wahrscheinlich nicht, ich glaube, sie sind zu klein für meinen Kopf. Und wenn es doch irgendwie passen sollte, baumele ich krächzend herum, der ranzige Gitarrenmann steht klampfend und seinen Dialekt auditiv ausübend neben mir und das wäre wirklich der Schlimmste aller denkbaren Abgänge.

Moment, ich könnte ihm Geld anbieten, damit er aufhört zu spielen! Aber die gut gelaunten und völlig degenerierten Mitsinger in diesem Waggon werden zusammenlegen und mich überbieten wollen. Mit Kreditkarte kontaktlos zahlen geht bei dem auf keinen Fall. Ich könnte auf ihn zugehen, stolpern und ihn im Fallen mit seiner Gitarre zu Boden reißen. Dann ist zumindest einen Moment Ruhe. Wenn die Gitarre dabei zu Bruch gehen sollte, sogar etwas länger. Oder könnte ich ihn in einer der Halteschlaufen erhängen? Er ist auf jeden Fall schwerer als ich, sein Kopf ist aber etwas kleiner, das könnte passen. Aber er wird sich wehren und rumzappeln. Auf Mithilfe der anderen Fahrgäste bei meinem Vorhaben kann ich nicht zählen. Die beiden Omas neben mir sind zu alt, für die sonnenverbrannte Tussi mit den schiefen Riesenwimpern ist die Thematik zu komplex, dem Rest scheint sein Gekrächze sogar zu gefallen.

Die Bahn wird langsamer, ruckelt und kommt zum Stehen, die Türen gehen auf, der Heimatbarde verstummt, tritt zurück und lässt die Aussteiger grinsend passieren. Als sich unsere Blicke treffen, zuckt er zusammen und das Grinsen verschwindet. Zitternd, aber mit dem Gefühl, davongekommen zu sein, verlasse ich die U-Bahn.

MAGENTA, DER ALLES VERSCHLINGENDE FEUERTEUFEL

„Was ist für dich der ultimative Genuss?“, fragt sie und rückt noch etwas näher. Damit ich die Botschaft auch wirklich verstehe, fährt ihre Zunge langsam und ausführlich über die großzügig mit rotem Lippenstift geschminkten Lippen. Ein fruchtiges Parfüm umfliegt ihren Ausschnitt, die Botschaft, ihre Botschaft, ist eindeutig. Zumindest deutet viel auf eine gewisse Eindeutigkeit hin. Ich lehne mich leicht in ihre Richtung, sie tut es mir gleich, wir sind uns so nahe, dass ich ihren Atem auf meinem Gesicht spüre. Blicke versinken in den Augen des Gegenübers, wieder gleitet ihre Zunge über die Lippen und ich höre mich antworten: „Kennst du diese eine, großartige Situation? Du hast eine Tüte deiner Lieblingschips gegessen, es ist nur noch ein winziger Rest übrig, unten, ganz unten in der Tüte. Da wo sich die ganzen Gewürze und winzige Krümelreste ansammeln und vermischen. Du legst den Kopf in den Nacken, setzt die Tüte an, die Schwerkraft tut, was sie soll, und unzählige dieser würzigen Miniteile fallen in den Mund. Die Geschmacksrezeptoren arbeiten beglückt auf Hochtouren. Was folgt, ist eine Geschmacksexplosion ohne Beispiel. Das ist der optimale Genuss.“

Ihre Augen sind weiter an meine geheftet, aber die Lippen sind geschlossen. Das Lächeln ist dünn geworden, es muss eine Veränderung zwischen uns stattgefunden haben. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie langsam, ohne Hektik, die leere Weinflasche auf dem Tisch mit der Hand sucht, sie findet, ergreift, umdreht und geschmeidig mit ihrem schlanken, gut gebräuntem Arm ausholt. Die dunkelgrüne Flasche mit dem golden-lilafarbenem Etikett beschreibt einen eleganten Bogen und nähert sich wie in Zeitlupe meiner Stirn. Ich höre wieder dieses nervige Geräusch. Es wird lauter.

„Könnten Sie bitte etwas leiser sein!“ ranzt mich eine Stimme an. Das Geräusch, mein Schnarchen, verstummt. Mit einem Grunzlaut erwache ich endgültig und finde mich, leicht nach links geneigt, auf einem Stuhl sitzend vor. Die ältere, neben mir sitzende Dame, die mich freundlich, aber bestimmt auf meine Geräuschentwicklung hinwiesen hat, ist etwas zurückgewichen. Sie nimmt meine bewusstlose wie geräuschintensive Annäherung locker hin und grinst.

„Habe ich sehr laut geschnarcht?“, frage ich sie.

Die Dame lächelt vergnügt. „Nur ganz kurz und nur verhalten. Die Tiefschlafphase war noch in weiter Ferne.“

Verhalten zu Schnarchen meint das Gleiche wie Man hat es kaum bemerkt nach dem großzügigen Genuss von Knoblauch in beengten Räumlichkeiten. Alles klar. Wir wissen beide, dass sie mir zuliebe die Wahrheit etwas dehnt. Ich straffe mich und bewege meinen Oberkörper wieder in eine gerade, aufrechte Haltung. Ich bin tatsächlich wieder eingenickt und habe hörbar rumgeschnarcht. Das darf nicht wahr sein. Ich prüfe die Gesichter der Menschen um mich herum, aber niemand sieht mich feixend an. Selbst David nicht, der rechts neben mir sitzt, und der würde so eine Situation auf jeden Fall weidlich ausschlachten. Entwarnung. Vielleicht kriege ich den weiteren Abend ohne weitere Kurzschlafphasen rum.

Der Traum war ganz nett, aber konventionell. Wenn ich den Inhalt meinem Umfeld wiedergeben würde, hieße es wahrscheinlich, sehr klischeehaft das Ganze, fehl am Platz und überhaupt nicht authentisch. Ich kenne die meisten Leute hier zwar nicht, schätze aber, dass eine Nicht-Authentizität generell ungünstig bewertet wird. Gut, die Fallhöhe ist nicht so hoch wie bei Rassist oder Fleischnazi, es geht aber nach meiner Wahrnehmung in dieselbe Richtung.

„Ein Künstler ist authentisch oder er ist kein Künstler!“ schallt es von der vortragenden Galeristin in den Raum. Sie redet immer noch über diese obskuren Positionen, dann kann ich nicht lange abwesend gewesen sein. Oder doch? Ich muss aufpassen, ein Glas Wein bei dem Wetter und Zack!, fallen mir die Augen zu. Es ist besser, ich sitze aufrecht und ohne Kontakt zur Rückenlehne. Das hier wird noch etwas dauern.

„Die Eigenständigkeit, die muss hart erarbeitet werden. Das setzt Erfahrung und Bewusstsein voraus. Wirkliches Bewusstsein, sonst wird sich keine eigenständige Position herausbilden.“

Sie redet langsam, mit Bedacht, allerdings sind ihre Ausführungen repetitiv. Wäre das eine Vorlesung und ihr Seminar direkt nach der Mittagspause, der Raum wäre voller schnarchender Menschen, die vergeblich gegen das Suppenkoma angekämpft haben. Ihre Theorien gehen an mir vorbei, aber dieses glänzende, dunkle Lila hat was, zumindest ist es auffällig. Ob es schön ist, weiß ich nicht. Jedenfalls sieht es nicht so billig aus, wie die grell geschminkten Lippen auf den Plakaten, die für Kosmetikläden mit ausschließlich fremdsprachkundigem Personal werben. Wenn sie spricht, und ich wüsste jetzt wirklich mal gerne, seit wann sie spricht und wieso so viele der Anwesenden keine Ermüdungserscheinungen zeigen, sehen ihre Lippen aus wie ein lila Miniatur-Schlauchboot, das bei sanftem Wellengang über das Meer gleitet. An Gedanken wie diesem merke ich die Wirkung eines längeren Aufenthalts in hochtemperierten, gefühlt luftleeren Räumen voller Menschen, die trotz der überwiegend leeren Gläser in ihren Händen langsamer ermüden als ich.

Eine eigenständige Position zu haben, scheint im Kunstbetrieb das Nonplusultra zu sein, zumindest wenn man Künstler oder Galerist ist. Eine eigenständige Position zu haben bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Kunstwerke schön sein müssen. Das ist ein Missverständnis, welches ein flüchtiger Blick in den Ausstellungskatalog schnell aufgeklärt. Bei der Feststellung, dass jeder und jede, die sich erst schminken und schick anziehen müsse, bevor die eigenen künstlerischen Werke beachtet werden, hat sie schwer geseufzt. Die gesellschaftliche Benachteiligung von andersseienden Menschen hat sie an anderer Stelle bereits in ihre Rede einfließen lassen. Viele der anwesenden Frauen nickten zustimmend. Ransbehr quittiert die Aussage mit einem Grunzen und winkt etwas unwirsch einen der geduldig wartenden Kellner herbei. Mitten in der Ansprache ist das unhöflich, könnte aber als deutliches Zeichen der Ungeduld ausgelegt werden. Immerhin ist Ransbehr die Hauptperson des Abends.