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Ein alter heidnischer Brauch, ein brutaler Mord: Im beschaulichen Baiersdorf steht während des alljährlichen Winteraustreibens der Fasalecken plötzlich ein Winterbär in Flammen und stirbt. Beinahe zufällig und völlig unvorbereitet stolpern die Kleinstadtpolizisten Evita Emmerling und Ludger Dauer in die Ermittlungen. Anfangs noch unbeholfen, doch zunehmend engagiert, beginnen sie auf eigene Faust nachzuforschen und stoßen dabei auf ungeahnte Überraschungen.
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Seitenzahl: 342
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Birgit Ringlein
Wenn der Winter stirbt – Der Fasalecken-Mord
Kriminalroman
MORD BEIM FASALECKEN-UMZUG Im beschaulichen Baiersdorf am Rande der Fränkischen Schweiz vollzieht sich jedes Jahr das gleiche Ritual: Die Effeltricher Fasalecken jagen die Winterbären aus dem Ort. So soll die dunkle Jahreszeit vertrieben werden. Auch an diesem Faschingssonntag strömen zahlreiche Besucher in die kleine Stadt, um sich das bunte Treiben anzuschauen. Der Umzug beginnt, die Stimmung ist ausgelassen, als vor den Augen der Zuschauer plötzlich ein Winterbär in Flammen steht. Schnell ist klar, dass es kein Unfall, sondern kaltblütiger Mord war. Fast zufällig schlittern die Kleinstadtpolizisten Evita Emmerling und Ludger Dauer in die Ermittlungen von Kommissarin Nadia Drissi, die mit der Aufklärung dieses kniffligen Falls ihre Bewährungsprobe bei der Mordkommission Erlangen bestehen muss.
Die gebürtige Bayreutherin Birgit Ringlein absolvierte in den USA eine zweijährige Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und war anschließend in Nordafrika als Geschäftsführerin für ein tunesisches Unternehmen tätig. Im Jahr 2000 kehrte sie nach Bayreuth zurück. Drei Jahre lang war sie Vorstandsmitglied der Uni-Gourmets e. V. Bayreuth. Seit 2010 engagiert sie sich als Mitglied der »Genussregion Oberfranken«. Ihre Liebe zum fränkischen Dialekt, fränkischem Essen und der Fränkischen Schweiz beschreibt Birgit Ringlein in einer Reihe von Sachbüchern über die regionale Küche. Wenn sie nicht am PC sitzt, um historische Romane oder Krimis zu schreiben, steht sie am Herd und kocht Rezepte aus Großmamas Feder nach.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Dr. Rüdiger Hess, geo-selectfotoart.de
ISBN 978-3-8392-7942-7
Dieses Buch ist ein Roman und von der ersten bis zur letzten Seite ein Produkt meiner Fantasie. Er spielt zwar an real existierenden Schauplätzen wie den Städten Erlangen, Forchheim, Baiersdorf und der Ortschaft Effeltrich, aber ich habe mir die Freiheit genommen, diese so zu verändern, dass sie zum Verlauf meiner Geschichte passen. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser, die in diesen Orten leben, mir das nicht übelnehmen.
Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig. Weder die Einwohner der Stadt Baiersdorf noch die der Ortschaft Effeltrich sind mit den Figuren im Buch identisch.
Den Fasalecken-Umzug am Faschingssonntag gibt es wirklich. Er ist ein sehenswertes Spektakel mit einer mehr als 100-jährigen Tradition.
Gut ist der Reichtum,
wenn keine Schuld an ihm klebt
*Jesus Sirach*
6. Februar, zwölf Tage vor dem Fasalecken-Umzug
Am meisten nervt mich im Februar das Wetter. Nasskalte Novembertage stecke ich locker weg genau wie graue Dezembervormittage oder eisige Januarnächte. Aber Anfang Februar ist dann Schluss mit lustig, da warte ich nur noch aufs Frühjahr, starre jeden Morgen erwartungsvoll aus dem Fenster und hoffe, dass sich im mickrigen Hinterhofbeet die ersten Schneeglöckchen aus dem gefrorenen Erdreich schieben. Aber nix da, da kann ich lang schauen. Im Februar ist es in unserer Gegend noch saukalt, es herrscht tiefster Winter mit Schneestürmen, vereisten Straßen und schneidendem Nordwind, der durch menschenleere Straßen pfeift und leere Chipstüten, achtlos weggeworfene Bierdosen und anderen Müll vor sich hertreibt. Total trostlos, irgendwie.
So wie heute Morgen. Es ist 6.45 Uhr in der Früh, dicke, feuchte Flocken fallen vom Himmel, und ich stehe frierend am Fenster unseres Polizeipostens und klammere mich an meine dampfende Kaffeetasse, in der Hoffnung, draußen etwas, oder besser noch jemanden, zu entdecken, der meine Laune um ein paar Zentimeter heben könnte. Aber der Einzige, der in mein Blickfeld torkelt, ist der Wirtshausschläger Leo Poldner, das versoffene Überbleibsel der »Friedens- und Klimademo«, auf der gestern am frühen Abend ein paar traurige Gestalten Wind und Wetter getrotzt haben, um lautstark mit selbst gemalten Pappschildern herumzuwedeln, bis diese der Nässe wegen zu feuchten Haufen zusammengefallen sind. Wahrscheinlich wollten die paar Klimahansel nur checken, ob es sich lohnt, am Glühweinstand festzukleben. Keine Chance, weil der Wein nur ein billiger Fusel, lauwarm, zuckersüß und viel zu teuer war. Deswegen sind die Klimakteriker, wie ich sie für mich nenne, nach einer halben Stunde wieder heim vor die warme Ölheizung gekrochen, und mein Kollege und ich sind in unsere gut geheizte Amtsstube zurückgefahren. Nur Klimaaktivist Poldner hat in Gesellschaft einer mittlerweile fast leeren Wodkaflasche tapfer bis heute Morgen durchgehalten.
Jetzt umschlingt er mit einem Arm den Laternenpfahl, um ein paar Minuten zu verschnaufen und sich einen Schluck Schnaps in den Hals zu gießen. Dabei fällt sein Blick auf mich, weil meine Silhouette im diffusen Dämmerlicht von der Straße aus bestimmt gut sichtbar ist, wenn hinter mir die Schreibtischlampe brennt. Einen Moment lang glotzt er mich aus triefenden Säuferaugen an, dann dreht er sich um, zieht seine schmierige Jeans bis an die Knie hinunter und streckt mir seinen schlaffen weißen Altmännerarsch entgegen. »Mooning«nennen das die Amerikaner, wenn jemand auf diese Art seine Missachtung ausdrückt. Wenn der Tag schon mit solchen Einblicken beginnt, wie bitteschön soll er dann enden, frage ich mich. Eigentlich müsste ich jetzt hinausgehen und den Poldner wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen, aber dazu fehlt mir die Energie. Wenn ich ihn in unsere einzige Zelle sperre, kotzt er bestimmt alles voll. Und wer macht dann sauber? Richtig, POM Emmerling.
POM Emmerling, das bin nämlich ich, und ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, mich vorzustellen. Mein Name ist Evita Emmerling, Polizeiobermeisterin im Polizeiposten Baiersdorf am Rande der Fränkischen Schweiz. Evita Emmerling, das klingt so pseudo-exotisch wie Fatima Holzapfel, und ich weiß bis heute nicht, was sich meine Eltern bei dieser Namenskombination gedacht haben. Vielleicht waren sie bei der Namensfindung bekifft, keine Ahnung.
Als ich mit 28 geheiratet habe, hätte ich nur zu gern den Namen meines Göttergatten angenommen, aber Evita Muschelknauz klingt, wenn möglich, noch bescheuerter als Evita Emmerling. Deswegen habe ich meinen Mädchennamen behalten, sehr zum Ärger meines Mannes, den übrigens alle nur »Muschikauz« nennen. Mit einem solchen Namen kannst du dir doch nirgendwo Respekt verschaffen, vor allem nicht als Frau, vor allem nicht bei uns auf dem Land. Polizeiobermeisterin Muschikauz, also ehrlich. Aber das ist mittlerweile eh Schnee von gestern, weil ich seit zwei Jahren glücklich geschieden bin.
Ich, POM Emmerling, 42, mittelgroß, mittelschlank, mittelblond (drei blaue Sterne, 2. Qualifikationsebene), bekennende Singlefrau, leite seit vier Jahren unseren kleinen Polizeiposten. Mir zur Seite steht Polizeioberwachtmeister (POW) Ludger Dauer, 23 Jahre, athletisch, gut aussehend (ein blauer Stern, auch 2. Qualifikationsebene), seit der Grundschule in Olgas festen Händen. Unser gemischtes Doppel ist von 7 Uhr morgens bis abends 18.30 Uhr im Dienst, wobei wir uns auf eine Art Schichtdienst geeinigt haben, damit wir nicht nahezu zwölf Stunden am Stück im Einsatz sind. Ich bin zeitig in der Früh im Büro, weil ich den kürzeren Arbeitsweg habe, der Ludger kommt irgendwann nach 8 Uhr bei Wind und Wetter mit dem Mountainbike angeradelt. Dafür ist für mich um 5 Uhr nachmittags Schicht im Schacht, und der Ludger hält die Stellung bis Dienstschluss. In Notfällen bin ich aber auch spätabends noch für unsere Bürger ansprechbar, weil ich – ähnlich wie die selige Queen – über dem Shop in einer Dienstwohnung hause. Zwar nicht ganz so königlich wie sie, aber genauso ungern, weil man ständig mit Störungen jeder Art rechnen muss. Wie die Queen, die laut der Yellow Press lieber in Clarence House gewohnt hätte, würde ich auch ein anderes Domizil vorziehen. Der Polizeiposten ist in einem alten Backsteingebäude untergebracht, das viel Ähnlichkeit mit dem aus der Serie Mord mit Aussicht hat und zentrumsnah in der Forchheimer Straße liegt. Ich würde ja lieber am Rathausplatz in einem der malerischen Fachwerkhäuser aus dem vorigen Jahrhundert residieren, aber Job und Wohnung gehören in diesem Polizeiposten nun mal zusammen. Trotz allem ist meine Wohnung, bestehend aus zwei großen Räumen, einer Wohnküche und einem altmodischen Bad, ganz kuschelig, und mein Weg zur Arbeit erfreulich kurz.
Baiersdorf ist ein idyllisches Städtchen, das genau zwischen der Universitätsstadt Erlangen und der Königsstadt Forchheim liegt. Dort befindet sich auch die nächstgelegene Polizeistation mit mehreren Beamten, an die wir uns im Notfall wenden können. Notfall? Welcher Notfall denn, bitteschön? Unsere ermittlerischen Aufgaben beschränken sich fast ausschließlich auf Ladendiebstähle im Lebensmittelladen von Oma Ruprecht, Falschparken vor der Mittelschule oder Wildbieseln an der Friedhofsmauer. Manchmal werden wir auch gerufen, wenn es im oder vor dem Wirtshaus zu körpernahen Kontakten in Form einer Rauferei kommt, aber das erledigt sich meistens von allein, und wir fungieren dabei eher als Zuschauer. Meist hat der Poldner bei solchen Aktionen seine Fäuste im Spiel, wenn er nicht gerade bei Nachbarn Fenster einschlägt, Autoscheibenwischer herausreißt oder einen Vorgarten zertrampelt, weil er sich vom Eigentümer belästigt oder beleidigt fühlt. Das ganze Städtchen freut sich, wenn er wieder einmal für ein paar Monate in die JVA einfährt, denn dann herrscht in Baiersdorf ein geradezu paradiesischer Frieden.
Obwohl Baiersdorf seit dem Jahr 1353 Stadtrechte besitzt, ist es eigentlich eher ein großflächiges Dorf als eine echte Stadt. Baiersdorf ist bekannt für den besten und schärfsten Meerrettich Deutschlands. Früher gab es hier das weltweit einzige Meerrettich-Museum, aber das hat seit Kurzem geschlossen. Ansonsten hätten wir im kulturellen Bereich Ende September den Krenmarkt zu bieten oder Anfang Dezember den Adventsmarkt. Und seit 20 Jahren wird bei uns die Meerrettichkönigin gekrönt. Bei der Jugend heißt das Event nur das Miss Meerrettich Monitoring, abgekürzt MMM, dem vor allem die weiblichen Schönheiten aufgeregt entgegenfiebern. Ach ja, unser größtes Highlight, den Fasalecken-Umzug am Faschingssonntag, hätte ich um ein Haar vergessen, obwohl es in zwei Wochen wieder einmal soweit ist. Junge Effeltricher Burschen mit bunten Hüten treiben den Winter in Gestalt von Strohbären durch Baiersdorf, um ihn dort mit viel Geschrei und Tamtam zu verbrennen, ein Spektakel, das Besucher aus der ganzen Region in unser Städtchen lockt. Faschingssonntag ist wirklich jeder mit dabei, der sich auf den Beinen halten kann, vom Kleinkind bis zum Opa. Zu unserer Überraschung erschienen nach den verschiedenen Corona-Lockdowns so viele Besucher zu dem Event, dass wir im letzten Jahr Kollegen aus Forchheim anfordern mussten, die uns bei den Straßensperren und der Begleitung des Umzugs zur Hand gingen. Ein Menschenauflauf war das, so was kann sich keiner vorstellen. Weit mehr als 1000 Zuschauer strömten aus Erlangen, Bayreuth, Bamberg, Nürnberg und Ansbach ins beschauliche Baiersdorf, um beim Fasalecken-Treiben dabei zu sein. Nicht schlecht für ein kleines Städtchen, würde ich meinen.
Während ich den Poldner dabei beobachte, wie er mit erhobener Faust den vorbeifahrenden Autos Flüche hinterherbrüllt, wird die Tür aufgerissen, und ein eisiger Windstoß fegt den Ludger in die Amtsstube.
»Servus, Evita!«, grüßt er zu mir her, bevor er seinen Sportrucksack auf den Schreibtisch knallt. »Gibt’s da draußen wohl was Interessantes zu sehen?«
Ich schüttle den Kopf und lasse mich auf meinen Bürostuhl fallen, gespannt auf das nun folgende Schauspiel. Denn jetzt schält sich der Ludger aus seiner wetterfesten Luxus-Outdoor-Jacke. Darunter trägt er, wie jeden Tag, ein Franken-T-Shirt, heute mit dem Aufdruck: »Droll di, du Doldi«, was auf Deutsch so viel heißt wie: Hau ab, du Idiot. Der Ludger ist Franke mit Leib, Herz und Seele, der seine Gesinnung am liebsten auf allerlei merkwürdigen Bekleidungsstücken zur Schau stellt. Mir wurscht, solange er darüber seine Uniform trägt.
Er schlüpft rasch in sein Diensthemd, dann packt er seine Tasche aus, und das ist für mich jedes Mal wie Weihnachten. Wasserflasche, Thermoskanne, drei Tupperdosen, zwei Proteinriegel, zwei zuckerfreie Skyr und eine Bäckertüte. Die Olga sorgt gut für ihren Kerl, das muss man ihr lassen. Jeden Tag hat mein Kollege Proviant für mindestens drei bis vier Personen im Gepäck. Das trifft sich hervorragend, weil ich eher eine phlegmatische Hausfrau bin, die äußerst ungern zum Einkaufen geht und sich statt dessen lieber von fettigen Burgern, Döner, Weißbier und Cola als von Gemüsesticks und Quark ernährt. Der Ludger, oder eigentlich seine Olga, sorgt dafür, dass meine Ernährungsbalance einigermaßen im Gleichgewicht bleibt.
»Was hat dir deine Olga denn heute Schönes eingepackt?«, will ich wissen, beuge mich vor und starre heißhungrig auf die Leckerbissen, die auf dem gegenüberstehenden Schreibtisch ausgebreitet werden.
»Hm, schau mer mal«, murmelt mein Kollege, reißt die Papiertüte auf und öffnet eine Plastikdose nach der anderen. »Also, da hätten wir Schnittlauchfrischkäse, fettreduzierten Emmentaler und Gouda, vier Hackfleischküchle aus Bio-Rinderhack, ein paar Scheiben Roastbeef, 100 Gramm Putenschinken, dreierlei Gemüsesticks, Babykarotten, zwei Äpfel, Laugenstangen und Körnersemmeln. Außerdem stilles Wasser und entkoffeinierten Kaffee. Reicht das?«
»Kommt wohl noch wer zum Frühstück?« Das ist jeden Tag mein Standardtext angesichts der Köstlichkeiten, die sich auf Ludgers Schreibtisch türmen, während mir bei ihrem Anblick schon der Zahn tropft.
»Ja, meine Chefin, die Polizeiobermeisterin Emmerling, die offensichtlich keinen eigenen Kühlschrank besitzt und deshalb jeden Tag bei ihrem Kollegen Essen schnorrt«, antwortet der Kollege trocken, genau wie jeden Morgen. Dann zieht er die neueste Ausgabe von Men’s Health hervor und macht es sich am Schreibtisch bequem.
»Ich verstehe nicht, wie du bei den Unmengen Essen, die du ständig in dich hineinstopfst, so schlank bleibst«, murre ich und knabbere an einer Karotte, so als wollte ich mich heute beim Frühstück vornehm zurückhalten.
»Wenn du nicht so eine ausgemachte Bewegungslegasthenikerin wärst, sondern wie ich jeden Morgen zehn Kilometer laufen und regelmäßig trainieren würdest, könntest du so viel essen, wie du willst, und dir deine seltsamen Diätexperimente sparen. Ich hab noch nicht bemerkt, dass du auch nur ein Gramm abgenommen hast, eher das Gegenteil.«
Beleidigt leg ich das angebissene Hackfleischküchle zurück auf den Teller. Muss ich mir von dem Fitness-Schnösel wirklich sagen lassen, ich sei zu fett? Bei derart unsensiblen Kommentaren vergeht mir schlagartig der Appetit.
Mit knurrendem Magen beobachte ich, wie mein Kollege genüsslich ein belegtes Weckla nach dem anderen verdrückt, während ich genügsam an einem weißgrauen Schokoriegel knabbere, den ich ganz hinten in der Schreibtischschublade gefunden habe. Von wegen, ich würde mich nicht um meine Ernährung kümmern!
»Isst du das noch?« Bevor ich den Teller wegziehen kann, schnappt sich der Ludger mein angebissenes Hackfleischküchle und verschlingt es.
Verärgert räuspere ich mich. Der Ludger schluckt grinsend den letzten Bissen hinunter, dann will er wissen: »Also, Frau Kollegin, was liegt an?«
»Was soll schon anliegen? Same procedure as every day. Wir drehen unsere Runde wie jeden Tag. Aber danach sollten wir uns Gedanken machen, wie wir den Fasalecken-Umzug ordnungsgemäß absichern. Außerdem müssen wir die Forchheimer informieren, dass wir dabei auch in diesem Jahr ihre Unterstützung brauchen.«
Der Ludger wischt sich Mund und Hände an einer Serviette ab und schaut mich dabei fragend an.
»Na ja, wir zwei allein werden es wohl kaum schaffen, ein paar 1000 Zuschauer im Auge zu behalten«, meine ich, stehe auf und nehme meinen Parka mit der Aufschrift »Polizei«von der Wandgarderobe. Auch der Ludger macht sich zum Aufbruch bereit.
Ich befestige das Schild »Vorübergehend geschlossen« inklusive meiner Mobilfunknummer an der Tür. Die Baiersdorfer kennen das schon. Wenn wir unsere obligatorischen Runden im Ort drehen, sind wir nur telefonisch erreichbar.
Wie immer dauert es, bis der Schrotthaufen, der unserem Polizeiposten zur Verfügung steht, in die Gänge kommt. Bergab und mit Rückenwind erreicht er spielend eine Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern. Kritisch wird es erst, wenn es bergauf geht. Wahrscheinlich wären wir mit einem Tretroller schneller, aber das macht halt nicht so viel her, wenn die Polizei mit einem Kinderfahrzeug vorfährt. Außerdem, wo sollten wir denn am Tretroller das Blaulicht befestigen?
Im Schneckentempo schaukeln wir die Forchheimer Straße entlang in die Jahnstraße, biegen rechts ab in die Bürgermeister-Fischer-Straße, der wir bis zur Einmündung in die Erlanger Straße folgen. Nach ein paar Metern fahren wir Richtung Möhrendorf und dann entlang des Main-Donau-Kanals bis nach Kleinseebach. Dort nehmen wir die ERH5, die uns an der Kreuzung Linsengrabenstraße/Schmalzgasse zurück nach Baiersdorf bringt. Es ist kaum Verkehr, nur ab und zu kommt uns ein Fahrzeug entgegen. Die Kids sind in der Schule, die Eltern am Arbeitsplatz. Die Rentner räumen die Supermarktregale leer. Apropos Supermarkt, da fällt mir etwas ein.
»Fahr noch am Edeka-Markt und am Rewe vorbei«, bitte ich den Ludger, der schon Richtung Schreibtisch abbiegen will, weil die Supermarktparkplätze die bevorzugten Ecken der Schulschwänzer sind, um dort ihren geklauten Schnaps zu konsumieren. Und richtig, auf dem Rewe-Parkplatz stehen der Straßer und sein Kumpel Thümmler, beide mit einer Kippe im Mundwinkel und einer Flasche, die zwischen ihnen kreist. Die beiden sind Radaubrüder und anerkannte Schulverweigerer mit gestörtem Sozialverhalten, denen kein Schulsozialarbeiter oder schulpsychologische Beratung helfen kann. Ich weiß nicht, wie oft wir die zwei schon an der Mittelschule abgeliefert haben. Genützt hat es nichts, weil wir sie nach ein paar Tagen wieder vor einem Supermarkt oder dem Alten Rathaus aufgegriffen haben. Heute ist es wieder einmal so weit.
Der Ludger wendet und fährt so dicht an die zwei Schwachköpfe heran, dass sie gezwungen sind zurückzuspringen, wenn sie keinen Wert auf platt gefahrene Entenfüße legen. Ich kurble das Fenster herunter und lehne mich hinaus.
»Na, Männer, habt ihr eine Freistunde?«, frage ich zuckersüß.
»Schau mal, Lenny«, grinst der Straßer und bläst mir den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht. »Die Bulette und ihr HiWi. Was die wohl von uns wollen?«
Inzwischen steigt der Ludger aus, schlendert zu den Kerlen hinüber, baut sich vor ihnen auf und schaut aus einem Meter 86 verächtlich auf sie hinunter.
»Das kann ich dir sagen, du Zwerg!«, brüllt er dem Straßer ins Gesicht, dass dem vor Schreck die Kippe von der Unterlippe rutscht. »Einsteigen, aber zackig!«
Widerstandslos lassen sich die zwei auf die Rückbank schubsen. Ich hab natürlich längst die Flasche unter dem Thümmler seinem Hoodie bemerkt. Sobald der Ludger wieder hinter dem Lenkrad sitzt, drehe ich mich zu den beiden Helden um und erkläre ihnen langsam, deutlich und zum Mitschreiben:
»Also, ihr habt jetzt die Wahl. Entweder bringen wir euch in die Schule, wo ihr bleibt, bis der Unterricht beendet ist, und euch fleißig mit Geografie, Deutsch und Geschichte beschäftigt, oder wir liefern euch nacheinander bei euren Erziehungsberechtigten ab. Mit dir, Thümmler, fangen wir an«, verspreche ich und schenke den beiden mein freundlichstes Haifischlächeln.
Vor lauter Schreck lässt der Bengel einen Rülpser fahren, schweigt aber ansonsten zu meinem Vorschlag. Im Wagen herrscht gespannte Stille. Ich warte.
»In Ordnung, Freunde der gepflegten Unterhaltung«, entscheide ich nach etwa einer Minute. »Dann mal los, Ludger. Du kennst ja den Weg zur Edelbrennerei Thümmler.«
Noch während mein Kollege den Wagen startet, höre ich von hinten eine kleinlaute Stimme:
»Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Frau Emmerling, oder?«
»Siehst du mich lachen, Lenny?«, knurre ich.
»Bitte nicht heim zu mir. Mein Vater schlägt mich tot, wenn er erfährt, dass ich schon wieder nicht in der Schule war, vor allem, weil wir heute doch Mathe schreiben.«
In Zeitlupe wende ich mich um, greife ihm unter sein Hoodie und ziehe die Flasche hervor.
»Und was meinst du, wie dein Alter erst ausrastet, Lennart, wenn ich ihm eine Flasche seines teuersten Gins unter die Nase halte? Weiß er, dass du seine besten Schnäpse aus dem Lager klaust? Ganz sicher nicht. Er wird ganz schön ausrasten, schätze ich, wenn er das erfährt.«
Der Kerl wird kreidebleich, während er zu einem Häufchen Elend zusammensackt, und ich kann mir denken, warum. Vater Thümmler ist einer der ganz alten Schule, der seinen Nachwuchs nach dem Motto erzieht: erst schlagen, dann fragen. Der rammt den Lenny ungespitzt in den Boden, wenn ich ihm vom Schnapsdiebstahl und der anschließenden Freizeitgestaltung seines Sprösslings erzähle. Ich glaube, da ist ein Tag in der Schule die schmerzlosere Alternative. Auch der Straßer Nico nickt ganz verzagt. Seine Eltern betreiben eine Wollfabrikation und haben wenig Zeit, sich um ihren renitenten Filius zu kümmern. Sein Vater schlägt zwar nicht, hat aber schon beim letzten Schulverweis gedroht, seinen Nachwuchs in einem renommierten Internat einzuquartieren, wenn der weiterhin Mist baut. Das Ende der Fahnenstange könnte durchaus heute erreicht sein. Dann bye-bye Baiersdorf und dolce far niente mit den feierfreudigen Kumpels.
Während der Ludger im Auto wartet, begleite ich die beiden Übeltäter ins Sekretariat. Hinter dem Schreibtisch thront Schulsekretärin Mechthild Kress, die in der Mittelschule seit der Kreidezeit das Zepter schwingt und wahrscheinlich schon dem T-Rex das Fürchten gelehrt hat. Sie kennt sich aus und hat bereits alles gesehen und erlebt; nichts kann sie mehr erschüttern.
»Die Herrschaften haben darauf bestanden, Herrn Rektor Nöther persönlich einen guten Morgen zu wünschen und ihm zu versichern, wie gern sie heute die Mathearbeit mitschreiben würden.«
Wortlos weist sie auf die geöffnete Tür ins Rektorat. Ich schiebe die beiden Delinquenten vor mir her, warte, bis sie sich gesetzt haben, und schließe dann mit Nachdruck die Tür hinter mir.
»Geh ruhig, Evita, du brauchst nicht zu warten. Mit den Knaben da drin werd ich schon allein fertig«, schnarrt Frau Kress. »Oder haben die beiden etwas angestellt, das du Herrn Nöther persönlich mitteilen willst?«
»Nein, keine besonderen Vorkommnisse, alles wie immer. Tschüs, Frau Kress!« Ich tippe an den Schirm meiner Mütze und verabschiede mich. Die Schulsekretärin und ich sind alte Bekannte, seit ich vor mehr als 27 Jahren an der Mittelschule mein Unwesen getrieben habe. Sie kann sich wahrscheinlich noch an die zahlreichen Verweise erinnern, die ich mir während meiner Schulzeit wegen diverser Vergehen eingefangen habe.
Auf dem dunklen Gang Richtung Treppe beginnt mein Handy zu vibrieren. Als ich abnehme, teilt mir Frau Ruprecht aus dem Tante-Emma-Laden aufgeregt mit, dass Opa Schmidt in ihrem Geschäft wieder einmal auf Raubzug ist. Ich beschleunige meine Schritte, eile die Stufen hinunter und springe in den Streifenwagen.
»Ins Geschäft von Frau Ruprecht«, ordne ich an, und Ludger gibt Gas.
Vor dem Laden angekommen, kann ich schon beim Aussteigen durchs Schaufenster die skurrile Szene beobachten, die sich im Laden abspielt. Frau Ruprecht versucht, Opa Schmidt ein Paket zu entreißen, das dieser krampfhaft mit beiden Händen umklammert. Die beiden zerren daran wie Terrier, die sich um eine tote Ratte streiten.
»Schönen guten Morgen!«, rufe ich ins Getümmel. Opa Schmidt ist für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Die Ladenbesitzerin nutzt den Vorteil, reißt das Paket mit einem schrillen Kampfschrei an sich und schwenkt es über dem Kopf.
»Gut, dass du endlich kommst, Evita!«, keucht sie atemlos. Kleine Speicheltröpfchen landen auf meiner Wange. »Der alte Depp wollte mich schon wieder beklauen. Als wenn ich das nicht merken tät’. Ich hab meine Augen überall!«
Das kann ich nur bestätigen; schriftlich, wenn’s sein muss.
Frau Ruprecht ist eine erprobte Kampfamazone; sie bewacht ihre Waren mit Krallen und Zähnen. Mit der ist nicht gut Kirschen essen. Auch mich hat sie als Kind einmal beim Klauen von Brausepulver mit Waldmeistergeschmack erwischt. An die Tracht Prügel von meinem Vater, die mir der Spaß eingebracht hat, erinnere ich mich noch heute. Ich war nämlich in meiner Kindheit und Jugend beileibe kein braves Engelchen, sondern eher das, was die Franken einen richtigen »Fregger«nennen, also ein aufgewecktes, lebhaftes Kind mit vielseitigen Interessen.
»Was ist denn genau passiert?«, will ich wissen.
»Der da, der elende Lump, wollte mich schon wieder ausrauben«, echauffiert sich Frau Ruprecht, noch außer Atem vom Ringwettbewerb mit Opa Schmidt. Kochend vor Wut hält sie mir das heiß umkämpfte Teil unter die Nase. Aha, Damenbinden, die aus dem Sonderangebot für 1,69 Euro.
»Was wollen Sie mit den Damenbinden, Herr Schmidt?«, frage ich und muss mir das Lachen verkneifen.
Opa Schmidt schweigt und schaut sich nach einem Fluchtweg um.
»Er wollte auch Geschirrspülertabs stehlen, aber die habe ich ihm schon weggenommen. Da, schau nur!« Frau Ruprecht zeigt auf ein weiteres Paket, das auf dem Fußboden liegt.
»Herr Schmidt, wozu brauchen Sie denn Geschirrspülertabs?«, frage ich geduldig. »Sie haben doch gar keinen Geschirrspüler.«
Verwirrt lenkt der alte Mann seinen Blick auf mich. Er lebt im Seniorenheim Sankt Johann und leidet an Demenz. Trotzdem gelingt es ihm immer wieder auszubüxen und sich im Ruprechtschen Laden mit irgendwelchem unsinnigen Zeug einzudecken. Sobald ein Anruf kommt, sorgen der Ludger und ich dafür, dass er abgeholt wird und unbeschadet wieder im Seniorenheim landet.
»Kommen Sie, Herr Schmidt, wir bringen Sie heim. Gleich gibt es Mittagessen, da wollen Sie sicher nicht zu spät kommen.«
Ich nehme seinen Arm, drehe mich um und frage der Form halber:
»Auf eine Anzeige verzichten Sie doch sicher, nicht wahr, Frau Ruprecht?«
Wenn ich jedes Mal, wenn Opa Schmidt »einkaufen« geht, eine Anzeige aufnehmen würde, käme ich zu nichts anderem mehr.
Die Ladenbesitzerin zischt etwas Unverständliches, lässt uns aber ohne nennenswerten Widerstand ziehen.
Sanft verfrachte ich den alten Herrn ins Auto, dann nimmt Ludger Kurs auf das Seniorenheim Sankt Johann. Opa Schmidt freut sich derweil über den Ausflug im Polizeiauto. Davon hat er wahrscheinlich schon als kleiner Bub geträumt.
Als wir vor dem gepflegten gelben Gebäude ankommen, das von Bäumen umgeben zwischen ausgedehnten Rasenflächen steht, fällt mir eine schmale Gestalt im beigefarbenen Schlupfkasack der Pflegekräfte auf, die sich frierend in eine Mauernische drückt. Dicke Rauchwolken steigen aus ihrem Mund in die kalte Luft. Der Ludger erkennt sie sofort.
»Da schau, die Fiona Hohenstein!«, informiert er mich mit leuchtenden Augen. Fiona Hohenstein, wer ist das? Schon der Name klingt irgendwie hochherrschaftlich.
»Muss ich die kennen?«, frage ich ein wenig irritiert, weil der Ludger, außer bei seiner Olga, sonst nicht so euphorisch auf weibliche Wesen reagiert.
»Ja, freilich!«, ereifert er sich. »Die Fiona ist doch unsere amtierende Meerrettichkönigin, erinnerst du dich nicht? Das ist mit Abstand die schönste Miss Meerrettich, die wir je hatten!«
Er beugt sich über das Lenkrad, um das Objekt der Begierde näher zu betrachten. Wenn das seine Olga wüsste! Da gäb es in Zukunft keine feinen Delikatessen mehr in der Brotzeitbox. Sehr wahrscheinlich gäbe es gar keine Brotzeitbox mehr für den Ludger.
»Unsere Meerrettichkönigin? Deine vielleicht, meine bestimmt nicht!«, erkläre ich.
Fürsorglich helfe ich Opa Schmidt beim Aussteigen. Sobald Frau Königin bemerkt, dass wir einen Bewohner des Heims an Bord haben, löst sie sich von der Mauer und tänzelt auf uns zu, ganz so, als wäre sie auf dem Catwalk.
»Ja, Herr Schmidt, wo waren Sie denn? Wir haben Sie schon vermisst!«, zwitschert sie beim Anblick des Ausreißers.
Die Sprecherin ist tatsächlich ausnehmend hübsch, da muss ich meinem Kollegen Recht geben. Ihre silberblonde Mähne ist zu einem lockeren Bun hochgesteckt; Kinderlöckchen ringeln sich verspielt zu beiden Seiten ihres Gesichts. Ihr Make-up ist so raffiniert, dass es ganz natürlich wirkt und kaum auffällt. Am vorletzten Finger der linken Hand funkelt ein Riesenklunker, so groß, dass er nur unecht sein kann. Ihre Hände sind gepflegt, ihre Gelnägel in unauffälligem Rosé lackiert. Selbst in dem hässlichen beigefarbenen Sack sieht sie umwerfend gut aus. Die Baiersdorf-Barbie, Made by Mattel.
»Es wäre nett, wenn Sie uns in Zukunft sofort Bescheid geben würden, wenn einer Ihrer Schützlinge abgängig ist«, fahre ich das Wunderweib erbost an.
Ein Engelslächeln, unschuldig und süß, huscht über ihr Gesicht, erreicht aber nicht ihre eisblauen Augen.
»Entschuldigen Sie vielmals, Frau Kommissarin, aber das hatte ich ja vor. Ich wollte nur noch schnell eine Zigarette rauchen, danach hätte ich Sie sofort benachrichtigt.« Die Meerrettichkönigin zeigt sich einsichtig, und das auf äußerst attraktive Weise.
Ich muss an mich halten, um ihr keine patzige Antwort um die Ohren zu hauen. Klar, Rauchen geht natürlich vor, dafür habe ich doch allergrößtes Verständnis, liegt mir auf der Zunge. Wie nachlässig kann man als Pflegekraft eigentlich sein, frage ich mich. Und was nützt ein hübsches Köpfchen, wenn es innen hohl ist?
Jetzt ist auch der Ludger ausgestiegen und kommt näher. Er grinst so selig wie sonst nur beim Anblick eines medium gebratenen Filetsteaks.
»Servus, Fiona, alles gut bei dir? Lang nimmer gesehen!«, stottert er mit hochrotem Kopf.
»Ja, danke, äh … alles super!« Sie schenkt ihm ein hinreißendes Lächeln, aber ich bin sicher, dass sie weder weiß, wer der Ludger ist, noch woher er sie kennt. »Aber wir müssen jetzt reingehen, sonst verkühlt sich der liebe Herr Schmidt noch. Danke, Herr Kommissar, dass Sie ihn hergebracht haben.«
Sie schlingt ihren Arm um den alten Herrn und schiebt ihn zum Eingang.
»Hallo, Erde an Ludger!« Ich wedle mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Bist du ansprechbar?«
»Kein Wunder, dass sie die Fiona zur Meerrettichkönigin gewählt haben, so rattenscharf, wie die aussieht.« Mit verklärtem Blick starrt er ihr hinterher, während sie davontrippelt.
»Lass das bloß nicht deine Olga hören!«, warne ich ihn. »Sonst ernährst du dich in Zukunft nur noch von Big Mac, TK-Pizza und Cola, weil es dann Essig ist mit abendlichen Drei-Gänge-Menüs und prall gefüllten Brotzeitboxen.« Die Olga ist nämlich eine ganz Toughe, die duldet kein Herumscharwenzeln um eine Miss Meerrettichoder andere weibliche Lichtgestalten. Sie ist gelernte Köchin, energisch und zupackend, die sowohl ihr Leben als auch ihren Ludger fest im Griff hat. Ob mein Kollege überhaupt ahnt, was für ein Glück er mit einer Superfrau wie der Olga hat?
Er wackelt mit dem Kopf, als müsste er die platinblonde Traumfrau herausschütteln. Leider klappt es nicht.
»Weißt du, die Fiona kommt aus ganz schwierigen Familienverhältnissen«, berichtet er. »Der Vater ist ein arbeitsscheuer Faulenzer, und ihre Mutter hat sich früher im Rotlichtmilieu herumgetrieben. Ihre zwei jüngeren Geschwister sind im Heim untergebracht, weil es in der Familie drunter und drüber geht. Aber die Fiona ist ehrgeizig, sie hat einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung. Und vor Kurzem wurde sie zur Meerrettichkönigin gewählt. Sogar der Playboy soll wegen eines Fotoshootings bei ihr angeklopft haben. Ein Mädchen aus Baiersdorf als Playmate auf dem Cover, das musst du dir mal vorstellen! So viel Power hat nicht eine jede«, schwärmt er mit verklärtem Blick.
»Das hört sich tatsächlich nach einer Bilderbuchkarriere an«, spotte ich. »Meerrettichkönigin und Playmate, was kann eine Frau im Leben mehr erreichen?«
Er wirft mir einen ärgerlichen Seitenblick zu, dreht sich um und geht zum Streifenwagen zurück.
»Wohin jetzt?«, raunzt er, sobald wir wieder im Wagen sitzen.
»Zurück ins Büro, schlage ich vor. Wir sind lange genug unterwegs. Ich muss noch in Forchheim anrufen, um Verstärkung für den Fasalecken-Umzug anzufordern. Komm schon, es wird langsam Zeit!«
Unterwegs halten wir noch kurz beim Italiener. Brav bestellt der Ludger einen Salat mit Essig-Öl-Dressing, ich dagegen eine Pizza mit allem und zusätzlich doppeltem Käse. Wer es sich leisten kann, gell? Dafür gibt es in meinem Haushalt auch keinen Partner, der meine Nahrungsaufnahme mit Argusaugen überwacht. Für mich kein Problem, man kann halt nicht alles haben.
Nach dem Mittagessen und einem original italienischen Espresso doppio, den unser stylischer Kaffeeautomat ausspuckt, reinigt der Ludger den Innenraum des Streifenwagens, während ich bei der Polizeistation Forchheim anrufe und mich mit Dienststellenleiter Polizeihauptmeister Edgar Kuhn verbinden lasse. Den Kollegen Kuhn kenne ich seit Beginn meiner Polizeikarriere vor 23 Jahren. Damals saß er an meinem Schreibtisch und ich, der Frischling, an dem von Ludger. Was ich über praktische Polizeiarbeit weiß, habe ich von Edgar Kuhn gelernt. Schon oft habe ich mich gefragt, wie jemand, der so gutmütig und friedfertig ist wie er, ausgerechnet bei der Polizei gelandet ist. Aber er kann natürlich auch anders, zum Beispiel, wenn Familie, Freunde oder Kollegen betroffen sind. In solchen Fällen mutiert Kuhn zum wilden Tier und wird der Verteidiger von Recht und Ordnung, weil es um die Sicherheit seiner Schutzbefohlenen geht. Ein Polizist, der sich immer noch als Schutzmann versteht.
Der PHM (mit Amtszulage) Edgar Kuhn hätte es in Erlangen oder Bamberg mühelos zum Polizeioberkommissar bringen können, aber er ist durch und durch heimatverbunden und wollte eigentlich nie weg aus seiner Geburtsstadt Baiersdorf. Für ihn bedeutet Forchheim schon die große weite Welt. Außerdem ist er keiner, der vor den Vorgesetzten buckelt. In Forchheim ist er unangefochten der Boss, der bestimmt, wo es langgeht.
»Ja, die Evita!«, freut er sich, als er meine Stimme hört. Sein jovialer Ton und der unverkennbar fränkische Dialekt sind noch die gleichen wie zu unserer gemeinsamen Dienstzeit. »Du rufst bestimmt wegen den Fasalecken an, hab ich recht?«
»Grüß Gott, Herr Kuhn, genau, Sie haben es erraten«, bestätige ich. Er kennt mich einfach viel zu gut.
»Also, mehr als sechs Leut’ kann ich leider ned entbehren. Reicht dir das?«, fragt er.
Ich zähle zusammen.
»Sechs sind zu wenig«, entscheide ich. »Dann wären wir mit dem Ludger und mir ja nur acht Beamte, die mehr als 1000 Besucher im Auge behalten sollen. Wie soll das gehen? Ich glaube, wir brauchen insgesamt mindestens zwölf Leute. Was meinen Sie?«, will ich wissen, weil er die größere Erfahrung hat.
»Weißt was? Ich frag’ bei den Erlanger Kollegen nach, ob sie ein paar Leute für einen Tag entbehren können. Na, was sagst dazu? Bist du damit zufrieden, Mädchen?« Er lacht, und ich kann es beinahe durchs Telefon sehen, wie sein Bauch dabei wackelt. Wahrscheinlich bin ich immer noch sein »Mädchen«, wenn ich kurz vor der Pensionierung stehe.
Nachdem wir noch ein wenig über dies und das geplaudert haben, lege ich auf. Den restlichen Nachmittag beschäftige ich mich mit Papierkram, während der Ludger mit dem Streifenwagen durch die Waschanlage fährt.
»Sauwetter, elendiges! Eigentlich war das Autowaschen für die Katz’«, schimpft er und klopft sich den Schnee von den Schultern, als er kurz vor 16 Uhr ins Büro kommt. »Es schneit wie blöd, und die Straßen sind spiegelglatt.«
»Da trifft es sich ja gut, dass ich heute nicht mehr aus dem Haus muss«, lache ich zufrieden. Schnell hefte ich noch drei Berichte ab, räume meinen Schreibtisch leer und verabschiede mich in den Feierabend. Wenn der Nachmittag so ruhig ist wie heute, kann ich es mir erlauben, ein wenig früher zu gehen. Außerdem bin ich ja immer in Ruf- und Reichweite. Nach einem letzten »Servus, bis morgen« steige hinauf in meine Wohnung.
In weiser Voraussicht habe ich heute Früh schon Holz und Briketts in meinen Kaminofen geschlichtet. Jetzt brauche ich nur ein Streichholz dranzuhalten, und in kurzer Zeit verbreitet sich wohlige Wärme in Küche und Wohnzimmer, die durch eine Schiebetür getrennt sind. Das Apfelbaumholz, von dem mein Vater mir eine Fuhre gebracht hat, verströmt einen angenehm feinen Geruch, der mich an meine Kindheit im Fachwerkhaus meiner Großeltern erinnert. Mein Großvater war Kunstschreiner, der mir ein paar seiner schönsten Möbelstücke vererbt hat. Ein Vertiko mit Aufsatz aus Tulpenbaumholz, einen Kleiderschrank mit Intarsienarbeit, einen Schreibtisch mit Löwenfüßen und einige Kleinmöbel. Als ich die Fotos davon vor Jahren einem Antiquitätenhändler aus Hamburg gezeigt habe, war der Feuer und Flamme und wollte mir auf der Stelle mein ganzes Mobiliar abkaufen. Aber ich kann mich von keinem Stück trennen, das mein Großvater eigenhändig geschreinert hat.
Mein Abendessen fällt spartanisch aus, denn ich habe es wieder einmal versäumt einzukaufen. Frisch geduscht und duftend schlüpfe ich in Jogginghose und Schlafhemd. Gerade schenke ich mir ein Glas Primitivo ein und will es mir mit einem Krimi von Agatha Christie auf dem Sofa bequem machen, als der melodische Dreiklang meiner Funkklingel ertönt. Eine Sekunde lang überlege ich, ob ich mich tot stellen und einfach nicht reagieren soll. Doch dann siegt das Pflichtgefühl, ich stehe auf und drücke auf den automatischen Türöffner. Im Hausflur höre ich eilige Schritte, die sich rasch nähern. Dann ruft auf der Treppe eine Stimme:
»Frau Emmerling, sind Sie zu Hause?«
»Nein, der Butler hat die Tür geöffnet«, würde ich am liebsten antworten, aber da steht sie schon vor mir. Carmela Schwankel, in voller Höhe und Breite, wie immer krebsrot im Gesicht, wie immer hysterisch nach Luft schnappend.
»Frau Emmerling, mein Nacho ist verschwunden. Ich habe nur ganz kurz die Haustür aufgelassen, weil ich den Müll entsorgt habe, und zack, schon hat er die Gelegenheit genutzt, sich aus dem Staub zu machen, dieser böse, böse Junge. Sie MÜSSEN mir helfen, ihn zu finden, er ist doch völlig hilflos, so allein da draußen in der Kälte!«
Theatralisch schluchzt sie in ihr Papiertaschentuch, obwohl ihre Augen völlig trocken sind. So eine scheinheilige Kuh! Wer glaubt, bei Nacho handle es sich um den Ehemann oder gar den Latin Lover meiner Nachbarin, der ist falsch gewickelt. Nacho ist ihr Kater, der jede Chance zur Flucht nutzt, wofür ich das größte Verständnis habe. Auch ich würde am liebsten flüchten, aber Frau Schwankel versperrt mir den Weg.
»Hören Sie, Ihr Nacho kennt den Weg nach Hause, der findet bestimmt …«, versuche ich, das drohende Unheil abzuwenden, doch sofort fällt sie mir ins Wort:
»Nein, nein, Sie müssen mitkommen und mir beim Suchen helfen. Der arme Kleine erfriert sonst da draußen. Haben Sie denn gar kein Herz? Wollen Sie ein armes unschuldiges Katzenleben auf Ihr Gewissen laden?«
Das war eine rhetorische Frage, nehme ich an, deshalb mache ich mir nicht die Mühe zu antworten.
»Warten Sie bitte unten, ich ziehe mir etwas Wärmeres an, dann komme ich zu Ihnen, und wir suchen Ihren Kater.« Was soll ich sonst machen? Keiner hat behauptet, dass Polizeiarbeit immer Spaß macht. Also, Augen auf bei der Berufswahl!
Ciao, Primitivo, Kaminfeuer, Krimi und Sofa. Die Pflicht, beziehungsweise die Schwankelnde Carmela, ruft!
Es schneit, als wolle Petrus für ein weißes Weihnachtswunder den Oscar gewinnen. Zu spät, mein Lieber, du hast dich um fast zwei Monate in der Zeit geirrt!, denke ich grimmig. Für mich bräuchte er sich die Mühe eh nicht machen, ich wäre mit 20 Grad und einem lauen Frühlingslüftchen durchaus zufrieden.
Im Streifenwagen fahre ich trotz Eiseskälte mit geöffnetem Beifahrerfenster im Schritttempo durch eisglatte, menschenleere Straßen. Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür, geschweige denn eine Polizistin.
»Miez miez miez!«, schreit die Katzenmutter neben mir in einer Lautstärke, dass mein Trommelfell bebt und, »Nacholein, Mausebär, komm zu Mama!«
Nach einer halben Stunde entdecken wir den Ausreißer, der auf einem Baum am Straßenrand hockt und seine Pfoten leckt. Frau Schwankel stürzt aus dem Auto, stellt sich unter den Baum und gibt schrille Balzlaute von sich, die das Tier in ihre Arme locken sollen. Der Kater zeigt sich höchst desinteressiert. Nach einer Weile fühle ich mich genötigt, meinen trockenen Sitzplatz im Auto zu verlassen. Mittlerweile schneit es stärker denn je, und meine Füße erstarren innerhalb weniger Minuten zu Eis.
»Jetzt unternehmen Sie doch endlich etwas!«, keift mich die Katzenmutter an. »Sie sehen doch, dass Nacho sich nicht herunter traut. Helfen Sie ihm gefälligst!«
»Und an welche Hilfestellung hätten Sie da gedacht?«, keife ich nicht weniger aggressiv zurück. »Soll ich ein Trampolin aufstellen und darauf zu ihm hochhüpfen?«
Nachdem wir ein paar Minuten in gereiztem Ton hin und her diskutiert haben, rufe ich meinen Kumpel Thomas von der Freiwilligen Feuerwehr an und bitte ihn, mit einer Leiter vorbeizukommen. Er fragt nicht lang, sondern sagt sofort zu. Es dauert 15 Minuten, dann fährt sein Pick-up vor, am Steuer Thomas, neben ihm sein Sohn Julian. Auf die zwei kann ich mich halt immer verlassen. Ruckzuck lehnt die Leiter am Baum, Julian klettert hinauf und schnappt sich Nacho, der keinen nennenswerten Widerstand leistet. Die ganze Aktion dauert nicht länger als 10 Minuten, dann ist der Kater in Sicherheit und Frauchen beruhigt. Nachdem ich mich bei den Rettern bedankt und sie für die nächsten Tage auf ein Bier in unserer Stammkneipe eingeladen habe, schwingen sich alle in ihre Fahrzeuge. Jetzt nichts wie ab nach Hause.
Vor dem Polizeiposten lasse ich den Wagen ausrollen. Wortlos springt die Nachbarin mitsamt Kater aus dem Auto und schmettert die Tür hinter sich zu. Kein Abschiedsgruß, erst recht kein Dankeschön, nicht ein Wort der Anerkennung. Erbost schau ich ihr hinterher.
Immer wieder gern, Schwankel, du grindige Spinatwachtel, würde ich ihr am liebsten nachrufen. Es war mir wie immer ein Vergnügen, dir zu helfen. Ach, egal, endlich ist das Weibsbild weg, und ich habe meine Ruhe, das ist die Hauptsache.
Es ist kurz vor 22 Uhr, als ich meine Wohnung betrete. Zum Glück sind alle Räume herrlich warm. So ein Kaminofen ist wirklich Gold wert! Weintrinken und Lesen sind heute Abend allerdings gestrichen, weil ich todmüde ins Bett falle und meine Eisbeine auf einer Wärmflasche parke.
13. Februar, sechs Tage vor dem Fasalecken-Umzug
Als in aller Herrgottsfrühe mein Handy schrillt, brauche ich einen Moment, um in der Realität anzukommen. Wo habe ich das verdammte Ding gestern Abend hingelegt? Auf der Suche danach taumle ich orientierungslos von Zimmer zu Zimmer. Im Flur werde ich fündig und melde mich. Meine Stimme klingt verschlafen und rau.
»Na, Mädchen, sitzt du schon am Schreibtisch?«
Mein Blick fällt auf die Standuhr im Wohnzimmer. Der Spaßvogel! Es ist 6.10 Uhr. Draußen herrscht stockfinstere Nacht, der Wind treibt weiße Flocken ans Fenster.
»Nein, Herr Kuhn, gerade nicht, weil …«, versuche ich zu erklären.
»Horch amol«, unterbricht er mich. »Ich komme heute Vormittag um 11 Uhr nach Baiersdorf, dann laufen wir gemeinsam den Weg vom Umzug ab, damit ich mir ein Bild machen kann. Danach gehen wir mittagessen. Was sagst du dazu?«
Sie kennen doch seit Ihrer Kindheit jeden Meter Weg! Welches Bild genau wollen Sie sich denn machen?, würde ich ihn am liebsten fragen. Laut jedoch sage ich:
»Oh, das ist schön. Ich freue mich auf Ihren Besuch.« Er hat mich völlig überrumpelt.
»Dann bis nachher, Evi!« Herr Kuhn legt auf.
Nichts hasse ich so sehr, als schon in aller Früh aus dem Konzept gebracht zu werden. Wenn ich aus dem Bett geklingelt und mit Überraschungen konfrontiert werde. Ich neige keineswegs zur Spontanität. Mir ist sehr an einem gleichförmigen Tagesablauf gelegen, der sich möglichst wenig ändert. Aus diesem Grund schiebe ich Dienst in Baiersdorf und nicht in Nürnberg. Ich mag weder Großstädte noch Überraschungen. In Baiersdorf gibt es zum Glück keine, und falls doch, dann nur ganz kleine. Aber gut, wenn er es wünscht, werde ich mit PHM Kuhn den Weg ablaufen, den wir beide seit der Kindheit kennen, und Ludger fährt die morgendliche Streife eben allein. Was soll denn schon passieren?