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Der Sommer, der mir gehörte.
Sechs Wochen, aber gleichzeitig ein halbes Leben, das vor ihr lag. Mit zäh fließenden Honigtagen am See und Radfahrten über Waldbodenteppiche aus Tannennadeln. Mit kühlen Wasserspritzern auf geschlossenen Lidern, Pommes Rot-Weiß, kurz bevor das Schwimmbad schloss, statt dem geplanten Abendbrot drinnen am Tisch, tiefblauem Himmel über dürren Fichten und senfgelben Feldern.
Es ist das erste Mal seit sechs Jahren, dass die alleinerziehende Musiklehrerin Lisa einen Sommer ohne ihren Sohn vor sich hat. Doch die lang ersehnte Freiheit bringt auch Zweifel mit sich. Da ist die Sehnsucht nach ihrem Kind und die Frage, was für eine Frau sie eigentlich ist, wenn sie mal keine Mutter ist. Auf der Suche nach einem Restaurator für ihre alte vernachlässigte Geige begegnet sie der Obstbäuerin Ute in ihrem Kirschgarten, einer Frau, die keine Zeit mehr für Kompromisse hat. Bald wird Lisa klar, dass die Frage nach ihr selbst eng mit all dem verknüpft ist, worüber in ihrer Familie stets geschwiegen wurde. Und sie erfährt die unwiderstehliche Magie eines Sommers zwischen den Abgründen der Vergangenheit und einer neuen flirrenden Freiheit.
Ein schwebend schöner, tiefgründiger Roman von Bestsellerautorin Anne Stern.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum ersten Mal verbringt die alleinerziehende Lisa einen Sommer ohne ihren sechsjährigen Sohn Paul. Endlos lang sind die Tage auf einmal, und sie hadert mit der neuen Freiheit. Was für eine Frau ist sie, wenn sie nicht Mutter ist? Dann findet Lisa die alte Geige ihres Großvaters wieder, auf der sie vor langer Zeit gespielt hat. Aber das Instrument, das ihr einst so viel bedeutete, ist in schlechtem Zustand – fast so, wie Lisa selbst sich fühlt, wenn sie ihren Körper im Sommerlicht sieht. In der Werkstatt des Geigenbauers begegnet Lisa der älteren Obstbäuerin Ute. Sie ist an einem Punkt im Leben, an dem man keine Zugeständnisse mehr macht. Inmitten der üppigen Pracht ihres Kirschgartens kommen sich die beiden verschiedenen Frauen näher. Bald merkt Lisa, dass die Frage nach der Frau, die in ihr steckt, mit der zu lange verschwiegenen Geschichte ihrer Familie verbunden ist. Und mit den ungeahnten Möglichkeiten eines Sommers.
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Anne Stern
Wenn die Tage länger werden
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Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33 — Zwei Monate später
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Impressum
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In der Luft hing der Duft nach Sommerferien, er mischte sich mit den schwebenden Staubkörnern im Licht. Beide Fensterflügel waren weit geöffnet, von draußen zogen junge Stimmen und Vogelgezwitscher herein. Auf der Fensterbank lag die Julisonne in Streifen, sie ließ die schlaffen, an den Rändern vertrockneten Blätter des Drachenbaums im bunt bemalten Keramiktopf aufleuchten.
Happy Birthday, Frau Fischer, stand in ungelenken Buchstaben darauf, und alle Schüler der Klasse 8c hatten daneben ihren farbigen Daumenabdruck hinterlassen.
Der Topf sah aus wie eine Verbrecherkartei, fand Lisa. Und die grüngrau gestrichenen Wände des Klassenzimmers im Altbau des Gymnasiums passten zur trostlosen Atmosphäre einer Anstalt.
Sie schloss einen Moment die Augen, spürte die Wärme im Raum auf ihrem Gesicht. Der Duft nach Sommer wurde stärker. Das uralte Glücksgefühl schlich heran, wie jedes Jahr, wenn die Ferien begannen. Früher, als Kind, war dieses Glück makellos gewesen, oder doch fast, denn auch schon damals hatte in der Aussicht auf derart viele freie Wochen eine Ahnung von Bodenlosigkeit und fehlendem Halt gelegen. Und heute? Es war wie ein Echo des kindlichen Gefühls, wenn auch nicht ganz dasselbe. Das unerhörte Versprechen, dass die Fesseln bald gelockert würden. Diese letzten Augenblicke im Schulgebäude, wenn draußen schon die Freiheit wartete, genauso wie der Südföhn, der vor den hohen Fenstern ungeduldig durch die Baumwipfel fuhr.
In ihrer Sehnsucht nach den Sommerferien waren sich Schülerinnen und Lehrerinnen einig. Einmal im Jahr wenigstens waren sie vereint. Sechs Wochen, aber gleichzeitig ein halbes Leben, das vor ihnen lag. Eine endlose Reihe unbeschriebener weißer Blätter, die es zu füllen galt. Und zwar nicht mit öden Klausurtexten oder Klassenarbeiten. Sondern mit zäh fließenden Honigtagen am See und Radfahrten über Waldbodenteppiche aus Tannennadeln. Mit kühlen Wasserspritzern auf geschlossenen Lidern, Pommes Rot-Weiß, kurz bevor das Schwimmbad schloss, statt des geplanten Abendbrots drinnen am Tisch, tiefblauem Himmel über dürren Fichten und senfgelben Feldern. Und unendlichen Abenddämmerungen, die Lisa am liebsten auf ihrem Balkon mit einem Glas Weißwein in der Hand verplemperte, während Paul drinnen schlief. Dann konnte sie sich kurz fühlen wie eine Frau in einem alten französischen Film, mit dem Weinglas, das sich kühl an ihre Fingerspitzen schmiegte, dem herben Geschmack des Chardonnay auf der Zunge und der Illusion von Unabhängigkeit und dunklen Lastern. Sie war an solchen langen hellen Sommerabenden eine andere Frau, und auch ihr Blick über die Balkonbrüstung auf die Welt war nicht mehr derselbe. Diese Welt, die sich vor ihr in zartvioletten und rosigen Tönen ausbreitete, trieb Lisa nicht vor sich her wie sonst, sie lag ihr zu Füßen. Und nur manchmal horchte sie sorgenvoll ins Zimmer hinter sich, ob Paul vielleicht aufgewacht war und nach ihr rief.
Doch dieses Jahr war alles anders.
»Frau Fischer?«
Lisa riss die Augen auf, schüttelte die warme Schläfrigkeit ab, der sie sich kurz hingegeben hatte, und sah die Frau an, die ihr gegenüber am zerkratzten Tisch saß. Sie hatte die gleichen grünlichen Augen wie Maximilian, und auch der Ausdruck darin erinnerte Lisa sofort an den großen, fordernden Jungen. Dieselbe säuerliche Arroganz, mit der auch er sie meistens bedachte, dieselben Stirnfalten. Bei ihm zart wie Spinnweben, bei seiner Mutter tiefe Furchen. Dazu kamen in ihrem Gesicht herabgezogene Mundwinkel, so dass die sorgfältig bemalten Lippen feine Risse zeigten.
»Verzeihung«, sagte Lisa und riss sich zusammen. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, wie es war, tagsüber nicht müde zu sein. Ihr Wecker klingelte um sechs, aber meistens weckte Paul sie schon vorher, und der Tag begann. Der Tag mit all seinen Anforderungen kam einfach so über sie, nahm sie wie ein Greifvogel in seine Krallen, schleppte sie mit sich fort. Das Beste war, sich sofort zu ergeben. Zwischen dem Augenblick, da Paul im Morgengrauen in ihr Zimmer tappte, und dem, da er abends um halb neun mit geöffneten Fäusten dieses ruhige Atemgeräusch machte, nach dem Lisa sich oft beinahe schmerzhaft sehnte, gab es keinen Moment Ruhe. Und sobald er schlief, war Zeit für all die Dinge, die so viel Gewicht hatten und doch unsichtbar blieben. Für die Monotonie der Hausarbeit, die Jonglierbälle des Alltags, die Lisa mit aller Kraft in der Luft hielt, selbst wenn sie sich dafür verrenken musste und taumelte – doch Fallenlassen war keine Option, das durfte eine Mutter nicht. Sie presste diesen wenigen Stunden ohne Pauls Präsenz alles ab, um nichts von der Möglichkeit von Freiheit, die sie bargen, zu vergeuden, Abend für Abend – ehe am nächsten Morgen alles von vorn begann. Lisas Tage waren wie eine zu kurze Decke – zog man an einem Ende, hatte man auf der anderen Seite zu wenig Stoff übrig. Genug gab es nie, und das lag verdammt noch mal nicht an ihr, sondern an der Decke. Etwas anderes ließ sie sich nicht mehr einreden.
Diese letzten sechs Jahre waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie fühlte sich oft älter als achtunddreißig. Wieder sah sie zu der armseligen Pflanze hinüber, deren Blätter erschöpft auf die Fensterbank hingen. Happy Birthday, Frau Fischer.
»Also?«, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen. »Was wollten Sie wissen?«
»Wann Sie endlich zu den klassischen Streichinstrumenten kommen«, sagte die Frau, die unbedingt noch ein Elterngespräch am letzten Schultag gewollt hatte, und zog eine Augenbraue hoch. Sie hatte eine Angewohnheit, die vielen goldenen Ringe an ihrer linken Hand mit der rechten an den schlanken Fingern hoch und runter zu schieben, die Lisa wahnsinnig machte.
»Max sagt, Sie hängen im Unterricht schon seit Ewigkeiten bei einem Thema fest. Hip Hop, ja?« Jetzt kräuselten sich ihre Lippen angewidert. »Als müsste man das den Kindern in der Schule beibringen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Hören die Kids das nicht schon zu viel in ihrer Freizeit?«
Ihre Miene wurde beinahe mitleidig, fand Lisa, und sie setzte sich aufrechter hin, eine Angewohnheit, die sie aus Gesprächen mit ihrer Mutter wiedererkannte. Wenn man Barbaras Mischung aus Mitleid und Missfallen auch nur annähernd etwas entgegensetzen wollte, musste man dies mit durchgedrücktem Rückgrat tun, das stand fest. Barbaras Erbe an Lisa war ein ewig steifer Nacken, gegen den kein Wärmepflaster half, kein Rotlicht und nur selten Schmerzmittel.
»Es ist für die Jugendlichen interessant, sich die Geschichte der Hip-Hop-Musik unter kulturellen Gesichtspunkten anzusehen«, sagte Lisa und räusperte sich, »aber natürlich stimme ich Ihnen zu, dass auch die klassische Musik ihren Schwerpunkt im Unterricht haben sollte.«
Sie hörte selbst, wie defensiv ihre Stimme klang, wie klein sie sich machte vor dieser Mutter, die da in ihrem Designerrock mit perfekt trainierten, übereinandergeschlagenen Beinen ihr gegenüber auf dem unbequemen Schülerstuhl thronte. Die Absätze an ihren Schuhen so hoch, wie Lisa sie niemals tragen könnte, weil sie mit ihren zwei linken Füßen darin keinen Schritt weit käme. Außerdem gab es in ihrer Schuhgröße kaum Auswahl in den Geschäften, und sie hatte sich damit abgefunden, bis ans Lebensende Birkenstock-Sandalen zu tragen. Der Kontrast war unübersehbar. Wie eine plumpe Riesin fühlte sie sich neben der zurechtgemachten Mutter von Max, deren Beine während des bevorstehenden Sommerurlaubs wohl auch in einem knappen Badeanzug perfekt aussehen würden. Während Lisa ihre nackten Schenkel seit Jahren nicht gern ansah und beim Baden immer schnell in den See rannte, damit die weiße Haut mit den Dellen rasch vom Wasser verborgen wurde. Ihr eigener Körper war ihr in den Monaten und Jahren nach Pauls Geburt fremd geworden, wie ein entfernter Bekannter, gegen den man eigentlich nichts hatte und der doch in Momenten unabsichtlicher Nähe eine plötzliche Scheu auslöste. Und wenn sie sich vorstellte, wie der Blick anderer auf ihren Körper ausfiel, entglitt ihr das Gefühl für sich selbst vollends. Was sahen die anderen, wenn Lisa vorbeiging? Fühlten sie sich etwa abgestoßen von ihren schweren Oberschenkeln, dem weichen Bauch? Oder war es ihnen einfach egal, wie Lisas Körper aussah? Gar nicht mehr wahrgenommen zu werden, war aber vielleicht noch schlimmer, als nicht schön zu sein. Es katapultierte Lisa und ihren unperfekten Körper in ein namenloses Land.
He, mehr Body Positivity, hörte sie ihre beste Freundin Nina fordern, oder wenigstens Neutrality – unsere Körper sind stark, sie tragen uns durchs Leben, lass uns gut zu ihnen sein!
Im Geiste zuckte Lisa mit den Achseln. Solche Mutmachsprüche waren toll, wenn sie beide eine Flasche Grauburgunder geleert hatten und sich unbesiegbar fühlten, aber sie halfen Lisa jetzt nicht gegen diese schwindelerregenden Jimmy Choos unter der mit Penissen bekritzelten Tischplatte. Dieser offenbar reichen, offenbar unzufriedenen Mutter fühlte sie sich trotzdem unterlegen.
»Keine Sorge, die Streichinstrumente sind als Nächstes dran«, sagte sie, »zuerst die Geigen.« Und wie auf Knopfdruck sah sie das Bild vor sich – sie mit der Geige am Kinn, auf einer Bühne. Kolophoniumstaub, der störrische Stimmwirbel an der hohen Saite, der Kinnhalter, der ihr in den Hals drückte, die schwitzenden Hände. Unzählige Augen im Zuschauersaal unter ihr, auf sie gerichtet. Die erwartungsvoll hochgezogenen Brauen ihrer Geigenlehrerin, die zusammengepressten Lippen ihrer Mutter daneben, in deren Miene Lisas Scheitern schon vorweggenommen wurde, und die auf einmal viel zu wagemutigen Notenläufe, deren schwarze Köpfchen auf dem cremefarbenen Papier flimmerten. Das Bild schien gefährlich zu schwanken, der Bühnenrand wurde zum Abgrund. Lisa kniff die Augen zusammen, schüttelte es ab. Ihre Freundin Nina, fiel ihr ein, machte gerade wieder Diät.
»Was Ihre Notengebung angeht«, fuhr Maximilians Mutter fort, »da hätte ich auch noch eine Frage.« Sie hüstelte. »Mein Mann hat nachgerechnet, er ist Mathematiker«, sie warf Lisa einen Blick zu, um sicherzugehen, dass sie die Bedeutung dieser Eröffnung begriff. »Wir sind ziemlich sicher, dass Sie sich vertan haben. Sie müssen eine Stelle nach dem Komma falsch gerundet haben.« Sie zog ein Notizheft mit schwarzem Ledereinband hervor, schlug es da auf, wo ein dunkelrotes Bändchen steckte, und tippte mit ihrem französisch manikürten Finger auf ein paar Zahlen. Lisa krallte unwillkürlich ihre eigenen, abgebissenen Nägel zu Fäusten und versteckte sie unter der Tischplatte. Ihr war heiß. Bestimmt hatte die Frau recht – im Rechnen war Lisa wirklich eine Niete. Schon immer gewesen. Zahlen waren eine Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte. Sie konnte sich kein Datum merken, verwechselte Geburtstage, ließ sich im Geschäft beim Wechselgeld übers Ohr hauen, weil sich ihre Gehirnwindungen sofort, sobald sie auch nur versuchte, im Kopf nachzurechnen, in einen dichten Nebel hüllten. Sich verknoteten, zu hoffnungslosen Gewebeklumpen ohne Funktion verklebten. Dann begann ihr Herz zu rasen, sie schwitzte, und schließlich gab sie auf. Jedes Mal.
Diese ärgerliche Angst vor der Logik der Zahlen hätte ihr damals beinahe das Abitur versaut. Nur mit einer Nachprüfung war sie noch knapp durchgekommen. »Sie sollten sich zu Hause in Ruhe mit Ihrem Vater hinsetzen und sich die Gleichungen noch einmal erklären lassen«, hatte ihr der Mathematiklehrer, Herr Strauss, mit ernster Miene geraten, und Lisa hatte nicht gewagt, ihm zu sagen, wie nutzlos sein Rat war. Ihr Vater war im Sommer zuvor zu einer Bergwanderung in der Schweiz aufgebrochen und nie zurückgekehrt. Ein herrlicher Tag in den Bergen, der Himmel klar, so unwirklich blau wie auf einem Gemälde, davor die Kuppe des Piz Bernina mit einem Hauch Schnee auf der Spitze. Lisa wusste es noch genau, erinnerte sich an diesen gleißenden Sommertag, den Frieden, der in der frischen Luft hing, das geradezu ohrenbetäubende Vogelgezwitscher, den besonders schönen Sonnenuntergang an diesem Abend, an dem ihr Vater Klaus nicht zur Hütte zurückkam. Und das Grauen, das wie eine schwarze, undurchdringliche Wand vor ihr gestanden hatte, als klar wurde, dass etwas Unumkehrbares geschehen sein musste. Es hatte sich wie ein gefräßiger Schatten vor die hellen Farben geschoben, war Lisa auf die Haut, dann darunter gekrochen und hatte die Wärme des Tages in eine Kälte verwandelt, die lange Zeit nicht mehr verschwinden sollte.
Man hatte Lisas Vater nicht gefunden, bis heute nicht. Er war abgestürzt, wo genau, ließ sich nicht mehr sagen. Die Bergretter hatten am Ende vor Lisa und Barbara gestanden und nur mit den Schultern gezuckt. Ein falscher Schritt und … das passiere leider manchmal. Nichts zu machen. Unser Beileid, Frau Fischer.
In den folgenden Tagen, ja Wochen war die ihr bislang vertraute Welt zu einem fremden, feindlichen Ort geworden. Lisas Mutter war versteinert, und Lisas Leben glich einem tiefen Loch, aus dem sie Morgen für Morgen mühsam herauskletterte, nur um abends, wenn sie allein im Bett lag und mit Widerwillen, ja fast Panik Barbaras trockenen Schluchzern nebenan lauschte, wieder hineinzufallen. Nichts war ihr je so absurd vorgekommen wie die Beerdigung des leeren Sargs.
Also hätte sie damals im Abi mit ihren Matheproblemen zu ihrer Mutter gehen müssen. Doch dies wäre in ein Desaster gemündet, in gegenseitiges Zerfleischen, und so hatte Lisa Zuflucht zu einem kleinen Betrug nehmen müssen, der das Schmuggeln der Prüfungsaufgaben zur Toilette und Nina einschloss, die anders als Lisa ein Ass in Mathematik war und ihr den Hals rettete. Wieder mal.
Doch bis heute träumte Lisa, dass sie erneut zur Matheprüfung vor die Prüfungskommission treten musste. Dass sie durchfiel und ohne Abiturzeugnis die Schule verließ. Eine achtunddreißigjährige Schulabbrecherin, die keine Wahrscheinlichkeitsrechnung konnte.
Die Zahlen im Notizbüchlein von Maximilians Mutter tanzten vor ihren Augen, und sie nickte hastig.
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte sie, griff nach ihrem Notenheft mit dem Eselsohr und schlug es auf. Sie suchte nach Maximilian. Da war er, ganz unten, Maximilian von Wust. »Dann hätte er also im Zeugnis keine Zwei Plus, sondern eine Eins Minus«, murmelte sie und kritzelte die neue Zensur hin. »Ich drucke es noch mal neu aus, Sie bekommen es nach den Ferien.« Sie merkte, dass sie zu schnell klein beigab, doch noch nie hatte sie diesen lächerlichen schwarzen Ziffern, die angeblich das Leistungsvermögen ihrer Schüler abbilden sollten, viel Bedeutung abgewinnen können. Noten waren Lisa im Grunde gleichgültig, und sie verteilte sie resigniert, möglichst gerecht, aber ohne Leidenschaft. Das System Schule brauchte ein solches Ritual, und sie, Lisa, war Vollstreckerin dieser Notwendigkeit. Warum sich also ausgerechnet in diesem Fall querstellen, anstatt um des Friedens willen nachzugeben? Maximilian war ein musikalisches Kind, das konnte niemand bezweifeln.
Dass sie ihn außerdem für einen aufstrebenden Soziopathen hielt, hatte in ihrer Notengebung des Musikunterrichts schließlich nichts zu suchen.
Maximilians Mutter ordnete weiter manisch ihre Goldringe an der Linken und nickte befriedigt. Sie schlug ihr Notizbuch mit einem Knall zu.
»Nicht, dass es versetzungsrelevant wäre«, sagte sie gedehnt, »unser Maxi hat ja überall gute Zensuren. Aber es muss alles seine Richtigkeit haben, Frau Fischer, denken Sie nicht?«
Als sie endlich weg war, atmete Lisa auf, doch das teure Parfüm von Frau von Wust, zurückgelassen wie ein letzter schmallippiger Gruß, hing ihr noch unangenehm in der Nase. Sie trat ans Fenster, hielt das Gesicht in die Sonne wie eine Blume, die aufblühen wollte.
Das Gymnasium lag in einem Randviertel von Freiburg, man sah über den Schulhof, der von mehreren großen Kastanienbäumen beschattet wurde, direkt auf grüne Wiesen. Bläulich erhoben sich die Hänge hinter dem weiten Feld, Fichten und Kiefern schnitten dunkle Formen in den Azur. Die Luft war würzig und klar, trotz der Hitze, die über der Stadt lagerte, und ein schwacher Duft nach Fichtennadeln wehte durchs Sonnenlicht zu Lisa. Dass er von klebrigem Gestank aus rosa Deozerstäubern gestört wurde, der vom Schulhof heraufzog, ignorierte sie. Es war der Dunst, der in der Schule nie wich – billige Drogerieprodukte verschmolzen mit dem ewig präsenten Schweiß, dazu der Geruch von Füßen in zu lange getragenen Turnschuhen und süßlichem Kaugummi.
Gleich würde sie all dem entkommen. Den nachmittagsschweren Zensurenkonferenzen, den immer defekten Kopiergeräten, die, wenn sie dann doch einmal funktionierten, eine Flut Arbeitsblätter ausspuckten, deren Sinnhaftigkeit Lisa schon beim Lochen abhandengekommen war. Einer unfähigen Schulbehörde, die jeden Rest von Bildungsideal kaputtsparte. Den nächtelangen Korrekturen, die sie dumpf und wütend zugleich machten, weil nichts von dem, was sie anstrich, für die Schüler Lernzuwachs bringen würde. Und nicht zuletzt dem Lärm, den dreiunddreißig Schüler machten, wenn alle gleichzeitig in Blockflöten bliesen. All das würde in einer sanften Woge der Stille versinken, wenn sie gleich aus der Schule trat, sich die Staubwolke der davongaloppierenden Heranwachsenden gesenkt hatte und die Sommerferien ihre wundersame Heilkraft entfalteten.
Sie musste heute dringend Wäsche machen, damit Paul genug Wechselhosen nach Polen mitnehmen konnte, fiel ihr ein, und etwas Scharfes stach ihr in den Magen. Doch sie ignorierte es und schob den Gedanken schnell weg.
Darin war sie schließlich Profi.
Plötzlich ungeduldig, als käme es auf einmal auf Schnelligkeit an, raffte sie ihre Sachen zusammen. Steckte die Hefte in ihren Rucksack, mit dem sie, wie sie wusste, zumindest von hinten und besonders in Kombination mit ihrem blonden Pferdeschwanz immer noch für eine Schülerin und nicht für eine Studienrätin des Gymnasiums gehalten wurde. Lange schon überlegte sie, ihre Haare abzuschneiden, doch sie hatte nicht einmal genug Zeit, einen Termin bei der Friseurin zu machen.
Sie warf einen letzten Blick über die Schulter in den Klassenraum, plötzlich mit einem Anflug von Wehmut. Warum war es immer schwer, zu gehen, selbst wenn man da, von wo man fortging, nicht gern bleiben wollte? Hatte Brecht das geschrieben oder Thomas Brasch? Das würde Lisas Mutter sicher ganz genau wissen wollen, für die immer Ordnung herrschen musste. Dieser Raum war geronnene Melancholie – fingerdicker Staub auf dem Schrank, bekritzelte Tische, eine vergessene Turnhose, die zusammengeknüllt in der Ecke neben dem Papierkorb lag. Eine verwaiste Stille lag über dem Raum, als sei eine Herde junger Gnus hindurchgezogen und weitergaloppiert, unbeirrt dem Horizont entgegen. Lisa ging zu der Hose, bückte sich, hob den dünnen Acrylstoff mit zwei Fingern an und hängte das Teil an einen verwaisten Plastikhaken neben der Tür. Immer musste sie für Ordnung sorgen, immer alles zurechtmachen, es war wie ein Zwang. Das heruntergefahrene Smartboard blinkte ein letztes Mal schwach zum Abschied.
Im Flur herrschte Stille, sie war fast greifbar. Lisa ging Richtung Ausgang, dann über den Schulhof bis zur Straße wo ihr alter Toyota hoffentlich noch immer stand. Sie hatte ihn dort im Halteverbot abgestellt, denn sie war heute Morgen wieder spät dran gewesen.
Bevor sie die Tür erreichte, musste sie Gudrun Schwarz und Leonie Wisslinger passieren. Mathe und Physik die eine, die wie immer beige Funktionsklamotten trug, dazu die Lesebrille an einer neonfarbenen Kordel. Kunst die andere, in knöchellangem Batikkleid. Unter dem Arm hielten beide Kisten voller beschriebenem Papier und Krimskrams, Fächerausräumen stand an. Oft machte man ganz hinten seltsame Funde, die verlorene Klausur, ein halbvoller verschimmelter Kaffeebecher, die verzweifelt gesuchte Krankschreibung, die man dann doch nicht eingelöst hatte, weil Prüfungen anstanden.
»Schöne Ferien, ihr zwei.«
»Dir auch, Lisa. Fährst du mit Paul weg?«
Da war es wieder, das Scharfe, das ihr in den Leib stach. Sie lachte unsicher, hob die Schultern. Der Nacken schmerzte.
»Nein, dieses Jahr nicht.«
»Ach?«, Gudrun schob sich die rotgerandete Brille hoch, mit der sie aussah, als habe sie eine chronische Augenentzündung, »warum nicht? Nichts mehr bekommen? Alles ausgebucht?«
Lisa schüttelte den Kopf.
»Paul fährt diesen Sommer mit Janusz in den Urlaub.«
»Ach«, sagte auch Leonie, diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung. »Na, dann hast du endlich mal Zeit für dich, Lisa, gell?«
Da war es. Das Mitleid, das alle im Blick hatten, wenn sie den Namen ihres Exfreundes nannte. Nicht mal verheiratet gewesen waren sie, es hatte nicht mehr dafür gereicht. Für fast nichts hatte es gereicht. Nur ein Kind, dieser eine Sohn, dann war es schon wieder vorbei gewesen mit ihr und Janusz. Kein Zuhause, keine Bleibe, keine Hingabe. Nur ein paar Jahre voller Erinnerungen und Gefühle, glücklich taumelnde zuerst, ernüchterte dann, schließlich schale, teilweise dunkle, einige von Zorn erfüllte.
Dazwischen vereinzelte Bilder, merkwürdige Ausschnitte wie viele der Handyfotos, die Lisa machte. Janusz mit zu langen Ponysträhnen, die unter seine großen Brillengläser fielen. Janusz mit diesen besonderen Linien, die von den Mundwinkeln zum Kinn führten und die sie besonders geliebt hatte. Seine dunklen Augen, die erst mit sanftem Interesse auf ihr geruht, dann immer öfter an ihr vorbei in eine andere Welt gesehen hatten. Seine Welt – die Uni, die Seminare, die Texte, an denen er arbeitete, mit dieser ungeheuren Konzentration, die sie nicht nachvollziehen konnte. Sie selbst war nie Teil dieser Welt gewesen, hatte genau wie zum Universum der Zahlen keinen Schlüssel dazu gehabt. Janusz hätte ihr vielleicht einen geben können, doch er hatte es nicht getan. Oder hätte sie ihn sich nehmen müssen?
Lisa rappelte sich auf. Wie lange stand sie schon hier bei den beiden Kolleginnen, sprachlos?
»Also, macht’s gut«, sagte sie zu ihnen und nahm erst Gudrun, dann Leonie kurz in den Arm. Sie mochte die Kolleginnen, sie waren Teil ihres Lebens und manchmal die einzigen Menschen außer Paul und ihren Schülern, mit denen Lisa den ganzen Tag über sprach. Doch nah waren sie sich nicht, und kaum fingen die Sommerferien an, trieben sie auch schon auseinander. Niemals hätte Lisa eine von ihnen angerufen, wenn sie sich einsam fühlte, sie hätte zu viel Angst gehabt, zu stören oder nichts beitragen zu können. Noch nie hatte sie andere Menschen um etwas bitten können, jede Bitte lag ihr schwer wie Blei im Mund und wurde schließlich hinuntergeschluckt, ohne dass Lisa sie aussprach. Auch Lisas Mutter hatte niemals jemanden um etwas gebeten. Das haben wir nicht nötig – wie oft hatte Lisa diese Worte von Barbara gehört? Dieser Stolz – oder war es Angst? – war längst Teil von ihr. Also hatte sie auch niemanden nötig. Nicht Janusz, der sie schließlich nicht mehr wollte, nicht ihre Mutter und genauso wenig Gudrun und Leonie, die in den folgenden sechs Wochen aus Lisas Gedanken verschwunden sein würden, bis man sich am ersten Schultag wieder lächelnd begrüßte und nach den Ferien erkundigte. Viele kleine Welten überall, schwimmende Inseln, getrennt durch die Scheu, auf andere zuzugehen, und Unwissen voneinander. Lisa musste jetzt los, in ihre einsamen Ferien, und Leonie und Gudrun, auf die niemand dringend wartete, tranken noch einen Kaffee im türkischen Kiosk nebenan.
Abgeholt, selber schuld!, ging es Lisa durch den Kopf. Das riefen die Kinder im Kindergarten, wenn eines schon früher abgeholt wurde und dadurch das Beste verpassen würde. Oder war es der Neid der Übriggebliebenen, weil sie noch in der Spätbetreuung bleiben mussten, bis ihre Eltern auch sie abholen kamen? Lisa aber spürte bei diesem Ruf stets einen seltsamen Widerwillen, der gar nicht so viel mit Paul zu tun hatte. Die Worte trafen sie selbst, sie schienen ihr eine Frage zu stellen. Woran war Lisa schuld? Oh, diese Liste war lang, und kein anderer als sie selbst hatte sie geschrieben und in ihrem Bewusstsein abgeheftet. Sie war schuld an Janusz’ Flucht, weil sie ihm nach Pauls Geburt nicht mehr ihre ungeteilte Liebe und Hingabe geschenkt hatte. Sie war schuld an ihrer dürftigen Karriere, weil sie nicht fleißig und – wieder – hingebungsvoll genug gewesen war, um mehr zu erreichen. Um das zu erreichen, was nach Meinung anderer ihr Ziel gewesen wäre und nach dem sie mit aller Kraft hätte streben müssen, um ihre Talente nicht zu vergeuden. Und sie war schuld daran, dass Paul am Nachmittag oft genug eines der letzten Kinder im Kindergarten war, dem nur die Zuflucht zu dem hämischen Kindersatz blieb, damit er seine eigene Sehnsucht nicht zeigen musste.
Lisa machte sich auf den Weg nach draußen. Dort wartete schließlich ihre Welt auf sie, trotz allem.
Manchmal wusste sie gar nicht, was ihre Welt war. In der sie zu Hause war, in der sie das tat, was sie liebte. In der sie aufgehen konnte wie Janusz damals in seinen Studien, seiner Habilitation über Robert Musil. Sie selbst konnte Musil nicht ausstehen, es interessierte sie nicht, was dieser tote Mann aus Wien zu sagen hatte. Doch von Anfang an musste sie Janusz mit Robert teilen, der Autor war seine Welt, seine Leidenschaft, und immer mehr war ihm die Leidenschaft für Lisa verloren gegangen. Spätestens, seit es Paul gab, ihren gemeinsamen Sohn, der sie eigentlich hätte verbinden sollen, sie aber nur trennte. Sein kleiner, weicher Körper hatte den Rest Verbindung zwischen denen von Janusz und Lisa aufgelöst. Oder war die schon vorher zerfallen, zwischen sprachlosen Mahlzeiten und zerlesenen Büchern, getrennten Nächten und belanglosen Wortgefechten über Nichtigkeiten? Janusz zog sich in seine Welt zurück, wo Robert auf ihn wartete, und nahm Lisa nicht mit.
Ihre, Lisas, Welt war zunehmend unbehaust, unverbunden mit anderen, einsam und überraschenderweise ohne rechten Inhalt. Alles, was sie tat, schien sich auf ihr Kind zu beziehen oder auf ihre Liebe zu Janusz, die freilich immer dünner wurde, ohne dass Lisa das zugeben konnte. Sie ertappte sich dabei, dass sie hoffte, die Tage würden schnell vorbeigehen, während sie gleichzeitig Angst davor hatte, am Ende ohne etwas in der Hand dazustehen. Die Stunden reihten sich aneinander, und alle Tätigkeiten, die sie verrichtete, glichen einander und waren am Abend nicht mehr als ein Klumpen aus Belanglosigkeit und Pflicht. Dieses Gefühl, alles nur zu erledigen, doch für nichts wirklich zu brennen, hatte sich in ihr Leben geschlichen, sie wusste nicht mehr, seit wann. War es schon gekommen, als ihr Vater verunglückte? Als sie bemerkte, dass ihr die Wünsche, die Musik abhandenkamen, die vagen Pläne für ihre Zukunft immer unwirklicher wurden? Oder erst, als die Sache mit Janusz so astrein den Bach runterging? War das wirklich so einfach, eine unglückliche Liebe, ein übrig gebliebenes Kind, und alle Sicherheit, die sie einmal verspürt hatte, war zerschellt? Oder war es vielmehr so, dass sie niemals Sicherheit gekannt hatte, nur einfach jünger gewesen war, mit weniger zu verlieren, und heute unter der dünnen Haut verletzlicher?
Was war ihre Welt? Eine Zeit lang hatte sie geglaubt, es sei die Musik. Doch das war nicht mehr als ein kindischer Traum gewesen, kitschig und ohne Aussichten. Noch immer träumte sie davon, hörte sich selbst im Traum zu, wenn sie spielte, lauschte nervös auf den Applaus nach dem Schlussakkord. Doch immer war danach nur Stille. Bis sie aufwachte.
Paul war es. Er war alles für sie, er füllte sie aus, aber er saugte sie auch leer. Lisa hatte keine Ahnung, wer oder was sie ohne ihr Kind noch war. Die Grenzen zwischen ihren beiden Körpern waren verschwommen seit dem Moment, als sie das winzige Baby zum ersten Mal in den Armen gehalten und sich schmerzlich gewünscht hatte, es nie mehr loslassen zu müssen. Die ersten Jahre hatte ihr Kind praktisch auf ihr gelebt, sie war ihm Kissen und Decke gewesen, Nahrung und Schutz – und manchmal es auch ihr. Nach und nach hatte Paul sich Schritt für Schritt von ihr entfernt, blieb ihr jedoch erstaunlich nah, wie mit einem Gummiband an sie gebunden, das andauernd zurückschnellte. Oft sehnte sie sich nach ihm, wenn er nicht da war, nach seinen Händchen in ihrer, dem Duft seines Haars. Dann wieder, ganz plötzlich, empfand sie Abwehr, wenn er sich auf sie stürzte und seinen erhitzten Kopf an ihrem Hals vergrub oder unsanft auf ihr herumkletterte. »Ich bin nicht dein Klettergerüst«, fauchte sie und schob ihn von sich, nur um es sofort zu bedauern, wenn sie die Kränkung in seiner Miene sah. Die Leere um sie herum erschreckte sie dann, sie war wie ein kühler Luftzug, und die Linien ihres Körpers schienen sich rasch aufzulösen, wenn Paul nicht da war, um ihnen Form und Richtung zu geben. War es wirklich so, dass sie sich nur spüren konnte, wenn ihr Kind sie berührte, wenn sie für Paul da sein durfte? Und nun würde er morgen mit Janusz ins Auto steigen und nach Gdańsk fahren, wo Janusz aufgewachsen war, zu Pawel und Monika. Für drei lange Wochen wäre er fort.
Das Auto stand draußen ohne Knöllchen hinter dem Scheibenwischer, immerhin. Lisa stieg in die dumpfe Hitze des Autos, pustete sich an die Stirn und lenkte den Wagen aus der Parklücke auf die Straße. So viel musste erledigt werden, und zwar am besten, ehe Paul aus dem Kindergarten kam.
Das Gymnasium verschwand hinter ihr, war nicht einmal mehr im Rückspiegel zu sehen. Lisa lehnte sich im Sitz zurück und massierte sich mit einer Hand den Nacken. Die Sommerferien hatten begonnen. Und sie würde die erste Hälfte allein verbringen, wäre zum ersten Mal seit sechs Jahren und drei Monaten wirklich allein. Ganz und gar. Ohne Puffer, ohne Schutzweste. Eine ungelernte Astronautin, die im leeren Universum schwebte.
Abgeholt, selber schuld.
Der Kirschbaum trug schwer an seiner Last, überall im lichten Grün, von knorrigen Ästen gehalten, hingen die dicken tiefroten Früchte. Ute musste gegen ihren Willen an das alte Märchen denken, in dem die Brote im Ofen schrien und der Apfelbaum bettelte. Hol mich raus, ich bin schon ganz braun gebacken. Schüttle mich, Goldmarie, meine Äpfel sind schon ganz reif.
Nein, sie war keine Goldmarie, dachte Ute säuerlich und stützte sich auf ihren Stock, mit dem sie sich älter fühlte, als sie war. Nie gewesen. Auch nicht die mit Pech begossene Schwester, der so gar nichts gelang, das immerhin wieder auch nicht. Einfach immer mittelmäßig, in allem, was sie tat. Obwohl das wahrscheinlich niemand je so gesagt hatte, schien es Ute zeitlebens wie eine unausgesprochene Wahrheit über sie. Zuverlässig, aber kein großes Licht, so hatte schon damals das Urteil in der Schule zwischen den Zeilen ihrer Zeugnisse gelautet. Es hatte sich für sie bis heute gehalten und war irgendwann zu ihrer eigenen Wahrheit geworden.
Und diesen Sommer würde sie keine Kirschernte schaffen, und das war in all den Jahren nie vorgekommen. Nicht einmal, als irgendwann der unerwartete Frost im Frühling fast die gesamte Ernte erfroren hatte. Selbst damals hatte sie im Sommer trotzdem noch die Reste gerettet und immerhin Kirschwasser daraus gebrannt. Jetzt aber prangten die reifen Kirschen überall, die ganze Streuobstwiese runter standen die mächtigen Kirschbäume mit ihren knorrigen Stämmen zwischen den Apfel- und Birnbäumen, die auch noch drankommen würden, und Ute war so schwach wie nie zuvor. Es war lächerlich, denn sie, die sonst nie krank war und die ihre Mittelmäßigkeit stets durch Durchhaltevermögen hatte ausgleichen können, schaffte es neuerdings kaum noch aus dem Bett. Jede Bewegung war eine Qual, sogar das Heben des Suppenlöffels oder die kreisenden Bewegungen der Zahnbürste machten ihr Mühe. Und diese Langsamkeit, in der sie steckte wie in einem Sumpf, die war das Schlimmste von allem. Zwischen der Formung eines Gedankens und der Ausführung der eigentlichen Bewegung schienen auf einmal nicht mehr nur Millisekunden, sondern Minuten, ja Stunden zu liegen. Sie ertrug Langsamkeit nicht, weder bei anderen noch bei sich selbst, und nun sah sie sich ungläubig und wütend dabei zu, wie ihr Alltag dem Kriechen einer Schnecke glich, nachdem sie doch bisher so zäh und stark wie eine Bisamratte gewesen war.
Sie lauschte nach drinnen ins Haus, ob das Telefon klingelte – seit Tagen wartete sie auf den Anruf des Studenten, der ihr in vergangenen Zeiten bei der Ernte geholfen hatte. Viel Land war es nicht mehr, sie hatte Stück für Stück verkauft, als sich abzeichnete, dass sie keinen jungen Bauern heimbringen würde, der den alten Schwarzwaldhof weiterführte. Einen immerhin hatte es gegeben, bei dem hatte sie kurz gedacht, dass er es werden könnte. Aus dem Nordschwarzwald war der gekommen. Hatte sie mit seiner rostigen Karre abgeholt, war mit ihr nach Stuttgart zu Konzerten gefahren, damals ’88. Im Autoradio sang Kylie Minogue – Got To Be Certain. Ute hatte mitgesungen, die Hand aus dem heruntergekurbelten Fenster in den Fahrtwind gehalten und versucht, ebenso lässig wie die Stars im Kino ihren Kaugummi zu kauen. So certain wie die Sängerin im Radio war sie dennoch nicht gewesen, das war nicht ihre Art, und damit hatte sie recht behalten am Ende. Er hatte keine Anstalten gemacht, ihr ein Versprechen zu geben, und so war sie, als er aufhörte, über die Landstraße zu kommen, auf dem Hof ihrer Eltern geblieben, dem Allensteinhof. Hatte das Kaugummikauen aufgegeben und stattdessen mit dem Rauchen angefangen.
Die Lehre und die vielen Jahre in der Gärtnerei hatten ihr Freude gemacht, bis sie irgendwann nicht mehr in dem Beruf arbeiten konnte, weil sie eine Allergie gegen Pflanzenschutzmittel entwickelt hatte. Das hatte Ute schon lange vor dem Beginn ihrer Krankheit fassungslos, ja wütend gemacht. Doch wütend auf wen? Niemand konnte etwas dafür, dass sie ihren Beruf aufgeben musste und wie abgeschnitten von dem Leben der anderen war, deren Tage weiterhin nach einem festen Schema verliefen, während Ute sich fühlte, als sei sie aus der Umlaufbahn geschleudert worden und schwebe im Nichts. Aber selbst wenn Ute wusste, dass ihre Wut sinnlos war und kein Ziel hatte, blieb sie ihr. Schon immer hatte sie auf Ungerechtigkeit so reagiert, eine Hitze, die sich in ihr zusammenballte und sie mit den Zähnen knirschen ließ. Und niemand hörte es hier draußen. Der alte Hof verfiel immer mehr, und als ihre Mutter starb, die das Land von ihren Eltern geerbt hatte und als Einzige wirklich daran hing, war es endgültig aus gewesen. Aus mit dem Traum, den wohl vor allem Utes Vorfahren geträumt hatten – von blühenden Landschaften, von den neuen Generationen, die hier entstehen, aufwachsen und mit Kraft wirtschaften würden. Es war nicht ihr Traum gewesen, und doch wütete auch sie deswegen, im Stillen. Nichts war so gekommen, wie es hätte kommen sollen, und Ute konnte nur sich selbst die Schuld daran geben. An irgendeinem Punkt schien sie falsch abgebogen zu sein, und nun war der Weg zurück ein für alle Mal verschüttet.
Ihr Vater Hans war kein Landwirt. Ein Flüchtling war er gewesen, als er im Frühling 1945 nach Freiburg gekommen war. Ein Vertriebener, der bis heute, längst als alter Mann, im Haus seiner verstorbenen Schwiegereltern auf Zehenspitzen ging wie ein Gast und vom hölzernen Balkon über die Geranien hinweg die fernen Wipfel des Schwarzwalds misstrauisch beäugte. So als fürchte er, dass irgendwelche Horden über die Bergkuppe kommen könnten, um ihn erneut zu verbannen. Er hatte keine Ambitionen und schon gar nicht die Kraft, den Hof weiterzuführen. Nicht einmal seinen Namen hatte er behalten und bei der Heirat mit der hübschen Hilde sogar, ungewöhnlich für einen Mann zu jener Zeit, den Namen Allenstein angenommen.
Alles endete mit Ute. Für wen hätte sie die Äcker, die großen Obstwiesen und die Ställe bewahren sollen?
Nur eine Streuobstwiese hatte sie behalten. Doch selbst deren Bewirtschaftung überstieg ihre Kräfte, vor allem jetzt, da sie sich nicht einmal mehr richtig auf der Leiter halten konnte. Sollte alles verrotten? Oder sollte sie nun doch noch nachhaltige Ferienwochen einführen für die Touristen, die mit ihren Campingwagen an der Dreisam anlandeten? Die sich in ihrem sauer verdienten Urlaub offenbar, wie man hörte, nach nichts so sehr sehnten wie nach schweißtreibenden Pflückarbeiten? Sie könnte ihnen sogar einen Stellplatz umsonst anbieten, es gab genug Platz. Ihnen ein Vesper aus selbst gebackenem Brot mit Zwetschgenmus und Landjäger hinstellen, ein paar Eimer in die Hand drücken und selbst die Füße hochlegen, während die Urlauber in ihren Bäumen hingen und das rote Gold hoben.
Aber dann müsste sie die Nähe von Fremden auf ihrem Hof ertragen. Und das war nichts für Ute. Sie fürchtete sich stets vor dem Moment, in dem sie die Grenze zwischen sich und anderen Menschen überschreiten musste, fürchtete das Händeschütteln, die erzwungenen Gespräche und die Suche nach Gemeinsamkeiten, bei der sie nie besonders gut abschnitt. Die Rolle der wackeren Hofbesitzerin, die dem einfachen Landleben seine goldenen Früchte abtrotzte und leutselig von alten Zeiten berichtete, lag Ute nicht. Und das Brotbacken hatte sie auch aufgegeben, seitdem hier niemand mehr mit Appetit aß.
Wieder horchte sie, doch im Haus blieb es still bis auf das Schleifen und Raspeln, das wie eine vertraute Hintergrundmusik aus der Werkstatt ihres Vaters drang, und Ute strich, auf den Stock gestützt, missmutig und ziellos durchs struppige, ungemähte Gras. Sie ließ es mit Absicht so hoch stehen, damit es genug Anreize für die Bienen gab, hier im Garten herumzufliegen und Nektar zu sammeln. Es war gut für die Obstbäume, für den Boden, und es lockte außerdem Nützlinge an, wie die Larven der Marienkäfer, für die sie extra kleine Tontöpfe in den Zweigen aufgehängt hatte. Sie fraßen die Blattläuse und machten es unnötig, Pestizide zu versprühen, was für Utes Haut ohnehin schlecht wäre und für den Boden noch mehr.
Sie streifte umher. Doch mit ihrer neuerlichen Erschöpfung, die sie bis zum Beginn der Krankheit nie gekannt hatte, kam sie nur langsam in den knöchelhohen Halmen und Wildblumen voran. Wie ein besiegter Feldherr, der mit einem Krückstock über ein altes Schlachtfeld schlich und von vergangenen Zeiten träumte. Ute ließ sich ächzend ins Gras sinken. Dem Stock gab sie einen wütenden Tritt. Aber wann sollten die gewesen sein, diese erinnernswerten Jahre? Sie hatte wenig erlebt, war nicht weit herumgekommen, hatte keine Herzen gebrochen, keine Spuren hinterlassen. Die Blumen, die sie in der Gärtnerei gezogen und gehegt hatte, waren längst verdorrt, die ohnehin losen Beziehungen mit ihren Kolleginnen unmerklich versickert, nachdem sie dort aufgehört hatte. Das Leben war irgendwie so vorbeigegangen, dachte sie und grub die Finger ins dunkle Erdreich zwischen den Grashalmen. So als habe es Ute gar nicht richtig bemerkt, die am Wegrand gesessen und ihm nur hinterhergeschaut hatte. Was, wenn die Zeit jetzt schon ablief? Was, wenn sie nicht wieder gesund wurde, wenn dies ihr letzter Sommer war?
Eigentlich wäre es folgerichtig. Eine Übriggebliebene, die man zunächst vergessen hatte, jetzt aber doch mit etwas Verspätung abholen kam, weil sie sich keinen Platz in der Welt hatte erkämpfen wollen.
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in den tiefblauen Himmel mit ein paar weißen Kumuluswolken, die darüber hinwegzogen. Hinter der Hecke aus Wildrosen, die ihren Garten umschloss, erhoben sich die Berge des Schwarzwalds, die Wipfel der Nadelbäume schienen ihr sanft zuzunicken. Es roch nach sonnengewärmtem Holz, nach Blumen und vergorenen Kirschen, die schon überall im Gras lagen und zu verfaulen begannen. Von weit her klang das Dröhnen eines Mähdreschers. Ute griff nach einer frühen Birne, die der Nachtwind vorzeitig vom Baum gerüttelt und ins Gras geworfen hatte, und biss hinein. Das Gaishirtle schmeckte unreif, aber bereits kräftig nach Zimt, wie es sich gehörte, und leicht süß. Die Heckenrosen dufteten geradezu übertrieben, von der Sonne aufgeheizt.
Sie warf die halb aufgegessene Birne in Richtung Zaun und ließ den Blick durch den Garten zum Haus am Hang wandern. Dunkelbraunes Holz, tief hängendes Walmdach aus Stroh, davor ein ansehnlicher aufgeschichteter Holzstoß. Sie hatte im Frühling, bevor die Therapie begann, zwei ganze Tage lang Holz gehackt und war jetzt froh darüber. Der Herbst war noch fern, aber die Zeit rannte immer schneller, als man dachte, und dann brauchten sie bald wieder die Holzscheite, um drinnen in der Wohnstube den Kunscht zu heizen. Den alten Kachelofen aus Urgroßvaters Zeiten, mit dem Ute eine Hassliebe verband – er qualmte schrecklich, musste wie ein gefräßiges Ungeheuer mit Unmengen Holz gefüttert werden, verbreitete jedoch im Winter eine behagliche Wärme in dem alten Bauernhaus, mit der es keine moderne Heizung aufnehmen konnte. Doch so hoch der Holzstapel auch wuchs, dieses Jahr hatte sein Anblick Ute nicht dieselbe Befriedigung verschafft wie sonst. Bei jedem Holzscheit, das sie mit der Axt vom Baumstumpf schlug und säuberlich aufschichtete, hatte sie die Flammen vor sich gesehen, die das Holz auffressen würden. Danach bliebe nur Asche übrig und ihr Werk wäre vernichtet, unsichtbar, sofort wieder vergangen. Die Wärme aus dem Ofen würde sich nicht lange halten, denn die alten Wände des Bauernhauses ließen sie allzu schnell durch Ritzen und Fugen in die kalte Nacht entweichen.
Es war ein Wunder, dass sie noch immer hier hausten, und eigentlich ein Wahnsinn! Wie viel einfacher könnte das Leben sein, wenn sie alles verkauften und nach Freiburg zögen, in einen ruhigen Vorort. In eine dieser modernen Wohnungen, die überall gebaut wurden. Aber wenn Ute daran dachte, ihrem Vater seine Werkstatt zu nehmen, die er in den hinteren Räumen des Hauses eingerichtet hatte, wo früher die Ställe gewesen waren, zog sich ihr Herz zusammen. So unstet sein Blick war, so heftig er bis heute zusammenzuckte, wenn es an der Tür klopfte, als fürchte er, man wolle ihn holen kommen, so glücklich war er doch in seinem Reich. Nein, nicht glücklich – dieses Wort passte nicht zu Hans, aber doch geborgen. Beizeiten zufrieden, wenigstens das. Und beschäftigt, ja geradezu besessen von seiner Arbeit mit den Geigen, trotz seines Alters. Es war alles, was ihn aufrecht hielt, seit Hilde nicht mehr lebte, alles, was ihm Gestalt verlieh. Wer würde er stattdessen sein, in einem Einzimmerappartement in irgendeiner seelenlosen Senioreneinrichtung in Kappel oder Littenweiler? Sie konnte den Geruch solcher Orte nur schwer ertragen, nach Körperflüssigkeiten, deren Kraft früher etwas entgegengesetzt werden konnte und über die man nun offiziell alle Kontrolle abgab. Wo die Atmosphäre getränkt war von Desinfektionsmitteln und unpersönlicher Freundlichkeit, von Zeitdruck zerfasert.
Solange Ute lebte – wenn sie lebte! –, würden sie hierbleiben und sich eben weiter mit dem ganzen Obst, dem Dreck und den kalten Wintern herumschlagen müssen. Immerhin hatte sie durch den Kirschschnaps und die Marmeladen ein kleines Einkommen, außerdem gab es die Pachteinnahmen zweier Häuschen weiter unten an der Dorfstraße Richtung Himmelreich, die ihnen gehörten. Ab und zu erhielt Hans sogar noch Aufträge, die bezahlt wurden, auch wenn er nicht mehr so viele Kunden hatte wie früher. Sie kamen zurecht.
Wenn Ute nur ihre Wiese in den Griff bekommen würde!
Dieses verdammte Ding, dachte sie und tastete nach ihrer Brust, hielt dann aber in der Bewegung inne, zuckte zurück. Ihr eigener Körper hatte sich gegen sie verschworen, hatte sie verraten. Er war ihr auf einmal fremd, fast stieß er sie ab. Und seit die Behandlung begonnen hatte, fühlte sie sich noch schwächer, die Therapie saugte alle Kraft aus ihr heraus, ließ sie als elendes Bündel zurück – oft zu schwach, um aufzustehen. Doch sie zwang sich trotzdem jeden Morgen dazu, schon Hans zuliebe. Immer auf den alten Stock gestützt, der noch ihrem Großvater gehört hatte, schleppte sie sich voran. Sie hatte vorher einen ausgezeichneten Gleichgewichtssinn besessen und war von der täglichen Arbeit im Obstgarten kräftig und muskulös, doch jetzt nahm sie wegen der Übelkeit immer weiter ab, bis nur noch Schwäche und Zittrigkeit übrig geblieben waren. So kroch sie wie eine lahme Dohle zwischen den Obstbäumen herum, durch die alte, rauchgeschwärzte Küche und die Werkstatt von Hans, und tat so, als sei sie nicht krank.
Und sie versuchte verbissen, die Nisthöhle des Steinkauzes zu ignorieren, der schon seit ein paar Jahren in ihrem Garten lebte. Sie hatte sich früher an ihm erfreut, doch jetzt musste sie immer daran denken, was die alte Grete, ihre Nachbarin, früher erzählt hatte, als Ute ein Kind war. Dass der Steinkauz ein Todesbote sei und an dem vorüberfliege, der als Nächstes sterben werde.
Die Kirschen aber machten ihr am meisten Sorgen. Mit ihnen verhielt es sich wie mit den Holzscheiten, nur mit dem Unterschied, dass sie vor dem Verfall nicht einmal mehr einen kurzen Nutzen haben würden. Prall hingen sie in den Zweigen, der Inbegriff von Saftigkeit und Süße und doch eine Mahnung an das herankommende Ende. Mit drohender Geste wiesen sie in ihrer beinah platzenden Haut auf den Kipppunkt hin, den Ute nicht verpassen durfte und der kurz bevorstand. Es wäre ein Jammer, alles verfallen zu lassen.
»Ute«, rief die Stimme ihres Vaters durch die offene Vordertür jenseits des Gartenzauns in den Obstgarten hinaus.
Ute schreckte auf.
»Telefon!«
Na endlich! »Bin unterwegs«, rief sie.
So schnell es ihre Kräfte zuließen, ging sie durch das nahe Gartentor über die Auffahrt und dann zur Eingangstür des alten Bauernhauses. Vom dunkelbraunen Holzgeländer des lang gezogenen Balkons hingen drei rötlich schimmernde Geigen an langen Stricken herab und schwangen sanft im Sommerwind hin und her. Manchmal berührten sich ihre Körper, dann klang ein hölzerner Ton durch den Garten. Nichts härte das Ahornholz so gut wie Sonnenlicht, behauptete Hans, und er schwor, er werde niemals eins der Instrumente in ein Solarium einsperren wie viele seiner Geigenbauerkollegen, die in ihren Werkstätten solche Sonnenbänke eingerichtet hatten.
Doch als Ute nun zu den hölzernen Körpern aufsah, die da so einsam, ja verloren an ihren Hälsen vom Holzgeländer baumelten, erinnerten sie sie an Gehenkte.
Sie streifte die aufgeheizte Holzbank neben der Tür, auf der ein fetter getigerter Kater aus dem Nachbarhaus schlief, mit einem bedauernden Blick und ging hinein in den düsteren Flur, bis in die Stube, durch deren Fenster gefiltertes Sonnenlicht drang.
Hans hatte den Hörer des Telefons auf den Tisch gelegt und war schon wieder fort, in seiner geliebten Werkstatt verschwunden, die er fast nur noch zum Schlafen verließ. Er hatte sich in den letzten Jahren dort in das Gewimmel aus Hölzern, Instrumenten, Regalen voller Schleifgeräte, Sägen, Hobeln und Fräsen vergraben und arbeitete den ganzen Tag und auch, wie Ute wusste, viele Nächte lang an seinen Geigen. Früher hatte sie gedacht, er sei ein leidenschaftlicher Handwerker und ein Liebhaber der Musik. Heute hatte sie das Gefühl, dass es etwas anderes war, das den weit über Achtzigjährigen an die Arbeit fesselte – seine Geschäftigkeit hatte etwas Zwanghaftes, Manisches angenommen. Doch niemals hätte sie ihn darauf angesprochen. Im Haus Allenstein wurde nur das Notwendigste gesprochen, und manchmal nicht einmal das.
»Ja?«, sagte sie in den Telefonhörer und stützte sich schwer atmend am Tisch ab. Schwindel überkam sie, und vor ihren Augen tanzten rotgoldene Ringe, die über der Tischplatte pulsierten. Aus der Werkstatt zog ihr durchdringend der Geruch nach Leim und den Lacken in die Nase, die dort in unzähligen Töpfen und Näpfen angerührt wurden, immer auf der Suche nach einer besseren Rezeptur, die an die der alten italienischen Meister heranreichte, deren Zusammensetzung niemand kannte.
Eine junge Stimme schallte aus dem Hörer.
»Ich verstehe«, sagte Ute, bemüht um einen Ton, der nichts verriet. »Das ist natürlich klar, so eine Chance bekommt man nicht alle Tage.«
Enttäuschungen ließ man sich nicht anmerken, das hatte sie von klein auf gelernt, man gab sich nicht die Blöße. Niemals gab man sich die Blöße, selbst, wenn der Himmel über einem zusammenfiel. Über Hans war er zusammengefallen, damals als Kind im ostpreußischen Königsberg. Und auch über ihrer Mutter Hilde, die als Kleinkind im Keller dieses Bauernhauses im Schwarzwald das Kriegsende erlebt hatte. Doch man hatte sich zusammenzureißen. Ihre Eltern hatten die Zähne zusammenbeißen müssen, und das war auch ihr, Ute, angeraten worden, wann immer sie sich die Knie aufgeschlagen hatte oder abends bei Tisch von einer Demütigung in der Schule erzählte.
»Es gibt Schlimmeres«, war stets die Antwort gewesen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Tom«, sagte sie in die Sprechmuschel des Hörers, »dann vielleicht im nächsten Sommer? Viel Spaß auf Bali.«
Sie legte auf und hoffte, er habe den Zynismus in ihrer Stimme nicht gehört.
Also kein Tom, der ihre Kirschbäume leer pflücken würde. Sie musste bei der Zeitarbeitsvermittlung anrufen und einen anderen Studenten anheuern, doch die Vorstellung, sich an jemand Neuen zu gewöhnen, von dem sie nicht einmal wusste, ob er zuverlässig war, war ihr zuwider. Dieser Fremde würde mit seinen Turnschuhen ihr Gras zertrampeln, würde vielleicht erwarten, dass sie sich mit ihm bei der Arbeit unterhielt oder, noch schlimmer, einfach ins Haus eintreten, an ihrem Tisch Platz nehmen und dort seine seltsam riechenden Pausenbrote essen. Sie sah vor sich, wie seine Blicke über die altmodische Einrichtung glitten und die schäbigen Möbel darunter zu Staub zerfielen. Wie sie entwertet wurden. Und wie würde er ihren Anblick empfinden, das Kopftuch, ihre Augenringe, ihre schlechte Haltung? Sie meinte fast, die Gedanken dieses Unbekannten zu hören, seine Bewertung ihrer Person und ihres alternden Leibs im Kontrast zu seinem jungen, starken Körper. Die Vorstellung ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Morgen, dachte sie und sank auf die alte Ofenbank. Oder vielleicht übermorgen. Noch hatte sie ein paar Tage Zeit.
Bella, die alte Boxerhündin, die bis eben dösend auf dem Boden gelegen hatte, erhob sich und drängte sich an Ute, die geistesabwesend das bräunliche Fell streichelte. Da stellte Bella beide Pfoten rechts und links von ihr auf die Bank, stemmte sich hoch und sah sie aus ihren treuen, tief liegenden Augen lange an, als wollte sie sagen: »Altes Haus, so isches halt.«
Ute musste lachen.
»Hast recht, meine Schöne. Na dann«, sie stemmte sich hoch, »komm mal mit in die Küche. Zeit für dein Vesper.«
Vor der Einfahrt des Kindergartens stand Barbaras giftgrüner Renault, und Lisas Herzschlag setzte einen Moment aus. Was machte ihre Mutter denn hier?
Nach der Schule war sie nach Hause in ihre kleine Wohnung in der Wiehre gefahren, wissend, dass ihr bis zur Abholzeit von Paul noch ein paar Stunden blieben, und hatte sich bemüht, diese Zeit für all die schalen Notwendigkeiten zu nutzen, die auf ihrer Liste standen. Diese Liste endete nie, sie geisterte durch Lisas Kopf und wiederholte die ewig gleichen Pflichten wie eine Litanei. Sobald eine Pflicht erledigt war, erschien ganz unten auf diesem imaginierten Spickzettel wie von Geisterhand geschrieben eine neue. Mehr noch, eine Erledigung zog meistens direkt eine neue Pflicht nach sich, von der man bis eben gar nicht geahnt hatte, dass sie existierte. So wie die bräunliche Brühe unter dem Flusensieb in der Spülmaschine, die Lisa entdeckte, als sie gerade die Reste vom Frühstück entsorgt und das schmutzige Geschirr in die Maschine geräumt hatte. Sie hatte alles wieder herausgeholt, eine halbe Stunde damit gekämpft, das Sieb freizubekommen, und das schmutzige Geschirr endlich wieder eingeräumt. Nur, um festzustellen, dass sie keine Spülmaschinentabs mehr im Haus hatte. Manchmal schien ihr ganzes Leben wie ein Kampf gegen schmutzige Brühe, in der Lisa knietief watete und durch die sie den Grund, auf dem sie ging, gar nicht mehr sehen konnte. Nicht hoch genug, um darin unterzugehen, aber ausreichend, um verrückt zu werden.
Wütend hatte sie den Putzlappen ins Spülbecken geknallt.
Dann war es Zeit gewesen, zur Kita zu eilen.
Wie sie darum gekämpft hatte, Zusatzstunden zur Betreuung von Paul bewilligt zu bekommen, nachdem ihr zunächst ein Halbtagsplatz zugestanden worden war. Ein Halbtagsplatz! Das hieß, dass sie Paul direkt nach dem Mittagessen abholen musste, während ihr Stundenplan keinerlei Rücksicht darauf nahm. Wie sie beim Amt darum betteln musste, Paul bis drei Uhr nachmittags in die Betreuung geben zu dürfen, weil es nun einmal ein Ding der Unmöglichkeit war, gleichzeitig den Leistungskurs im Vorort zu unterrichten und in der südlichen Vorstadt im Kindergarten zu stehen.
»Da müssten Sie Dumbledore bitten, mir einen Zeitumkehrer zu besorgen«, hatte sie zu der Frau hinter der Glaswand gesagt, doch die hatte nur verständnislos zurückgestarrt und etwas von Wartezeit gemurmelt. Und ob sie nicht ohnehin noch etwas länger zu Hause bei ihrem kleinen Sohn bleiben wolle, ihr Lebensgefährte sei schließlich Akademiker und habe sicher ein gutes Gehalt? Diese Zeit mit den Kleinen komme ja nie wieder!
Dass Janusz und Lisa nie ein gemeinsames Konto gehabt hatten und einander längst keine Gefährten mehr waren, weder im Leben noch sonst wo, hatte sie der Fremden nicht erzählen wollen. Noch hatten sie zusammengelebt, doch selbst das war eigentlich nur noch ein Nebeneinanderwohnen gewesen, ein Umeinanderherschleichen und ein mal höfliches, mal eisiges Schweigen, bis Janusz gegangen war. Das leuchtende bunte Band, das sie am Anfang verbunden hatte, war blasser geworden, dünner, war ausgefranst und schließlich zerrissen. Lisa musste ohne ihn zurechtkommen, ohne seine Liebe, was schon schwer genug war, und auch ohne seine Unterstützung im Alltag. Doch all das konnte sie der Frau hinter der Glasscheibe nicht sagen, ihr Hals war wie zugeschnürt, und ihre Zunge lag nutzlos und stumm im Mund. So war es oft, wenn sie wütend oder traurig war, alle Worte, alle Argumente waren in ihrem Kopf, aber sie fanden im entscheidenden Moment nicht den Weg hinaus. Darum hatte sie nur höflich gelächelt, den Kopf geschüttelt und gesagt, das gehe leider nicht.
Endlich war der ersehnte Brief gekommen mit den Zusatzstunden für die verlängerte Öffnungszeit, und seitdem konnte Lisa manchmal sogar zwischen Schulschluss und Abholen noch eine Viertelstunde im Auto sitzen bleiben. Mit einem Coffee to go im Pappbecher von der Tankstelle und etwas Vivaldi für die Nerven abschalten, ehe sie reinging ins Wichtelhaus und Paul abholte.
Doch heute stand da das Auto ihrer Mutter. Mit zitternden Händen griff Lisa nach ihrem Telefon und sah aufs Display. Drei Anrufe vom Wichtelhaus, zwei von Barbara.
Scheiße!, dachte sie und eilte auf das flache Gebäude mit den Fingerfarbenkunstwerken an den Verbundfenstern zu, vorbei an dem kleinen Spielplatz mit ein paar verwaisten Spielgeräten. Ein Glasperlenspiel, das am Tor hing, wehte sacht im Wind. Die leere Kaffeemühle drehte sich langsam, als sei eben erst ein Kind davon abgesprungen, doch niemand war zu sehen. Offenbar war sie wieder einmal einer der letzten Elternteile, die zum Abholen kamen. Nur eine abgehetzt wirkende Mutter, die sie vom Sehen kannte, zerrte jetzt ihre verschmierten Kinder vorbei und nickte Lisa müde zu.