Wenn Donner und Licht sich berühren - Brittainy Cherry - E-Book
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Wenn Donner und Licht sich berühren E-Book

Brittainy Cherry

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Beschreibung

Sich in Jasmine Greene zu verlieben, fühlte sich an wie ein warmer Sommerregen. Leicht und unbeschreiblich schön. Aber als wir uns Jahre später wieder gegenüberstehen, ist von dem Sommerregen nichts mehr übrig. Stattdessen sehe ich in ihren Augen einen tosenden Sturm. Wie lange tobt er schon dort? Wie lange hat er sich schon in ihrer Seele zusammengebraut? Ihr Herz ist für immer gebrochen, und ich hasse mich dafür, dass ich es jetzt erst bemerke - wo es vielleicht schon zu spät ist.

"Ein absolutes Meisterwerk!" AFTER DARK BOOK LOVERS

Der neue Roman von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry

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Seitenzahl: 431

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungErster Teil12345678910111213141516171819Zweiter Teil2021222324252627282930313233343536373839404142434445Die AutorinDie Romane von Brittainy C. Cherry bei LYXImpressum

BRITTAINY C. CHERRY

Wenn Donner und Licht sich berühren

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katja Bendels

Zu diesem Buch

Jazz und Elliot könnten unterschiedlicher nicht sein: das beliebteste Mädchen der Highschool und der schüchterne Junge, der nirgends dazugehört. Doch was sie verbindet, ist die Musik – und ihre Einsamkeit. Mit Jazz fühlt sich das Leben für Elliot das erste Mal unbeschwert und leicht an. An ihrer Seite hat er das Gefühl, endlich wieder atmen zu können. Doch ausgerechnet dann, als Elliot Jazz am meisten braucht, stellt sich das Schicksal gegen sie. Jazz muss Elliot verlassen, scheint plötzlich unerreichbar für ihn zu sein. Und als sie sich Jahre später in New Orleans wiedersehen, ist nichts mehr, wie es war. Sie haben sich verändert. Das Leben ist härter geworden. Rauer und dunkler. Doch die vielen Scherben ihrer Seelen erkennen noch immer die Traurigkeit des anderen – und die Liebe zueinander. Und Elliot weiß, dass er seinen Fehler nicht noch einmal machen will und er Jazz diesmal nicht mehr gehen lassen wird!

Für alle, die sich selbst verloren haben.

Mögen eure liebsten Songs euch heimführen.

Erster Teil

»Music was my refuge. I could crawl into the space between the notes and curl my back to loneliness.«

Maya Angelou

1

JASMINE

Nein.

Es wurde niemals einfacher, dieses Wort zu hören. Es war niemals stumpf oder bedeutungslos, wenn jemand es zu mir sagte. Die Art, wie ihre Blicke über meinen Körper wanderten, wenn ich einen Raum betrat … wie sie alles beurteilten, was ich war und was ich nicht war … die Art, wie sie flüsterten, wenn ich einfach nur still dastand.

Nein. Nein. Tut uns leid. Nein, danke. Diesmal ist es leider eine Absage.

Ich war gerade sechzehn geworden, und ich kannte das Gefühl, abgelehnt zu werden, besser als die meisten anderen Menschen. Seit Jahren versuchte ich, von der Musikindustrie entdeckt zu werden, aber mehr als Ablehnung hatte ich nie erreicht.

Nein.

Nein.

Tut uns leid. Nein, danke.

Diesmal ist es leider eine Absage.

Was meine Mutter nicht davon abhielt, mit mir von einem Termin zum nächsten zu fahren, von einem Vorsingen zum anderen, von Absage zu Absage. Weil ich ihr Star war, ihr strahlendes Licht. Ich würde all das erreichen, was sie nie erreicht hatte, denn das war es, was von uns Kindern erwartet wurde, sagte sie zu mir.

Man erwartete von uns, besser zu sein als unsere Eltern.

Und ich würde besser sein. Eines Tages. Alles, was ich brauchte, war jemand, der »Ja« zu mir sagte.

Ich trat aus meinem dritten Vorsingen in dieser Woche in New Orleans und betrachtete die anderen Mädchen, die sich für die Girlgroup beworben hatten. Eigentlich betrachtete ich mich eher als Solokünstlerin, aber Mama sagte, ich sollte mich über alles freuen, das mich nach vorn brachte.

»Girlgroups sind im Moment in«, sagte sie. »Die Leute stehen auf Pop.«

Ich hatte nie Popmusik machen wollen. Mein Herz schlug für Soul, aber Mama sagte, Mädchen wie mir brachte Soul kein Geld – nur Enttäuschung.

Die anderen Mädchen, die sich beworben hatten, sahen so aus wie ich, nur irgendwie besser. Mama, die auf mich wartete, blickte mich mit großen, hoffnungsvollen Augen an. Ein harter Knoten aus Schuldgefühlen formte sich in meinem Bauch, und ich zwang mich zu einem Lächeln.

»Und? Wie ist es gelaufen?«, fragte sie und erhob sich von ihrem Stuhl im Wartebereich.

»Gut.«

Sie runzelte die Stirn. »Hast du dich bei deinem Song verhaspelt? Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Text lernen. Der ganze Unterricht stiehlt dir viel zu viel Zeit, in der du dich auf das Wesentliche konzentrieren solltest«, sagte sie verächtlich.

»Nein, nein. Das ist es nicht. Ich habe den Text nicht vergessen. Er war perfekt«, log ich. Ich hatte mich tatsächlich verhaspelt, aber nur, weil der Casting Director mich so angestarrt hatte, als wäre ich das genaue Gegenteil von dem, was er suchte. Doch das durfte Mama nicht wissen, denn dann hätte sie mich vielleicht von der Schule genommen.

»Du hättest dir mehr Mühe geben sollen«, schimpfte sie. »Wir investieren so viel Zeit in deine Gesangs-, Schauspiel- und Ballettstunden, Jasmine. Du solltest nicht aus diesen Castings kommen und sagen, dass es ›gut‹ war. Du musst die Beste sein. Sonst bist du nichts. Du musst eine dreifache Waffe sein.«

Eine dreifache Waffe.

Ich hasste diesen Begriff. Mama war Sängerin, aber sie war nie groß rausgekommen. Sie sagte, mein Vater hätte ihr kurz vor ihrer Entdeckung einen Braten in die Röhre geschoben, und niemand wollte einen schwangeren Superstar.

Sie war fest davon überzeugt, dass sie, wenn sie nicht alles auf ein einziges Pferd gesetzt hätte, vielleicht in einem anderen Bereich den Durchbruch geschafft hätte. Darum machte sie mich zu einer dreifachen Waffe. Ich durfte nicht nur eine großartige Sängerin sein, ich musste zudem auch noch die beste Schauspielerin und Tänzerin sein, die es gab. Mehr Talente bedeuteten mehr Möglichkeiten, mehr Möglichkeiten bedeuteten mehr Ruhm, und mehr Ruhm bedeutete, dass Mama vielleicht stolz auf mich sein würde.

Und das war alles, was ich wollte.

»Wir müssen los«, sagte sie. »Du hast in vierzig Minuten Ballett, dafür müssen wir einmal quer durch die Stadt, und danach Gesangsunterricht. Und dann muss ich nach Hause, damit das Abendessen fertig ist, wenn Ray kommt.«

Seit ich denken konnte, waren Ray und Mama ein Paar. Ich besaß keine einzige Erinnerung, zu der nicht auch sein Gesicht gehörte. Lange Zeit dachte ich, er wäre mein Vater, aber als er und Mama einmal spätabends ziemlich betrunken nach Hause kamen, hatte ich sie über meine Erziehung streiten gehört, und Mama brüllte, dass Ray in dieser Sache überhaupt nichts zu sagen hätte, da ich schließlich nicht seine Tochter sei.

Und trotzdem liebte er mich, als wäre ich es.

Er war der Grund, warum wir so häufig umzogen, denn er hatte als Musiker bescheidenen Erfolg und verdiente sein Geld damit, durch die Welt zu touren. Natürlich war er nicht wirklich berühmt, aber es brachte ihm so viel ein, dass er, Mama und ich davon leben konnten. Wir waren Rays größte Fans, und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, für uns zu sorgen.

Mama hatte nie einen richtigen Job gehabt. An manchen Abenden arbeitete sie als Barfrau, aber nicht oft. Sie sagte, ihr Job sei es, einen Star aus mir zu machen, was beinhaltete, dass sie mich zu Hause unterrichtete, damit ich mein Ziel nicht aus den Augen verlor. Ich hatte keine Alternative, und ich beschwerte mich nicht. Andere Kinder hatten es sicher schlechter als ich.

Doch nun, da wir eine Weile in New Orleans bleiben würden, wo Ray einen Gig angeboten bekommen hatte, hatten Ray und ich Mama davon überzeugt, mich auf eine öffentliche Schule zu schicken. Ich hatte Mama angefleht, mich als Junior mit Kindern in meinem Alter auf eine richtige Highschool gehen zu lassen. Gott, was hätte ich darum gegeben, andere Kinder in meinem Alter um mich zu haben, die sich nicht bloß für dieselben Rollen bewarben wie ich.

Eine Chance, echte Freunde zu finden …

Ich war fast geschockt, als sie dank Ray und seiner Überredungskünste einwilligte.

Mir bedeutete es die Welt, für Mama bedeutete es nur, dass ich weniger Zeit hatte, die Kunst der Musik zu studieren. In ihren Augen war die Highschool eine Spielerei, und ich war zu alt für Kinderspiele.

»Ich denke immer noch, dass es keine gute Idee war, dich auf eine öffentliche Schule gehen zu lassen«, sagte sie verächtlich, während wir zur Bushaltestelle liefen. »Das lenkt dich nur ab.«

»Ich werde beides hinkriegen«, versprach ich, was vermutlich ebenfalls gelogen war, aber ich konnte die Schule unmöglich aufgeben. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. »Ich werde noch härter arbeiten als vorher.«

Sie zog eine Augenbraue hoch, offenbar war sie nicht überzeugt. »Wenn du meinst. Aber sobald ich das Gefühl habe, dass es zu viel wird, nehme ich dich von der Schule.«

»Okay.«

Es war sechs Uhr am Samstagabend, als wir in den Bus stiegen. Doch statt nach Hause zu fahren, fuhren wir zu meiner Ballettstunde. Meine Mutter reichte mir einen Beutel mit abgezählten Nüssen, die ich vorher essen musste, weil mir sonst beim Training schwindelig wurde. Ich war zwar nicht die beste Tänzerin im Kurs, aber auch nicht unbedingt die schlechteste. Mein Körper allerdings hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem einer Ballerina. Er war wie Mamas: schmale Taille, breite Hüften. Ich hatte Kurven, und im Ballettunterricht war ich damit eine Kuriosität.

»Hast du clean gegessen?«, fragte mich die Lehrerin, während sie meine Haltung korrigierte.

»Ja. Ich hatte heute Morgen Zitronenwasser und griechischen Joghurt mit Beeren.«

»Und zum Mittag?«

»Salat mit Nüssen und ein paar dünnen Scheiben Hühnchenfleisch.«

Sie zog eine Augenbraue hoch, als glaubte sie mir nicht. »Snacks?«

»Nur ein paar Nüsse auf dem Weg hierher.«

»Ah …« Sie nickte und legte ihre Hände auf meine Taille, um mich aufzurichten. »Du siehst so aufgedunsen aus. Vielleicht solltest du den Nachmittagssnack weglassen.«

Ein paar der anderen Tänzerinnen kicherten, und meine Wangen glühten. Alle hielten mich für nicht ganz dicht, weil ich überhaupt in diesem Kurs war. Und ohne Mama wäre ich es auch nie gewesen. Aber sie war davon überzeugt, dass Tanzunterricht einen bedeutenden Anteil daran hatte, berühmt zu werden.

Mir gab er bloß das Gefühl, eine Versagerin zu sein.

»Nun, das war wirklich peinlich«, schimpfte Mama nach dem Unterricht und marschierte wütend aus dem Studio. »Du hast nicht geübt.«

»Doch, hab ich.«

Sie wandte sich zu mir um und zeigte streng mit dem Finger auf mich. »Jasmine Marie Greene, wenn du weiter lügst, wirst du weiter versagen, und dein Versagen ist nicht allein deines. Es betrifft auch mich – vergiss das nicht. Betrachte es als die erste Verwarnung von dreien. Drei Verwarnungen bedeuten: keine Schule mehr. Und jetzt komm, wir müssen ins Studio.«

Acme Studios war ein winziges Plätzchen auf der Frenchmen Street, wo ich ans Mikro treten und ein paar von meinen Songs aufnehmen konnte. Ich wollte so gern meine eigenen Texte schreiben, aber Mama sagte, ich sei nicht gut genug, um jemals alleine zu schreiben.

Es war ein tolles Studio, und die meisten wären niemals dort reingekommen, aber Ray war gut darin, Verbindungen zu knüpfen. Manchmal fragte ich mich, ob Mama vielleicht nur deswegen noch mit ihm zusammen war.

Ich verstand nicht, was die beiden miteinander verband, abgesehen von ihrer Liebe zur Musik.

Wir fuhren in die Frenchmen Street, und sobald ich sie betreten hatte, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Irgendetwas an der Atmosphäre dort gab mir das Gefühl, lebendig zu sein. Touristen kannten die Bourbon Street, aber in der Frenchmen herrschte die Magie der Bewohner dieser Stadt. Die Musik, die man dort hörte, überraschte mich jedes Mal von Neuem. Es war unglaublich, wie eine Straße mit so viel Talent, so viel Soul erfüllt sein konnte.

Mamas Handy klingelte, und sie trat zur Seite, um den Anruf entgegenzunehmen. Und in diesem Augenblick geschah es.

In diesem Augenblick sah ich den Jungen, der die Musik spielte.

Ich würde immer behaupten, ich hätte ihn zuerst gesehen, doch er bestand darauf, dass es umgekehrt war.

Genau gesagt, sah ich ihn nicht – ich spürte ihn, spürte, wie seine Musik über meine Haut kroch. Die Takte und Akkorde seines Saxophons ließen Schauer über meinen Rücken laufen. Es klang magisch, wie die einzelnen Töne durch die Luft tanzten, bewegend schön.

Ich drehte mich um und sah einen schmächtigen Jungen an der Ecke Frenchmen und Chartre stehen. Er war jung, vielleicht in meinem Alter, vielleicht ein bisschen jünger, mit einer dünn gerahmten Brille. Und er spielte auf seinem Saxophon, als würde er sterben, wenn die Musik nicht perfekt war. Zu seinem Glück war sie mehr als das.

Nie zuvor hatte ich so etwas gehört. Ich war so gerührt von den Klängen, die er erschuf, dass mir die Tränen in die Augen stiegen.

Wie hatte er so spielen gelernt? Wie konnte jemand, der so jung war, so viel Talent besitzen? Ich war mein ganzes Leben lang von Musikern umgeben gewesen, doch so etwas hatte ich noch nie gehört.

Er spielte, als blutete er auf die Straßen von New Orleans. Er hielt nichts zurück und legte alles in seine Musik. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich niemals alles gab – nicht wie er, nicht so.

Die Menschen begannen, sich auf der Straße um ihn zu versammeln und Münzen in seinen geöffneten Instrumentenkasten zu werfen. Sie holten ihre Handys hervor, um seine Musik aufzunehmen. Es war ein Erlebnis, ihm zuzusehen, wie er dort mit so viel Selbstvertrauen an der Straßenecke stand. Seine Finger tanzten über die Klappen, als hätte er keine Angst davor zu versagen.

Das Wort »versagen« gehörte vermutlich nicht einmal zu seinem Vokabular.

Seine Musik war wunderschön und ein wenig schmerzlich. Bis zu diesem Abend hatte ich nicht gewusst, dass etwas schmerzlich schön sein konnte.

Als er zu spielen aufhörte, beobachtete ich interessiert, wie all das Selbstvertrauen, das er ausgestrahlt hatte, verflog. Seine selbstbewusste Haltung fiel in sich zusammen, und seine Schultern sackten nach vorn. Die Leute sagten ihm, wie großartig er gespielt hatte, doch es fiel ihm schwer, ihnen in die Augen zu schauen.

»Es war unglaublich«, sagte eine Frau.

»Da-da-danke«, antwortete er und rieb sich die Hände, bevor er sein Instrument einzupacken begann. Als ich seine zitternde Stimme hörte, wusste ich, wer er war.

Elliott.

Ich kannte ihn – oder vielmehr: Ich hatte von ihm gehört. Er ging auf meine Schule und war furchtbar schüchtern. Ganz anders als der Junge, der gerade die Musik gespielt hatte. Beinahe war es, als hätte er zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten – den kraftvollen Musiker und den gepeinigten Teenager.

Die beiden hatten nichts gemeinsam.

Ich trat vor und wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Während ich den Mund öffnete, suchte ich in meinem Kopf nach den passenden Worten, aber mir fiel nichts ein. Er hatte etwas verdient, ein Kompliment, ein Lächeln, eine kurze Berührung, um ihm zu gratulieren – irgendetwas –, aber ich konnte ihn nicht einmal dazu bringen, mich anzusehen.

Er sah niemanden an.

»Jasmine«, rief meine Mutter und riss meinen Blick von Elliott weg. »Kommst du endlich?«

Ein letztes Mal blickte ich über meine Schulter und spürte, wie sich ein Knoten in meinem Bauch formte, bevor ich zu Mama hinüberlief. »Ich komme schon.«

Nach dem Studio stiegen wir in einen anderen Bus und fuhren nach Hause. Unterwegs erklärte Mama mir, was ich alles falsch gemacht hatte, und wiederholte jeden meiner Fehler und Fehltritte noch einmal, während sie das Essen kochte. Und noch einmal, als wir vor den Tellern und Schüsseln am Tisch saßen und darauf warteten, dass Ray nach Hause kam.

Natürlich war er zu spät, denn er schaffte es nie, das Studio pünktlich zu verlassen. Mamas Laune verschlechterte sich zunehmend, und das ließ sie an mir aus. Ray bekam ihren Ärger nie zu spüren, und ich habe nie verstanden, wieso. Immer wenn er etwas falsch machte, ließ sie es an mir aus.

Doch ich nahm es ihm nicht übel. Wenn überhaupt, dann war ich dankbar, dass Ray beschlossen hatte, Mama zu lieben, denn das bedeutete, dass ich ihn lieben konnte. Er war so etwas wie ein sicherer Hafen für mich. Wenn er nicht da war, war Mama launisch, einsam, leer und gemein. Doch sobald er den Raum betrat, leuchteten ihre Augen.

»Ich bin zu spät«, sagte Ray, als er mit einer halb aufgerauchten Zigarette zwischen den Lippen in die Wohnung trat. Er drückte sie im Aschenbecher neben der Tür aus. Ich hasste den Geruch von Zigaretten, und deshalb bemühte er sich, nicht in der Wohnung zu rauchen. Mama sagte, er sei ein erwachsener Mann und könne rauchen, wann und wo er wollte, aber tat es nicht.

Er liebte mich genug, um meine Wünsche zu respektieren.

»Du bist nicht zu spät«, sagte Mama. »Ich habe einfach zu früh angefangen zu kochen, das ist alles.«

»Weil ich gesagt habe, dass ich früher hier sein würde«, erwiderte er mit einem schiefen Lächeln.

Ray lächelte immer, was alle anderen ebenfalls lächeln ließ. Er war einer dieser Männer, die auf eine mühelose Art gut aussehen, und dabei war er sehr männlich, nicht nur körperlich, sondern in seinem ganzen Verhalten. Er war der Erste, der einer Dame den Stuhl herauszog, der Mann, der vierzig Frauen die Tür aufhielt, bevor er selbst hindurchtrat. Ein altmodischer, charmanter Gentleman. Und er hatte seine sanften Seiten, wie seine Augen und sein Lächeln. Es war wunderschön und gab jedem, der ihn ansah, ein Gefühl der Sicherheit.

Wenn ich in seine Augen blickte, fühlte ich mich zu Hause.

»Schon okay«, log Mama und lächelte. »Wir haben uns selbst erst vor ein paar Minuten an den Tisch gesetzt.«

Wir saßen dort seit einer Dreiviertelstunde.

Ray trat zu uns und tätschelte mir den Scheitel. »Hey, Schneewittchen.« Er hatte mir diesen Spitznamen gegeben, als ich noch ein kleines Kind gewesen war, und ich liebte ihn immer noch.

»Hey, Ray«, antwortete ich.

Er sah mich fragend an. »Hattest du einen guten Tag?« Was in Wirklichkeit bedeutete: »Hat deine Mutter dich heute in den Wahnsinn getrieben?«

Manchmal konnte meine Mutter ziemlich anstrengend sein, selbst wenn sie es einmal nicht darauf anlegte.

Ich nickte. »Ich hatte einen guten Tag.«

Er zog die Nase kraus, offenbar nicht sicher, ob ich die Wahrheit sagte, aber er fragte nicht nach. In Mamas Gegenwart fragte Ray nie, was los gewesen war, denn er wusste, wie empfindlich sie sein konnte, wenn sie das Gefühl hatte, kritisiert zu werden. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich gehe mich schnell waschen und ziehe mir was anderes an. Dann können wir essen.«

»Okay«, antwortete Mama.

Und mit diesen Worten verschwand er, um sich die Hände zu waschen. Ich saß da, die Arme auf den Tisch gestützt, und beobachtete, wie Mamas Blick Ray folgte. Als sie sich wieder zu mir umwandte, verblasste die Liebe in ihren Augen, und sie straffte die Schultern.

»Ellbogen vom Tisch, Jasmine. Und setz dich gerade hin, sonst bekommst du noch einen Buckel.«

Ray gesellte sich zu uns, und wir sprachen über sein Album und wie die Aufnahmen dafür gelaufen waren. »Ich liebe New Orleans. Die Stadt fühlt sich so authentisch an. Nirgendwo auf der Welt machen die Leute Musik wie hier – so real, so schmerzlich.«

Ich liebte es, ihm zuzuhören, wenn er über Musik redete.

»Hast du Trevor Su für mich angesprochen?«, erkundigte Mama sich.

Ray wand sich unbehaglich. »Nein. Ich habe dir doch schon gesagt, er ist nicht gut. Wir brauchen ihn nicht für Jasmine.«

Mama zog die Nase kraus. Die Antwort gefiel ihr offenbar nicht besonders. »Trevor Su ist einer der besten Produzenten der Welt, und du hättest die Möglichkeit, ihn anzusprechen. Ich verstehe nicht, wieso du denkst, Jasmine wäre nicht gut genug, um mit ihm zu arbeiten.«

»Nein«, rief Ray und schüttelte den Kopf. »Du drehst mir die Worte im Mund um. Das habe ich nicht gesagt. Er ist nicht gut genug für sie.«

»Und warum nicht?«

»Weil er eine falsche Schlange ist.«

Mama schnaubte. »Wen interessiert das, solange er seinen Job macht?«

Ray war anderer Meinung. »Nein. Die Art, wie er Menschen benutzt, um nach oben zu kommen, ist abartig. Ich habe gesehen, wie er gute Leute für Geld fertiggemacht hat. Es ist widerlich.«

»So ist das Geschäft, Ray«, stöhnte Mama. »Wenn du das verstehen würdest, wärst du vielleicht erfolgreicher, als du es momentan bist.«

»Mama!«, rief ich und schnappte erschrocken nach Luft.

Ray zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er war ihre harten Worte mittlerweile gewohnt und ihren Urteilen gegenüber mehr oder weniger taub.

Was es für mich nicht einfacher machte, sie zu hören.

Wenn es um Musik ging, waren er und Mama vollkommen unterschiedlich. Er folgte seinem Herzen, sie ihrem Verstand.

»Man nennt so was Networking«, sagte sie.

»Man nennt es Verrat«, widersprach er. »Außerdem ist er einfach zu viel für sie. Er würde sie an ihre Grenzen bringen.«

»Es wird Zeit, dass sie über ihre Grenzen hinausgeht.«

»Sie ist noch ein Kind, Heather.«

»Und sie könnte brillant sein, wenn du es zulassen würdest.«

Ein paar Minuten lang diskutierten die beiden darüber, ob es respektlos war, wenn Mama sich mit Trevor traf, oder nicht. Wenn es um meine Karriere ging, war sie eine extrem ehrgeizige Managerin und hielt keine Idee für zu extrem. Sie war die ehrgeizigste unter allen ehrgeizigen Müttern, fest entschlossen, alles zu tun, was nötig war, um mich erfolgreich zu machen.

Ray war ganz anders. Er glaubte an meine Musik, aber er glaubte auch daran, dass es wichtig war, mich ein Kind sein zu lassen und mir ein Leben neben der Musik zu ermöglichen.

»Vielleicht sollten wir beim Essen nicht über die Arbeit sprechen«, sagte Ray und räusperte sich.

»Wir reden immer nur über Musik«, erwiderte Mama.

»Na ja, vielleicht sollten wir das ändern. Wir könnten uns ja mal über was anderes unterhalten«, schlug Ray vor und schob das Essen auf seinem Teller hin und her. »Wenn ich nach Hause komme, möchte ich abschalten.«

»Du warst es doch, der sich hingesetzt und angefangen hat, über Musik zu reden!«, erwiderte meine Mutter gereizt. »Aber wenn ich über Jasmines Karriere rede, ist das zu viel?«

»Mama«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf.

»Jasmine, sei still und iss deinen Salat.«

»Wieso isst du nur Salat?«, fragte Ray.

Ich öffnete schon den Mund, um ihm zu antworten, aber Mama war schneller. »Sie macht eine neue Diät.«

Ray lachte. »Sie ist sechzehn und dünn wie ein Stock, Heather. Sie kann essen, was sie will.«

Und dann, wie auf Kommando, fingen sie an, darüber zu diskutieren, wie Mama mit mir umging. Am Ende erklärte sie ihm, er habe dazu gar nichts zu sagen, denn er sei nicht mein Vater.

Ich hasste es, dass sie ihm das jedes Mal an den Kopf warf, wenn sie nicht bekam, was sie wollte.

Und jedes Mal sah ich, wie traurig Rays Blick wurde, wenn sie es sagte.

Vielleicht war er auf dem Papier nicht mein Vater, doch in meinem Herzen gab es keinen Zweifel, dass er mein Dad war.

»Ich muss mal an die frische Luft«, erklärte Ray und schob seinen Stuhl zurück. Er nahm seine Zigaretten und stapfte aus der Wohnung, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, was bedeutete, dass er irgendwo hingehen und sich Live-Musik anhören würde. Musik half immer, wenn Mama ihm zu viel wurde.

Mir ging es da nicht anders.

Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer und setzte mich an die Hausaufgaben. Ich kam in der Schule überhaupt nicht nach, aber es war wichtig für mich, wenigstens so zu tun, als hätte ich mein Leben im Griff. Ansonsten würde ich wieder gezwungen sein, mich zu Hause unterrichten zu lassen, und das durfte nicht geschehen, nicht nachdem ich Geschmack daran gefunden hatte, wie es sich anfühlte, ein echter Teenager zu sein.

»Hattest du einen guten Tag, Schneewittchen?«, fragte Ray, als er ein paar Stunden später in meinem Türrahmen stand, die Arme hinter dem Rücken.

Ich blickte von meinem Mathebuch auf und zuckte mit den Schultern.

»Du brauchst nicht zu lügen – deine Mom schläft. War sie sehr hart zu dir?«

»Schon okay. Es war meine Schuld. Ich habe nicht genug trainiert.«

»Sie macht dir zu viel Druck«, warnte er.

»›Unter Druck entstehen Diamanten‹«, zitierte ich spöttisch Mamas Worte. Doch dann lächelte ich, denn Ray hatte die Stirn in Falten gezogen. »Es geht mir gut. Ich bin bloß müde.«

»Willst du, dass ich versuche, noch einmal mit ihr zu reden?«

Ich schüttelte den Kopf. Wenn Ray Mama erklärte, dass ich gestresst oder überfordert war, wäre ihr das peinlich, und wenn ihr etwas peinlich war, dann ließ sie es an mir aus.

»Warum nur Salat zum Abendessen?«, fragte Ray.

»Keinen Hunger.«

»Schade eigentlich.« Er zog eine Grimasse und gleichzeitig eine Papiertüte hinter seinem Rücken hervor. »Weil ich einen Burger mit Pommes von unten mitgebracht habe.«

Mein Magen knurrte vernehmlich, als ich die Tüte sah.

»Aber da du keinen Hunger hast, werde ich es wohl …«

»Nein!«, rief ich und schüttelte heftig den Kopf. Ich räusperte mich und setzte mich auf meinem Bett auf. »Ich meine, ich nehme es.«

Er lachte und warf mir die Tüte zu. »Du bist perfekt, so wie du bist. Fang nicht an, für diesen Traum zu hungern, Schneewittchen, und auch nicht für deine Mutter. Beide sind es nicht wert.«

»Danke.«

Er nickte. »Und wenn du möchtest, dass ich mit ihr rede, sag mir Bescheid. Ich stehe hinter dir.«

»Ray?«

»Ja?«

»Liebst du sie?«, fragte ich leise. Die beiden verhielten sich nie so, als wären sie verliebt. Jedenfalls nicht, solange ich mich erinnern konnte.

Ray schenkte mir ein schmales Lächeln. Ein klares Nein.

»Sie ist gemein zu dir«, sagte ich.

»Ich kann damit umgehen«, erwiderte er.

»Wieso bleibst du bei ihr? Wieso solltest du bei jemandem bleiben, den du nicht einmal liebst und der dich so behandelt, wie sie es tut?«

Er räusperte sich und blickte mich mit den sanftesten Augen an, die ich je gesehen hatte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Komm schon, Schneewittchen«, sagte er leise. »Du kennst die Antwort.«

Meinetwegen.

Er blieb meinetwegen.

»Ich liebe sie, weil sie mir dich geschenkt hat. Du und ich, wir haben vielleicht nicht dasselbe Blut, Schneewittchen, aber du bist meine Tochter. Ich bleibe deinetwegen. Ich werde immer deinetwegen bleiben.«

Mein Blick verschwamm. »Ich möchte nur, dass du glücklich bist, Ray.«

Er lachte leise. »Weißt du, was mich glücklich macht?«

»Was?«

»Wenn du glücklich bist. Also sei einfach glücklich – und vergiss nicht zu essen –, und mein Herz ist von Freude erfüllt, Schneewittchen. Das ist alles, was ich je wollte. Dass du glücklich bist.« Er kam herüber, gab mir einen Kuss auf die Stirn und mopste sich eine meiner Pommes, bevor er ins Bett ging.

2

JASMINE

Die glücklichsten Augenblicke meines Lebens ereigneten sich in einem Schulgebäude. Die meisten Leute hätten sicher gern darauf verzichtet, zur Schule zu gehen, doch zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dort zu sein, wo ich hingehörte.

Mal ein paar Stunden ohne Mama zu sein war herrlich, besser als ich es mir je vorgestellt hatte. Ich liebte sie, aber manchmal brauchte ich einfach eine Atempause, und die Schule gab mir die Möglichkeit zu atmen. Wenn ich durch die Korridore ging, gaben die Leute mir das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein. Hier war ich nicht umgeben von Erwachsenen aus der Musikindustrie, die über erwachsene Dinge redeten. Ich bewarb mich nicht für irgendwelche Rollen, die ich nicht haben wollte. Ich sorgte mich nicht darum, ob Mama stolz auf mich war.

Ich war einfach ein Teenager.

Doch für andere auf meiner Schule war es nicht immer so. Ich gehörte zu denen, die Glück hatten. Andere wurden Opfer von Typen wie Todd Clause, dem typischen gutaussehenden Senior, der nur für den Applaus lebte.

»Jasmine, hey!«, rief Todd. Er lehnte in einem weißen T-Shirt und mit Goldkette um den Hals an einem Spind und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, zu ihm zu kommen. Er war einer der beliebtesten Schüler an der Canon High und benahm sich die meiste Zeit allen gegenüber, die nicht so umwerfend waren wie er, wie ein Arschloch.

Mich jedoch fand er hübsch – zumindest meine Oberweite und meine vollen Lippen.

Was für ein Glück.

Ich schenkte ihm ein falsches Lächeln und ging weiter. »Hey, Todd.«

Er kam zu mir und legte einen Arm um meine Schultern. »Wie läuft’s? Wo warst du am Wochenende?«

»Am Wochenende?«

Er zog beleidigt die Augenbraue hoch. »Meine Party? Du hast gesagt, du würdest vielleicht vorbeischauen.«

»Oh … richtig.« Ich kaute auf meiner Unterlippe und umfasste die Träger meines Rucksacks. »Tut mir leid. Ich war bei einem Casting. Und ich hatte Tanzunterricht.«

»Miss Hollywood«, witzelte er und ließ seine Hand langsam an meinem Rücken hinuntergleiten.

»Nein, einfach nur ich«, erwiderte ich und schob seine Hand eilig wieder nach oben.

»Nun, ich werde auch am nächsten Wochenende eine Party schmeißen. Meine Eltern sind an den Wochenenden immer weg, also ist bei mir samstags immer Party.«

»Cool«, sagte ich ohne großes Interesse.

»Du solltest unbedingt kommen. Ich wohne im Garden District.«

»Oh?« Ich war mir nicht ganz sicher, was das bedeutete.

»Das ist eine der reichsten Gegenden in New Orleans. Meine Familie hat ohne Ende Kohle. Ich gehe nur auf diese beschissene Schule hier, weil ich von der Privatschule geflogen bin.«

»Oh, cool.«

»Du kannst mich besuchen kommen und dir meine Pferde ansehen. Ich lasse dich sogar auf mir reiten.« Er lachte arrogant. »Ich meine, auf ihnen reiten. Ich lasse dich ein Pferd reiten.«

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich darauf antworten sollte, also ließ ich es bleiben.

»Hey, Boney Bones«, rief Todd und ließ mich los, um einen Jungen auf dem Gang zu schubsen.

Elliott.

Der Pechvogel.

Ich sah ihn häufig, oder vielmehr: Ich sah, dass er häufig von anderen malträtiert wurde. Er war ein stiller Kerl und blieb meist für sich. Ein schmächtiger Junge mit wunderschöner karamellfarbener Haut und haselnussbraunen Augen, der nie irgendjemanden ärgerte oder provozierte. Er hatte eine Zahnspange, eine Brille und ein paar nervöse Angewohnheiten, wie die zitternden Hände, die mir jedes Mal auffielen.

Für Todd war er ein herrlich leichtes Ziel: verschüchtert, gutmütig und einsam.

Besonders seine Einsamkeit fiel mir auf, denn ich kannte diesen besonderen Blick. Ich war mein ganzes Leben lang einsam gewesen, und Elliotts Blick spiegelte meinen eigenen.

Wie war es möglich, dass ein so nervöser Junge wie Elliott solche Musik erschuf?

Todd und ein paar andere Typen begannen, ihn hin und her zu schubsen. Elliott krümmte sich und hielt den Kopf gesenkt, während er ihnen zu entkommen versuchte.

»Todd, hör auf damit«, rief ich. »Lass ihn in Ruhe.«

Todd drehte sich zu mir um und lachte. »Ich lass ihn in Ruhe, wenn du versprichst, dass du zu meiner Party kommst.«

Ich stöhnte.

Der Vorschlag gefiel mir überhaupt nicht.

Todd stieß Elliott so fest, dass er gegen einen der Metallspinde prallte.

Ich stöhnte erneut.

Das gefiel mir noch weniger als der Gedanke an die Party.

Meine Finger kämmten durch meine schwarzen Haare, und ich biss mir auf die Unterlippe, bevor ich fragte: »Um wie viel Uhr geht es denn los?«

3

ELLIOTT

Die schrecklichsten Augenblicke meines Lebens ereigneten sich in einem Schulgebäude. Ich konnte es kaum erwarten, bis dieses Kapitel meines Lebens endlich abgeschlossen war. Jeden Morgen aufzuwachen und zu wissen, dass ich wieder dort hingehen musste, war das mieseste Gefühl, das ich mir vorstellen konnte.

»Boney Bones! Wie ich sehe, hast du mal wieder beschlossen, wie der letzte Dreck auszusehen«, rief irgendwer hinter mir her.

Ich hatte keine Ahnung, wer es war, und auch nicht das Bedürfnis, aufzublicken und es herauszufinden.

Halte den Kopf gesenkt und versuche, dich unsichtbar zu machen, sagte ich mir jeden Tag. Noch fünfhundertzweiundsechzig Tage, dann hast du deinen Abschluss.

Ich hasste die Schule – um es milde auszudrücken. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre ich niemals wieder dorthin gegangen, aber meine Mutter war total angefixt von dem Gedanken, dass meine Schwester und ich unseren Highschool- und Collegeabschluss machten, weil sie selbst nicht in der Lage gewesen war, es zu tun. Sie wollte, dass wir besser waren als sie, mehr erreichten als sie und im Leben erfolgreicher waren.

Ich selbst dachte allerdings nicht so weit in die Zukunft.

Ich versuchte lediglich, vom Mathe- in den Geschichtsraum zu kommen, ohne dass mir jemand eine Kopfnuss verpasste.

»Hey, Elliott«, sagte jemand hinter mir.

Ich drehte mich gar nicht erst um, denn wenn sie mich nicht Boney Bones oder Drahtbeißer oder ein Stück Scheiße, das von der Klippe springen sollte, nannten, dann redeten sie üblicherweise überhaupt nicht mit mir.

»Elliott! Hey! Ich rede mit dir«, rief die Stimme hinter mir. Es war ein Mädchen, und Mädchen redeten schon gar nicht mit mir. »Hey!« Eine Hand landete auf meiner Schulter, was mich dazu brachte, auf der Stelle stehen zu bleiben und zusammenzuzucken. Ich zuckte jedes Mal, wenn mich jemand berührte, denn in der Regel hatte ich gleich darauf eine Faust im Magen.

»Wieso zuckst du zusammen?«, fragte die Stimme. Ich öffnete langsam die Augen.

»T-tut mir leid«, flüsterte ich und war mir beinahe sicher, dass sie mich nicht gehört hatte.

»Warum schikanieren dich immer alle?«, fragte das Mädchen – nicht irgendein Mädchen, das Mädchen. Jasmine Greene.

Das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte.

Ich sah sie fragend an, nicht ganz sicher, wieso sie überhaupt mit mir redete. Jasmine war neu und megabeliebt. Und ich war nicht der Typ, der in den Genuss der Aufmerksamkeit beliebter Kids kam.

Wobei, das war nicht ganz korrekt. Ich war nicht der Typ, der in den Genuss positiver Aufmerksamkeit beliebter Kids kam.

»Was?«, fragte ich, verwirrt, dass sie mich überhaupt anschaute.

»Ich habe gefragt: Warum schikanieren dich immer alle?«

Mein Blick schoss hin und her, um sicherzugehen, dass ihre Worte tatsächlich an mich gerichtet waren. »Ich … ähm … i-i-ich …« Ich räusperte mich, und meine Schultern sackten nach vorne. »W-w-weil ich st-t-t-ottere?«

»War das eine Frage?« Sie lief rückwärts in Richtung Aula, damit sie mir in die Augen sehen konnte. Ich hasste Blickkontakt, vor allem mit Mädchen wie ihr. Hübsche Mädchen waren am schlimmsten. Sie sorgten dafür, dass ich meine T-Shirts durchschwitzte, und es gab nichts, was ich mehr hasste als Schweißflecke – abgesehen von meiner eigenen Stimme.

Jasmine umfasste die Träger ihres Rucksacks und lächelte, als ob wir Freunde wären.

Aber wir waren keine Freunde. Nicht, dass ich nicht ihr Freund hätte sein wollen, aber, nun ja, wir waren eben keine.

»War was eine Frage?«, erwiderte ich.

»Du hast es gesagt, als wäre es eine Frage.«

»Oh.«

»Ja. Also?«

»Es war k-keine Frage. Ich st-stottere. Aber nicht sehr. Ich bin kein Freak oder so.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

»Oh.«

»Und die Leute ärgern dich deswegen?«

Ich nickte.

»Das ist ein blöder Grund, jemanden zu ärgern«, bemerkte sie.

»Ich bin mir sicher, sie schik-kanieren mich auch wegen meines Aussehens.«

»Was ist falsch an deinem Aussehen?«

Ich lachte. »Machst du Witze? Sieh mich doch an.«

Sie legte den Kopf ein wenig schief und kniff die Augen zusammen. Ihre Lippen öffneten sich, und sie sagte leise: »Das tue ich.« Ihre Stimme klang wie die von Prinzessin Leia, und das gefiel mir mehr, als ich zugeben wollte.

»Ja, also, du bist netter als die meisten anderen. Da wir auf der Highschool sind, brauchen sie wohl keinen besonderen Grund, um mich zu schik-kanieren, aber ich fürchte, ich gebe ihnen mehr als genug.«

»Arschlöcher«, murmelte sie.

»Es ist mir e-egal.«

»Nein, ist es nicht.«

»Du hast keine Ahnung, was mir egal ist und was nicht.«

Sie lächelte wissend.

Ich lächelte wissend zurück.

Verdammt, sie war echt unglaublich. Meine Handflächen waren feucht. Sie war hübsch und sprach ganz normal mit mir, nicht herablassend oder so. Ich war vollkommen verwirrt, und alle anderen, an denen wir vorbeikamen, schienen mindestens ebenso verwirrt zu sein, als sie uns beide miteinander reden sahen.

Ich spreizte die Arme ein wenig, um meine Achseln zu lüften.

»Du spielst Saxophon?« Sie lief immer noch rückwärts.

»Ja?«

Sie grinste. »War das eine Frage?«

Ich riss meinen Blick von ihr los und räusperte mich. »Nein. Ich meine j-ja …« Ich schloss die Augen und holte tief Luft. »Ja. Ich spiele Saxophon. Woher weißt du das?«

»Ich habe dich spielen sehen, auf der Frenchmen Street.«

»Oh.«

»Spielst du häufig dort?«

»Eigentlich nicht. Aber mein Onkel TJ hat gesagt, ich soll jeden Samstag do-dort spielen. Also muss ich, denn er ist mein Mu-Musiklehrer.«

»Warum sagt er, dass du dort spielen sollst?«

»Er sagt, Musik sollte nicht im Ke-Keller leben. Sie sollte in die Welt hinausgehen und die Narben der Menschen heilen oder so. Ich hasse es.«

»Nun, damit bist du vermutlich ziemlich allein.« Sie blieb stehen und sah mich ernst an. »Du bist der beste Musiker, den ich je gehört habe.«

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte, also stand ich einfach nur da und starrte sie an wie ein Idiot.

»Elliott?«

»Ja?«

»Du starrst mich an, und das wird langsam ein bisschen seltsam«, erklärte sie und kämmte sich das dunkle Haar hinters Ohr.

»Oh, tut mir leid, aber … äh … danke?« Ich schüttelte leicht den Kopf und senkte den Blick. »Ich meine, danke … für das Kompliment. Danke.«

»Gern geschehen?« Sie zwinkerte mir zu, bevor sie sich umdrehte, um mit jemand anderem zu reden, denn davon abgesehen, dass sie unglaublich hübsch, klug und nett war, war Jasmine eben auch schrecklich beliebt. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so schnell so populär geworder war wie sie.

Jasmine Greene war in Canon Highschool stolziert, als gehörte die Schule ihr. Das Halbjahr hatte schon vor ein paar Wochen angefangen, aber das änderte nichts daran, dass alle Schüler sich benahmen, als sei die Königin endlich angekommen und als sei es Zeit sich vor ihr zu verneigen. Denn das taten sie eifrig. Als Junior war sie bereits so beliebt wie ein Senior. Sie war in allem, was sie tat, hervorragend, von Kunst bis Algebra.

Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie von meiner Existenz auf diesem Planeten ahnte, obwohl ich alles über sie wusste. Trotzdem war ich immer noch vollkommen verwirrt. Warum war sie so nett zu mir?

In dem Augenblick, als sie sich umdrehte, um mit jemand anderem zu reden, stieß ich den tiefsten Seufzer meines Lebens aus.

»Eli«, sagte eine vertraute Stimme, und der Spitzname verriet mir, dass es eine sichere Stimme war. Ich drehte mich um und sah meine große Schwester Katie, die mich besorgt ansah. Ihr Blick wanderte über den Korridor zu Jasmine. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Warum?«

»Du hast mit der Neuen geredet, Jasmine.«

»Ja. Und?«

Katie räusperte sich und richtete sich mit den Büchern in der Hand ein wenig mehr auf. »Worüber habt ihr gesprochen? Ich verstehe nicht, warum sie mit dir reden sollte.«

»Wow. Danke«, erwiderte ich angesäuert.

Sie verdrehte die Augen. »So habe ich es nicht gemeint, Eli. Du bist einfach besser als diese Typen.«

»Diese Typen?«

»Du weißt schon, diese Chanel-Mädels – die coolen Kids.«

»Letztes Jahr wolltest du selbst eine Chanel-Tasche haben.«

»Ich weiß, aber das ist nicht dasselbe. Außerdem sind mir solche Dinge nicht mehr wichtig. Ich habe gesehen, wie sie sich mit Todd Clause unterhalten hat, du weißt schon, und wenn sie auf Typen wie ihn steht, dann …«

»Vielleicht steht sie ja auch auf Typen wie mich«, scherzte ich und schob die Brust raus. »Ich bin ziemlich …« Ich blinzelte und schloss die Augen. Muskulös – sag’s einfach. Das Wort heißt muskulös. Doch es schnürte mir die Kehle zu, während ich mich verzweifelt bemühte, das Wort über die Lippen zu bringen. »Ich finde, ich bin ziemlich …« Nichts. Ich rang nach Luft, mein Verstand raste, während ich versuchte, ein anderes Wort zu finden, irgendein Synonym für muskulös. Alles … alles würde passen, doch sobald die Panik mich überkam, war es mir unmöglich, irgendein Wort zu finden. Ich schnappte nach Luft und versuchte, das Wort irgendwie herauszubringen. »Ich bin ziemlich …« Aber es funktionierte nicht. Es funktionierte so gut wie nie. »Ich finde, ich bin ziemlich … massig«, keuchte ich endlich. Meine Ohren glühten vor Anstrengung, mein Gesicht war knallrot.

»Massig?« Katie kicherte. »Elliott, du hast etwa so viel Masse wie ein Hähnchenflügel.«

Ich lachte. Und mein Gesicht kühlte sich langsam wieder ab nach der Anstrengung, ein einfaches Wort herauszubringen.

Meine Schwester machte niemals eine Bemerkung über mein Stottern, vermittelte mir deswegen nie ein schlechtes Gefühl. Normalerweise pfiff oder summte sie leise vor sich hin und wartete geduldig, bis ich fertig war. Manchmal wandte sie den Blick von mir ab, denn sie wusste, dass es die Sache schwieriger machte, wenn mich jemand anstarrte. Sie versuchte auch nie, das Wort zu erraten, das ich sagen wollte, denn sie wusste, wie sehr sie meine Lage damit verschlimmerte.

Katie zog eine Grimasse und stieß mich mit dem Ellbogen an. »Hör zu, ich weiß, dass du ein bisschen einsam bist, seit Jason nach Nebraska gezogen ist …«

»Ich bin nicht einsam«, log ich, und Katie wusste, dass es eine Lüge war. Mein bester Freund Jason war nach Nebraska gezogen, und ohne ihn hatte ich niemanden mehr, mit dem ich reden konnte, außer meiner Schwester.

Ich hasste es.

Ich hasste es, wie schwierig es war, die ganze Zeit allein zu sein.

»Sei einfach vorsichtig«, warnte Kate wie die überfürsorgliche Schwester, die sie nun einmal war. »Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst.« Sie lächelte mir zu und ging weiter.

Katie war zwar meine Schwester, aber sie musste nicht dieselben Kämpfe austragen wie ich. Sie war hübsch, wie Mom, und genauso wortgewandt wie sie.

Ihre Entscheidung, nicht mit den beliebten Schülern abzuhängen, war das Ergebnis eines Vorfalls, der sich letztes Jahr ereignet hatte. Davor war sie selbst eine von den Coolen gewesen, aber jetzt blieb sie lieber für sich. Es machte ihr nicht viel aus. Jedenfalls glaubte ich das. Sie sagte immer, es gäbe wichtigere Dinge im Leben, als in der Schule beliebt zu sein.

Sie hatte Wichtigeres zu tun, zum Beispiel zu entscheiden, wo sie nächstes Jahr aufs College gehen würde.

Katie hätte es niemals zugegeben, aber eine ihrer Hauptaufgaben war es, dafür zu sorgen, dass es mir gut ging. Ein Teil von mir hasste sie dafür, dass sie so über mich wachte, aber im Grunde war ich dankbar, eine so fürsorgliche Schwester zu haben. Sie und meine Mutter transzendierten jede Definition von Liebe. Ja, Schule war die Hölle, aber zumindest wusste ich: Wenn ich nach Hause kam, war alles gut.

Jeden Abend aßen wir drei gemeinsam am Tisch im Esszimmer. Und Mom kochte jeden Tag. Wir aßen niemals Take-away. Mom hatte das Kochen von Oma gelernt und scheute dabei keine Mühen. Sie sagte, Comfort-Food und Gespräche seien die Säulen ihrer Kindheit gewesen, und sie wünschte sich dasselbe für uns.

»Wie war die Schule?«, fragte Mom und stellte gegrilltes Hühnchen auf den Tisch, zu all den anderen Dingen, die sie zubereitet hatte. Unser Abendessen war immer das reinste Festmahl. Obwohl wir nicht viel besaßen, hatten wir doch immer etwas zu essen auf dem Tisch, was mehr war, als viele andere von sich sagen konnten.

»Gut«, sagte Katie und löffelte Kartoffelpüree auf ihren Teller. »Brooke hat einen neuen Freund.« Brooke war Katies ehemalige beste Freundin, doch seit dem Vorfall redeten die beiden nicht mehr miteinander. Katie sagte, es mache ihr nichts aus, aber sie wusste nach wie vor überraschend gut über die Details in Brookes Leben Bescheid.

»Schon wieder?« Mom verdrehte die Augen und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. »Ist sie nicht gerade erst mit Trey zusammengekommen?«

»Travis«, korrigierte Katie. »Trey war drei davor. Aber jetzt ist sie mit Tyler zusammen.«

»Sie steht wohl auf den Buchstaben T«, sagte ich mit einem Grinsen.

»Sie steht auf alle Buchstaben, wenn sie in einem Jungennamen vorkommen«, lachte Katie. »Aber wisst ihr, sie steht auch darauf, schlechte Entscheidungen zu treffen.«

»Solange du ihr diese schlechten Entscheidungen nicht nachmachst«, sagte Mom.

»Glaub mir, Mom, ich habe keine Zeit für Schuljungen. Die sind mir alle zu kindisch. Ich warte bis zum College, bevor ich es überhaupt in Erwägung ziehe, mit einem Jungen auszugehen.«

»Nun, falls du dich jemals wieder mit Brooke vertragen solltest und sie irgendwann auf den Buchstaben E stehen sollte, denk an mich«, scherzte ich und biss in meinen Hähnchenschenkel.

Mom betrachtete mich überrascht. »Da hat aber jemand gute Laune.«

»Ich hatte einen guten Tag.« Und da geschah es – Moms Augen wurden feucht. »Nicht weinen, Ma.« Ich stöhnte.

»Ich weine gar nicht«, schwindelte sie und rieb sich über die Augen. Meine Mutter war eine sehr emotionale Frau. »Ich habe dich bloß schon sehr lange nicht mehr sagen hören, dass du einen guten Tag hattest.«

»Jeder Tag ist okay«, erklärte ich.

»Ja, aber nicht gut. Es ist nur …« Sie schniefte, wischte sich erneut über die tränennassen Augen und lächelte mir zu. Es war die Art von Lächeln, bei dem ich spüren konnte, wie sehr sie mich liebte. »Es macht mich sehr glücklich, dass du einen guten Tag hattest.«

Ich zuckte die Achseln und widmete mich wieder dem Essen.

Doch Mom war noch nicht fertig. Sie verschränkte die Arme, legte sie auf den Tisch und sah mich mit glänzenden Augen an. »Gibt es einen Grund?«, überlegte sie laut. »Für den guten Tag?«

»Hm-hm«, antwortete ich.

»Er hat mit einem Mädchen geredet«, verriet Katie.

»Katie!«, zischte ich.

»Eli!«, zischte sie zurück.

»Ein Mädchen?« Mom zischte selbst vor Aufregung. »Erzähl mir mehr.«

»Es ist nichts«, sagte ich.

»Er hat recht. Es ist nichts. Sie ist nicht die Richtige für ihn«, stimmte Katie zu.

»Warum das?«, fragte ich ein wenig gekränkt. »Weil sie beliebt ist und cool und ich nicht?«

Katies Blick wurde finster. »Nein, Eli, natürlich nicht. Aber Mädchen wie sie gibt es wie Sand am Meer, und du verdienst etwas Bedeutungsvolleres, jemanden, der dich besser versteht.«

»Vielleicht versteht sie mich ja.«

»Vielleicht. Aber die Chance, dass sie es nicht tut, ist sehr viel größer«, erwiderte Katie.

Mom verfolgte den Wortwechsel zwischen meiner Schwester und mir lächelnd. Sie fand es immer ausgesprochen unterhaltsam, wenn Katie und ich miteinander diskutierten. Meist hielt sie sich dabei zurück und spielte nur die Mediatorin. »Wisst ihr, was ich denke?«

»Was?«, fragte ich.

»Ich denke, du hattest heute einen guten Tag«, sagte sie zu mir. »Und alles, was dir dabei hilft, einen guten Tag zu haben, ist gut.«

»Aber Mom, du hast keine Ahnung, was das für ein Mädchen ist. Mit ihrem Make-up und ihrer Designertasche und …«, begann Katie, aber Mom unterbrach sie, indem sie ruhig die Hand hob.

»Entschuldige, Katie, aber hast du gerade aufgrund ihrer Besitztümer über das Mädchen geurteilt?«, fragte sie, und ihr Blick wurde streng. »Denn ich bin mir ziemlich sicher, andere Menschen aufgrund der Dinge zu beurteilen, die sie besitzen, ist ebenso schlimm wie sie für das zu beurteilen, was sie nicht haben. Wie würde es dir gefallen, beurteilt zu werden, weil du keine Designertaschen hast?«

Katie grummelte etwas und senkte den Kopf. »Tut mir leid, Mom.«

»Schau, ich verstehe dich ja. Du liebst deinen Bruder und möchtest nicht, dass er verletzt wird, aber du wirst nicht immer da sein, um ihn zu beschützen. Er muss seine eigenen Entscheidungen treffen, und ich denke, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Katie entschuldigte sich noch einmal und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Essen, und ich gab mir alle Mühe, nicht zu grinsen.

Es gefiel mir, wenn Queen Mom Prinzessin Katie in ihre Schranken wies.

Und irgendwie gefiel es mir auch, einen guten Tag zu haben.

4

JASMINE

Der Samstagabend rückte näher, und mir graute vor Todds Party. Ich wartete, bis Mama zur Arbeit gefahren war, und schlich mich aus dem Haus. Sie hatte mir aufgetragen, Gesangsübungen zu machen, und wenn ich ehrlich war, hätte ich das auch sehr viel lieber getan, als zu Todd zu fahren.

Nichts an der Vorstellung von einem Haus voller Betrunkener reizte mich. Außerdem war mir klar, dass Todd mich bloß ins Bett kriegen wollte, woran ich jedoch keinerlei Interesse hatte. Aber ich konnte nicht einfach dastehen und zusehen, wie er Elliott schikanierte.

Wenn es nicht mehr bedurfte, als mein Gesicht auf dieser dämlichen Party zu zeigen, damit er Elliott in Ruhe ließ, dann würde ich eben da aufschlagen.

Aber vorher musste ich noch woanders hin.

Elliott spielte bereits an der Ecke, als ich dort ankam. Er trug eine Newsboy-Kappe und ein weißes Button-Down-Hemd mit schwarzen Hosenträgern und sah exakt so aus, wie ein Jazz-Musiker aussehen sollte. Und er klang noch besser. Elliott war immer so nervös, außer wenn er das Saxophon in den Händen hielt. Wenn er seine Musik spielte, war seine Seele frei. Der Jazz ermöglichte es ihm zu atmen.

Es war verrückt, was seine Musik mit mir machte, wie sie mich im selben Augenblick glücklich und traurig sein ließ. Ein paar seiner Stücke waren ein wenig fröhlicher, und manchmal tanzte er dabei sogar ein bisschen.

Andere Stücke jedoch … weinten.

Ich konnte die Traurigkeit in ihnen spüren und sah, wie sie Elliott selbst beeinflussten. Diesmal standen mehr Leute um ihn herum, und mehr Leute warfen Münzen in seinen Instrumentenkasten. Es war, als würde er sich seine eigene kleine Fangemeinde aufbauen.

Und ich war ihr Anführer.

Ich konnte unmöglich weitergehen, bevor er nicht seinen letzten Ton gespielt hatte. Und als er fertig war, wollte ich noch mehr hören, und die anderen auch.

»Zugabe!«, riefen ein paar von ihnen, und Elliott senkte die Brauen, als würde er nachdenken.

»I-i-ich kann noch eins spielen?«, sagte er, und die Leute jubelten.

Als seine Finger über die Klappen seines Saxophons tanzten, zog sich mein Herz zusammen. Das Stück kam mir bekannt vor, aber ich erkannte es nicht sofort. Tränen traten mir in die Augen, und ich wollte ihm noch näher sein. Ich wollte seine Energie, seinen Herzschlag spüren, während er spielte.

Ich betete, dass er niemals aufhören würde. Doch schließlich setzte er das Saxophon ab.

Sobald er begann, seine Sachen zusammenzupacken, verwandelte er sich wieder in den nervösen Jungen, und diesmal würde ich meine Gelegenheit nicht verpassen.

»Du warst wieder einmal perfekt«, sagte ich lächelnd.

Er sah auf, sein Blick huschte hin und her, hielt inne, und huschte weiter, bevor er an mir hängen blieb. Die Brille rutschte ihm von der Nase, und er schob sie mit dem Zeigefinger wieder nach oben. »Du bist hergekommen, um mich spielen zu sehen?«

Ich nickte. »Ich habe dir doch gesagt, du bist der beste Musiker, den ich je gehört habe.«

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg jedoch.

Ein wenig nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, konnte aber unmöglich schweigen … irgendwas. »Du hast gesagt, dein Onkel hat dir das Spielen beigebracht?«

»Ja. Na ja, er ist mehr ein Freund d-er Familie, aber er war immer wie ein Onkel für mich. Er ist absolut genial in allem, was er macht.«

»Dann richte ihm aus, dass die Übungsstunden sich ausgezahlt haben.«

Elliott lächelte, und ich spürte es bis in meine Wangen.

»Ich muss los«, sagte er, legte sein Saxophon in den Kasten und verschloss ihn.

»Oh. Okay.« Ich kaute auf meiner Unterlippe. »Einen schönen Abend noch.«

Er nickte. »Dir auch.« Dann griff er nach dem Instrumentenkasten und ging davon.

Ich rief hinter ihm her.

»Ja?«

»Wie hieß das letzte Stück, das du gespielt hast?«

»Oh. Ähm …« Er räusperte sich und nickte. »›The Rose‹ von Bette Midler. Das ist, ähm, der Lieblingssong meiner Mutter. Ich habe ihn mal für Muttertag eingeübt.« Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Jetzt hab ich geklungen wie der letzte Loser auf dieser Welt.«

Ich lachte. »Oder der süßeste Sohn. Ich fand es echt toll.«

Er schaukelte kurz auf den Fußballen und rieb sich den Nacken. »Okay, also dann … tschüss.«

Und weg war er.

Was für ein seltsamer Junge.

»Da sieh mal einer an«, sagte Todd, als ich bei ihm auftauchte. »Ich hab schon gedacht, du versetzt mich.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln, als er zu mir trat und den Arm um meine Taille legte. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich komme, oder nicht?«

»Selbstverständlich. Komm rein. Fühl dich wie zu Hause. Mi casa es su casa.« Er zwinkerte mir zu. »Komm, ich führe dich rum.«

Ich seufzte, ließ mich aber von ihm durchs Haus führen, wobei er mir im Grunde nur einen Bereich zeigte – sein Schlafzimmer.

»This is where the magic happens«, erklärte er.

»Ziehst du ein Kaninchen aus dem Hut?«, scherzte ich.

»Nein, aber ich habe eine anständige Karotte, falls du sie sehen willst«, erwiderte er, und ich bekam eine Gänsehaut.

»Meinst du, du könntest mir was zu trinken besorgen?«, fragte ich in dem Versuch, das Thema zu wechseln.