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Ein Neuanfang mit Anlaufschwierigkeiten und unerwartetes Gefühlschaos in Charlottes zweitem Frühling. Ein unterhaltsamer Frauenroman von Katja von Eysmondt. Aus heiterem Himmel erfährt Charlotte, dass ihr Mann Robert sie betrogen hat. Einfach so. Nach fast fünfundzwanzig Jahren Ehe. Hals über Kopf bricht sie zu ihrer Tante Trude an die Mosel auf, und bleibt diesmal länger als sonst. Kaum hat sie sich dort ein wenig vom Schock erholt, droht die nächste Hiobs-Botschaft, ihr erneut den Boden unter den Füßen wegzureißen: Ihre Tante möchte den kleinen Papierladen, in dem Charlotte hin und wieder aushilft und den sie schon lange in ihr Herz geschlossen hat, verkaufen. Schlagartig wird Charlotte bewusst, dass sie jetzt auch noch den Ort ihrer Kindheit verlieren wird. Als dann nach und nach alle Familienmitglieder von Charlotte das kleine Haus von Trude bevölkern ist der Trubel eigentlich perfekt. Bis auf einmal Tom auftaucht. Er ist der Besitzer einer Papierfabrik und bringt Charlottes Gefühlswelt gehörig durcheinander ... »Wenn du mich verlässt, darf ich dann mitkommen?« von Katja von Eysmondt ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!
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Seitenzahl: 337
Katja von Eysmondt
Wenn du mich verlässt, darf ich dann mitkommen?
Roman
Knaur e-books
Ein Neuanfang mit Anlaufschwierigkeiten und unerwartetes Gefühlschaos in Charlottes zweitem Frühling. Ein unterhaltsamer Frauenroman von Katja von Eysmondt.
Aus heiterem Himmel erfährt Charlotte, dass ihr Mann Robert sie betrogen hat. Einfach so. Nach fast fünfundzwanzig Jahren Ehe. Hals über Kopf bricht sie zu ihrer Tante Trude an die Mosel auf und bleibt diesmal länger als sonst. Kaum hat sie sich dort ein wenig vom Schock erholt, droht die nächste Hiobsbotschaft ihr erneut den Boden unter den Füßen wegzureißen: Ihre Tante möchte den kleinen Papierladen, in dem Charlotte hin und wieder aushilft und den sie schon lange in ihr Herz geschlossen hat, verkaufen. Schlagartig wird Charlotte bewusst, dass sie jetzt auch noch den Ort ihrer Kindheit verlieren wird.
Als dann nach und nach alle Familienmitglieder von Charlotte das kleine Haus von Trude bevölkern, ist der Trubel eigentlich perfekt. Bis auf einmal Tom auftaucht. Er ist der Besitzer einer Papierfabrik und bringt Charlottes Gefühlswelt gehörig durcheinander …
April 1993
Charlotte hing sehr an ihm. Doch dort, wo sie jetzt hinging, gab es keinen Platz für ihren geliebten Bulli. Im Vorbeilaufen strich sie noch ein letztes Mal sanft mit der Hand über die Flanke des alten Busses und steuerte dann auf Robert zu, der ihr eilig entgegenlief, um ihr die Reisetasche abzunehmen.
»Wenigstens ist in deinem Auto genug Platz für mein Gepäck«, bemerkte Charlotte und fuhr mit der Hand über das bordeauxrote Wildleder der Tasche.
»Vintage – wie dein Bus«, amüsierte sich Robert, der leicht gebückt unter der geöffneten Kofferraumklappe seines schwarzen Kombis stand.
»Neben Roberts schickem Alukoffer wirkt mein Gepäckstück wie ein Fossil aus der Steinzeit«, schoss es Charlotte durch den Kopf.
»Richtig. Erst die Tasche, dann der Bus. Das ist der Deal. Und mehr brauche ich nicht«, energisch schlug Charlotte die Kofferraumklappe zu.
Robert küsste zart ihre Lippen. »Ich bin ein echter Glückspilz. Die meisten Frauen, die ich aus Düsseldorf kenne, hätten in so einer Tasche höchstens ihre Schminke untergebracht.« Dann ging er in die Hocke und küsste auch die kleine Wölbung, die sich leicht unter ihrem luftigen Blümchenkleid abzeichnete.
»Wir Mädels aus der Pfalz kommen halt mit weniger aus«, erwiderte sie lächelnd und fuhr ihm liebevoll durch seine vollen dunkelblonden Haare.
Robert erhob sich. »Sobald wir etwas Größeres mit Stellplatz oder Garage gefunden haben, holen wir den Bus.« Er strich ihr eine kastanienbraune Locke aus dem Gesicht, legte die rechte Hand auf sein Herz und hielt Charlotte mit der anderen die Beifahrertür auf. »Darf ich bitten, Frau Eschenfeder?«
Ein Schauer durchlief sie. Charlotte Eschenfeder. Ihr neuer Name. Ein neuer Name für ein neues Leben.
»Sehr gern, Herr Eschenfeder.«
Robert wartete, bis Charlotte sich angeschnallt hatte, und schloss dann sanft die Beifahrertür. Einen Moment lang saßen sie schweigend da, und für Charlotte fühlte es sich so an, als hätte sie gerade in der Achterbahn des Lebens Platz genommen – ohne zu wissen, welche Überraschung hinter der nächsten Kurve auf sie wartete. Sie zog den Gurt unter ihrem Babybauch fest.
»Eigentlich war es doch eine schöne kleine Hochzeit«, sagte Charlotte, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Ihr Blick fiel auf die Weinberge, die sich hinter der kleinen Pension erhoben, in der sie ihre Hochzeitsnacht verbracht hatten. Eigentlich hatten sie bei ihrer Tante Trude und ihrem Onkel George übernachten wollen. Doch dann hatte Robert Charlotte nach dem gemeinsamen Essen mit Verwandten und Freunden in diese zauberhafte Pension entführt, die nur einen Katzensprung von der Burg Cochem entfernt lag. Von hier oben hatte man einen wunderbaren Ausblick auf die Mosel, die in dieser Nacht besonders schön funkelte.
Sie fuhren auf die Bundesstraße, und Robert öffnete das Fenster. Der sanfte Luftzug tat gut. Für Mitte April war es ein ungewöhnlich heißer Tag. Und seit Beginn ihrer Schwangerschaft war es Charlotte ohnehin eigentlich immer warm. Sie wedelte sich mit der Hand Luft zu.
»Was heißt hier ›eigentlich‹?« Robert legte seine Hand auf Charlottes Oberschenkel und drückte ihn sanft. »Ich hatte letzte Nacht jedenfalls sehr viel Spaß.«
Charlotte musste grinsen. Sie umfasste seinen muskulösen Handrücken, und sofort verschlangen sich ihre Finger ineinander.
»Ich hätte sie halt gern dabeigehabt«, seufzte Charlotte.
»Deine Eltern?« Robert löste sanft seine Finger aus ihren, um auf die Weinstraße entlang der Mosel abzubiegen.
Charlotte schüttelte den Kopf. »Trude und George.«
»Aber sie waren doch dabei.« Robert warf ihr einen verwunderten Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.
Links und rechts leuchteten die Weinstöcke an den Hängen. Wenn der Sommer warm und trocken wurde, würden die Winzer in diesem Jahr sicher eine einträgliche Ernte haben.
»Ja, aber nach der standesamtlichen Trauung sind sie direkt wieder gefahren.« Charlottes Stimme klang vorwurfsvoll.
»Das ist nicht fair«, widersprach Robert. »Trude und George haben alle Hände voll zu tun mit der kleinen Druckerei und dem Papierladen. Das weiß niemand besser als du. Außerdem warst du diejenige, die unbedingt noch im April heiraten wollte. Konnte doch keiner ahnen, dass die beiden genau jetzt einen wichtigen Auftrag bekommen. Von mir aus hätten wir auch gut erst nächsten Monat heiraten können«, versuchte Robert sie aufzuheitern.
»Ja sicher, aber dann hätte ich ausgesehen wie ein Walross!« Charlotte strich sich sanft über ihren Babybauch.
»Ich bin mir sicher, dass die Standesbeamtin auch schon Walrösser getraut hat«, lachte Robert, und Charlotte musste schmunzeln.
Robert bog auf die Autobahn Richtung Koblenz ein und beschleunigte den Kombi. Charlotte schnappte leise nach Luft, als sie leicht gegen die Rückenlehne des Beifahrersitzes gepresst wurde. Sie blickte auf die letzten Weinberge, die allmählich von Sträuchern und Bäumen abgelöst wurden.
»Ich vermisse ihn jetzt schon«, seufzte sie.
»Wen?« Robert klopfte mit den Fingern aufs Lenkrad und strahlte sie an. »Ich sitze doch direkt neben dir!«
»Sehr witzig!« Sie schaute ihn von der Seite an. »Meinen geliebten Bulli! Und meine Arbeit bei Onkel George in der Werkstatt.«
»Eines Tages«, Roberts Stimme wurde ganz sanft, und er legte erneut die Hand auf Charlottes Oberschenkel, »kommen wir zurück und holen deinen geliebten Bus. Ich fand die Idee von Onkel George, ihn solange als Lieferwagen zu benutzen, gar nicht schlecht.«
Charlotte schob ihre Finger sanft in seine und schloss die Augen. »Und meine Arbeit?«
»In Düsseldorf gibt es ebenfalls Druckereien. Bestimmt findest du eine, die auch mit eurer traditionellen Druckmethode arbeitet.«
»Das ist aber nicht dasselbe«, stöhnte Charlotte und öffnete ihre Augen.
»Nichts ist mehr dasselbe, Charlotte. Wir bekommen ein Kind und werden eine eigene kleine Familie sein.«
In Roberts Stimme lag so viel Zuversicht. Zuversicht, die Charlotte bisher fehlte. Sie wurde dieses dumpfe Gefühl einfach nicht los, mehr aufzugeben als er, um gemeinsam mit ihm in ein neues Leben aufzubrechen. »Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen Zeit, um mich an diesen Gedanken zu gewöhnen«, sagte sie leise.
Robert drückte sanft ihre noch immer mit seinen verschlungenen Finger und steuerte für den Rest der Fahrt fest mit beiden Händen das Lenkrad.
Charlotte strich zärtlich über die Wölbung unter ihrem Blümchenkleid. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wie bunte Konfettiteilchen durcheinander. »Zu Hause ist da, wo mein Herz schlägt«, dachte sie. Und ihr Herz schlug für Robert und das kleine Wesen in ihr.
April 2017
Nichts tat sich. Das verdammte Ding zickte mal wieder rum. Egal wie oft sie auch am Starterkabel dieser Höllenmaschine zog, der Motor gab keinen Mucks von sich. Charlotte rieb sich die schmerzende Schulter.
»Robert, kannst du bitte mal nach dem Mäher schauen? Irgendwas stimmt damit nicht.«
Charlottes Mann stand mit der Heckenschere in der Hand auf einer Trittleiter, um endlich die Thujahecke wieder in Form zu bringen, die den Garten ihres schmucken Einfamilienhäuschens im Düsseldorfer Süden säumte. Doch statt zu schneiden, starrte er immer wieder mit Weltuntergangsmiene hinaus auf den Rhein, auf dem die ersten Ausflugsschiffe zu sehen waren.
»Robert? Könntest du dich bitte mal um dieses alte Miststück hier kümmern?«
Nervös fingerte sie am Gestell ihrer Brille herum. Ihr war heiß, und der Schweiß ließ ihr immer wieder ihre Brille von der Nase rutschen.
»Miststück? Was meinst du damit?«
Plötzlich war Robert hellwach und starrte sie kreidebleich an.
»Was meine ich womit?« Charlotte putzte sich die Hände an ihren geblümten Gartenshorts ab und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Seit er von seiner letzten Dienstreise zurück war, verhielt er sich merkwürdig. Sie wollte gerade zu ihm gehen, als er schon eilig von seiner Leiter hinunterkletterte, sie an den Oberarmen packte und sanft zu einem der Teakholzstühle bugsierte, die sie erst gestern vom Winterschmutz befreit hatte.
»Robert, ich habe jetzt keine Zeit für so was. Ich muss hier fertig werden.« Kopfschüttelnd löste Charlotte sich aus seinen Armen und versuchte, an ihm vorbei und wieder zu ihrem Rasenmäher zu kommen. Um achtzehn Uhr waren sie mit Ben und Stella im Lindenberger Hof zum Essen verabredet. Robert und sie wollten den Umstand, dass ihre Kinder gerade beide in der Stadt waren, nutzen und gemeinsam mit ihnen schick essen gehen. Aber vorher musste Charlotte noch duschen, sich umziehen und einen Gâteau au Chocolat für ihre Tante Trude fertig machen.
Charlotte konnte es gar nicht leiden, wenn die Dinge, die sie sich vorgenommen hatte, nicht so liefen, wie sie es sich vorstellte.
Robert war der technische Experte. Er bekam alles wieder zum Laufen. Er sollte sich um dieses Fossil von uraltem Rasenmäher kümmern und nicht um sie. Robert reparierte, Charlotte kümmerte sich um den Rest. Das hatte in den letzten vierundzwanzig Jahren hervorragend funktioniert.
»Der Rasenmäher bockt. Kriegst du das wieder hin?«, versuchte sie es nun mittlerweile zum dritten Mal und blickte ihren Mann auffordernd an.
»Ich krieg das nicht hin. Ich krieg gerade gar nichts mehr hin, Charlotte, weil ich, weil ich …« Er stockte mitten im Satz.
Charlotte hob den Kopf und sah, dass Robert immer noch kreidebleich war. Vielleicht lag es doch an dieser überraschenden Hitze an diesem schönen ersten Frühlingstag. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was Robert ihr nach seinem letzten Arztbesuch berichtet hatte. »Jetzt übertreibst du aber. Bisher hast du alles wieder hingekriegt«, versuchte sie die Stimmung etwas aufzuhellen.
Robert schüttelte energisch den Kopf und forderte sie auf, sich hinzusetzen. Bevor Charlotte etwas entgegnen konnte, spürte sie einen leichten Druck auf ihren Schultern, der sie zwang, endgültig Platz zu nehmen. Ihr Blick glitt entnervt über den ungemähten Rasen. Verdammt, so würde sie nie fertig werden.
Robert kniete sich vor ihr auf die Steinplatten und griff nach ihrer Hand. Als sie ihn ansah, bemerkte sie die Panik in seinem Blick, und ihr Magen zog sich zusammen.
»Ich muss dir etwas sagen, Charlotte.« Er schluckte trocken. »Ich hatte Sex mit einer anderen Frau«, seine Stimme klang schwer und sehr leise.
Charlotte starrte ihn an. Irgendetwas musste mit ihren Ohren sein.
»Wie jetzt, was soll das heißen?« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Charlotte begann, tief durch die Nase ein- und durch den Mund wieder auszuatmen. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Million Jahre lang geschlafen und wäre gerade mit einem Knall geweckt worden. Eine Hitzewelle erfasste sie, und sie spürte, wie ihr Schweißperlen von den Achseln über die Taille liefen.
»Vielleicht stecke ich ja in einer Midlife-Crisis.« Robert klang, als wollte er sich für das, was er gerade gesagt hatte, entschuldigen. Ihre Blicke trafen sich. Charlotte wurde übel. Sie senkte den Kopf und starrte wieder auf den ungemähten Rasen.
»In was auch immer du gerade steckst, hast du dabei auch nur ein einziges Mal an mich gedacht?«, fauchte sie und funkelte ihn böse an.
»Charlotte, es ist einfach passiert.«
»Ha! Es ist einfach passiert!« In Charlottes Kopf rauschte es, ihre Knie zitterten, und sie konnte das Herz in ihrer Brust hämmern hören.
Sie musste etwas tun, sonst würde sie noch platzen. Mit einem Ruck stand sie auf, marschierte zum Rasenmäher und riss am Starterkabel. Gehorsam erwachte er zum Leben. »Glück gehabt, du verdammtes Mistding.« Sie wollte nichts mehr hören außer dem Krach, der aus dieser Höllenmaschine dröhnte. Midlife-Crisis, so ein Unsinn. Mit wütenden Schritten stapfte sie kreuz und quer über den Rasen.
Irgendwann legte sich eine Hand auf ihre und löste den Sicherheitsgriff aus ihren Fingern. Der Lärm verstummte.
»Ich glaube, der Rasen ist jetzt kurz genug.« Robert stand neben ihr und sah hundeelend aus. Er blickte sie an.
»Ich kann sehr gut auf deine Tipps verzichten.« Charlotte stieß seine Hand vom Griff und schob den Rasenmäher in die Gartenhütte.
»Willst du denn nicht darüber reden?«, rief er ihr hinterher.
»Reden worüber? Über den Sex mit einer anderen Frau? Oder darüber, wer mir jetzt den Rasenmäher repariert? Wie wäre es, wenn du erst mal deine verdammte Thujahecke zu Ende schneidest???!!!«, brüllte sie etwas zu laut.
Robert hielt sich den Zeigefinger vor den Mund.
»Psst, die Nachbarn«, flüsterte er und betrachtete sein halb fertiges Schneidewerk.
Charlotte trat wieder hinaus auf die Terrasse und brüllte noch einen Ton lauter: »Liebe Nachbarn, Robert hat eine Midlife-Crisis!!!!«
In Blümchenshorts und matschigen Gummistiefeln stapfte sie in den Flur, schnappte sich ihren Autoschlüssel und ihre Handtasche von der Garderobe und knallte die Haustür ins Schloss.
Charlotte schnäuzte sich wieder die Nase und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Auf dem Beifahrersitz türmte sich schon ein Stapel zusammengeknüllter Papiertaschentücher. Sie starrte auf die rote Ampel, die schon wieder vor ihren Augen verschwamm. Als es endlich grün wurde, gab sie Gas und bog auf die Benrather Schlossallee ein.
Jeden zweiten Samstag im Monat übernahm Charlotte für ein paar Stunden den Papierladen ihrer Tante Trude an der Mosel, damit die sich eine kleine Auszeit nehmen und in aller Ruhe zum Friseur gehen konnte. Vor gut einem Jahr hatte Trude ihre Nichte gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, sie für diese Zeit im Laden zu vertreten. Und weil Charlotte sich ohnehin, seit die Kinder aus dem Haus waren und auch Robert durch seine ständigen Geschäftsreisen nur noch selten daheim war, über etwas mehr Abwechslung in ihrem Alltag freute, hatte sie zugesagt. Es war eine gute Entscheidung gewesen. Diese Stunden in Helsinn erfüllten Charlotte jedes Mal mit einer tiefen Zufriedenheit.
Heute war Freitag, Trude würde sich also ein wenig wundern, ihre geliebte Nichte schon am Vorabend zu sehen, aber Charlotte musste einfach weg.
Auf der Benrather Schlossallee klebte ein Geländewagen hinter dem anderen. Dicht an Charlottes Wagen drängelte ein Fahrradkurier. Auf dem schmalen Fahrradweg direkt neben der stark befahrenen Hauptstraße fuhr eine Mutter auf ihrem schicken Hollandrad mit einem bunten Fahrradanhänger, die Charlotte an kleine Hundehütten erinnerten. Sie hatte nie verstanden, wie man sein Kind in so ein Ding setzen konnte. Als Stella und Ben noch klein und Robert und sie mit ihnen auf dem Fahrrad unterwegs gewesen waren, hatten die beiden immer vorn zwischen ihnen und dem Lenkrad gethront. Zum Schutz vor Wind und Regen hatte Robert ihnen extra ein passendes Plastikvisier gebastelt. Charlotte spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals formte und ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie wischte sich über die Augen und fuhr auf die Schnellstraße, die sie zur Autobahn brachte, wo weiter vorn der Verkehr bereits zu stocken begann.
»Das auch noch«, stöhnte sie leise vor sich hin und reihte sich auf der rechten Spur hinter einem polnischen Lastwagen ein, auf dessen Werbeaufdruck sich eine barbusige Frau lasziv auf einem Stapel Autoreifen rekelte.
»Na großartig«, dachte sie laut. Als würden Frauen den ganzen Tag nichts anderes tun. Charlotte seufzte und schaltete das Radio ein.
»We de er zweiiii!«, trällerte es aus den Lautsprechern, und eine herzlich klingende männliche Stimme verkündete freudig: »Bleiben Sie dran! Gleich nach den Nachrichten erhalten Sie die schönsten Ausflugstipps für Familien, Singles und Paare für dieses erste sonnige Wochenende an Rhein und …« Irgendein Popsong ertönte.
Charlotte presste die Lippen zusammen und drückte auf die Pfeiltaste am Lenkrad, um weiterzuschalten. Überall lief nur Mist. »Geht gar nicht«, murmelte sie und drückte weiter, bis »Eins Live« auf dem Display erschien.
»Du bist also sapiosexuell. Erklär doch mal: Was genau muss ich mir darunter vorstellen? Was macht dich mehr an, schön oder schlau?«, fragte der Moderator.
»Definitiv intelligente Männer«, erklärte eine weibliche Stimme in einem Ton, als halte sie sich selbst für ganz besonders clever.
»Also stehst du eher auf die Schlauen als auf die Schönen?«, bohrte der Moderator weiter.
»Absolut. Mir ist egal, wie der Typ aussieht, Hauptsache, er hat was in der Birne.«
Charlotte rang nach Luft und drückte auf den elektrischen Fensterheber an der Innenseite ihrer Fahrertür. Ihren Kopf zum Fenster geneigt, genoss sie die Kühle auf ihren leicht geröteten Wangen.
»Na bravo, offenbar vögeln sich hier alle munter durchs Land!«, fluchte sie nach draußen und bemerkte, wie ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Gedankenchaos. »Wann genau hast du zum letzten Mal mit Robert geschlafen?«, schien ein Gedankenfetzen ihr zuzurufen. Ruckartig richtete sie sich wieder auf. Je länger sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass es tatsächlich eine ganze Weile her war. Und trotzdem gab dieser Umstand Robert nicht das Recht, fremdzugehen. Jedes Paar durchlebte mal eine Sexflaute, das las sie doch immer wieder in den Frauenmagazinen.
Sie blinzelte die Tränen weg und blickte auf den Tacho, wo gerade die Tankanzeige aufgeleuchtet hatte. Ihr Magen grummelte. Vielleicht sollte sie sich an der nächsten Raststätte kurz einen Kaffee und einen Schokoriegel besorgen.
Die barbusige Frau auf dem Lastwagen vor ihr schien Charlotte zuzuzwinkern. Am Kreuz Köln-Nord ließ Charlotte sie erleichtert ziehen und ordnete sich auf die Autobahn Richtung Koblenz ein. Der Verkehr ließ nach, die Autobahn war wieder frei. Charlotte lehnte sich in ihrem Sitz zurück und ignorierte das Knurren ihres Magens. Wenn sie gut durchkam, war sie gegen halb acht bei Trude. Neben der Autobahn begannen nun die ersten kleinen Hügel der Eifel. Auf die weitere Ablenkung durch das Radio hatte sie verzichtet. Nur das Geräusch des italienischen Motors und das gleichmäßige Surren der Reifen auf dem Asphalt begleiteten ihre Gedanken. Als sie ein Hinweisschild auf die nächste Raststätte am Rand stehen sah, setzte sie den Blinker. Sie fuhr an die Zapfsäule und betrachtete den nagelneuen Van, der direkt neben ihr auf der anderen Seite der Säule stand. Beim Anblick dieses Autos hellte sich Charlottes Stimmung auf, und sie stieg aus.
Hinter dem Bus, das Handy am Ohr, stand ein Klon von Prinz William. Er trug dunkelblaue Chinos und dunkelbraune halbhohe Schnürstiefel aus Wildleder. Die ganz feine Sorte. Als ihr Blick weiter nach oben glitt, sah sie ein strahlend weißes Oberhemd, unter dem sich ein durchtrainierter Oberkörper abzeichnete. »Wenn das hier kein Königskind ist, dann sicher ein Model«, dachte Charlotte.
Prinz William drehte sich zu Charlotte um und nickte ihr flüchtig zu. Verlegen, weil ihr Blick eindeutig zu lange auf seinen Brustmuskeln geklebt hatte, drehte sie sich weg, öffnete den Tankdeckel ihres Wagens und zog den Zapfhahn aus der Halterung. Um die Dieselgase nicht einatmen zu müssen, trat sie einen Schritt zur Seite.
Das Königskind marschierte Richtung Kasse.
Charlotte blickte ihm nach und drehte sich dann wieder zu seinem Van um. Wie magisch angezogen wanderte ihr Blick über den Kühler und die Retrolackierung ins Wageninnere. Nichts erinnerte mehr an das spartanische Interieur von Charlottes altem Bulli. Hier blitzten chromverzierte Anzeigen und Displays. Sie stapfte in ihren Gummistiefeln noch etwas näher heran und entdeckte Ledersitze im Retrodesign und einen Bodenbelag in Holzoptik. Der Tankstutzen an ihrer Säule schlug zurück und vermeldete mit einem Klacken, dass der Tank voll war. Charlotte reagierte nicht. Mit Bussen kannte sie sich aus. Ihren eigenen Bulli, Baujahr 1976, hatte Onkel George ihr vor achtundzwanzig Jahren zum bestandenen Abitur geschenkt. Wie hatte sie diesen Wagen geliebt. Sie hatte alles mit ihm gemacht, ihn durch die winzigste Gasse, in die kleinste Parklücke manövriert. Doch jetzt gammelte das kostbare Stück im Schuppen ihrer Tante vor sich hin.
»Gefällt er Ihnen?« Charlotte zuckte zusammen. Prinz William war zurückgekommen und stand jetzt direkt vor ihr. Er lächelte sie an, und seine Zähne strahlten mit dem Weiß seines Hemds um die Wette.
»Ähm … ja«, stotterte sie, eilte zu ihrem Wagen zurück und zog hastig die Zapfpistole heraus. Einige Spritzer Diesel liefen über den Lack und tropften direkt auf ihre Gummistiefel.
»Oh, Mist!«, fluchte sie etwas zu laut und erstarrte peinlich berührt. Ihr wurde heiß. Hier stand sie vor diesem perfekt gestylten Mann und brüllte herum – in matschigen Gummistiefeln und Blümchenshorts. Hektisch drehte sich Charlotte zur Säule mit den Papiertüchern um.
Leer. War ja klar. Das Königskind fischte mit einem Griff zwei, drei Papiertücher aus dem Halter hinter sich und reichte sie ihr. Ihre Blicke trafen sich. Seine jugendlichen Augen strahlten in einem Meerblau, das Charlotte an die vielen Urlaube an der Ostsee mit Robert und den Kindern erinnerte. Sie schwankte leicht.
»Danke«, stammelte sie und wischte über ihre Stiefel. Dabei duckte sie sich hinter ihr Auto und wollte nie wieder auftauchen.
»Ich muss weiter. Schönen Tag noch!«, rief der Prinz ihr freundlich zu. Gedankenverloren wischte Charlotte auch die stinkende Flüssigkeit vom Kotflügel ihres Wagens und schraubte den Tankdeckel zu.
Bevor der junge Mann im Fond seines Busses verschwand, huschte Charlotte mit hochrotem Kopf an ihm vorbei und stiefelte zur Kasse.
Nach einer kleinen Stärkung durch einen doppelten Espresso, zwei Marsriegel und einen Liter stillen Wassers fuhr Charlotte, noch immer den Dieselgestank von ihren Gummistiefeln in der Nase, die restliche Strecke bis Cochem. Je näher sie Helsinn und dem kleinen, gemütlichen Häuschen ihrer Tante Trude kam, desto ruhiger wurde sie. Die Weinberge am Rand der Strecke, die nur darauf warteten, von der Sonne wach geküsst zu werden, und die Pfirsichbäume, die in ihrem zarten Rosa als erste Frühlingsboten die Hänge links und rechts säumten, gaben ihr eine innere Ruhe, die sie nur hier erlebte. Charlotte seufzte leise in sich hinein und bog auf die Bundesstraße ein, die sie an der Mosel entlang direkt in ihr altes Heimatdorf führte. Von Weitem konnte sie die wunderschöne Reichsburg Cochem sehen, die sich über der Stadt erhob. Von dort oben hatte man einen herrlichen Blick auf das Moseltal. Als Teenager war sie häufig dort hinaufgeradelt, wenn ihre Welt mal wieder zusammengebrochen war.
Am Ortseingang von Helsinn wurde sie wie immer von dem großen Weinfass begrüßt, das fest auf der Erde lag und auf dem ein antikes Holzschild mit schwungvollen Lettern verkündete:
HERZLICH WILLKOMMEN IN HELSINN
Das Herz der Mosel
Einige Meter weiter bog Charlotte in Trudes Hofeinfahrt ein und parkte ihren Wagen direkt vor der Werkstatt. Sie zog den Zündschlüssel ab, lehnte sich im Sitz zurück, schob sich ihre Brille auf den Kopf und genoss die Stille, die nur durch ein gelegentliches Vogelzwitschern unterbrochen wurde. In der Mitte des Hofes thronte ein prächtiger Weinbergpfirsichbaum mit seinen rosafarbenen Blüten. Die beigefarbene Fassade des hübschen Fachwerkhauses mit seinen rötlich verzierten Holzbalken verblasste förmlich hinter dessen Farbenpracht. Charlottes Blick glitt über die kleinen Türmchen an der Südwestseite des Hauses, an denen sich die Spuren des Winters zeigten. Ein paar Dachschiefer fehlten. Sie schüttelte sich kurz bei dem Gedanken, auf eine Leiter klettern zu müssen, um das zu reparieren. Robert reparierte, Charlotte kümmerte sich um den Rest. Würde das in Zukunft auch noch so sein?
Vor dem Tor der Werkstatt paradierten in wildem Wuchs mehrere Buchsbäume in Terrakottatöpfen. Charlotte runzelte die Stirn, standen bei ihr in Düsseldorf die kleinen grünen Bäumchen doch wie Zinnsoldaten aneinandergereiht.
Die Haustür aus Mahagoniholz und die weißen, mit kleinen Rauten durchbrochenen Fensterläden von Trudes Heim waren geöffnet. Auch hier blätterte an zahlreichen Stellen der Anstrich ab. Charlotte erinnerte sich, wie Robert ihre Tochter Stella vor Jahren auf eine Leiter hatte steigen lassen, um gemeinsam mit ihr die Läden zu streichen. Damals war Stella vielleicht sechs oder sieben Jahre alt gewesen und hatte danach unbedingt eine berühmte Malerin werden wollen. Charlotte lächelte. Sie dachte an die herrlichen Sommer, die sie gemeinsam mit den Kindern hier verlebt hatten. Oder an die kleinen Auszeiten in der Pension, in der sie vor vierundzwanzig Jahren ihre Hochzeitsnacht verbracht hatten. Ja, es stimmte, in den letzten Jahren waren sie kaum noch als Paar verreist, weil Robert beruflich immer so viel unterwegs gewesen war. Aber musste man deswegen direkt mit einer anderen Frau Sex haben? Die quälenden Gedanken drehten sich in ihrem Kopf, während sie auf die verblühten Tulpen in den dunklen Blumenkästen auf den Fensterbänken blickte. Vielleicht wurde es Trude allmählich doch zu viel. Der Papierladen, das Haus und die seit Onkel Georges Tod vor drei Jahren stillgelegte Werkstatt. Trude gehörte zwar noch lange nicht zum alten Eisen, doch in letzter Zeit hatte sie schon häufiger erklärt, dass sie all das nicht mehr lange allein schaffen würde.
Der Papierladen mit seinen großen einladenden Schaufensterscheiben lag nach vorn zur Straße raus, mit einem herrlichen Blick auf die Mosel. Die Werkstatt lag im Innenhof direkt gegenüber. An der Werkstattwand rankte eine Glyzine, die wie ein blauer Blütenregen einmal quer über den Hof zum kleinen Papierladen hinüberhing. Wie viele gemeinsame Stunden hatten sie hier alle miteinander gelacht, gefeiert und getrauert. Fast vierzig Jahre lang lebten und arbeiteten Tante Trude und Onkel George hier zusammen …
Wieder traten Charlotte die Tränen in die Augen. Wie konnte Robert ihr das nur antun? Würde sie ihm das jemals verzeihen können? Wollte er überhaupt, dass sie ihm verzieh? Wie hypnotisiert griff sie in ihrer Handtasche nach dem Handy. Doch kaum hatte sie es in der Hand, ließ sie es wieder ins Dunkel ihrer Tasche zurückfallen. Was, wenn er noch nicht einmal versucht hatte, sie anzurufen? Charlotte schluckte trocken und sah, wie Trude winkend aus dem Haus auf sie zukam.
»Stell dir vor, die Brauers treten jetzt auch kürzer«, empfing sie Charlotte, kaum dass die aus dem Auto gestiegen war. Wie immer fing sie einfach mitten in ihrer Geschichte an zu erzählen, sodass man mehrfach nachfragen musste, um herauszufinden, wovon genau sie eigentlich sprach. Doch heute war Charlotte ihrer Tante für diese Angewohnheit sehr dankbar. So hatte sie noch ein wenig Zeit, sich eine gute Erklärung für ihre verfrühte Anreise einfallen zu lassen. Wie immer lagen Trudes graue Haare perfekt frisiert am Kopf. Charlotte fragte sich jedes Mal, was der Friseur an diesem Styling eigentlich noch verbesserte. Zu ihrem akkuraten Haarschnitt trug Trude einen dunkelblauen Leinenrock mit einer gelben Rüschenbluse und zartrosafarbenem Lippenstift, der die leichte Bräune ihres Gesichts betonte. Charlotte wusste, wie stolz Trude darauf war, dass sie von den Damen ihrer Doppelkopfrunde immer um ihr sportliches Aussehen beneidet wurde. Und das, obwohl sie und Onkel George nie besonders sportlich aktiv gewesen waren. Charlotte hoffte, mit Anfang siebzig noch ebenso jugendlich zu wirken wie ihre Tante.
Sie umarmte Trude zur Begrüßung, und sofort füllte sich ihre Nase mit diesem einzigartigen Duft von Puder, den Charlotte an ihrer Tante so liebte. Zufrieden drückte Charlotte auf den Verriegelungsknopf ihres Autoschlüssels, bevor sie mit ihr die paar Schritte zum Pfirsichbaum hinüberging. Unterwegs wagte sie einen kurzen Blick auf ihr Smartphone. Dreizehn Anrufe in Abwesenheit. Zufrieden schob sie sich die Brille auf den Kopf und verstaute das Handy wieder in der Handtasche.
»Welche Brauers?«, fragte sie.
»Na, die Papierfabrik in Dosendorf, du weißt schon, ein Dorf weiter.«
Jetzt erst bemerkte Charlotte, dass Trude schon die ganze Zeit eine zusammengerollte Zeitung in ihren Händen hielt. Sie wedelte ihrer Nichte damit vor dem Gesicht herum. »Nach und nach gehen hier alle in Rente. Nur ich stehe mir noch die Beine in den Bauch.« Resigniert klemmte Trude sich die Zeitung unter den Arm. »Und das alles für ein paar Tintenkiller und Briefpapier, das sowieso keiner mehr kauft.«
Noch bevor Charlotte etwas dazu sagen konnte, blieb ihre Tante stehen und musterte sie von oben bis unten. »Eigentlich habe ich dich ja erst morgen erwartet.« Sie rümpfte die Nase. »Was hast du da überhaupt an? Warst du etwa so im Lindenberger Hof?« Trude schnüffelte an Charlotte. »Sag mal, riechst du das auch? Riecht wie Benzin.«
Bevor Trude weitere Fragen stellen würde, die Charlotte nur ungern beantworten wollte, löste sie sich aus der Umarmung ihrer Tante und setzte sich auf die runde Holzbank unter dem Pfirsichbaum. Trude folgte ihr. »Und wieso hast du plötzlich keine Lust mehr, Tintenkiller und Briefpapier zu verkaufen? Ich dachte, du liebst deinen kleinen Laden«, versuchte Charlotte sich im schnellen Themenwechsel.
»Ja, das tue ich.« Trude warf ihrer Nichte einen vorwurfsvollen Blick zu und setzte sich neben sie. Für einen Moment starrten beide auf die Rückseite des Papierladens. Die Sonne war bereits untergegangen, und Charlotte fror ein wenig.
In ihrem verschwitzten Top, den viel zu engen Blümchenshorts und den stinkenden Gummistiefeln mit Rosenmotiven kam sie sich vor wie die Hauptfigur aus einem Groschenroman.
Doch bevor sie in Selbstmitleid zerfließen konnte, unterbrach Trude die Stille. »Du weißt, wie wichtig mir dieser kleine Laden ist. Aber erstens bin ich keine vierzig mehr, und zweitens brauchen die Leute offensichtlich kein Briefpapier mehr. Stattdessen schreiben sie lieber E-Mails.«
Da fiel Charlotte wieder ihr Handy ein. Vermutlich waren bei den dreizehn Anrufen auch Versuche ihrer Kinder dabei, sie zu erreichen. Sie unterdrückte den Impuls, nachzusehen.
»Stimmt, aber Briefe schreiben kommt sicher wieder in Mode, und dann bist du diejenige, die noch wunderschönes Papier anbietet«, versuchte Charlotte ihre Tante aufzumuntern.
»Sehr witzig, Charlotte. Bis das passiert, bin ich schon längst unter der Erde. Die Menschen reden nicht mehr miteinander. Wieso sollten sie sich dann Briefe schreiben?«
Charlotte sah ihre Tante irritiert an. »Wenn du willst, kann ich in Zukunft öfter herkommen. Vielleicht kann ich den Laden noch einen weiteren Tag in der Woche übernehmen, dann hast du frei.«
Trude schüttelte den Kopf. »Bei der Fahrerei verbringst du mehr Zeit auf der Autobahn als hier. Nein, das ist zu weit.«
Charlotte verdrehte die Augen. »Aber ich kann den Laden nicht ganz übernehmen. Ich kann schließlich nicht aus Düsseldorf weg. Das ist mein Zuhause!« Sie stockte. Warum hatte sie das jetzt gesagt? Trude hatte doch gar nichts dergleichen verlangt.
Aber da war er wieder, dieser verdammte Satz aus dem Garten. »Ich hatte Sex mit einer anderen Frau.«Was, wenn Robert bei ihnen zu Hause mit dieser Frau geschlafen hatte? Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Trude sah sie einen Augenblick lang schweigend an.
»Und außerdem möchte ich in meinem Leben auch noch etwas anderes sehen als Helsinn«, fuhr Trude fort und grub ihre Finger in die Oberarme.
Charlotte sah ihre Tante verwirrt an. »Was meinst du? Ich dachte, Helsinn sei dein Ein und Alles. Ich dachte, du …«, sie stockte.
»Du dachtest, ich werde eines Tages hier sterben, so wie George. Ja, Charlotte, das werde ich auch. Aber so weit bin ich noch lange nicht. Vorher will ich noch ein bisschen leben und mich nicht nur um den Laden, die stillgelegte Werkstatt und den Tratsch rund um Helsinn kümmern.«
»Ich dachte, du liebst den Tratsch«, stotterte Charlotte.
Trude erhob sich. »Wir reden morgen weiter, Charlotte. Lass uns reingehen, es ist kühl. Ich mach uns noch eine Kleinigkeit zu essen, und danach verschwinde ich ins Bett. Und was immer an dir auch nach Benzin stinkt, lass es bitte vor der Tür.« Sanft legte sie ihre Hand auf Charlottes Schulter. »Und alles andere auch.«
Charlotte war froh, dass Trude ihr keine weiteren Fragen stellte. Sie hakte sich bei ihr unter, schlüpfte vor der Haustür aus ihren Gummistiefeln und folgte ihrer Tante ins Haus.
Am nächsten Morgen kam Charlotte mit nackten Beinen und einem Oberhemd von Onkel George, das Trude ihr für die Nacht geliehen hatte, in die Küche. Trude konnte sich von manchen Dingen einfach nicht trennen, die sie an ihren Mann erinnerten. Charlotte schnaubte. Sie würde garantiert nichts von Robert aufbewahren. Schließlich war er ein Verräter. Und an einen Verräter wollte sie sich nicht erinnern!
Hatte sie das wirklich gerade gedacht? Eine Gänsehaut prickelte über Charlottes Rücken. Sie kreuzte die Arme über die Brust und rieb sich fröstelnd die Oberarme.
»Guten Morgen, meine Liebe, hast du gut geschlafen?«, fragte ihre Tante, die bereits wie aus dem Ei gepellt am Tisch saß und gerade die mit Rosen und Ranken verzierte Kaffeetasse zum Mund führte.
»Mhm«, murmelte Charlotte schläfrig und rieb sich die Augen. Tatsächlich hatte sie wie ein Stein geschlafen. Erst als die Kirchturmglocken sie um sieben geweckt hatten, war ihr wieder eingefallen, dass die gestrigen Ereignisse kein Traum gewesen waren.
»Im Flur hängt ein Kleid für dich, das kannst du erst einmal anziehen«, fuhr Trude fort und zog schmunzelnd eine Augenbraue hoch. »Oder willst du so in den Laden gehen?«
Charlotte nickte zustimmend und schüttelte dann den Kopf.
Vermutlich würde dort ein Kleid mit Blümchenmuster hängen, das Trude getragen hatte, als sie so alt gewesen war wie Charlotte jetzt. »Samstags kommen meistens ein paar Mütter, um Hausaufgabenhefte für ihre Kinder zu kaufen. Um eins kannst du dann schließen.«
»Hast du samstags sonst nicht bis zwei geöffnet?«, fragte Charlotte und beobachtete, wie Trude ein Brötchen dick mit Schokocreme bestrich. »Und was ist mit deinen Cholesterinwerten?«
»Ich habe die Öffnungszeiten geändert.« Trude schob den Teller mit dem Schokobrötchen in Charlottes Richtung. »Und meine Cholesterinwerte sind spitze.« Sie lächelte Charlotte an. Ihre Augen funkelten wie kleine Diamanten.
»Ich glaube, ich muss auch mal zu deinem Friseur gehen.« Charlotte biss gierig in die Brötchenhälfte. »Irgendwie bist du die einzige Frau, die ich kenne, die schon strahlt, bevor sie dort war«, fuhr sie mit vollem Mund fort. Nervös fingerte Trude an den Bändern ihrer weißen Schluppenbluse herum und stand auf.
»Ich muss los.« Sie beugte sich zur kauenden Charlotte hinüber und strich ihr über die vollen Backen. »Und da du ja offensichtlich keinen Gâteau au Chocolat mitgebracht hast, besorge ich uns nachher ein schönes Stück Bienenstich vom Bäcker Finkel. Pünktlich zur Kaffeerunde bin ich zurück, und dann machen wir es uns unter dem Pfirsichbaum so richtig gemütlich.«
Der Schokokuchen! Charlotte seufzte schuldbewusst und beobachtete, wie Trude durch die Tür verschwand.
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Semmel. Das Klingeln des Telefons holte sie schlagartig zurück in die Wirklichkeit. Mit nackten Füßen und dem Brötchen in der Hand tappte Charlotte in den Flur und nahm den Hörer von der Gabel.
»Bei Schreiber«, murmelte sie und starrte auf die Wählscheibe des alten grünen Telefons.
»Charlotte, bist du das?« Es war Robert.
Hastig schluckte Charlotte die restlichen Krümel hinunter.
»Ja. Wenn du Trude sprechen möchtest, die ist auf dem Weg zum Friseur.« Charlotte versuchte gleichgültig zu klingen.
»Hast du mit Trude gesprochen?« Robert schnaufte ins Telefon.
»Wenn du wissen willst, ob ich mit ihr über uns gesprochen habe …« Sie wartete einen Moment, aber von Robert kam keine Antwort. Sie rang nach Luft. »Nein, habe ich nicht. Sonst noch was?«, fragte sie schnippisch und zappelte von einem Fuß auf den anderen, weil die Fliesen im Flur eiskalt waren. Sie zitterte in Georges Oberhemd und spürte, wie ihr die Unterhose, die Trude ihr für die Nacht geliehen hatte, damit sie ihre eigene durchwaschen konnte, langsam über die Hüfte nach unten rutschte. Robert hingegen saß vermutlich frisch geduscht mit noch feuchtem Haar in Jeans und dunkelblauem Poloshirt in Charlottes Lieblingssessel mit Ausblick auf die Terrasse und rieb sich mit seinen feingliedrigen Fingern den Nacken.
»Gut.« Charlotte glaubte, Erleichterung in seiner Stimme zu hören. Dass es gut war, nicht mit Trude über ihre Probleme zu sprechen, darüber waren sie sich offensichtlich einig.
»Bitte, Charlotte, wir müssen reden.« Roberts Stimme klang jetzt verzweifelt.
»Wir müssen gar nichts. Wenn du reden willst, dann versuch es doch mal bei deiner Freundin!« Charlottes Stimme zitterte leicht.
»Sie ist nicht meine Freundin, Charlotte, das musst du mir glauben. Es war nur dieses eine Mal.« Robert stöhnte. Vermutlich erhob er sich gerade aus dem Sessel, um dann kreuz und quer durchs Wohnzimmer zu laufen. So wie er es immer tat, wenn er unangenehme Dinge telefonisch klären musste. Er erinnerte Charlotte dann immer an ein Raubtier, das in seinem Käfig nach einem Fluchtweg sucht.
»Korrigiere mich, Robert, aber ich glaube, du bist gerade nicht in der Position, mir zu sagen, was ich tun muss!« Um den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, biss Charlotte erneut in die Semmel. Dabei fiel ein dicker Klecks Schokocreme auf die Brusttasche ihres Hemdes. »Mist«, fluchte sie und rieb hastig über den Fleck.
»Was ist?«, fragte Robert, und Charlotte glaubte, in seiner Stimme so etwas wie Besorgnis zu hören.
»Nichts«, erklärte sie, diesmal mit fester Stimme und vollem Mund. »Sonst noch was?«
»Wenn du nicht reden willst, Charlotte, was willst du dann?«
»Wenn ich weiß, was ich will, Robert, dann wirst du der Erste sein, der’s erfährt.« Mit einem lauten Knall landete der Hörer auf der Gabel. Reflexartig zog sie den Stecker aus der Dose.
Zitternd stand Charlotte im Flur. Sie wusste nicht, ob es an der Kälte lag, die langsam von den Fliesen in ihren Körper kroch, oder an der Erinnerung daran, was Robert ihr angetan hatte. Mit schweren Schritten stieg Charlotte die Treppe hinauf in ihr altes Jugendzimmer unterm Dach, das sie während ihrer Ausbildung zur Druckerin in ein rosafarbenes Mädchenzimmer verwandelt hatte. Es war der einzige Raum im ganzen Haus, von dem man in zwei Himmelsrichtungen blicken konnte. George hatte nachträglich zwei extragroße Fensterfronten einbauen lassen. Damit verfügte Charlotte von hier oben nicht nur über eine herrliche Aussicht auf die Weinberge, sondern schaute auch auf den Weinbergpfirsichbaum im Innenhof. Obwohl sie mittlerweile seit einigen Jahrzehnten aus ihrer damaligen Lieblingsfarbe herausgewachsen war, liebte Charlotte ihr altes Zimmer hier in Helsinn immer noch sehr. Es hatte alles, was sie brauchte: ein geräumiges Bett mit Blümchenbettwäsche, einen kleinen Schreibtisch mit Hello-Kitty-Lampe, eine bequeme Chaiselongue und ein weißes Regal mit Hanni-und-Nanni-Büchern, Langspielplatten von Abba und Boney M. und ihrem allerersten Plattenspieler. Trudes und Georges Zuhause war mit der Zeit auch immer mehr zu ihrem geworden, ein sicherer Hafen, wenn es in ihrem Leben stürmisch wurde. Sie streifte Trudes Slip und Georges Oberhemd ab und verschwand ins gegenüberliegende Badezimmer, in dem sich außer einer winzigen Dusche nur noch ein kleiner Waschtisch und eine Toilette befanden. Onkel George war ein großartiger Mann gewesen. Ihm war es wichtig gewesen, Charlotte ihre Rückzugsmöglichkeiten zu geben, und so hatte er ihr damals, als sie mit dreizehn Jahren zu ihnen gezogen war, das gesamte Obergeschoss ausgebaut. Hinter dem mit Kirschblüten bemalten Duschvorhang zierten zartrosa Fliesen die Wand. Charlotte drehte die Armatur der Dusche auf und richtete den Wasserstrahl auf ihr Handgelenk, um die Temperatur zu prüfen. Sie klemmte den Duschkopf in die Halterung, schloss die Augen und ließ sich das warme Wasser übers Gesicht laufen. Und obwohl der kühle Vorhang bald an ihrer Haut klebte, spürte sie eine tiefe Zufriedenheit. Lange Zeit war dies hier ihr Zuhause gewesen. Sanft zog sie den Vorhang von ihrem nassen Körper, drehte sich um und spürte, wie der Wasserstrahl ihre verspannten Schultern massierte. Als Stella und Ben noch klein gewesen waren, waren Robert und Charlotte gern mit ihnen an die Mosel gefahren. Sie hatten viel Zeit in der Werkstatt verbracht, hatten mit dem Bulli Ware für George ausgefahren oder an lauen Sommerabenden gemeinsam im Hof gegrillt. Doch mit der Zeit waren diese Besuche immer seltener geworden. Die Kinder entwickelten bald andere Interessen, und Robert verbrachte viel Zeit auf Dienstreisen und war froh, seine freie Zeit mit Charlotte in ihrem Einfamilienhaus mit Freunden oder allein mit ihr im Garten oder vor dem Kamin zu verbringen. Dabei tranken sie die eine oder andere gute Flasche Rotwein, und manchmal schliefen sie danach auch miteinander. Während Charlotte das Shampoo in ihren Haaren verteilte, dachte sie an die Zeit zurück, als sie selbst noch mit ihren Eltern zu Trude und George gereist war. Trude war die fünf Jahre ältere Schwester von Charlottes Vater, und die beiden hatten ein sehr inniges Verhältnis gehabt. Charlotte beugte ihren Kopf leicht nach hinten, der Schaum lief ihr über den Rücken. Sie hörte, wie das Wasser auf die Duschwanne prasselte. Wenn ihre Eltern sie nicht gerade in irgendeine Ferienfreizeit geschickt hatten, hatte sie mit ihnen häufig eine wunderbare Zeit bei Tante Trude und Onkel George verbracht. Vielleicht war es Charlotte deshalb auch nicht sehr schwergefallen, nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern zu den beiden nach Helsinn zu ziehen.
Auch damals hatte sich mit einem Schlag ihr gesamtes Leben verändert.