16,99 €
Ein Roman über lebenskundige Liebe, verdrehte Familienbande und Ödipus, der neue Wege geht Carla schreibt an einem Theaterstück über die Liebe und unterrichtet Teenager, mit denen sie Vorträge zu griechischen Mythen erarbeitet. Samuel, ein ehemals begeisterter Raver, besitzt ein Geschäft für Interieurs und unterstützt seine Mutter bei deren Karriere als Fotomodell. Der Zufall führt die beiden lebens- und liebeserfahrenen Middle-Ager und Scheidungskinder zusammen. Carla und Samuel verlieben sich ineinander und wagen es, sich aufeinander einzulassen. Sie lösen sich von ihrer Vergangenheit und sind auf bestem Weg zu einer gelingenden Partnerschaft. Doch das passt nicht allen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 164
Originalausgabe
© 2024 NAGEL UND KIMCHE
in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von wilhelm typo grafisch, Zürich
Coverabbildung von Nataliya Timofeeva / Adobe Stock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783312013555
www.nagel-kimche.ch
Hunde und Halter, Kinder und Kinder, Jogger und Joggerinnen rennen in mein Sichtfeld und wieder hinaus. Alles ist möglich, frohlockt der Märzwald, und ich frage mich, ob ich eine dramatische oder heitere Liebesgeschichte erzählen soll. «Sie muss zum Titel Szenen einer Liebe passen und darf nicht nach mehr als einer Schauspielerin und einem Schauspieler verlangen», ist mir die Regisseurin in den Ohren. «Wenn nötig, kannst du auch meine Tochter für eine kleine Rolle einplanen.»
Der Wald kläfft. Wenn ich an Liebe denke, denke ich daran, was mir fehlt. Umschlungen einzuschlafen, eine Beobachtung zu teilen, beim Zähneputzen etwas erzählt zu bekommen.
Der Gedanke treibt mich in die Küche. Ich warte auf das Lichtzeichen der Kaffeemaschine, stelle eine Tasse unter den Brühhahn. Das Wort Liebe kommt mir wässrig vor. Täglich wird alles Mögliche hineingeschüttet. Ein lächelndes Paar mit Eigenheim, Hochzeitskleider, Sonnenuntergänge. Das dichte Braun des Kaffees duftet hingegen nach Konzentration.
Am Waldrandfenster bellt es noch immer und die Frage «Tragödie oder Romanze?» hängt über meinem Pult. Können Kläffer nicht schweigend spurten?
Falsche Frage. Eine Liebesgeschichte vom Ende her zu denken, wäre Verrat an der Liebe. Lieber beginne ich mit dem Anfang; da streckt sich alles aus, wächst sich entgegen. Danach folgen Momente. Liebevolle, unaufmerksame, verunsichernde, wache, belustigende, verletzende. Das Ende hängt von der Geduld der Liebenden ab oder von der Länge des Theaterstücks.
Im Wald tappen Kleinkinder in signalgelben Westen einer Frau hinterher. Ein Kind stolpert, fällt auf die Knie.
Kann man aus einem Drama eine Romanze machen, indem man die Geschichte nicht am hoffnungslosesten Punkt beendet?
Das altgediente Buch auf meinem Pult gibt keine Auskunft, doch seine Seiten lassen mich mitten in einer Geschichte von Königen und Königinnen landen, deren Liebe zu Inzest, Verrat und Tod führt. Die Zeile «Geh jetzt, lass die Kinder los!» lässt mich auf die Uhr schauen. Es ist Zeit für die Schülervorträge über Mythen.
Jovan und Samir nehmen die Zeichnung von Sisyphos mit dem geschulterten Felsbrocken von der Wandtafel und setzen sich befreit an ihre Plätze. Nun sind Samantha und Ava dran. Natürlich beginnt Ava. Auftreten und sprechen kann sie, mag sie. Ich erwidere ihren Blick und nicke, damit sie anfängt.
«Die Geschichte von Ödipus ist einer der bekanntesten Mythen», sagt Ava und macht eine Pause, wie ich es den Schülerinnen und Schülern beigebracht habe. Dann erzählt sie, was auf Wikipedia zu lesen ist, aber sie erzählt es in anderen Worten. Ich setze auf meinem Bewertungsraster unter «Eigenständigkeit» ein Häkchen.
«Die alten Griechen haben geglaubt, dass wir dem Schicksal nicht entrinnen können», fährt sie fort, dann erklärt sie, was ein Orakel ist. Hier übernimmt Samantha, die mit an den Körper gepressten Armen neben Ava steht. Beinahe unhörbar sagt sie: «Ödipus wächst bei Pflegeeltern auf, damit er nicht seinen Vater, einen König, umbringt, wie es das Orakel prophezeit hat. Aber das weiss er nicht.» Ihre Hände klammern sich aneinander, als müsste sie jeden Moment einen Volleyball abwehren können. Ich schaue sie an, atme theatralisch aus, damit sie nicht noch mehr Luft einsaugt. Sie löst die Hände, spricht weiter. «Als Erwachsener ist Ödipus ein erfolgreicher König, bis eine Seuche viele Menschen in seinem Land umbringt. Weil eine Seuche früher keine Virenpandemie, sondern eine Strafe der Götter war, will Ödipus wissen, warum sich die Krankheit nicht ausrotten lässt.» Ich mache ein Häkchen unter «Sprache» und widerstehe meinem Drang, «lauter» zu rufen.
Samanthas Händen scheint baumelnd nicht wohl zu sein. Die Finger verschränken sich für den Satz: «Obwohl seine Mutter alles unternimmt, damit Ödipus die Wahrheit nicht erfährt, findet er die Ursache des Götterzorns heraus: Er hat als junger Mann unwissentlich seinen körperlichen Vater umgebracht, weil er ihn für einen Banditen hielt. Danach hat er unwissentlich seine körperliche Mutter, Königin Iokaste, geheiratet. Dafür bestrafen die Götter sein Volk und ihn mit einer Pandemie.»
Ava stupft Samantha, flüstert so laut, dass es alle hören können: «Du musst noch sagen, dass damals jedes Volk seine eigenen Götter hatte.»
Samantha nickt und schliesst mit: «Ende des Vortrags.»
Klatschen.
«Ergänzungen, Kommentare?», frage ich in die Klasse.
«Ödipus kann doch nichts dafür, dass er seine Mutter geheiratet hat!» Jovan scheint tatsächlich empört zu sein über die antiken Götter.
Samir schaut sich nach Publikum um, bevor er laut sagt: «Das ist alles total unrealistisch. Wer heiratet schon eine Frau im Alter seiner Mutter!»
Das Lachen der Klasse wird vom Pausengong übertönt.
Mein eiliger Atem verhallt in der ehemaligen Stallung, meine Schritte klacken. Die anderen stehen schon vor der Bühne.
Bei der Begrüssung überrascht mich Kims Stimme mit einem hohen, seidenen Klang. Janos hat einen leichten ungarischen Akzent, wie ich es mir vorgestellt habe. Sophie umarmt mich stürmisch. «Endlich darf ich wieder einmal deine Regisseurin sein!» Sie zieht mich zur Bühne.
Die ist nicht leer. Am vorderen Rand stehen ein Bistrostuhl und eine Videokamera, dahinter ist eine Wohnküche aufgebaut, eine Leinwand bildet die Rückwand. «Was wird hier gespielt?»
Sophie zuckt mit den Schultern. «Weiss nicht. Für die kurze Improvisationsrunde heute finde ich dieses Bühnenbild aber ganz interessant.» Sie sieht zu den beiden Schauspielern. «Nicht wahr?»
Kim und Janos nicken, setzen sich in die Bühnenküche. Plötzlich wettert Kim gegen die Tischkante und zupft an ihren Strümpfen.
Sophie schwenkt eine Thermoskanne. «Kaffee?»
Bevor ich ablehnen kann, schüttet sie das durchsichtige Gebräu in vier Tassen und schaut die beiden an.
«Carla und ich möchten Szenen einer Liebe mit euch zusammen entwickeln. Das heisst, ihr improvisiert heute.» Sophie trinkt einen Schluck Kaffee, blickt in die Runde. «Kurze Vorstellung, bitte.»
Da ich davon ausgehe, dass Janos und Kim längst nachgeschaut haben, was ich bisher geschrieben habe, erwähne ich bloss, dass Sophie und ich seit der gemeinsamen Schulzeit befreundet sind und nicht zum ersten Mal zusammenarbeiten.
Die beiden nehmen sich mehr Zeit, über sich zu sprechen. Sie zählen ihre vergangenen Rollen und Spielorte auf. Ausser ihrem Marktwert sagt das nichts aus, aber sie könnten Beipackzettel vorlesen und ich hörte ihnen gerne zu.
Kim fragt, was ich mir für die Impro wünsche.
«Wie wär’s, wenn ihr für mich Liebe fändet?»
Kim und Janos schauen mich fragend an.
Mein Lachen löst ihre Irritation. «Improvisiert zum Thema Nicht die erste Liebe.»
Kim kreuzt die Arme unter der Brust und sieht in sich hinein, Janos dreht den Kopf zum Bühnenbild.
«Bin ich eine Frau?», fragt Kim.
«Wie es dir beliebt. Ihr seid seit drei Monaten zusammen.»
Nach einer Weile schaut Janos Kim an. «Bereit?»
Sie nickt. Sophie und ich setzen uns in die erste Reihe der Zuschauertribüne. Die Laufmasche in Kims Strumpfhose ist bis zur Stiefelette hinuntergewandert. Würde mich auch ärgern.
Kim beginnt mit dem Spiel.
Sieöffnet einen Küchenschrank und entnimmt ihm eine Flasche Weisswein.
Er tritt zu ihr und wickelt eine ihrer Haarsträhnen um seinen Zeigefinger.
Hab ich dich. Mit jeder Liebe tut sich das Leben neu auf.
Sie küsst ihn, dann dreht sie sich von ihm weg, um ihre Strähne von seinem Finger zu lösen. Pantomimisch entkorkt sie eine Flasche.
Neu, sagst du. Ich öffne den Wein auf die gleiche Weise wie vor zwanzig Jahren. Du wirst das nicht ändern.
Er stellt zwei Tassen vor sie, damit sie den fiktiven Wein eingiessen kann.
Stört mich ebenso wenig wie die Laufmasche an deinem Bein. Prost!
Sie prostet ihm zu. Dann verlässt sie das Spiel und sieht sich suchend um. Entschlossen setzt sie sich auf den Stuhl am vorderen Bühnenrand, schaltet die Kamera ein. Da der Beamer nicht läuft, ist auf der Leinwand nichts zu sehen. Sie ignoriert es und spricht ins Publikum.
Du und ich. Ich könnte damit beginnen, dass du nicht gerne früh aufstehst oder dass du dich lustig machst über mein Aufzehenspitzenstehen und Dochnichtganzhinkommen. Ich könnte damit anfangen, dass ich Angst habe, dich zu verlieren. Ich könnte erwähnen, dass ich mich frage, ob ich deine grosse Liebe bin oder einfach eine, die sich nach der letzten ergeben hat.
Er ruft ihr von hinten zu.
Gross? Ich spreche lieber von bedeutender Liebe. Aber das weiss man erst hinterher.
Sie dreht ihren Stuhl, um in seine Richtung zu blicken.
Früher dachte ich, dass ein Mensch für mich bestimmt ist und dass mich das Schicksal zu diesem Menschen führen wird. Wir würden uns ohne Worte verstehen, dachte ich.
Sie nimmt ihr Mobiltelefon aus der Tasche, wischt mit dem Mittelfinger darüber.
Doch dann kamen er und er und er und er.
Er hält sich die Augen zu.
Ich notiere Kims «ohne Worte». Weshalb wird Sprache in der Liebe als Makel angesehen? Bedingt Liebe Unbewusstheit? Ich setze ein Ausrufezeichen, um darüber nachzudenken.
Er stellt sich neben sie und deutet mit dem Zeigefinger auf Fotos in seinem Telefon.
Durch sie und sie und sie habe ich Worte gelernt. Worte fürs Begehren, Worte für Unsicherheit. Nun habe ich Worte gegen die Angst in deiner Stimme, die wissen will, ob ich jemandem nachtrauere. Die Worte lauten: Mit jeder Frau ist anderes möglich.
Er umarmt sie.
Du bist nicht meine Vorstellung einer Geliebten, du bist meine Geliebte.
Du, ich. Mir fehlt das Wir der Vereinnahmung und Pläne. Das Wir eines Paares, vielleicht auch einer Familie. Es soll sich zum Ich gesellen wie der Kreis zu Freundes.
Die Schauspieler beginnen zu tanzen und Miracle of Love von den Eurythmics zu summen.
Ich zeige dir was Schönes
Ja, etwas Schönes
Wenn du dich öffnest
wirst du entdecken
dass da etwas ist, wonach du dich sehnst
Kim und Janos bleiben also beim Ich und Du und der Behauptung, dass man etwas tun kann für die Liebe. Ich sehe durch die beiden hindurch auf meine Zweifel.
Sophie schaut mich fragend an. Ich nicke. Für den Moment habe ich genug zu sehen bekommen.
«Prima, danke», ruft sie zur Bühne. «Lasst uns in einer Woche wieder treffen.»
Nachdem Janos und Kim den Raum verlassen haben, packt Sophie meine Hand, die ich über ihre Schulter gelegt habe, biegt sich zur Seite und zieht mich am Handgelenk vom Boden hoch. Ich hüpfe, verliere beinahe das Gleichgewicht. Sie lässt mich los, sagt: «Vertrau. Die Liebe findet dich, wenn du offen bist dafür.»
Auf dem Fahrrad umwehen mich wie so oft Stimmen. «Vertrau», «Ödipus kann doch nichts dafür».
Hinter mir hupt es. Ich hebe entschuldigend den Arm, spure ein.
Weshalb spricht Samantha so leise? Mag sie es, dass jeder, der sie verstehen will, sich zu ihr neigen und an ihrem Haar schnuppern muss?
Ein Blick über die Schulter, niemand hinter mir. Vielleicht denkt Samantha, Leisesein sei ein Versteck vor dem Erwachsenwerden. Oder bringt ihr zu Hause jemand bei, dass eine Frau ihre Kraft nicht zeigen darf?
Eine Ampel wechselt auf Rot.
Bei Grün will ich mich wieder auf den Sattel schwingen, doch im Schaufenster neben mir lockt eine Schwarz-Weiss-Fotografie. Ich rolle das Fahrrad über den Rinnstein, beuge mich hinunter, um das Bild genau zu betrachten. Wie jeder, der in dieses Schaufenster guckt, schaue ich einer vergilbten Nackten auf den Po. Die Frau blickt über ihre Schulter zurück. Ich sehe, dass du mich anschaust, sagen ihre Augen. Du brauchst dich nicht zu schämen.
Ich äuge in den Laden, um zu sehen, wofür die Nackte werben soll. Zwischen Tischen und Sesseln fängt ein gut aussehender Mann in weissem Hemd und verwaschenen Bluejeans meinen Blick auf und winkt mich hinein. Ich lehne das Fahrrad neben das Schaufenster und folge dem Wink.
Der Ladenbesitzer grüsst mich, als würde er sich freuen, mich zu sehen. Um etwas zu tun, lasse ich mir das Foto reichen. Die kecke Schamlosigkeit der Frau gefällt mir, die Selbstverständlichkeit ihres prallen weissen Fleisches fasziniert mich. Diese Frau ist. Spräche sie, täte sie es unüberhörbar.
«Der Nackedei lässt niemanden gleichgültig», sagt der Ladenbesitzer. «Es kamen schon Leute herein, die mich aufforderten, das Foto augenblicklich aus dem Schaufenster zu nehmen. Andere wollten es sofort kaufen.» Er legt einen Karton voller vergilbter Postkarten vor mich. «Schau dir die an.» Er zeigt auf das kolorierte Bild einer Frau im Burleske-Look. An seinem Finger prangt ein grober Silberring.
Ich lasse mir die Postkarte geben.
«Darf ich dir sonst noch etwas zeigen?»
Meine Augen schweifen durch den Laden. Die Spiderstühle sind mir zu teuer, ein Nierentischchen habe ich bereits und ein Corbusiersessel wäre bei mir zu Hause fehl am Platz. Mit Blick auf eine gerahmte Fotografie des verstorbenen thailändischen Königs über der Ladentüre sage ich: «The king and you.»
«Mit Autoritäten hab ich’s nicht so», lacht der Ladenbesitzer. «Aber diese Aufnahme zeigt keinen Herrscher.»
Ich folge den königlichen Augen, die aufs Nirgendwo gerichtet sind. Ich halte mich fern, drücken sie aus. Ich stehe über euren Sorgen und Seuchen.
«Warum sehe ich dich heute zum ersten Mal?»
«Weil ich sonst nicht in dieser Gegend arbeite.»
«Was arbeitest du?»
«Ich schreibe an einem Stück fürs Theater und bringe Jugendlichen bei, wie man vor Menschen redet.» Ich strecke ihm die Postkarte mit der Burleske-Tänzerin entgegen. «Die nehme ich.»
Beim Einstecken der Karte in eine Zellophanhülle sagt er: «Du bist ein schöner Mensch. Ich würde dich gerne wiedersehen.»
Offen sein. Meint Sophie damit, dass ich mich vom Wunsch nach gemeinsamen Interessen mit einem Partner verabschieden soll? Oder soll es mir egal sein, dass ein Lebensgefährte sich mit seiner Pensionierung beschäftigt, während ich mich mit Geldverdienen abstrample? Oder dass er kleine Kinder hat und ich die Sonntage entweder allein oder im Streichelzoo verbringen müsste?
Die Schaltung klickt, sie ist bereit, mich den Berg erklimmen zu lassen. Entschlossen trete ich in die Pedale.
Ich bin nicht verschlossen. Ich will bloss nicht mehr verloren gehen. Nicht mehr verleugnet werden, weil ein Typ nicht Manns genug ist, zu mir zu stehen. Nie mehr. Ich strample die schlimme Erinnerung weg, verspreche mir: Der nächste Mann lädt mich in sein Leben und in seine Familie ein, sonst kann er mich.
Angespannt kette ich mein Fahrrad ans Gestänge vor dem Haus, betrete meine Wohnung. Wer sich Liebe wünscht, vermutet sie auch dort, wo sie nicht ist. Davor fürchte ich mich.
Im Kühlschrank gibt es noch Tonic. Das Eis knackt leise, als es darüberrinnt. Seit dem Verleugner weiss ich nicht mehr, ob das, was ich als zu mir passend betrachte, das ist, was mir guttut.
Ziehen sich Gegensätze an?
Gesellt sich Gleiches zu Gleichem?
Vermutlich ist es wie im Theater: Bevor etwas nicht ausprobiert ist, kann niemand wissen, ob es funktioniert.
Ein Prost aufs Ausprobieren! Das Tonic kräuselt sich an meinem Gaumen. Ein Mann in einem Möbelladen. Ich hole seine Visitenkarte aus der Tasche. Samuel Feldman. Soll ich? Um offen zu sein, schreibe ich ihm vom Sofa aus eine ungenaue Nachricht.
Sofort erklingt ein Signalton. Hi, Carla, darf ich dich zum Essen einladen?
Darf er?
Seit sich Männer um mich bemühen, die nicht frei sind, bin ich unfrei. Ich will nicht zur Gelegenheitsgeliebten werden oder zum Kick, der die Beziehungen anderer erträglich macht. Mich überkommt die Wut von damals, als ein Bühnenbildner zu mir sagte, was hältst du davon, wenn wir einmal Sex haben? Nur einmal, wegen meiner Frau. Danach tun wir, als hätte er nicht stattgefunden.
Ich antwortete kühl, wenn ich Sex habe, finde ich statt, sonst interessiert er mich nicht. Glaubte der Idiot ernsthaft, eine allein lebende Frau sei so arm dran, dass sie sich auf jeden einlässt, der unbefriedigt ist?
Ich hätte ihn kränken sollen.
Facebook enthüllt nicht, ob Samuel Single ist. 53 Jahre alt. Seit drei Jahren führt er den Laden, der schon zwei Mal mit Gold ausgezeichnet wurde. Er hat eine Schwester namens Melanie und eine Mutter namens Agnes. Ihre Nachnamen unterscheiden sich von seinem.
Hätte er «schöne Frau» gesagt, ich würde mich fragen, welche Begierden damit verknüpft sind. Aber er hat «schöner Mensch» gesagt.
Gerne.
Donnerstagabend beim Thai hinter dem Bahnhof?
Ein teures Lokal. Passt dort der Lederjupe hin? Oder findet Samuel Jeans mit schicken Schuhen schöner?
Schäm dich, gefallen zu wollen!
Nein. Warum sollte ich. Die Zeiten, als ich mich davor fürchtete, nicht ernst genommen zu werden, sind vorbei.
Ich lege mich aufs Sofa.
Nach einem Schlummer geht’s ans Vorbereiten der nächsten Schullektionen: Übungen für Vorstellungsgespräche. Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen wollen im Lebenslauf Leistung sehen, werde ich wie immer sagen. Eine Leistung könne sein, dem Bruder bei den Aufgaben zu helfen oder regelmässig zu trainieren. Hauptsache, sie erzählten eine stimmige Geschichte.
Einmal spöttelte einer, der die Klasse wiederholt hatte: «Meinen Sie so?», er verstellte die Stimme: «Wenn andere davonlaufen, bleibe ich sitzen.» Zu meiner Freude schien er nicht von Scham geplagt zu sein. Ob er weiss, dass Scham Menschen auf Distanz hält – auch jene, denen mensch gerne nah wäre?
«Ein Witz kommt fast immer gut an», sagte ich. «Und die Wahrheit sowieso.»
Ein Eichhörnchen wieselt auf eine Waldrandbuche hinauf, während ich am Computer Dokumente auf die Lernplattform der Klasse hochlade. Mir fällt das wutentbrannte «Schäm dich!» von Mutter ein. Ich war zwölf und hatte abgestritten, dass ich von einem Jungen, in den ich verliebt war, einen Liebesbrief zugeschickt bekommen hatte. «Du lügst mich an!», schrie Mutter unter Tränen. Sie durchschaute nicht, dass ich aus Scham log.
Das Eichhörnchen wagt sich bis zur Spitze eines Asts. Er winkt mir wippend zu.
Vielleicht ertrug Mutter genau das nicht: dass ihre Tochter aus Scham log. Du kannst mir alles erzählen, sagte sie immer. Aber ich konnte nicht. Ich war nicht die Offenherzige, die sich Mutter wünschte, und ich schämte mich dafür, dass ich es nicht war.
Schon geht’s los mit dem Werweissen, dem Wissenwollen, dem Nichtzufragentrauen.
Carla, es ist ein Spiel.
Das Lichtsignal stoppt mich und lässt die Fragen und Antworten, die seit gestern hin und her geflogen sind, aufploppen. Ob ich Kinder habe. Samuel fragte nicht direkt, dafür ist er zu elegant.
Wenn er wüsste, was es bedeutet, Geld verdienen zu müssen neben dem eigentlichen Beruf. Ich hätte die Kraft fürs Erziehen nicht gehabt.
Was soll das Gehupe hinter mir? Kutscher, ich kann nichts dafür, dass deine Karre grösser ist als deine Fahrkunst.
Mir fällt der Typ ein, der beim ersten Date meinte, er könne nur mit einer Frau zusammen sein, die ein eigenes Auto habe. Wie wird Samuel darauf reagieren, dass ich bescheiden leben muss?
Sagt er, wir passen nicht zueinander, mein Lifestyle ist ein anderer?
Oder: Macht nichts, mein Gehalt reicht für uns beide.
Was ich früher abgelehnt habe, scheint mir heute verlockend: Einen Haushalt für zwei zu schmeissen statt nur für mich, und als Entschädigung dafür dürfte ich auf den Brotjob verzichten. Hielte ich finanzielle Abhängigkeit aus?
Die Ampel für die linke Spur wechselt auf Rot, gleich ist meine grün. Ich schwinge mich auf den Sattel und fahre kurz vor Farbwechsel an.
Kaum stehe ich im Klassenzimmer, vertreiben Gegröle und Gerangel alle Gedanken, die nichts mit der Situation zu tun haben.
Setzt euch, bitte. Mobiltelefon in die Tasche.
In die Tasche, habe ich gesagt.
Sie! Ich finde mein Heft nicht.
Sie! Ich habe mich entschieden. Ich will Anwalt werden.
Und ich mache ein Praktikum bei einer Prostituierten.
Lachen.
Sie! Mit welchem Beruf verdiene ich viel Geld? Also richtig viel Geld?
Eins nach dem anderen. Zuerst schreibt jeder und jede für sich auf: Was macht mich aus?
Ratlose Blicke.
Lily, was macht dich aus?
Ich bin Schweizerin, ich habe dunkelbraune, lange Haare, ich bin gut in Mathematik, ich mag Katzen, höre Rihanna, meine Lieblingsfarbe ist Gelb.
Ich habe Leidenschaften erwartet, Charakterzüge.
Was machst du, wenn du wütend bist?
Was machst du, wenn eine Freundin nicht weiterweiss?
Wie reagierst du, wenn du etwas nicht verstehst?
Ich schreibe die Fragen an die Wandtafel und beauftrage die Jugendlichen, zu jeder Frage mindestens einen ganzen Satz zu notieren. Vielleicht kommen wir so zum Kern der Persönlichkeiten.
Ihre Konzentration erlaubt es mir, meinen Laptop aufzuklappen und kurz Samuel zu schreiben. Was wolltest du mit fünfzehn werden?
Grafiker. Mein Stiefvater war befreundet mit Werbeleuten und besorgte mir eine Lehrstelle.
Warum bist du es nicht geblieben?