Wenn ich ihn nicht hätte - Jennifer Miller - E-Book

Wenn ich ihn nicht hätte E-Book

Jennifer Miller

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Beschreibung

Wenn ich ihn nicht hätte... ...wäre mein Leben rein gar nichts wert. Ich wäre nicht ich und er wäre nicht er. Wir haben uns gefunden, weil das Schicksal es so wollte. Das Schicksal wollte mir bei meinem Leid helfen. Er hat mir geholfen. Doch das Schicksal war nie auf meiner Seite. Nie... Früher oder später öffnet sich wieder das Loch in das ich falle. Ich falle und falle und komme nicht mehr raus.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Acht Jahre zuvor…

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Drei Monate später

Kapitel 45

Sechs Jahre später

Kapitel 46

Kapitel 1

Wo kann er sein? Seit 10 Minuten laufe ich planlos durch das Feld und habe keinen blassen Schimmer, wo er sein könnte. Ich muss mir mehr Mühe geben, so schwer kann es doch nicht sein.

Wenn ich die ganzen reifen Pfirsich-Bäume sehe, bekomme ich Hunger. Vielleicht mache ich heute Abend noch frischen Pfirsichkompott oder ich lese endlich mal mein neues Buch zu Ende, wenn er schläft.

Sonst komme ich gar nicht mehr dazu.

Hätte man mir vor sechs Jahren gesagt, dass ich heute auf einer kleinen Pfirsich-Farm in Australien arbeiten und in einer kleinen Hütte am Feldrand wohnen werde, hätte ich hunderte von Dollar verwettet, dass das glatt gelogen ist. Na ja, aber hier bin ich. In Australien auf einer Pfirsich-Farm und suche ihn. Wenn man nicht auf die Zeit achtet, verfliegt sie immer so schnell.

16:47 Uhr. Mist, nicht dass der Auflauf im Ofen verbrennt.

Wo zur Hölle ist er bloß?

Ich pflücke mir auf der Suche noch schnell einen Pfirsich und beiße voller Freude rein.

Saftig, süß und bisschen warm von der Sonne.

Ein Pfirsich reicht aber nicht aus, um meinen Hunger zu stillen.

„Was machst du da?“ Ich lasse vor Schreck meinen leckeren Pfirsich fallen.

„Isst du etwa schon? Hast du den Auflauf schon vergessen? Man, und ich halte mich die ganze Zeit zurück und hungere. Du hast ganz schön lange gebraucht, wo warst du? Na ja, egal, los jetzt, auf zur Hütte. Ich habe Riesenhunger.“

Ich fasse es nicht. Ich suche ihn seit zwölf Minuten und ICH werde angemeckert, dass ER Hunger hat. Typisch. Aber genau das liebe ich so sehr an ihm. Er ist einfach besonders. Er sorgt dafür, dass ich jeden Tag mit Freude leben kann und nicht an die schlimmste Zeit meines Lebens zurückdenken muss, obwohl ich leider zu oft an diese Zeit zurückdenke. Es verfolgt mich hauptsächlich in meinen Träumen oder wenn ich allein bin. Ich muss anscheinend auch absichtlich an diese Zeit denken, hat mein Psychiater gesagt.

„Frau Johnson, es ist völlig in Ordnung an diese Zeit zurückzudenken und es ist auch sehr wichtig für ihre Genesung. Verbieten sie nicht ihrem Kopf an negative Ereignisse zu denken.

Lassen sie sich Zeit. Sowas kann mehrere Jahre dauern.“ So oder so ähnlich bekomme ich es jede Woche zu hören. Trotzdem möchte ich nicht mehr so oft daran denken müssen.

Aber wie bringt man einem Menschen so etwas bei? Wie lernt man etwas zu vergessen oder zu verdrängen, was dich dein ganzes Leben lang leiden lässt? Den Schmerz spüre ich immer noch genau wie damals. Auch wenn der Kopf es verdrängt, zieht sich der Körper mehrmals am Tag vor Schmerz zusammen. Und das nach Jahren noch. Ich glaube das wird für immer so bleiben.

Ich schaue auf und sehe ihn schon ungeduldig an der Hüttentür stehen. Ich muss mich beeilen, sonst verbrennt gleich noch die schöne Hütte bei unserem Versuch einen Auflauf zu backen. Ich bin nicht die beste Köchin. Mein knurrender Magen dankt mir, wenn ich endlich Nahrung zu mir nehme. Egal wie sie schmeckt.

Acht Jahre zuvor…

Kapitel 2

„Joleen. Joleeeeeen. Wach endlich auf.“ „Neee, noch fünf Minuten. Bitte, Nora. Ich konnte gestern nicht einschlafen und war mega lange wach.“ „Ja, ich sehe es. Seit wann steht dein Bett hier?“ Ich kenne diesen Blick von Nora. Wütend, enttäuscht und besorgt.

„Ich wollte mal was Neues und dachte, wenn das Bett neu steht, kann ich besser schlafen und siehe da, ich konnte schlafen.“

Ich hoffe Nora lässt nach und geht endlich. Auch wenn sie nur das Beste für mich will, nervt es mich immer eine Rechtfertigung parat zu haben.

Als ich mit meiner besten Freundin in eine WG gezogen bin, dachte ich, es wird eine aufregende, lustige Zeit voller Partys und Spaß. Irgendwie kam diese Zeit nie.

Stattdessen hat Nora schnell gemerkt, dass anscheinend was mit meiner Psyche nicht in Ordnung ist und wollte seitdem mein Therapeut sein und war wegen jeder Kleinigkeit besorgt und anhänglich. Partys und Alkohol empfand sie für keine gute Idee und somit waren wir nur daheim. Eigentlich genau das, was ich liebe. Nur daheim sein und nichts tun. Es war auch ganz lustig mit ihr. Sie ist mir sehr ans Herz gewachsen.

Vielleicht hatte sie bei dem Thema gar nicht so unrecht und ich habe es erst richtig wahrgenommen, nachdem sie mir ihre Gedanken geäußert hat, aber ich bin 25 Jahre alt und bekomme es wohl selbst geregelt, oder? Und wenn nicht, dann soll es wohl so sein.

„Bitte Joleen, steh auf und geh zur Arbeit. Du brauchst das Geld und die Ablenkung!“, sagt sie mir vorwurfsvoll.

Wow, sie nennt Regale im Supermarkt einräumen wirklich „Ablenkung“. So habe ich es noch nie betrachtet.

„Ist ja gut Nora du hast ja recht. Ich stehe auf.“ Jetzt kann ich eh nicht mehr weiterschlafen, nachdem mir wieder ein schlechtes Gewissen eingeredet wurde. „Ich gehe schnell ins Bad und dusche, dann können wir zusammen frühstücken, Deal?“ „Deal!“, sagt Nora nicht sehr überzeugt und geht endlich aus meinem Zimmer.

Es ist jedes mal eine Qual morgens zu duschen, aber das Gefühl danach ist unschlagbar.

„Hast du dich beruhigt?“, frage ich Nora und bereue diese Frage direkt, als ich ihren Blick sehe. „Ich mich beruhigt?“, fragt sie mich und reißt die Augen auf. Oh nein, vielleicht hätte ich sie anders in der Küche begrüßen sollen.

Bitte keine Standpauke.

„Ja, war nicht so gemeint, Nora. Das weißt du.“ Keine andere Freundin würde sich jemals so viel Mühe machen, dass ich mit meinem Leben klarkomme. Schon schlimm genug, dass Nora mehr an meinem Leben hängt als ich. Wo nimmt die nur die Geduld her? „Also, Joleen. Ich muss mit dir reden.“

Nicht schon wieder, denke ich mir und versuche den Augenkontakt zu vermeiden.

Vielleicht hört sie dann auf zu reden.

„Ich habe lange überlegt und mir fällt es sehr schwer es dir zu sagen.“

Komisch, normalerweise geht der Satz anders weiter.

„Joleen, ich ziehe mit Leon zusammen.“

Stille.

Nora schluckt.

Das kam unerwartet.

„Wir haben das schon länger geplant und uns dazu entschieden, es endlich zu tun. Weißt du, WG-Leben ist nicht für immer. Du musst auch irgendwann auf deinen eigenen Beinen stehen und vielleicht jemanden kennenlernen. Wir werden jeden Tag älter und das muss man genießen. Du gibst keinem Typen nur eine Chance und bringst auch nie Jungs mit nach Hause. Vielleicht ist es deine Chance, wenn du allein wohnst“, Nora atmet lange aus.

Was soll das denn heißen? Ist es so schlimm, dass ich Single bin?

„Ich habe Angst, dass du sauer auf mich bist oder dich im Stich gelassen fühlst. Du weißt, wie sehr du mir ans Herz gewachsen bist, aber das Leben ändert sich und muss weiter gehen.

Was sagst du dazu, Joleen?“

Gute Frage. Was sage ich dazu? Am liebsten würde ich für immer hier in der WG wohnen und so gut es geht Abstand zu fremden Menschen halten und nie in eine Situation kommen, in der ich Männer kennenlernen muss, damit ich nicht allein bin. Vielleicht will ich auch alleine sein?

„Ja, eh, also ich freue mich für dich, obwohl ich das nicht erwartet habe.“

Lüge.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen Nora. Ich schaffe das schon und du hast ja ein eigenes Leben.“ Doppel Lüge.

„Wo wollt ihr denn hinziehen? Habt ihr schon was gefunden?“

„Ja also Joleen, wir wollen auswandern. Nach Frankreich. Zu Leons Familie. Die haben dort schon eine Wohnung für uns besorgt und ich könnte im Laden von seiner Mama arbeiten.

Es ist schon alles geplant.“ Sind hier irgendwo versteckte Kameras? Ich kann das nicht glauben. Mit Leon nach Frankreich.

Mit Leon.

Nach Frankreich.

„Wow Nora, wie großartig. Ich freue mich für dich. Wann gehts denn los?“, frage ich und will die Antwort eigentlich gar nicht hören.„In einer Woche.“

In einer Woche. Eine Woche noch. Sieben Tage. 168 Stunden.

„Es ist sehr kurzfristig, ich weiß und du stehst plötzlich allein da, aber um Geld brauchst du dir keine Gedanken machen. Meinen Teil der Miete habe ich für den Rest des Jahres schon bezahlt. Du hast also noch Zeit etwas Neues zu finden, was Kleineres und Günstigeres.“

Ich kann das nicht glauben. Das scheint lange geplant worden zu sein.

„Ich bin aber immer für dich da Joleen.

Immer.“ Damit verließ Nora den Raum und ließ mich mit dem Frühstück und meinen Gedanken zurück.

Eine Woche später war es so weit und die letzten Sachen wurden von der Umzugsfirma mitgenommen. Der Abschied von Nora war kurz und schmerzlos. Was sehr unerwartet war. Auch wenn es mir schwerfällt, ich kann sie nicht festhalten. Sie hat ein eigenes Leben und ich auch und ich muss endlich anfangen, mich zusammenzureißen und etwas aus mir zu machen. Ich freue mich für Nora. Ich freue mich wirklich sehr. Sie hat das verdient und ich brauche niemanden, der mir hilft zu leben. Ich bin erwachsen und alt genug. Aber wie stelle ich das nur an?

Kapitel 3

Es sind ein paar Wochen vergangen und ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich fühle mich allein. Damals, als ich von zu Hause weggelaufen bin, habe ich mir gesagt, dass ich nie wieder dieses Gefühl verspüren werde, um mir Mut zu machen. Und siehe da, das Gefühl ist zurück. Ein scheiß Gefühl. Einsamkeit.

Ich liege stumm im Bett und starre gegen die Decke. Tausend Gedanken kommen mir in den Kopf. Tausend schlechte Gedanken. Warum bin ich so?

Es gibt Phasen, in denen ich mich einfach verloren fühle. Die Angst, die mich täglich begleitet, zerfrisst mich innerlich. Die Angst vor Allem. Die Angst vor dem Leben. Die Angst, anderen nicht zu gefallen. Mir selbst nicht zu gefallen. Ich hasse es, dass ich so bin, und ich hasse jeden einzelnen Tag mit mir selbst. Ich frage mich jedes Mal, ob ich diese Krankheit jemals wahrgenommen hätte, hätte Nora sie nicht angesprochen. „Joleen sag mal, irgendwas stimmt nicht mit dir. Du bist ständig krank und du fängst in den normalsten Situationen an zu zittern oder dir deine Nägel in die Haut zu rammen. Glaubst du, ich habe das nicht gemerkt?“

Nein Nora, ich hätte nie gedacht, dass es jemals eine Person merkt. Ehrlich nicht. Also ich habe es zumindest gehofft, dass es keiner merkt. Somit war und ist Nora die einzige Person, die weiß, dass ich Angststörungen habe. Angststörungen, die mich einengen. Die mein Leben nicht mehr lebenswert machen. Vor die Tür treten sorgt in mir für eine Unruhe, die dazu führt, dass ich am Ende des Tages blutige Fingerkuppen habe, weil ich sie mir unbemerkt aufkratze. Mich stressen normale Alltagsaufgaben. Alltagsaufgaben, bei denen ich anderen Menschen über den Weg laufen muss.

Ich kann mir nicht erklären, was der Auslöser war oder wann das alles angefangen hat, aber von einen auf den anderen Tag konnte ich kaum noch atmen und hatte permanent Schwindel. Es vergeht kein Tag, an dem ich keine Beschwerden habe. Würde es nach meinen Gedanken gehen, wäre ich schon 264 mal gestorben, an Krankheiten, die es teilweise nicht gibt. Hört sich lustig an, aber es fühlt sich an, als ob mein Kopf mein Gefängnis ist und meine Gedanken sind Foltermethoden, die an mir ausprobiert werden, damit ich so viel leide wie nur möglich. Es reden immer mehrere Stimmen auf mich ein und sagen mir wie schlecht ich bin, dass mich keiner mag und dass ich eine tödliche Krankheit habe.

Diese Stimmen zu hören und mir einzubilden, ich wäre todkrank, lassen meinen Puls in die Höhe schießen. Was dazu führt mich glauben zu lassen, ich bekomme einen Herzinfarkt. Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht kurz Panik bekomme.

Die Leute um mich herum bemerken das nicht, weil ich einfach gelernt habe damit umzugehen und zu leben. Doch Momente wie diese gerade auf meinem Bett, bringen mich zurück und zeigen mir, dass ich Hilfe brauche und es allein zwar kurzzeitig schaffen kann, aber mein kleines System irgendwann kollabiert und ich keinen Schritt mehr nach vorne schaffe, sondern nur noch Sprünge zurück.

In ständiger Angst zu leben nimmt mir nach und nach die Lust am Leben. Dadurch falle ich in ein Loch. In das Loch, wo keiner ist. Nur ich.

Wo mir keiner helfen kann. Ich nur noch Selbsthass empfinde und mir vor Wut am liebsten den Kopf abreißen würde, weil ich die Gedanken in meinem Kopf nicht abstellen kann.

Doch noch bin ich nicht unten am Loch angekommen. Noch bin ich im freien Fall und habe Chancen mich wieder hochzubekommen.

Zumindest glaube ich das.

Ich hoffe es.

Hör jetzt auf Joleen und steh auf. Du bist stark und mutig. Steh auf und zeig der Welt, wer du bist und was du alles kannst, wenn du nur willst.

Aber erst morgen früh. Ich brauche meinen Schlaf.

Kapitel 4

07:00 Uhr. Zu früh für mich. Viel zu früh für mich.

Joleen du schaffst das! Aufstehen, fertig machen und raus aus dem Haus. Das ist mein Plan, aber um diesen umzusetzen brauche ich wirklich viel Kraft.

Und eins und zwei und drei.

Ah, ich stehe. Der erste Schritt ist wohl geschafft. Das war doch gar nicht so schwer. Schnell noch das Gesicht waschen und die Zähne putzen. Beim Vorbeigehen am Schlafzimmer höre ich, wie mein Bett mich ruft und es ist echt schwer zu widerstehen. Aber ich bin motiviert und diszipliniert. Ich schaffe das!

Noch schnell eine Banane für den Weg eingepackt und los geht der Tag.

Mhm, schön, es regnet und ich habe natürlich keinen Regenschirm. Ein Zeichen von Gott, dass ich wieder zurück ins Bett soll.

Hör auf so zu denken und reiß dich zusammen, du Jammerlappen.

Wow, meine Gedanken sind mal wieder nett zu mir.

Heute steht nur eine kurze Schicht auf der Arbeit an. Ich springe für drei Stunden ein und räume bisschen im Lager auf. Meine Chefin weiß, dass ich keine Kundenarbeit mag und gibt mir netterweise Aufgaben weit weg von Menschen. Sehr rücksichtsvoll von ihr. Im Lager ist es eiskalt. Zweites Zeichen von Gott, nach Hause zu gehen und mich ins Bett zu legen.

Ich dachte, wir haben Frühling. Hier drinnen sind es gefühlt fünf Grad.

„Joleeeeeeen, Hi.“

Oh nein, oh nein. Bitte nicht. Das dritte Zeichen kommt auf mich zu gelaufen. Wenn ich mich jetzt umdrehe und schnell renne, schaffe ich es noch zu verschwinden. „Ist das nicht cool, dass wir hier hinten zusammen eingeteilt worden sind?“, fragt mich Lisa. Die nervigste Kollegin weit und breit.

„Oh wow, ich dachte schon, ich wäre heute allein im Lager“, sagte ich nicht gerade glücklich, damit Lisa merkt wie „begeistert“ ich bin. Sie hat bestimmt gemerkt, dass ich sie nicht leiden kann. Ist mir eigentlich auch egal.

Wieso muss man auch jeden mögen und sich mit jedem verstehen? Vor allem Lisa. Laut, hektisch und nervig. Ich werde müde, wenn sie mit mir redet, weil mein Gehirn nicht hinterherkommt.

„Dann lass uns mal anfangen Lisa, wir haben viel zu tun“.

Ran an die Arbeit, damit sie keine Chance hat mich voll zu labern. Sie wollte gerade noch etwas sagen, aber hat es doch gelassen. Zum Glück.

Noch zehn Minuten, dann kann ich endlich nach Hause und mich in mein Bett einkuscheln. Dann kann ich den ganzen Tag nichts machen und früh schlafen gehen. Das hört sich doch nach einem guten Plan an.

Lisa war die letzten Stunden nur am Handy und hat mir so gut wie gar nicht geholfen.

Eigentlich könnte ich zur Chefin gehen und sie verpetzen. Dafür würde sie bestimmt eine Abmahnung bekommen, aber so hatte ich heute wenigstens meine Ruhe und Lisa war abgelenkt. Sie hat tatsächlich noch keine zwei Sätze mit mir geredet, weil sie so ins Handy vertieft ist. Komisch, was macht sie da eigentlich die ganze Zeit. Ich war schon bereit mir Kopfhörer zu holen, um ihr nicht zu hören zu müssen, aber die habe ich nicht gebraucht.

Anscheinend ist das Handy heute interessanter.

„Lisa? Was machst du eigentlich die ganze Zeit am Handy?“

Sie guckt mich ganz erschrocken an, als ob ich sie bei etwas erwischt hätte.

„Oh, wir haben ja schon fast 11:00 Uhr. Oh nein, ich habe nichts mehr mitbekommen. Das tut mir so leid Joleen. Mist.“

Wenn sie wüsste, wie egal mir das ist.

„Es tut mir so leid, dass ich dir nicht geholfen habe. Ich bin Handysüchtig.

Es ist mir jetzt ein bisschen peinlich, aber ich habe jemanden kennengelernt. Über eine App.

Ich habe mit ihm geschrieben und gar nicht gemerkt, wie vertieft ich war. Oh nein, du hast alles allein gemacht. Das tut mir so leid. Ich mach das wieder gut!“

Ich muss kurz lächeln. Ich zeige ihr mit einer Handbewegung, dass alles gut ist und ich nicht sauer bin. Ihre Wangen werden rot.

Über Apps jemanden kennenlernen ist tatsächlich ein Ding geworden?

„Das hört sich ja interessant an“, versuche ich zum Gespräch beizutragen, damit ich nicht einfach so dasitze und doofe Blicke abgebe. So ganz ist das nicht mal gelogen. Ein bisschen Neugier hat sie in mir geweckt.

„Ja, ich habe ihn dort letzte Woche angeschrieben und es hat direkt gefunkt.

Seitdem schreiben wir jeden Tag ununterbrochen. Ich weiß, es klingt komisch, weil wir uns noch nie gesehen haben, aber ich glaube er ist es! Meine Zukunft. Das ist mein Seelenverwandter.“

Ganz schön überzeugt. Eine Woche schreiben und direkt ist es ihr Seelenverwandter. Gibt es so etwas wirklich oder lebt Lisa in einer Scheinwelt und wird komplett verarscht von diesem Typen. Sie wird wohl wissen, was sie da tut.

„Kannst du mir die App vielleicht mal zeigen?“

Ich weiß nicht wieso, aber das musste ich fragen. Obwohl es absurd klingt und ich mir das niemals vorstellen kann, würde ich schon gerne wissen, wie so etwas funktioniert.

Lisas Augen blitzen auf und sie setzt sich direkt neben mich und fängt an, mir die App zu erklären. Als ob sie auf diese Frage gewartet hätte.

„Also, das ist die App. Du loggst dich ein und gibst alle Informationen über dich an. Alter, Geschlecht, Größe etc. Natürlich auch deine Interessen und ein paar Fotos von dir. Dann werden die Männer gefiltert und dir wird eine Auswahl an Männern angezeigt, die dir gefallen könnten. Oder Frauen. Es kommt darauf an in welchem Ufer du schwimmst. Das kannst du am Anfang angeben. Aber wenn du dich nur für Männer entscheidest, werden dir auch nur Männer angezeigt. Es werden eure Interessen abgestimmt. Du hast dann die Möglichkeit dir alle Männer in Ruhe anzuschauen und dann kannst du die Männer anschreiben. Natürlich nur, wenn dir einer gefällt.

Der Haken ist, dass die Frau den ersten Schritt machen muss. Das heißt, du MUSST einen Mann anschreiben, damit daraus etwas entstehen kann. Und wenn du dem Mann gefällst, akzeptiert er die Chat-Anfrage und man kann sich kennenlernen. Der Mann hat keine Möglichkeit, dich als erstes anzuschreiben oder dir zu zeigen, dass er Interesse hat. Das kommt alles von der Seite der Frau. Ist das nicht cool?“

Na ja. Wenn ich den ersten Schritt machen muss, ist es eigentlich nicht so cool. Vor allem nicht so cool für mich. Wie macht man einen ersten Schritt?

Stopp! Ich muss aufhören, darüber nachzudenken. Ich werde mir niemals so eine App runterladen. Warum sollte ich auch?

„Danke für die ausführliche Erklärung Lisa.

Ich mache jetzt Feierabend. Bis dann und viel Erfolg noch mit deinem Typen“, schnell verlasse ich den Raum, damit sie nicht weiterredet, aber sie sagt natürlich noch was zu mir.

„Ach und Joleen, die App ist komplett kostenlos. Versuch die App mal. Kann lustig sein. Vielleicht mal eine gute Idee für dich.“ Ich tue so, als ob ich sie nicht mehr gehört habe und gehe aus der Tür raus.

Wieso sollte es eine gute Idee für mich sein? Denkt sie ich bin einsam? Ich bin vielleicht einsam, aber so einsam, dass sogar Lisa es merkt?

Ach, das ist Lisa. Sie wollte bestimmt nur nett sein. Sie denkt bestimmt nicht, dass ich einsam bin. Sie weiß ja gar nichts über mich. Ich vergesse lieber alles und gehe einfach nach Hause. Endlich nach Hause.

Kapitel 5

Fünf Stunden sind vergangen in denen ich an nichts anderes mehr denken konnte als an diese App. Nicht mal mein Bett konnte mich zur Ruhe bringen.

Man, nervt mich das. Das ist eine dumme App, wieso gefällt mir aber die Idee jemanden online kennenzulernen. Da muss ich nicht reden, da sieht mich keiner und ich muss mein Haus nicht verlassen. Es ist schon ein Wunder, dass ich überhaupt so weit denke, jemanden kennenzulernen. Lisa hat recht. Ich bin schon bisschen einsam und vielleicht wünsche ich mir manchmal jemanden an meiner Seite, aber ich weiß nicht, wie man jemanden kennenlernt. Na ja, obwohl jetzt habe ich ja eine Lösung.

Soll ich mich trauen?

Ach was soll’s. Ich habe nichts zu verlieren und ich muss mich auch zu nichts zwingen.

Wenn die App blöd ist, dann lösche ich sie direkt und werde niemals wieder einen Versuch starten jemanden online kennenzulernen.

Ich schaue konzentriert auf mein Handy Display.

Da ist sie. Die App.

Ich muss nur einen Knopf drücken und die App lädt auf mein Handy.

„Ahhhhhhh“.

Ich habe es getan. Ich habe mir die App wirklich runtergeladen. Ich öffne die App und mir kommen ganz viele rote Herzen entgegen.

Ist das kitschig.

In der Mitte kommt ein Button zum Vorschein, wo draufsteht. „Profil erstellen“. Es ist so weit, dann erstelle ich mir wohl ein Profil, aber was für Fotos nehme ich von mir? Ich habe nichts Aktuelles, weil ich es hasse, fotografiert zu werden und für Selfies bin ich nicht talentiert genug. Es gibt tatsächlich nur ein Foto, auf dem ich akzeptabel aussehe und das ist zwei Jahre alt. Ich sehe aber noch immer so aus wie auf dem Foto. Dann nehm ich das wohl.

Das Foto wurde hochgeladen.

Meine Hobbys? Wieso muss ich denn sowas angeben. Welcher Mensch hat heutzutage ernsthafte Hobbys. Ich schonmal nicht.

Was beschreibt mich gut und schreckt aber keinen ab.

„Ich lese gerne und genieße es meine Abende ruhig zu verbringen.“ Das sollte wohl reichen und ist die Wahrheit.

„Aktiviert“.

Mein Profil ist online. Ich kann es nicht glauben. Wieso habe ich auf Aktivieren gedrückt? Da war meine Hand schneller als mein Kopf. Ich hätte noch überlegen müssen.

Ich war mir gar nicht sicher, ob ich das möchte.

Man!

Jetzt „muss" ich mir wohl paar männliche Profile anschauen.

Zwei Stunden habe ich jetzt auf der App verbracht und habe nicht mal gemerkt, dass es schon dunkel draußen ist.

In diesen zwei Stunden habe ich mir gefühlt 70 Männer Profile angeschaut und teilweise sogar durchgelesen. Davon fand ich tatsächlich drei sympathisch. Obwohl einer von den drei aussieht wie ein Klischee Draufgänger.

Lederjacke, Motorrad, Gel in den Haaren und ein Zahnstocher im Mund.

Soll ich einen von denen anschreiben?

Eigentlich sollte ich mich überwinden und einfach Einen anschreiben. Sonst macht das ja alles keinen Sinn. Jetzt habe ich es so weit geschafft, dann kann ich auch weiter machen.

Okay, ähm wen schreibe ich denn an?

Ich wähle dich!

Ich zeige auf das Profil von Matt.

Matt Miller, 28 Jahre jung und unfassbar gutaussehend. Seine Hobbys sind Reisen und Fotografie.

Wenigstens hat er Hobbys.

Dunkelbraune Haare und eisblaue Augen.

Wow!

Was schreibe ich ihm? Ich fange einfach mal an zu tippen.

„Hey Matt, ich habe dein Profil gesehen und finde dich unfassbar attraktiv. Ich habe zwar keine Ahnung von Männern und der Kommunikation zu Männern, aber willst du mit mir schreiben? Ist bestimmt ganz lustig“

Nein! Sowas Peinliches kann ich doch nicht schreiben. Schnell löschen.

Oh nein.

Oh nein.

Oh nein.

Bitte nicht, nein.

„Zugestellt“

Ich habe es wirklich abgeschickt. Ich habe es versaut. Ist das peinlich. Man, meine doofen Wurstfinger. Wie konnte ich auf den falschen Knopf drücken? Was denkt der sich jetzt bloß? Ich schmeiße mein Handy weg und verkrieche mich für den Rest meines Lebens im Bett.

Als Kind habe ich mich auch immer unter der Decke versteckt, wenn meine Eltern sich wieder angeschrien haben. Manchmal lag ich mehrere Stunden, seelenruhig unter einer Decke und habe mir vorgestellt, dass ich in meiner Traumwelt lebe und alles perfekt ist.

Bis ich die Decke von mir genommen habe und realisiert habe, dass ich immer noch in meinem dreckigen kleinen Zimmer liege und mein Vater vor Stunden schon abgehauen ist