Wenn ich wieder lieben kann - Melanie Buchelt - E-Book

Wenn ich wieder lieben kann E-Book

Melanie Buchelt

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Beschreibung

Wieder hatte sie das Gefühl, zu fallen. Ohne Fallschirm. Ohne Reißleine. Die 27-jährige Linda ist glücklich verheiratet und arbeitet in ihrem Traumberuf als Hochzeitsfotografin. Ihr Leben gerät jedoch völlig aus den Fugen, als sie ihren krebskranken Mann David viel früher verliert, als erwartet. Linda schottet sich in ihrer Trauer ab und nur Davids bester Freund Chris schafft es, sie aufzufangen und ihr ein kleines Stück Normalität zurückzubringen. Doch dann stellt ein Brief die Welt der beiden erneut auf den Kopf und erschüttert Lindas Vertrauen in ihren einzigen Halt. Ein Roman über den Verlust der großen Liebe, unerwartete Gefühle und einen steinigen Weg zurück ins Leben.

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Seitenzahl: 360

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-50-2

Alle Rechte vorbehalten

Für alle, die Trauer im Herzen tragen.

Die lieben oder geliebt haben.

Für alle, die ohne Hoffnung sind oder die Hoffnung nicht aufgeben wollen.

Und für dich!

Inhalt

Playlist:

Prolog

Galgenhumor

Sekunden

Stille

Die Welt dreht sich weiter?

Weint, wenn ihr weinen wollt

Der freie Fall

Chaos

Überwindungen

Davids Eck

Aber

Auf Abwegen

Entschlossenheit

Verwandlungen

Bunt

Bergauf mit Rückenwind

Schmetterlingsflügel

Jetzt

Epilog

Danksagung:

Triggerthemen:

Triggerwarnung:

Liebe Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Falls ihr denkt, ihr könntet betroffen sein, findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit den Triggerthemen. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Playlist:

Linda:

There you’ll be – Faith Hill

I’ll never love again – Lady Gaga

Dancing with your ghost – Sasha Sloan

Heaven was needing a hero – Jo Dee Messina

One sweet day – Mariah Carey & Boyz II Men

If you say so – Lea Michelle

Halt mich fest – Johannes Oerding

Feels like home – Edwina Hayes

Wenn du da bist – Sarah Connor

Du fängst mich ein – Sasha

Chris:

Fix you – Coldplay

Hold on – Chord Overstreet

Blurry eyes – Michael Patrick Kelly

Someone to you – Banners

The way I feel inside – The Zombies

Find a way – Safety Suit

I’m here – David Pfeffer

Fall on me – David Pfeffer

Wenn du mich brauchst – Johannes Oerding

Can’t fight this feeling – REO Speedwagon

Der freie Fall – Johannes Oerding

You are the reason – Calum Scott

Übermorgen – Mark Foster

Wer wenn nicht wir – Wincent Weiss

Prolog

Die verdammten fünf Buchstaben leuchteten Linda auf dem Handy-Display entgegen und brannten sich in ihre Netzhaut ein wie das Blitzlicht ihrer neuen Kamera.

Sie hatte sich fest vorgenommen, nichts darüber zu lesen, um sich nicht verrückt zu machen. Und doch scrollte sie, seit David eingeschlafen war, durch Berichte über Behandlungsmethoden, Heilungschancen und … Lebenserwartungen. Die Texte klangen, als handelten sie von einer faszinierenden biologischen Entdeckung. Aber für Linda und David war es nur eines: eine viel zu schnell tickende Zeitbombe.

Regentropfen prasselten in regelmäßigem Rhythmus ans Fenster über dem Bett. Sogar der Regen ist heute wie ein Zählwerk, dachte Linda und schüttelte die Gänsehaut von ihren Unterarmen ab. Achtlos legte sie ihr Handy auf den Nachttisch.

Das Display tauchte den Raum noch einen Moment lang in bläuliches Licht. Lindas Blick schweifte zu David, der neben ihr schlief und einen Arm um sie geschlungen hatte. Seine Lider waren gerötet und ein paar Strähnen seiner schwarzen Haare waren ihm in die Stirn gefallen. Über eine Stunde lang hatten sie gemeinsam geweint und die Welt verflucht, bis er keine Kraft mehr gehabt hatte.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie und strich sanft über seinen Kopf, wie unzählige Male heute Abend.

Einen Augenblick später piepte ihr Smartphone und leuchtete erneut auf. Linda zuckte so stark zusammen, dass Davids Arm ein Stück nach unten rutschte. Sie hob ihr Handy vom Nachttisch auf und atmete geräuschvoll aus, als sie den Namen im Messenger las:

Christopher Hofmann. Davids bester Freund.

Hi Linda, was hat die Untersuchung ergeben? David antwortet nicht, wahrscheinlich ist sein Akku leer. Ich hoffe, bei euch ist alles okay?

Während sie die Antwort tippte, schossen ihr Tränen in die Augen. Und sie waren bitterer als die, die sie mit David zusammen vergossen hatte. Verzweifelter. Einsamer. Sie hatte nicht die Kraft, eine ausführliche Nachricht zu schreiben oder die Fakten auszuschmücken. Durch einen Tränenschleier schrieb sie die ungeschönte Wahrheit:

Es ist Krebs.

Chris antwortete nicht und Linda wusste, sie weinte jetzt nicht mehr allein.

Galgenhumor

6 Monate später

Linda mochte die Fußballnachmittage zu Hause, aber das stundenlange Fachsimpeln von David und Chris war eine Herausforderung für ihre Nerven. Die Diskussionen über die neuesten Transfers und Fehlkäufe der Bundesliga verschwammen im Hintergrund zu einem eintönigen Rauschen, während sie sich am Laptop auf die Fotos der Hochzeit konzentrierte, die sie gestern gemacht hatte. Ein tolles Paar. Ihr Kleid war zu pompös für Lindas Geschmack, aber zu der Braut passte es.

»TOR! Hab ich‘s doch gewusst!«, rief David und rückte grinsend sein Basecap zurecht. Er trug es seit Monaten.

Linda erinnerte sich genau an den Tag, an dem der Haarausfall eingesetzt hatte, und daran, wie schwer es ihrem Mann gefallen war, damit klarzukommen. Er war kein eitler Mensch, aber hatte es geliebt, neue Frisuren und Stylings auszuprobieren.

»So ein Dreck! Das war doch Abseits«, entgegnete sein Freund Christopher, der sich fassungslos in seine dunkelbraunen Haare fasste und näher an den Fernseher rückte.

Linda schüttelte den Kopf und lächelte. Immer das Gleiche.

Die beiden waren ein Herz und eine Seele, aber bei Fußball hörte die Freundschaft auf. Die Trikots, die sie trugen, waren genauso gegensätzlich wie sie selbst. David war groß und sportlich, doch nicht übertrieben muskulös. Konditionstraining war seine Leidenschaft gewesen, bis seine Krankheit es nicht mehr zugelassen hatte.

Chris war einen halben Kopf kleiner als David und ein gemütlicher Typ mit leichtem Bauchansatz. Er versuchte zwar ab und an Sport zu treiben, gab es aber nach spätestens zwei Wochen wieder auf.

»Du spinnst ja!« David schubste ihn freundschaftlich an der Schulter und richtete das Wort an Linda. »Hey, Schatz, setz dich doch ein bisschen zu uns. Chris braucht seelischen Beistand.«

»Auf euer Schlachtfeld? Vergiss es.« Sie lachte und warf einen Blick zum Fernseher, der die Wiederholung des Tors in Zeitlupe zeigte. »Es war kein Abseits. Sorry, Chris«, stellte sie fest und rückte ihre schwarz umrandete Brille zurecht. »Willst du zum Trost einen Kaffee für die Halbzeitpause?«

Er nickte und sie verschwand in der Küche.

»Das ist Mobbing. Wieso bietest du ihm einen an und mir nicht?«, rief David ihr hinterher.

»Ich glaube, du solltest nicht zu viel davon trinken«, sagte sie mit einem besorgten Unterton in der Stimme und atmete tief durch.

»Da hast du deine Hausaufgaben nicht gemacht. Kaffee ist völlig unbedenklich bei Krebs. Und wenn ich schon sterben muss, dann wenigstens mit einer Portion Koffein im Magen.« Er lächelte charmant.

»Hör auf mit dem Mist!« Sie funkelte ihn an und gab Chris demonstrativ langsam die Tasse. »Ich hab Milch und Zucker reingetan, wie immer.«

»Danke, Linda.«

Bevor sie sich von den Männern abwenden konnte, packte David ihre Hand und zog seine Frau an sich, sodass sie auf seinem Schoß landete. Er streichelte mit dem Handrücken über ihre Wange. Die Wärme seiner Haut übertrug sich auf sie und sofort breitete sich ein Kribbeln in Lindas Bauch aus. Obwohl sie bereits seit sieben Jahren zusammen waren, konnte David sie immer noch mit einer einzigen Berührung aus dem Konzept bringen. Und das nutzte er regelmäßig.

»Es tut mir leid«, flüsterte er und sie versank in seinen blauen Augen, die je nach Lichteinfall grünlich schimmerten. »Lass mich doch ein bisschen Galgenhumor haben. Das macht es etwas leichter zu ertragen, findest du nicht?« Er spielte mit der Kordel ihrer regenbogenfarbenen Strickjacke, die sie immer trug, sobald es draußen kälter als fünfzehn Grad war.

Sie verdrehte schmunzelnd die Augen und zog ihm sein Spielzeug aus den Fingern. »Wenn du meinst. Ich muss weiterarbeiten.«

Linda hatte es ihm nie gesagt, aber sie bewunderte David für seine Art, mit der Krankheit umzugehen. Er hatte zwei Operationen an der Leber und einige ChemotherapieZyklen hinter sich. Trotzdem riss er darüber Witze. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob dieser Optimismus seine eigentliche Angst überspielte. Sie schob den Gedanken beiseite und widmete sich wieder den Fotos.

»Wann musst du morgen ins Krankenhaus?«, fragte Chris, nachdem er seine Tasse geleert hatte.

Lindas Augen weiteten sich und sie fuhr herum. Morgen?

David warf seinem Freund einen bösen Blick zu.

Linda sprang auf. »Wieso morgen? Was hast du mir nicht erzählt?«

Er sah sie an und verzog ertappt das Gesicht. »Ein neuer ChemoZyklus fängt an. Ich wollte es dir nicht sagen, damit du den Kopf für die Hochzeitsausstellung frei hast.«

Ein Stich fuhr ihr ins Herz und sie presste die Lippen aufeinander, bevor sie sprach. »Du weißt doch, dass ich immer dabei sein will. Du musst das nicht allein durchstehen.« Ein Anflug von Wut stieg in ihr auf. »Wie hast du dir das vorgestellt? Dass ich zur Messe fahre und du klammheimlich ins Krankenhaus gehst, ohne dass ich es erfahre? Das ist doch nicht dein Ernst.«

Chris räusperte sich und fuhr sich verlegen über den Dreitagebart. Sie hatte fast vergessen, dass er noch da war. »Jetzt entspann dich, Linda. Ich gehe mit ihm hin, wenn dich das beruhigt.«

Sie ließ sich wieder auf den Stuhl vor ihrem Laptop fallen und starrte teilnahmslos auf den Berg aus weißem Tüll, den sie zum Retuschieren vergrößert hatte.

»Schatz, es tut mir leid«, sagte David sanft. »Aber du hast dich so darauf gefreut und ich wollte dir das nicht kaputtmachen. Es wird dir guttun, mal ein paar Stunden für dich zu haben.«

Sie schnaubte und widerstand dem Drang, ihren Blick auf ihn zu richten.

Chris zuckte mit den Schultern und flüsterte David eine Entschuldigung zu. Noch bevor die zweite Halbzeit des Spiels vorbei war, stand er auf und sah Linda und David abwechselnd an. »Ich muss los. Und ihr vertragt euch jetzt gefälligst wieder, ja? Dass ihr streitet, ist das Seltsamste, das ich mir vorstellen kann.«

»Wenn du wüsstest, wie hier manchmal die Fetzen fliegen, würde das dein Bild von uns ganz schön erschüttern.« Linda tauschte einen verstohlenen Blick mit David aus.

»Aber dafür ist die Versöhnung umso schöner«, murmelte er und zwinkerte.

Chris verzog das Gesicht und seine blauen Augen nahmen diesen verschmitzten Ausdruck an, der typisch für ihn war. »So genau wollte ich das gar nicht wissen. Bis dann. Ich hau jetzt ab, damit ihr euch ‚versöhnen‘ könnt.«

Als Chris die Tür geschlossen hatte, schlich David auf Linda zu und stellte sich hinter ihren Stuhl. Er legte ihr seine rechte Hand auf die Schulter und schob mit der linken ihren rötlich braunen, langen Zopf zur Seite. Er beugte sich zu ihr herunter und hauchte ihr einen Kuss auf ihr kleines Muttermal, das in der Mitte ihres Nackens lag.

Sie lächelte.

»Es tut mir wirklich leid«, wisperte er und die Wärme in seiner Stimme, gepaart mit seinem Atem auf ihrer Haut, jagte ihr einen prickelnden Schauer über den Rücken.

Sie drehte den Stuhl zu ihm um und stand auf. »Schon gut, Schatz. Ich habe einfach Angst um dich, das musst du verstehen. Wenn ich daran denke, wie es dir nach dem letzten Zyklus gegangen ist, habe ich kein gutes Gefühl dabei zur Messe zu fahren.«

Er lächelte schief und legte ihr die Hände um die Hüften. »Ich schaffe das schon. Ein paar Monate hab ich ja schließlich noch, die lasse ich mir nicht nehmen.«

»Jetzt hör bitte auf.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn ein Stück näher heran. Sie küssten sich und Linda vergaß die schwierigen letzten Monate für kurze Zeit. Seine Lippen fühlten sich so vertraut und sicher an, als könnte nichts auf dieser Welt ihr Glück trüben. Es war eine Minute Unbeschwertheit. In diesem Moment waren sie nur David und Linda und sperrten das Schicksal aus, das in allen Ecken lauerte.

»Ich liebe dich, Schatz«, flüsterte sie.

»Ich dich auch.« Seine Hände glitten unter ihre Strickjacke und er schaute ihr tief in ihre braunen Augen, die jetzt nicht mehr wütend, sondern verführerisch funkelten. »Also, wie sieht es aus? Versöhnung?«, fragte er schelmisch.

»Klingt verlockend.« Sie grinste und folgte ihm nach oben ins Schlafzimmer.

Sekunden

Der Winterwind wehte Linda und David um die Nase, als sie auf dem Parkplatz des Klinikums aus ihrem Auto ausstiegen.

Sie gab ihrem Mann seine Tasche aus dem Kofferraum. »Pass auf dich auf.«

»Mach ich doch immer. Viel Spaß auf der Messe, Schatz.« Er küsste sie zum Abschied und als er sich von ihr lösen wollte, hielt sie ihn am Kragen seiner Jacke fest und ihre Lippen trafen erneut aufeinander. Die Liebe, die sie für ihn empfand, floss durch ihren Körper und beruhigte ihre Sorge ein wenig.

»Danke. Ich beeile mich«, flüsterte sie.

David seufzte. »Das brauchst du nicht, fahr lieber vorsichtig.«

Linda verdrehte die Augen über seinen fürsorglichen Kommentar, doch insgeheim freute sie sich jedes Mal, wenn er das sagte. ‚Fahr vorsichtig‘ war eine Liebeserklärung, nur auf die alltägliche, praktische Art. »Ja, mach ich schon. Bis heute Abend.«

Mit gemischten Gefühlen stieg sie ins Auto und fuhr nach Düsseldorf. Normalerweise liebte sie Messetage. Der Austausch mit anderen Fotografen und Fotografinnen, die Beratung der zukünftigen Brautpaare und die Präsentation ihrer Bilder waren jedes Mal ein Highlight. Sie blühte in ihrer Arbeit auf und gab alles für die leuchtenden Augen ihrer Kunden. Es war ihr Ausgleich zu den langweiligen Fotos für das Lokalmagazin, die sie täglich in ihrem normalen Job schießen musste. Dieses Jahr war sie besonders stolz auf ihren Stand, den sie in den gleichen Sepiatönen gestaltet hatte wie ihre Website.

Nachdem sie aufgebaut und die ersten Paare beraten hatte, vergingen die Stunden langsamer als sonst, denn sie war in Gedanken die ganze Zeit bei David. Ihr Blick schweifte durch die Menge der vorbeilaufenden Pärchen und sie dachte daran, wie aufgeregt sie vor drei Jahren gewesen war, als sie mit ihm hier durch die Gänge geschlendert war, um sich Anregungen für ihre Hochzeit zu holen. Damals hatte sie sich gerade als Hochzeitsfotografin selbstständig gemacht, und sich hier wie im Paradies gefühlt.

Das Brummen ihres vibrierenden Handys riss sie aus ihren Gedanken. Ob das schon David ist? Unauffällig linste sie auf das Display. Chris. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er sie jemals angerufen hatte. Auch, dass er ihr schrieb, kam selten vor.

»Chris?«, sagte sie leise und drehte sich zur Seite, um ihr Handy vor den Passanten zu verstecken.

»Linda, Gott sei Dank habe ich dich erreicht.« Seine Stimme hallte wie in einem leeren Raum und der ungewohnt besorgte Tonfall ließ ihren Puls in die Höhe schnellen.

»Was ist los?«

»Es tut mir leid, dich zu stören, aber du musst unbedingt herkommen. David ist hier im Krankenhausflur zusammengeklappt, bevor der Zyklus gestartet ist.«

Der Boden verwandelte sich in Treibsand und Lindas Knie wurden weich. Sie hielt sich an ihrem runden Stehtisch fest, doch die schwirrenden Lichter in ihrem Kopf zwangen sie, innezuhalten. Einen tiefen Atemzug später bündelte sie all ihre Konzentration. Für David. Blitzschnell steckte sie ihr Handy in die Tasche, packte die wichtigsten Dinge zusammen und verließ rennend das Messegelände. Seitenstechen pochte links und rechts in ihren Leisten und ihr Magen verkrampfte sich.

Am Auto angekommen, griff sie nach dem Schlüssel in der Handtasche und ihre zittrigen Finger ließen ihn auf den Boden fallen. Beim Bücken schwirrte ihr der Kopf und sie fuhr sich über das Gesicht, um wenigstens für die Autofahrt geistesgegenwärtig genug zu sein. Wieder klingelte ihr Handy.

»Chris?«

»Ja … ist alles okay bei dir?«, fragte er. »Du hast so plötzlich aufgelegt. Kannst du Auto fahren?«

Sie schloss die Augen und ließ sich in den Sitz fallen. »Es geht schon. Gibst du mir David mal?«

»Er schläft gerade. Sie haben ihm wohl Schmerzmittel gegeben. Bestimmt ist er gleich wieder wach, wenn du da bist.«

Linda umklammerte das Lenkrad und legte den Kopf in den Nacken. Das Schwirren tobte hinter ihrer Stirn und jetzt gesellte sich Schwindel dazu. Komm schon, dachte sie, du musst das auf die Reihe bekommen.

»Linda?«

»Hm?«

»Bitte fahr vorsichtig.« Chris betonte jedes Wort. Den Satz hatte sie heute schon einmal gehört.

»Ja, mache ich. Bis gleich.« Sie rieb sich die Augen und trank einen Schluck Wasser. Nur fünfzehn Kilometer. Das schaffst du irgendwie.

Hochkonzentriert auf die Koordination ihrer Hände und Füße, die ihr wie Teile eines anderen Körpers vorkamen, manövrierte sie das Auto durch den Stadtverkehr und über die Bundesstraße Richtung Neuss. Die Lichter rauschten in einem undefinierbaren Leuchtstreifen an ihr vorbei. Sie zwang sich zähneknirschend, die Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuhalten, aber hielt es nicht lange durch. Fluchend überholte sie eine LKW-Kolonne und ließ auch die anderen Autos hinter sich. Als sie rot aufleuchtende Bremslichter vor sich sah, schnellte ihr Puls in die Höhe. Stau! Sie biss sich auf die Unterlippe, bis es schmerzte. Warum ausgerechnet jetzt?

***

Christopher setzte sich neben das Bett und beobachtete, wie David wach wurde. Er sagte nichts. Ein Blick zwischen den beiden reichte aus.

»Wieso hast du mir nicht gesagt, wie grottig es dir wirklich geht, Mann?«, fragte Chris und in seinen Augen spiegelte sich die Verzweiflung, die er die ganze Zeit verdrängt hatte. Er wollte es nicht wahrhaben.

David zuckte die Achseln und drehte seinen Kopf langsam zur Seite, um seinem Blick auszuweichen.

»Was ist mit Linda? Weiß sie, wie es um dich steht? Ehrlich?«

Er nickte schwach. »Ja, sie weiß natürlich alles. Wir dachten, wir hätten noch ein paar Monate. Das heute Morgen konnte ja keiner vorhersehen. Es war, als hätte ich keine Beine mehr und meine Organe brennen immer noch wie Feuer. Ich weiß nicht, was auf einmal mit mir los ist. Alles fühlt sich anders an.«

Chris‘ Augen weiteten sich. Der Stuhl, auf dem er saß, erschien ihm wackeliger als vorher. »Jetzt hör auf! Mach keinen Scheiß!«

David schüttelte den Kopf. »Mache ich nicht. Als ich vorhin wieder aufgewacht bin, habe ich kurz gedacht, es wäre alles schon vorbei. Ich weiß, ihr wollt das nicht hören, aber ich muss mich langsam darauf vorbereiten.«

Chris wandte sich von ihm ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Das ist doch Wahnsinn! Gestern war noch alles in Ordnung! Ich verstehe das nicht.«

»War es das? Wer weiß das schon?« David blinzelte. Er richtete sich auf und sah Christopher mit müden Augen an. »Ich muss dich um etwas bitten, Chris.«

Sein Freund schluckte den dicken Kloß in seinem Hals hinunter, um normal zu klingen, obwohl er innerlich am liebsten vor der Wahrheit davongelaufen wäre. Er wollte die Zeit zu den unbeschwerten Tagen vor der Krankheit zurückdrehen, an denen die einzige Sorge gewesen war, welchen Biergarten sie besuchen, oder wer die Fußball-Meisterschaft gewinnt. Er blinzelte sich in die Gegenwart zurück. »Klar, schieß los.«

»Wenn es so weit ist, kannst du dich um Linda kümmern? Zumindest so lange, bis sie den Schock einigermaßen verkraftet hat. Sie ist stark und wird irgendwann klarkommen, denke ich. Aber ich mache mir echt Sorgen um die erste Zeit. Ihre Freundinnen werden ihr keine Hilfe sein. Ich frag mich sowieso immer, was sie mit denen will. Und ihre Eltern, na ja, die können nicht dauernd hierherkommen. Abgesehen davon sind sie nicht gerade … feinfühlig, wenn du mich fragst.«

Chris seufzte. Er hatte von Anfang an ein freundschaftliches Verhältnis zu Linda gehabt, aber ob sie in dieser furchtbaren Situation seine Hilfe annehmen würde? Da war er sich nicht sicher und schob den Gedanken daran von sich weg. »Ich werde es versuchen, wenn sie es zulässt. Versprichst du mir im Gegenzug jetzt nicht kampflos aufzugeben?«

David nickte, doch sein Blick war leer. »Du kennst mich. Ich gebe mich nicht einfach geschlagen. Aber diesmal wird es nichts nützen. Irgendwie ist es befreiend, zu wissen, dass ich nicht mehr lange kämpfen muss.«

»Sag so was nicht, Mann«, murmelte Chris und stand auf. Er konnte es kaum ertragen, wenn sein Freund vom Sterben sprach. Seine Brust fühlte sich zugeschnürt an und ließ gerade so viel Luft in seine Lungen wie notwendig. Er wusste nicht, was er antworten sollte.

»Tut mir leid. Ich würde dir gern was anderes sagen, aber das ist die Wahrheit. Und die bin ich dir schuldig, oder nicht?« David sah ihm in die Augen, die seinen Schmerz und die unausgesprochene Angst widerspiegelten.

Chris hielt dem Blick nicht stand. »Ich schaue mal nach, ob Linda schon da ist.«

»In Ordnung.«

Er beugte sich herunter zu David und sie umarmten sich länger als sonst. Mit aller Kraft hielt er die brennenden Tränen zurück, die sich in seinen Augen ankündigten.

»Bitte kümmere dich um sie, versprich es mir«, flüsterte David und Chris nickte an seiner Schulter.

»Das mache ich. Versprochen. Sie muss da nicht allein durch. Ich werde alles tun, was ich kann.« Sie lösten sich voneinander und David holte einen Umschlag aus seiner Schublade. Er gab ihn Chris.

»Der ist für dich. Lies ihn aber erst, wenn … na ja … du weißt schon. Sonst überdenke ich noch mal, was ich da geschrieben habe.« Er lächelte verschmitzt. »Kleiner Scherz!«

Chris brachte kein Lächeln zustande. Ein unerträglicher Druck breitete sich in seiner Magengegend aus und Übelkeit stieg in ihm auf. Er brauchte seine ganze Konzentration, um sich nicht davon ablenken zu lassen.

»Mach’s gut«, sagte David und es klang endgültiger, als Chris es wahrhaben wollte.

»Bis nachher«, antwortete er und betonte es nachdrücklich. Der Kloß in seinem Hals drückte ihm die Luft ab.

Er schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken gegen die kühle Wand des Krankenhausflurs. Die Ausrede, nach Linda zu schauen, gab Chris die Gelegenheit, durchzuatmen - und seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Es wäre ihm vor David nicht peinlich gewesen, aber er wollte ihn nicht noch mehr belasten.

Die Erinnerungen der letzten Jahre zogen vor seinem inneren Auge vorbei wie ein Film, der darauf aus war, eine schmerzhafte und doch wunderschöne Zusammenfassung ihrer Freundschaft zu zeigen. David war sein Anker. Sein Vorbild, sein Antrieb und sein Gegenpol, von Kindesbeinen an. Er war neben seiner Mutter die einzige Konstante in Chris‘ Leben. Als sein Vater vor drei Jahren gestorben war, hatte sein bester Freund ihn aufgefangen. Stundenlang hatte er mit ihm gesprochen, ihn abgelenkt und war sogar bei der Beerdigung dabei gewesen. Und jetzt war es an Chris, für Linda das Gleiche zu tun. Wie soll ich das schaffen, wenn ich doch selbst meinen Halt verliere?

Chris schluchzte und dachte daran, wie seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes getrauert hatte, und wie schwer es für sie gewesen war, ihr Leben weiterzuleben. Er hatte keine Ahnung, wie er Linda helfen sollte. Die Überforderung, die Davids Bitte auslöste, brach über ihn herein wie ein Gewitterschauer auf einem offenen Feld.

Chris tat das Einzige, was ihm als letzter Strohhalm in den Sinn kam, an den er sich klammern konnte. Er ließ sich auf einem Stuhl im Flur nieder und faltete die Hände. Obwohl er seine Mutter in den vergangenen Jahren nur selten zum Sonntagsgottesdienst begleitet hatte, war er tief im Inneren ein gläubiger Mensch. Die Worte, die in seinem Kopf herumschwirrten, fanden sich nicht zu sinnvollen Sätzen zusammen, doch das war ihm egal. Und Gott hoffentlich auch.

***

Im Parkhaus des Krankenhauses fuhr Linda auf den erstbesten Parkplatz und bald darauf hallten ihre Schritte auf dem Asphalt. Sie rannte im Treppenhaus nach oben und schlängelte sich durch die Menschen, die im Eingangsbereich ein und aus gingen. Zweimal wurde sie angerempelt und einmal berührte sie jemanden unsanft an der Schulter, aber es kümmerte sie nicht. Sie rief eine Entschuldigung hinter sich, war aber schon außer Hörweite des Mannes.

Chris hatte Linda eine Nachricht mit Davids Zimmernummer geschickt, die sie den ganzen Weg über vor sich hinmurmelte, um sie nicht zu vergessen. Ihr Herz polterte genauso wie ihre Schritte auf dem harten Boden des Krankenhausflurs. Jeder Schlag feuerte sie an, noch schneller zu laufen.

Sie öffnete die Tür der Station und sprach die erste Krankenpflegerin an, die ihr über den Weg lief.

»Guten Tag, ich bin Linda Valentin. Können Sie mir bitte sagen, wo ich meinen Mann finde?«, fragte sie außer Atem und hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.

»Ja, bitte folgen Sie mir.« Die Krankenschwester ging mit eiligen Schritten voraus.

»Wissen Sie, was passiert ist?«

»Ich werde Sie erst einmal zu Dr. Weber bringen, er hilft Ihnen weiter.« Sie klopfte an eine Tür auf der rechten Seite des Flurs. Linda atmete tief durch.

»Dr. Weber, Herr Valentins Frau ist hier.«

»Kommen Sie herein.« Der junge Arzt reichte Linda die Hand. »Guten Tag, setzen Sie sich doch.«

»Hallo«, quetschte sie hervor und nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz, obwohl ihr jede Sekunde hier drin zu lang erschien und sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte.

Er begann zu erklären, was passiert war, aber die Worte kamen in ihrem Kopf nur in Bruchstücken an, als höre sie Radio mit schlechtem Empfang. Nebenwirkungen, Leberentzündung, Metastasen … Sie konnte nicht klar denken und fragte sich, was sie hier sollte. Dr. Weber redete und redete, als ob er ein Referat über Krebs halten würde, aber an ihr prallte alles ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit unterbrach sie ihn.

»Kann ich zu ihm?«

Der Arzt räusperte sich und hörte sofort auf zu sprechen, als hätte er jetzt erst seinen Redeschwall bemerkt. »Sicher, entschuldigen Sie. Folgen Sie mir bitte.«

Lindas Mund trocknete aus und mit jedem Schritt, den sie hinter Dr. Weber her ging, wurden ihre Beine schwerer. Als sie den Blick hob, entdeckte sie Chris, der auf einem Stuhl vor dem Zimmer saß und seltsam in sich gekehrt wirkte. Der Arzt nickte ihnen zu und verschwand hinter der nächsten Ecke.

»Hey«, sagte Linda kaum hörbar und ging auf Chris zu. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und schloss sie fest in seine Arme. Das hatte er noch nie getan.

»Was ist nur los? Ich verstehe das alles nicht«, flüsterte sie, an seinen Oberkörper gelehnt. Sein Herz schlug genauso schnell wie ihres. Sie lösten sich voneinander und Linda fielen seine geröteten Augen auf. Er hat geweint? Dann muss es wirklich ernst sein.

»Ich auch nicht. Geh rein und sprich mit ihm, er wartet schon auf dich. Ich muss mal an die Luft. Komme nachher noch mal vorbei.«

Sie nickte und schaute ihm kurz nach, als er durch die Automatiktür die Station verließ. Das war nicht der Chris, den sie kannte. Er ließ sich normalerweise durch nichts aus der Ruhe bringen.

Mit zitternden Fingern öffnete sie die Tür und versuchte zu lächeln.

»Schatz, da bist du ja.« Davids Stimme, die schwacher klang als sonst, ließ Lindas Herz für einen Schlag aussetzen. Sie ging auf das Bett zu und beugte sich herunter, um ihn zu küssen. Für einen kurzen, aber wohltuenden Moment war die Welt in Ordnung. In Lindas Kopf zogen die verschiedensten Bilder von vergangenen Küssen vorbei. Der erste Kuss, der Hochzeitskuss, Gewohnheitsküsse, wenn er von der Arbeit in der Bar nach Hause kam. Küsse gab es viele in ihrem Leben mit David. Und doch besaß dieser einen besonderen Zauber. Erleichterung.

Trotz all der Schläuche und Gerätschaften, die sie beängstigten, konnte sie nur an eines denken: Er war am Leben.

»Was machst du denn für Sachen?« Sie nahm seine Hand vorsichtig in ihre, ohne den abgeklebten Zugang zu berühren, an dem ein Infusionsschlauch befestigt war. Die ungewöhnliche Kälte seiner blassen Haut ließ sie erschauern und mit einem Mal saß ihr die Angst, ihn zu verlieren, stärker im Nacken als je zuvor.

Er lächelte. Seine zitternden Mundwinkel verrieten, wie sehr es ihn anstrengte, aber für Linda war es das schönste Lächeln der Welt. »Du kennst mich doch. Ich bin immer für eine Überraschung gut. Ich hoffe, das Essen ist besser als letztes Mal.« Seine Stimme klang genauso angestrengtlocker, wie es sein Lächeln war, aber seine Augen konnten die Fassade nicht länger aufrechterhalten. Im nächsten Moment brachen alle Dämme und Linda erschrak, als er weinte, wie sie es noch nie vorher erlebt hatte.

Sie rutschte zu ihm auf das Bett und umarmte ihn, so fest sie konnte. Er legte seinen Kopf an ihre Schulter und vergoss Tränen, bis ihr Oberteil durchnässt war. Sein leises, regelmäßiges Schluchzen brach ihr das Herz. Nicht auf die brutale Art und Weise, sondern qualvoll langsam. Stück für Stück zersprang es in winzige Scherben. Sie kuschelte sich an ihn und ließ ihren Tränen ebenfalls freien Lauf. Er streichelte ihr über ihr Haar und sie genoss jede Berührung. Jeder Herzschlag, den sie hören konnte, war kostbar.

»Darf ich dich was fragen?«, flüsterte sie, ohne ihren Kopf zu heben.

»Ja, natürlich.« Seine Stimme hörte sich ungewohnt zittrig an. Wieder eine Scherbe mehr.

»Wie lange geht es dir schon so schlecht? Hast du mir nur was vorgemacht, die letzten Wochen? Ich dachte die ganze Zeit, dass du den letzten Zyklus gut gemeistert hast und es auch etwas gebracht hat.«

David atmete tief durch. »Sieh mich an«, sagte er lauter als vorher.

Linda erhob sich und blickte in seine blaugrünen Augen, die sie jeden Tag aufs Neue in ihren Bann zogen, seitdem sie sich kennengelernt hatten. Sie blinzelte, um das Bild von ihm loszuwerden, wie er sie zum ersten Mal angesehen hatte.

»Ich war immer ehrlich zu dir, da kannst du sicher sein. Die Ärzte verstehen selbst nicht, warum sich alles so rapide verschlechtert hat. Ich habe erst seit heute Morgen diese Schmerzen, die ich noch nicht kenne.«

Linda schnaubte. »Diese Quacksalber! Sie haben von Monaten gesprochen! Monate!« Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.

»Sei nicht sauer, mein Schatz. Sie können eben keine Wunder vollbringen.« Er setzte sich langsam auf und wandte sich ihr zu. »Lass uns nicht diskutieren. Küss mich lieber noch mal.« Er nahm Lindas Hände von ihrem Gesicht und wischte ihr die Tränen von den Wangen. Wieder erschauerte sie unter der Kälte seiner Haut und umschloss seine Finger mit ihren, um sie zu wärmen.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie und küsste seine Hände. »Für immer.«

Er lächelte schmal. »Du weißt, was ich darüber denke. Leg dir nicht so eine Bürde auf, nur um irgendwelchen Prinzipien in deinem Kopf treu zu bleiben.«

»Ich dachte, du wolltest nicht diskutieren?«

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sie schlang ihre Arme um ihn. Jede Sekunde auskostend ließ sie sich völlig in den Kuss fallen, begleitet von einer Träne, die sich ihren Weg nach außen bahnte.

David löste sich von ihr und küsste den salzigen Tropfen von ihrer Wange. »Ich liebe dich auch«, flüsterte er.

»Hast du Angst?«, fragte Linda leise und fuhr die Konturen seines Gesichts langsam mit dem Zeigefinger nach.

»Nein, nicht, solange du hier bist.«

Als ihre Lippen sich erneut berührten, zuckte David zusammen und fasste sich an den Bauch.

Linda erschrak und sofort spürte sie einen Stich in ihrem Herzen. Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln, doch die Scherben waren bereits überall in ihrem Inneren verteilt. »Leg dich lieber wieder hin, Schatz. Soll ich jemanden rufen?« Sie rückte das Kissen auf dem Bett zurecht und stützte ihn im Rücken, damit er sich hinlegen konnte. Wie schon öfter in letzter Zeit fiel ihr auf, wie leicht er geworden war. Von dem Sportler, der für einen Halbmarathon trainiert hatte, war keine Spur mehr.

»Nein, es geht schon«, erwiderte er atemlos und nahm ihre Hand.

Ihr kamen erneut die Tränen, die sie auf ihre bunte Strickjacke tropfen ließ. Eine nach der anderen.

David wandte den Blick von ihr ab. »Ich kann dich nicht weinen sehen. Es zerreißt mir das Herz schlimmer, als es jede Krankheit könnte.« Er streichelte ihr über die Wange.

»Es tut mir leid.« Sie wischte sich die Tränen nun doch aus dem Gesicht.

»Schon besser. Ein Lächeln kann ich heute nicht mehr von dir erwarten, oder?« Lindas Mundwinkel zuckten. »Ich weiß, dass das nicht alles war«, neckte er sie und entlockte ihr tatsächlich ein kleines Lächeln. »Na also. So möchte ich dich in Erinnerung behalten, dort wo die Reise gleich hingeht.« GLEICH? Sie hatte sich nicht verhört. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wusste sie es, seitdem sie das Zimmer betreten hatte. Mit seinen Worten verschwand jegliche Kraft aus ihrem Körper. Als hätte sie der Treibsand, der die ganze Zeit unter ihren Füßen waberte, schon halb verschlungen.

»Jetzt darf ich mir auch was von dir wünschen. Das ist nur fair.« Ihre Bitte war kaum hörbar.

Er nickte und sah ihr tief in die Augen. »Alles, was du willst, Schatz. Aber fordere mich nicht auf, weiterzukämpfen.«

Linda wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, darüber zu streiten, wie wenig sie es akzeptierte, dass er aufgegeben hatte. Es zählte nur noch eins. Die gemeinsame Zeit. Sie rutschte mit dem Stuhl näher an das Bett und legte ihren Kopf wieder auf seinen Oberkörper.

»Halt mich! Halt mich einfach nur fest. Das ist alles, was ich will.« Sie hörte ihn schluchzen und einen Augenblick später legten sich seine Arme um sie. Die vertraute Berührung ließ sofort eine beruhigende Wärme in ihr aufsteigen und ein wenig Kraft zurückkommen. Sie wollte diesen Moment für immer einschließen. In ihrem Herzen, in ihren Gedanken und in jeder Faser ihres Körpers.

»Linda, wenn du dich mal einsam fühlst, mach die Augen zu und lass dich von mir umarmen. Meinen Körper brauchst du dafür nicht.«

Linda hatte ihn in all den Jahren nie so emotional erlebt und weinte leise weiter, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. »Ich habe solche Angst. Wie soll ich je ohne dich leben können?«

Er strich über ihr Haar und ließ seine Hand auf ihrem Hinterkopf ruhen. »Irgendwann wirst du es schaffen. Lass dir Zeit und lass das Leben auf dich zukommen. Wer weiß, was es alles bereithält.« Er räusperte sich und ein Husten entwickelte sich daraus.

Linda wollte das nicht hören. Es gab kein lebenswertes Leben ohne ihn, da war sie sich sicher. »Keine Zeit der Welt kann die Lücke füllen, die du hinterlassen wirst.« Sie streichelte ihm ebenfalls über den Kopf und küsste ihn zärtlich.

»Ich weiß. Und es tut mir leid. Aber ich habe keine Kraft mehr zu kämpfen, Schatz. Verstehst du das? Dann würde es mir leichter fallen, loszulassen. Lass mich aufgeben«, flüsterte er langsam.

Lindas Herz schlug so laut, dass es seine Stimme beinahe übertönte. Das Nicken fiel ihr so schwer wie noch nie zuvor in ihrem Leben. »Ich liebe dich, David. Vergiss das nie.«

»Ich liebe dich auch, Linda.« Er sah ihr tief in die Augen und lächelte sie an.

Linda blinzelte nicht. Sie wollte keine Sekunde verpassen.

Doch es gab keine Sekunden mehr.

David schloss die Augen und der Monitor gab ein ohrenbetäubendes Piepen von sich.

Bevor Linda etwas sagen oder tun konnte, sah sie durch ihren Tränenschleier Dr. Weber mit einer Ärztin und einer Krankenschwester ins Zimmer stürmen. Letztere steuerte sofort auf sie zu.

»Frau Valentin?« Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Linda reagierte nicht.

»Kommen Sie bitte mit vor die Tür.«

Lindas Kopf dröhnte und um sie herum vermischten sich verschiedene Geräusche, von denen sie nicht wusste, ob alle real waren. Von weit weg erklang ein Surren, ein dumpfer Schlag und ein erneutes Surren. Was ist das? Es kommt mir bekannt vor. Das Piepen hielt an und bohrte sich in ihren Kopf wie eine lange Nadel. Es konnte nicht wahr sein. In ihrem Inneren tobte ein Sturm, aber sie war zu schwach, um zu sprechen oder sich zu bewegen. Sie saß wie versteinert da und starrte ins Leere.

»Frau Valentin, bitte!«

Als sie alle Kraft, die sich noch in ihrem Körper befand, gebündelt hatte, schüttelte sie den Kopf. »Ich muss hierbleiben. Er braucht mich jetzt«, flüsterte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen, damit ihr Mann sie nicht so sehen musste. Langsam stand sie auf und trat neben das Bett, obwohl Dr. Weber und die Ärztin über David gebeugt waren und ihr die Sicht versperrten. Unsanft schob er sie aus dem Weg.

»Bringen Sie sie hier raus!«, rief er der Krankenpflegerin zu und wieder lag das helle Surren in der Luft, das Linda eine Gänsehaut verursachte, die ihr unerträglich langsam die Beine hinaufkroch. Jetzt wusste sie, was es war. Unzählige Male hatte sie es in Filmen gesehen. Sie wandte den Blick ab.

Die Schwester umfasste ihre Schultern und führte sie vor die Tür. Linda befreite sich aus ihrem Griff und bevor sie sich wieder zur Tür umdrehte, sah sie Chris.

Er eilte den Flur entlang. Sein Gesicht war blass und die Augen immer noch gerötet. Als ihre Blicke sich trafen, beschleunigte er seine Schritte. Er sah die Krankenpflegerin an und sie nickte langsam.

»Nein«, hauchte er und wandte sich Linda zu, die teilnahmslos dastand und ihre Schultern hängen ließ, als wäre sie eine Marionette, ohne jemanden, der die Fäden hält.

Stille

Linda? Hörst du mich?«, sagte Chris, lauter als er es normalerweise getan hätte. Sie reagierte nicht. Vorsichtig nahm er ihr Gesicht in seine Hände und die Wärme ihrer geröteten Wangen durchzuckte seinen Körper wie ein Stromschlag. Wie lange hatte er sich vor diesem Moment gefürchtet, seinen besten Freund zu verlieren. Und sie so zu sehen.

»Ich muss wieder rein. Warum lassen die mich nicht zu ihm?«, flüsterte sie und schien durch Chris hindurchzuschauen, der nur mit Mühe seine Tränen zurückhalten konnte.

Er ließ die Hände sinken und sie sah auf den Boden, als hätte nur seine Berührung ihren Kopf oben gehalten.

»Bestimmt darfst du ihn gleich sehen.« Chris zog scharf die Luft ein, um nicht zu schluchzen.

Die Zimmertür sprang auf und Dr. Weber und die Ärztin kamen auf sie zu. Linda stand weiterhin unter Schock. Chris schloss die Augen und atmete tief durch.

Der Arzt räusperte sich und sein Gesichtsausdruck strahlte Betroffenheit und Überforderung gleichermaßen aus. »Es tut mir leid, Frau Valentin. Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Es war ein unerwarteter Herzstillstand. Sein Körper war zu geschwächt.« Dr. Weber blickte Linda und Chris abwechselnd an.

»Danke«, brachte Chris hervor, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und durch die Haare. Das kann einfach nicht wahr sein! Ich konnte mich nicht einmal richtig verabschieden. Ich hab ‚bis nachher‘ gesagt und jetzt ist er tot? Verdammte Scheiße!

»Kann ich zu ihm? Er braucht mich doch.« Linda sprach leise, aber bestimmt und unterbrach damit Chris‘ Gedanken. Sein Magen zog sich zusammen, als er ihre Stimme hörte. So hoffnungsvoll.

Dr. Weber nickte. »Ja, ich werde Sie jetzt allein lassen.«

Beide gingen langsam zurück ins Zimmer und die Stille wirkte bedrohlicher als sämtliche Geräusche der medizinischen Gerätschaften zuvor. Das stetige Piepen, das Leben bedeutete, war verschwunden.

Als hätte jemand sie ruckartig aufgeweckt, rannte Linda an das Bett und setzte sich auf die Kante.

»Schatz, ich bin wieder da. Stell dir vor, die haben mich einfach rausgeschmissen.« Sie lächelte liebevoll.

Chris schossen sofort die Tränen in die Augen. Sie hat es noch nicht realisiert. Seine Beine wurden schwer, als er David erblickte. Er sah genauso aus, wie er ihn heute Vormittag hier zurückgelassen hatte. Und doch hatte sich mit dem letzten Atemzug seines Freundes die ganze Welt verändert. Der Gedanke an ihre Unterhaltung versetzte Chris einen Stich ins Herz. Auch die Erinnerung an Davids Umarmung, die so fest gewesen war wie schon lange nicht mehr, war so präsent, dass er sie jetzt noch fühlen konnte.

Linda streichelte David über die Wange und umfasste seine Hand. Chris musste seinen Blick abwenden.

»Ruh dich aus«, wisperte sie, »ich bleibe bei dir, bis du wieder aufwachst.«

Er konnte das nicht länger zulassen. Obwohl er seinen wackeligen Beinen nicht traute, ging er zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. In seinem bisherigen Leben hatte es niemals Worte gegeben, die ihm schwerer gefallen waren als diese.

»Linda, David wird nicht mehr aufwachen. Er ist tot.« Chris schloss die Augen und nahm seine Kraft zusammen. Er musste einen klaren Kopf behalten. Für sie.

»Was redest du da?« Lindas Stimme war nur ein Hauch.

Chris ließ sich neben ihr in der Hocke nieder, um ihr in die Augen zu sehen. Sie waren gerötet und geschwollen hinter den verschmierten Brillengläsern. Trotzdem strahlten sie noch einen Funken Hoffnung aus. Der Anblick schnürte sein Herz so fest zusammen, dass jeder Schlag Schmerzen verursachte.

Linda legte ihren Kopf auf Davids Brust. »Halt mich fest«, murmelte sie und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper. »Du hast gesagt, du umarmst mich immer, wenn ich mich allein fühle. Also los!«

Einen Augenblick später sah Chris hilflos dabei zu, wie ihr Gesichtsausdruck sich langsam veränderte, bis die traurige Gewissheit darin den Funken Hoffnung ausgelöscht hatte. Tränen liefen ihr in Strömen die Wangen hinunter und tropften auf Davids T-Shirt.

»Möchtest du allein sein? Dich … verabschieden, meine ich?« Er strich mit seiner Hand über ihren Rücken und blinzelte eine Träne weg. Linda sah kurz auf und nickte.

***

Sie legte ihren Kopf wieder auf Davids Oberkörper. Die Ruhe in seinem Inneren brachte sie um den Verstand. Dort, wo sein Herz heute Vormittag noch geschlagen hatte, war jetzt nichts mehr zu hören. Nur die stille, grausame Wahrheit. Linda war nicht fähig, zu sprechen oder zu denken. Sie wollte hier liegenbleiben und warten. Worauf auch immer. Hauptsache sie war bei ihm. Langsam hob sie den Kopf und sah ihn an. Der Anblick seiner blassen Haut trieb ihr neue Tränen in die Augen. Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen wie einen Schatz und küsste ihn zärtlich.

»Ich liebe dich«, sagte sie zittrig. »Solange ich kann, bleibe ich bei dir. Du musst keine Angst haben.« Sie kuschelte sich fest an ihn und schloss die Augen. Es herrschte eine schmerzhafte Leere in ihrem Körper, trotz ihres Herzschlags, der unermüdlich pochte, obwohl er das verloren hatte, was ihm am meisten bedeutete: den Grund, jeden Tag zu lachen und dankbar zu sein für dieses Leben.

David war ihr Ruhepol gewesen, der sie geerdet hatte, wenn sie zu hoch geflogen oder tief gefallen war. Aber gleichzeitig auch ihr Antrieb, wieder Mut zu fassen und gemeinsam mit ihm Luftschlösser zu bauen. Je größer, desto besser.

Es klopfte an der Tür und bevor Linda reagieren konnte, schwang sie auf und Dr. Weber kam herein, gefolgt von Chris. Sie bewegte sich nicht.

»Frau Valentin, wir müssen Ihren Mann bald von hier wegbringen«, sagte der Arzt mit gedämpfter Stimme.

Sie hatte diese Worte gefürchtet, seitdem sein Herz aufgehört hatte, zu schlagen. Ihr Blick schwankte zu Chris, der mit glasigen Augen hinter Dr. Weber stehen geblieben war. Er sah sie eindringlich an und sein linker Mundwinkel zuckte. Sie wusste, was er sagen wollte. Ich bin da und helfe dir.

»Wie lange darf ich noch bleiben?«, fragte sie, ohne ihren Kopf zu heben. Jede Sekunde zählte.

»Sie haben noch etwas Zeit, bis das Zimmer wieder hergerichtet wird. Es tut mir sehr leid um Ihren Mann. Mein herzliches Beileid. Ich gebe Ihnen die Nummer unseres Seelsorgers mit, falls Sie Hilfe brauchen.« Die Sachlichkeit in seiner Stimme war für Linda wie ein Schlag ins Gesicht. Wie kann er das sagen, als wäre es Routine?

Dr. Weber wandte sich an Christopher und gab ihm eine Visitenkarte.

»Danke«, murmelte er und sie schüttelten sich die Hand.

***

Chris kam näher und setzte sich auf den Stuhl neben Linda. »Komm, ich bringe dich hier weg.« Er strich ihr sanft über den Kopf. »Sie kommen bestimmt gleich.«

Linda schnaubte. »Lass mich einfach in Ruhe!« Sie klammerte sich noch mehr an Davids Oberkörper.

Gänsehaut kroch Christophers Nacken entlang, als ihre Finger sich in den Stoff von Davids T-Shirt gruben und sie lauter weinte als zuvor. Ihr herzzerreißendes Schluchzen lähmte seinen Körper. Jede Bewegung kostete ihn Mühe, selbst das Sprechen fiel ihm schwer. »Ich möchte dir nur ersparen, dass die Schwestern dich wieder hier rausbringen müssen. Wenn du willst, helfe ich dir. Wenn nicht, ist es auch okay. Dann warte ich draußen.«

Sie hob wie in Zeitlupe den Kopf und küsste David ein letztes Mal, was die Gänsehaut von Chris nur verstärkte. »Ich liebe dich. Für immer … ich verspreche es dir«, flüsterte sie und umarmte ihren Mann für einen schmerzvollen Augenblick.

Jetzt konnte auch Chris seine Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte hemmungslos um seinen besten Freund. Sein Magen fühlte sich an wie ein harter Klumpen und sein Herz schlug so langsam, als wäre es überfordert mit der Trauer, die Chris in sich trug.