Wenn nicht du, wer dann? - Tilman Lechner - E-Book

Wenn nicht du, wer dann? E-Book

Tilman Lechner

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Beschreibung

Mia Schneider braucht nicht eine Sekunde, um zu wissen, dass sie Hals über Kopf in ihren Kletterpartner Leon verschossen ist. Wären da nur nicht die Sorgen um ihren alkoholkranken Bruder Torben, ihre beste Freundin Sydney mit ihren absonderlichen Freizeitaktivitäten, die ihr zunehmend Bauchschmerzen bereiten, und Jason aus dem Jugendzentrum, dessen Wohl der engagierten, jungen Frau am Herzen liegt. Um ihr Glück zu greifen, muss Mia nur eines tun: ihr eigenes Seelenchaos auf die Reihe kriegen! Ein Buch über Liebe, Freundschaft, Vertrauen und den Mut, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

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FÜR TORBEN

Inhaltsverzeichnis

TIEFGEFROREN

CHAOSQUEEN

EIN KLÄRENDES GESPRÄCH

DER GRAF

TORTEN

ROSEN

GÄSTE

FRAUENGESPRÄCHE

MICHELLE

DRAMA, BABY, DRAMA

ELTERN

DER JOYSTICK

FLASHBACK

BOGENSCHIEßEN

VINCENT

SCHMOLLEN

SPION

HORMONGEFLASHED

MICKY

WALD

TESTLAUF

ALLEIN

STURZTRAINING

LOST

ÜBER NACHT

PERSPEKTIVENWECHSEL: TORBEN

EINE GUTE TAT

Q

GEHIRNFURZ

YIN UND YANG

DAS TELEFONAT

HEIMLICHKEITEN

PERSPEKTIVENWECHSEL: SYDNEY

EIN BISSCHEN SPAß MUSS SEIN

DAS ANGEBOT

DAS DONNERKEIL

DER TOD

BOULDERN

AMPELFLIRT UND REISIGBESEN

HÜRDEN

LEON

WENN NICHT DU, WER DANN

TIEFGEFROREN

Es gibt Tage, an denen dich das Schicksal genüsslich verspeist, ein bisschen auf dir herumkaut, um dich gleich drauf wieder mit großem Gewürge herauszukotzen. So ein Tag war heute. Karma is a bitch, dachte ich mir, und drückte das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Mein Fiat röhrte. Die netten Symbole im Armaturenbrett wiesen mich freundlich darauf hin, dass ich mich in drei, zwei, eins auf dem Seitenstreifen wiederfinden würde. „Komm schon. Halte durch. Wir haben schon ganz anderes durchgestanden.“ Meine Stimme klang flehend. „Verlass mich jetzt nicht! Bitte.“ Mit einem verzweifelten Raunen erstarb der Motor und ich rollte aus. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Ich rüttelte am Lenkrad. „Wie kannst du mir das antun?“ Als würde ich auf einem Bobbycar sitzen, versuchte ich mit schwunghaften Bewegungen des Oberkörpers das Gefährt schrittweise voranzuruckeln. Ein dumpfes Grummeln entwich meiner Kehle. „Das ist nicht dein Ernst jetzt, oder?“ Dann lies ich den Kopf ernüchtert und schicksalsergeben nach vorne sinken. Meine Hupe brachte mich augenblicklich zurück in die senkrechte Sitzposition. „Und jetzt auch noch frotzeln!“ Ich schüttelte den Kopf und zum ersten Mal seit Langem musste ich herzhaft lachen. Ein helles, klares und ehrliches Lachen – mit einer Schippe Wahnsinn zugegebenermaßen. Gott, ich drehte noch völlig durch. Scheinwerfer blendeten mich im Rückspiegel. Mist. Ich streifte mir die Warnweste über, stieg aus dem Auto und stellte erst einmal mein Warndreieck hin. Es hatte gefühlte minus 20 Grad. Mein Atem zog weiße Schlieren vor meinem Gesicht. Verdammt. Mir wurde bewusst, dass es wohl nicht so einfach werden würde, um diese Zeit von hier aus ohne Weiteres nach Hause zu kommen. Im Kopf ging ich meine Möglichkeiten durch. Torben war geschäftlich in Amsterdam. Wahrscheinlich machte er gerade mit seinen Kollegen die Grachten unsicher. Für einen kurzen Moment hatte ich wieder dieses Gefühl, aber ich schob es barsch beiseite. Meine Eltern? Die waren vor der bayerischen Kälte an die Algarve geflüchtet. Ausgerechnet. Ich fischte mein Handy aus der Jackentasche. Nummern und Profilbilder huschten im blauen Schein des Displays an meinen Augen vorbei. Zu weit weg, ist arbeiten, ist grade beim Feiern. Sydney? Nein, kellnert heute im Darwin’s. Harald? Nur in dienstlichen Notfällen. Weiter, nein, nein. Erstaunlich, wie viele Leute man kannte und doch nicht Kontakt hielt. Mein Daumen schnellte über den Touchscreen weiter nach unten. Ich zuckte zusammen. Da stand Leons Nummer. Sollte ich echt?

Ich hatte Leon vor ein paar Wochen beim Bouldern kennengelernt. Er war unfassbar stark an der Wand. Technisch super mit sauberem Stil, um Welten besser als meine Wenigkeit, die sich gerade in die neu gekauften Schuhe gezwängt hatte, wohl wissend, dass ich es bereuen würde. Auch wenn ich sonst nicht der Typ dazu war, alles auf schlechtes Equipment zu schieben, so war ich mir in diesem Fall doch sicher: Mein Leistungsplateau musste an meinen ausgetretenen Latschen liegen, die mich immer wieder von den Tritten abrutschen ließen. So konnte man ja nicht weiterkommen, oder? Während ich noch in den Baby-Routen herumspielte, machte Leon sich an den richtig heißen Dingern zu schaffen. Ich hatte ihn schon länger beobachtet. Typ Einzelgänger, mutmaßte ich. Zumindest hatte ich ihn bislang nie in Begleitung gesehen. Er kam in die Halle, kletterte seine Routen und ging dann wieder. Jedes Mal. Kein Plausch, keine Absacker. Nichts. Mit niemandem. Als ich an der gleichen Passage zum vermutlich hundertsten Mal trotz neuer Schuhe abrutschte und wie ein nasser Sack laut fluchend in die Bouldermatte einschlug, hörte ich es hinter mir hüsteln. Wütend über mich selbst riss ich den Kopf herum und erstarrte. Da stand er, Leon, mit seinem blonden Wuschelkopf und dem Drachentattoo im Nacken. „Wenn du dein Gewicht mehr über deine Zehen bringst, dann kannst du mehr Druck auf die Stelle geben, dann hast du mehr Grip.“ Entgeisterung stand mir ins Gesicht geschrieben. Er konnte sprechen. „Nur ein Tipp. Komm. Probier’s gleich nochmal.“ Sogar ganze Sätze. Unsicher, ob er wirklich mich meinte, drehte ich meinen Kopf. Hinter mir war keiner. Das galt also tatsächlich mir. Ich drehte meinen Kopf zurück. Er grinste breit. Scheiße, war das peinlich. Ich sah den dicken, fetten Leuchtreklame-Pfeil über meinem Kopf schweben, auf dem in großen Lettern „Groupie“ stand. Er zog eine Augenbraue hoch. „Was ist nun?“, fragte er, und es hatte eindeutig etwas Herausforderndes. Ich dachte an die Postkarte, die mir Sydney geschenkt hatte, als ich damals zu Studienbeginn gleich mal durch die erste Klausur geflogen war, und die seitdem an meinem Kühlschrank klebte: „Aufstehen, Krönchen richten, weiter geht’s.“ So wahr. „Okay“, meinte ich und klopfte mir mit meinen chalkigen Händen den Staub von der Hose, was zugegebenermaßen eher eine Übersprungshandlung war, als dass es irgendeinen Sinn ergeben hätte. Angesichts seines Ritterschlages jedoch fasste ich neuen Mut. „Dann wollen wir mal.“

Ich drückte auf den grünen Telefonhörer. Es tutete in der Leitung. Dann hörte ich Leons Stimme. „Hast du solche Sehnsucht nach mir oder was ist los? Seit unserem letzten Treffen sind, Moment, ich schaue nach, 39 Minuten und fünf Sekunden vergangen. Nein, warte. Jetzt sind es schon sechs Sekunden.“ Die Röte schoss mir augenblicklich in die Wangen. Normalerweise zogen wir durch die Nürnberger Hallen, was mir die Möglichkeit gab, auch mal mit den Öffentlichen zum Treffpunkt zu kommen. Aber heute hatten wir ja unbedingt die Halle in Erlangen ausprobieren wollen. Und jetzt saß ich mit meinem vermutlich im Sterben liegenden Fiat irgendwo im Nirgendwo fest. Gott, was für eine hirnverbrannte Idee, ausgerechnet Leon anzurufen. „Leon, du, ich weiß, es ist spät, und ich wollte dich auch eigentlich gar nicht mehr stören, aber, also, ich stehe hier, mein Auto hat den Geist aufgegeben und, naja ...“ Ich wand mich. Man konnte sein breit gezogenes Grinsen förmlich hören. „Ja?“ Ich rieb mir mit meiner freien Hand verlegen die Stirn. „Herrje, Leon, mach es mir doch nicht so schwer!“ Ein Seufzen entfuhr mir. „Warum? Ich finde es lustig, dass du auch mal zu Kreuze kriechen musst.“ „Blödmann“, kam es prompt von mir. Er schaffte es immer wieder, mich aus dem Konzept zu bringen, und dafür mochte ich ihn. Ich straffte meinen Rücken, fand meine Stimme wieder und fragte tapfer: „Kannst du mich vielleicht abholen und nach Hause fahren?“ Stille. In der Leitung knackte es. „Leon? Bist du noch dran?“ Und schon war sie wieder da, die Unsicherheit. Hoffentlich hatte ich mit meiner Frage jetzt keine rote Linie überschritten. Unsere Zweisamkeit beschränkte sich bislang ausschließlich auf unsere Kletterpartien. Und außer über technische Details oder darüber, welche Route wir als nächstes ausprobieren wollten, redeten wir nie viel miteinander. Wir wussten die Dinge voneinander, die man eben zu Beginn routinemäßig abklopft, um den Rahmen festzulegen, in dem man sich als Vertreter zweier Geschlechter bewegen kann, ohne gleich den Anschein zu erwecken, man würde aufeinander stehen. Seinen Beziehungsstatus hatte ich versucht, irgendwie indirekt und subtil zu klären, während Leon mich einfach gerade heraus gefragt hatte, ob ich Single sei. Ich kam mir ein wenig überrumpelt vor, bejahte aber seine unverblümt gestellte Frage. Doch sein Typ war ich ganz bestimmt nicht, gleiches Alter hin oder her. Er war mein Trainingsbuddy. Mehr nicht. So einer hatte einfach kein Auge für Mädchen wie mich. Ich presste mein Handy fester ans Ohr und hielt mir die andere Hand schützend vor Mund und Mikrofon. „Leon, also, wenn dir das irgendwie unangenehm ist, dann ...“, setzte ich an. „Die holde Meid will also, dass ich mein Ross sattle, um sie zu retten? Kein Problem, Prinzessin!“, ließ er trocken verlauten. War das Sarkasmus? Ich war so schlecht in diesen Dingen. Stille in der Leitung. Oh nein. Nicht gut. Gar nicht gut. Du machst dich hier vollkommen lächerlich gerade. Wie kam ich jetzt nur wieder raus aus der Nummer? Dann hörte ich ihn lachen. „Mia, dein Gesicht hätte ich jetzt gerne gesehen. Natürlich komme ich dich holen. Wo stehst du denn?“ Erleichtert atmete ich aus.

Eine halbe Stunde später näherte sich langsam ein Volvo meinem Standort. Ich hatte Leon eine Nadel auf Google Maps geschickt, sodass er mich kaum verfehlen konnte. Eingehüllt in meine dicke Lamadecke, die ich aus dem Kofferraum befreit hatte, stand ich am Straßenrand und winkte. Ich zog die Schultern noch ein Stückchen mehr nach oben, um mich besser vor der Kälte verstecken zu können. Leon stieg aus. Er hatte Jeans und einen dunkelblauen Hoody an, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Seine Stiefel knirschten im Schnee, als er auf mich zu kam. „Hey, du siehst aus wie ein erfrorener Dönerspieß.“ Er drückte mich zur Begrüßung. „Dann wollen wir dich mal verladen“, scherzte er und zwinkerte mir zu. Prüfend nahm er die Lage in sich auf. „Ich kümmere mich hier schnell noch um das Nötigste, damit der Wagen bis morgen sicher steht. Setz dich schon mal in den Volvo, ja?“ Wie umsichtig von ihm. „Danke dir. Ich wüsste nicht, was ich jetzt ohne dich gemacht hätte.“ Meine Zähne klapperten. „Ich stehe wirklich in deiner Schuld.“ Seine tiefgrünen Augen fixierten mich. Für einen Moment schien es, als würde er etwas sagen wollen, das er schlussendlich dann aber doch wieder verwarf. Um seine Mundwinkel bildeten sich kleine Lachgrübchen. Er neigte sich ein wenig nach vorne und sagte in verschwörerischem Ton. „Ich lass mir was einfallen, damit du deine gerechte Strafe erhältst für dieses Vergehen.“ Hui. Alles klar. Das klang … ähm, irgendwie … komisch, interessant … ich weiß nicht, sexy vielleicht? Hat er bestimmt nicht so gemeint.

Leon setzte mich zu Hause ab und wir verabredeten uns für den kommenden Tag, um meinen Fiat zu bergen. Als ich den Schlüssel im Schloss meiner Wohnung drehte und langsam die Türe aufschob, war es, als würde ich ein Stargate passieren und in eine andere Welt, ein anderes Leben, eintreten. Eines, was tiefe Spuren in mir hinterlassen hatte, eines, das Menschen, die mich nur kurz kannten, nicht für möglich hielten, eines, über das man besser schwieg, weil die Wahrheit einen sonst überrannte und plattwalzte.

CHAOSQUEEN

Von draußen wummerten die unverkennbaren Beats unterirdisch schlechten Hip-Hops an meine Bürotür. Wo sind die Zeiten hingekommen, als Blumentopf und Fettes Brot unsere Ohren mit intelligentem Deutsch-Rap in Verzückung versetzt hatten, dachte ich bei mir und schüttelte den Kopf. Das, was die Chantals und Dangers dieser Welt für hohe Kunst hielten, war eindeutig nicht mein Geschmack. Konzentriert starrte ich in meinen Bildschirm und versuchte, mich zu sammeln. Für die anstehende Stadtratssitzung musste ich noch die aktuellen Haushaltszahlen zusammenstellen, damit das Jugendzentrum auch weiterhin so „herausragende Arbeit“, wie es hieß, leisten konnte. Ich hatte Harald versprochen, bis zum Mittagessen damit fertig zu sein, sodass er sich in Ruhe auf das bevorstehende Gerangel um die besten Stücke vom Gemeindekuchen würde vorbereiten können. Harald war ein hochgewachsener, drahtiger Mitfünfziger mit afroamerikanischen Wurzeln. Wenn er lächelte, blitzten seine blendend weißen Raubtierzähne hell auf. Er war klug und scharfsinnig. Die Jugendlichen vergötterten ihn – vermutlich, weil sie ihn in seinem schwarzen Ledermantel für einen zweiten Morpheus hielten. „Dies ist deine letzte Chance, Neo. Danach gibt es kein Zurück. Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland. Und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus.“ Gott, wer würde nicht gerne zur blauen Pille greifen, hätte er eine zweite Chance? Peng! Die Tür flog auf. „Hey, Mia, was geht?“ Jason stand breitbeinig im Rahmen. Im Hintergrund erhob sich die Stimme des Gangster-Rappers und ließ uns wissen, dass er meine Mutter fickte. „Raus! Und anklopfen.“ Mein Ton klang so schneidend, dass er zusammenfuhr. „Okay. Okay.“ Er drehte sich um, zog die Tür hinter sich zu, wartete eine gespielte Höflichkeitspause lang und klopfte dann an. „Herein“, stieß ich entnervt hervor.

Unfassbar, dass man selbst die kleinsten Umgangsformen eintrainieren musste – wie bei einem verzogenen Hund. Eigentlich taten mir meine Jugendlichen leid. Sie konnten nichts für ihre verkorksten Familien, häuslichen Probleme und frühkindlichen Prägungen. Ständig lärmend und von Macho-Sprüchen durchsetzt überspielten sie ihre eigene Unzulänglichkeit und Verunsicherung. Es gab Momente, wo ich am liebsten schreiend das Gebäude verlassen würde, nicht ohne vorher Harald die Schlüssel vor die Füße geknallt zu haben. Es war frustrierend. Stunde um Stunde zog ich mir an der Uni sozialpsychologische und erziehungswissenschaftliche Theorien rein, nur um dann in der Praxisanwendung festzustellen, dass ich nicht fähig war, diese ins echte Leben zu übertragen. Das Graffiti war trotzdem an der Wand! Nette Unterfütterung meines Studiums, aber bitte, ich konnte verzichten. Und dann gab es Momente, in denen ich wusste, warum ich mich genau diesen Jugendlichen hier verschrieben hatte. In einer Welt voller Möglichkeiten, Orientierungslosigkeit und Zukunftsängsten wollte ich sie begleiten, ihnen helfen, ihren eigenen Weg zu gehen, sich zu finden, das zu finden, was sie ausmachte, was sie konnten, warum sie einzigartig waren und was sie auch wirklich anstellen wollten mit ihrem Leben. Gut. Realistisch bleiben, Mia! Die meiste Zeit machten wir Schadensbegrenzung.

Jason war einer der älteren Jugendlichen hier, 17 Jahre um genau zu sein, und seine manchmal so traurigen Augen wirkten, als hätten sie mehr gesehen als ein einzelner Mensch vertragen konnte. Aber diese Seite ließ er nur durchscheinen, wenn wir allein waren. Ich mochte ihn. „Hey, Mia, was geht?“ Er machte eine Pause und blickte mich fragend an. Seine Freunde sprangen im Türrahmen herum, die Arme sich gegenseitig über die Schultern gelegt, und gaben mit Inbrunst die Barden des 21. Jahrhunderts. „Besser so?“ Meine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Ja. Viel besser. Du hast noch was vergessen.“ Er drehte den Kopf – „Oh. Sorry!“ – und drückte die Tür mit beiden Händen behutsam zu. Es blieb nur mehr der Bass von vorher. „Wie kann ich dir helfen, Jason? Setz dich.“ Ich wies mit meiner Hand auf den freien Platz vor meinem Schreibtisch. Es war immer wieder erstaunlich, welche Verwandlung die Jugendlichen vollzogen, sobald sie nicht mehr aufmerksamkeitsheischend unter Ihresgleichen herumposierten. Er zog den Stuhl nach hinten und ließ sich schwer auf die Sitzfläche fallen. „Ach, ich weiß nicht. Es ist nur ...“, nuschelte er verkniffen. Ich wartete. Warten zahlte sich manchmal aus. Gib deinem Gegenüber die Zeit, Mia. Lass ihn ankommen, lass ihn atmen. Nutze die Pause als Mittel, um ihn einzuladen, damit er seinen Raum einnehmen kann. Jason rutschte unsicher hin und her. Seinem Gesicht war anzusehen, dass er überlegte, nach den richtigen Worten suchte, seine Sätze, die er sagen wollte, gedanklich schon einmal zusammenbaute. Es hatte etwas Rührendes, ihn so zu sehen. „Es gibt da so ein Mädchen ...“ Es knallte und wieder flog meine Bürozimmertüre auf. Herr im Himmel! Ist das zu fassen? Keine zehn Sekunden? Jasons Gesicht durchlief schlagartig eine Metamorphose. Er hatte wieder sein schelmisches Pokerface auf und hing lässig über dem Stuhl. Wie machte er das nur so schnell? „Ey, Diggah kommst du? Wir gehen Macci.“ Ich spießte den Eindringling mit meinem Finger auf. „Tarek, raus hier! Sofort.“ Von draußen hörte ich nur noch ein genervtes „Aww, Junge!“

Als ich das Jugendzentrum am Nachmittag verließ, wartete Leon schon mit laufendem Motor auf mich. Er hatte sofort angeboten, sich um einen Abschleppdienst zu bemühen, und für meinen Wagen auch gleich einen Werkstatttermin vereinbart. Ich war ihm ehrlich dankbar für so viel Unterstützung. Mein Kletterpartner beugte sich zur Seite und drückte mir die Beifahrertüre auf. Ich rutschte auf den Sitz. Dann blickte ich ihn besorgt an. „Und? Wird er sterben?“ Leon lachte auf. „Nein. Halb so wild.“ Meine Gesichtszüge entspannten sich. „Dein Diesel ist sulzig geworden. Wir haben ihn abgepumpt und den Filter getauscht. Er steht auf dem Hof.“ „Wir?“ „Ja, wir. Ich habe ihn natürlich eigenhändig unter die Lupe genommen.“ Ich blickte ihn irritiert an. „In der Werkstatt. Ich arbeite dort. Wenn du willst, dann können wir sofort los und deinen Fiat abholen.“ Okay, das machte er also, wenn er nicht gerade in der Kletterhalle war. Vor meinem inneren Auge sah ich Leon, ölverschmiert mit kräftigen Männerhänden in einem knackengen Overall unter meinem Auto liegen und behände daran herumschrauben. Meine Wangen wurden schlagartig feuerrot, nur um sich gleich wieder binnen Sekunden aschfahl zu präsentieren. Leon musterte mich prüfend. „Ich habe allerdings den Eindruck, du könntest einen kleinen Absacker auf den Schrecken vertragen.“ Nicht auf diesen Schrecken, nicht auf diesen! Wo kam das jetzt plötzlich her? „Was hältst du davon, wenn wir uns vorher noch in einen Pub verdrücken?“ Gar nichts, ich halte gar nichts davon. Das wurde hier eindeutig zu real. Leon gab es ausschließlich und ganz bewusst nur und auch wirklich nur in der Kletterhalle, als Trainingspartner. In der Halle war ich sicher, auch vor mir und dem Chaos, das in mir herrschte. Ich zweifelte. „Es ist doch nur ein Pub“, hörte ich ihn besänftigend sagen, als könne er meine Gedanken lesen. „Na, komm schon.“ Hundeblick? Dein Ernst? Ich seufzte. Leon würde nicht lockerlassen. Das hier war wie an der Wand. Er würde so lange stochern und bohren, bis er am Ziel war.

Ich schlug das Darwin’s vor. Das rustikal gehaltene kleine Pub in unserem Viertel, das mich schwer an eine Seemannskneipe erinnerte, war der einzige Ort dieser Art, über dessen Schwelle ich meinen Fuß noch setzte. Und das lag allein daran, dass meine beste Freundin Sydney hier jobbte und wir vor ihrem Schichtbeginn manchmal an einer der zu Tischen umgestalteten Truhen mit Messingbeschlägen gemeinsam lernten. Früher waren Torben und ich gerne zusammen ins Darwin’s gekommen, als noch nicht alles aus den Fugen geraten war. Aber das war früher gewesen. Und heute war eben heute. Die alten Holzdielen knarrten, als sie unter meinen Schritten leicht nachgaben. Ein etwas zu überdimensionaler Anker füllte die Raummitte aus. Ich fand ihn schön. Hinter der Bar standen in großen Lettern auf einer Schiefertafel die aktuellen Tagesangebote geschrieben. „Nett hier, was?“ Leon strahlte mich an. „Hm.“ Meine Augen suchten den Gastraum ab. In seiner angestammten Ecke saß der Seebär, ein alter Mann mit Kapitänsmütze, weißem Bart und Herrengedeck vor sich. So wie jedes Mal, wenn ich das Darwin’s betrat. Und wenn ich mich recht entsann, so hatte es ihn auch damals schon gegeben. Er gehörte also quasi zum Inventar dieses Pubs. Wenn keiner es sah, steckte er sich manchmal seine Pfeife an, nur um gleich darauf von Trudie, die Zeter und Mordio schrie, auf den Gehsteig verbannt zu werden. Es war wie ein Ritual zwischen den beiden, das keiner außer ihnen verstand. Ich nickte ihm freundlich zu. Er grüßte mit Bedacht zurück. Inständig hoffte ich, dass Sydney heute keinen Dienst schob. Das konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. So gern ich sie auch hatte. Aber ich war hier mit Leon. „Fish & Chips, frittierte Schrimps, Kartoffelsalat?“ Als ich ihn nur entgeistert anstarrte, legte er mir eine Hand auf den Rücken und schob mich durch das Lokal zu einem gemütlich angeordneten Sitz-Arrangement. Ich wickelte mich aus meinem Schal und entwirrte mein Haar. Zwei Füße und ein dazu passender Körper trat zu uns heran; ich atmete auf. Es war Trudie. Ihr gehörte der Laden. Sie würde keine Fragen stellen, nicht zu Leon und auch nicht zu Torben. Sie hielt Papier und Stift gezückt und blickte uns erwartungsvoll an, ganz der Profi. „Ich nehme ein Ale und du, Curly Sue?“ Ein verschmitztes Grinsen umspielte Leons Mund. Ein richtiger Kussmund, bei genauerer Betrachtung, mit diesen voll geschwungenen Lippen. Moment. Machte er sich etwa lustig über mein widerspenstiges Haar, das ich beharrlich jeden Tag zu bändigen versuchte. „Wie immer?“ Trudie sah mich aufmerksam an. Ihr Gesicht wirkte mit jedem Tag verlebter, als hätte sie es in ihrer Jugend wirklich bunt getrieben und würde davor heute auch nicht Halt machen. Tiefe Furchen durchzogen ihre Haut. Die vormals aschblonden Haare hatte sie zu einem vogelnestartigen Gestrüpp zusammengebunden und ihre Lesebrille gab das Diadem dazu. Eine Königin im Reich der Trinker. Einzig ihre hellen Augen gaben preis, dass sie noch lange keine Lust hatte, ins Gras zu beißen. Sie sprühten geradezu vor Lebensfreude. „Ja, bitte“, antwortete ich mechanisch, nur um gleich wieder in meine düsteren Gedanken abzutauchen. Ein schwarzer Nebel begann mich sukzessive einzuschließen. Ich konnte es nicht kontrollieren; es passierte einfach. Und es passierte jetzt. Im Hintergrund hob James Blunt zu einer Ballade an. Was hatte Leon nur für ein Problem mit meinen Haaren? Torben konnte gar nicht genug von meinen Korkenzieherlocken bekommen, die wie kleine Sprungfedern von meinem Kopf abstanden. Schon als wir noch klein gewesen waren und abends zusammen auf dem Sofa gelegen hatten, eng aneinander gekuschelt, und mit großen Augen Arielle bewundert hatten, wie sie mit all ihrem Mut für ihre große Liebe kämpfte, die Beine unter eine Decke versteckt, hatte er versonnen an meinen Haaren herumgezupft und vor Freude gequiekt, wenn diese dann nachwippten. My life is brilliant. My love is pure. Bestimmt diskutierte Torben gerade in einem dieser nicht enden wollenden Meetings in Manager-Sprech über gewinnbringende und zukunftsorientierte Investitionen, um das Unternehmen am Markt bestens zu positionieren. Zahlen waren sein Ding. Ganz klar. Er war ein Excel-Schubser. I saw an angel. Of that I’m sure. Mein Kopf fühlte sich auf einmal dumpf an und es war, als würde mich eine schwere Müdigkeit schonungslos mit nach unten in die Tiefe ziehen. You’re beautiful. „Erde an Mia, bitte kommen.“ Ich blinzelte und versuchte mich zu orientieren, auf das zu konzentrieren, was jetzt war und hier. „Ist alles okay?“, fragte Leon. Und er klang dabei ungewöhnlich besorgt. Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. You’re beautiful. „Ja. Klar. Entschuldige bitte“, sagte ich. Doch er musterte mich weiterhin forschend. You’re beautiful, it’s true. „Bist du sicher?“ Er legte den Kopf schief. I saw your face in a crowded place. „Ja. Ganz sicher“, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln. And I don’t know what to do. Trudie kam zurück und stellte das Ale und einen schwarzen Tee auf den Tisch. ʼCause I’ll never be with you. Sie hätte kein besseres Timing haben können. Mein Handy piepste. Ich starrte aufs Display; es war eine WhatsApp von Torben. „Bin hier fertig. Nehme den nächsten Flieger nach Hause.“ Ein Messer bohrte sich in mein Herz. Für einen Moment war ich heillos überfordert. Ich las die Nachricht noch einmal. „Mein Bruder kommt nach Hause“, brach es aus mir heraus. Das Blut war aus meinem Gesicht gewichen. „Das ist … gut … oder?“ Leon wusste nicht recht, wie er meine Reaktion interpretieren sollte. Verständlich. Was wusste er schon. Auf gar keinen Fall wollte ich aus meiner Deckung kommen. Doch ich spürte, wie meine mühsam aufrecht erhaltene Fassade meinen Mitmenschen gegenüber langsam zu bröckeln begann. Ich kam mir vor, als würde ich splitterfasernackt durch die Fußgängerzone marschieren. Ich musste das unbedingt mit dem Grafen besprechen. „Ja“, presste ich zwischen meinen Lippen hervor und versuchte mich erneut an einem Lächeln. Leon betrachtete mich nachdenklich. Zu meiner Erleichterung nickte er nur kurz und winkte Trudie zu uns. Er würde zahlen.

Auf der Fahrt zur Werkstatt lag eine bleierne Stille auf uns. Ab und an hatte ich den Eindruck, Leons Blick auf mir zu spüren, doch ich zwang mich beharrlich, aus dem Fenster zu starren. Bloß keine Fragen mehr. Als wir endlich auf den Hof fuhren, öffnete ich bereits den Gurt und schob die Tür leicht auf, als Leon gerade ansetzen wollte, einzuparken. Ich sprang hinaus in die Freiheit – wie ein Tier, dessen Käfig für einen Moment unbeachtet offenstand. „Alles klar. Danke fürs Herbringen. Tschüss dann“, stieß ich schnell hervor. Bloß weg hier. Und stürmte der Eingangstür zur Werkstatt entgegen, ohne mich noch ein einziges Mal umzudrehen.

Zu Hause angekommen gab ich dem Drang nach, mich heiß zu duschen. Niemand konnte mich hier weinen sehen. Ich drehte den Hahn auf. Ein wohliges Prasseln floss von meiner Kopfkrone über meine nackten Schultern hinunter, an meinen Kurven entlang, meine Füße umspülend, rein in den Abfluss – und nahm alles Schlechte mit sich bis zum Meer. Jedenfalls in meiner Vorstellung war dem so. Irgendwann würden wir alle zurück ins Meer gehen, denn von dort aus waren wir doch gekommen. Wir würden heimkehren, wenn es an der Zeit war, diese Erde zu verlassen. Das Meer würde uns aufnehmen wie eine Mutter ihr weit gereistes und schmerzlich vermisstes Kind. Es würde uns in seine Arme schließen und uns alles vergessen lassen. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich umschloss die Armatur fest mit meinen Händen. Mein Atem ging schwer. In meinem Kopf begann es wieder zu dröhnen. Torben kam heim. Es ging wieder los. Die Verschnaufpause war also vorbei. Für einen Moment glaubte ich, gleich das Bewusstsein zu verlieren. Und plötzlich war alles wieder da. Der Sand, die Klippe, das Meer. Ein Wimmern entfuhr meinem Körper. Ich wollte schreien. Aber ich konnte es nicht. Unsere Dusche, mein Gefängnis. Der Wasserstrahl hämmerte unablässig wie eine Armee kleiner Nadelstiche auf meine sich jetzt geradezu pergamentartig anfühlende Haut ein. Das Rauschen betäubte meine Sinne. Meine Seele brannte. Ich beugte mich nach vorne, sank auf meine Knie und entließ meinen Mageninhalt in die Freiheit. Tränen liefen mir über meine Wangen. Portugal. Ein bitteres Schluchzen zerriss die Luft. Ich klammerte meine Arme schutzsuchend um mich und wiegte mich vor und zurück, als wolle ich ein schreiendes Kind beruhigen und in den Schlaf schaukeln. Eis hielt mein Herz in seinen Klauen und drohte es augenblicklich zu zerquetschen. „Um Gottes Willen, Mia, was ist denn passiert?“ Eine kräftige Hand packte mich und zog mich ruckartig hoch auf die Beine und aus der Dusche heraus. Ich zitterte; mein ganzer Körper ein einziges Epizentrum aus Schmerz und Trauer. Torben presste mich fest an seine Brust und strich mir behutsam eine Strähne aus dem Gesicht. Er küsste mich immer und immer wieder auf die Stirn. „Alles gut. Alles wird gut, Mia. Ich bin ja da. Jetzt bin ich da.“

EIN KLÄRENDES GESPRÄCH

Torben hatte Nudelwasser aufgesetzt und schickte sich an, Bolognese für uns zu kochen. Unsere abendlichen Mahlzeiten bestanden normalerweise aus Lieferessen, das wir der Fairness halber in einem streng ausgearbeiteten Rhythmus abwechselnd vom ansässigen Griechen, Thai oder Italiener bestellten. Torben hatte mich, in drei Decken eingewickelt, auf dem Sofa unserer Wohnküche installiert. Er hatte auch die Heizung noch einmal hochgedreht. Ich beobachtete meinen Bruder. Gerade zerteilte er mit so viel Hingabe, wie ich es schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte, eine Zwiebel. „Warte es ab, es wird großartig.“ Mit meinem Blick starr auf ihn gerichtet fragte ich: „Lief es gut in Amsterdam?“ Torben drehte sich zu mir um, in der Hand den Kochlöffel. Seine großen, eisblauen Augen glitzerten. Mit seinem kantigen Kinn, dem Dreitagebart, den er seit Neuestem stehenließ, weil es angeblich hip war, und den pechschwarzen Haaren, die im Moment wild verwuschelt zu allen Seiten abstanden, hatte er einen Look wie aus einem Bravo-Poster entsprungen. „Ja. Wir haben den Zuschlag bekommen“, antwortete er fröhlich. Ich nickte zögerlich. Nichts ist, wie es scheint. „Das ist doch nicht normal.“ „Was genau?“ Mein Bruder sah mich schief über seine Schulter hinweg an, die Stirn in Falten gelegt. Er verstand offensichtlich nicht. „Das hier.“ Ich deutete mit zittrigen Fingern auf ihn. Stille. Drei, zwei, eins. Torben atmete langsam seufzend aus und legte den Kochlöffel behutsam auf die Arbeitsfläche neben dem Ceranfeld ab. „Wenn du Scheiße gebaut hast, kannst du es auch einfach gleich sagen. Das tut dann hinterher weniger weh. Das kennen wir ja schon“, platzte es zornig aus mir heraus. „Hast du wieder gesoffen?“ Jetzt war es mein Bruder, der aus der Haut fuhr. „Nein. Spinnst du? Warum sollte ich?“, herrschte er mich aufgebracht an. Ein Tier, das du in die Ecke treibst, beißt zurück. „Kannst du mal bitte wieder deine Krallen einfahren, Mia“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor, sichtlich bemüht, seine Fassung wiederzufinden. Ich schnaubte verächtlich. Torben fuhr sich fahrig mit beiden Händen über sein Gesicht. Er sah müde aus. Betont versöhnlich setzte er nun an: „Ich habe nichts getrunken, okay? Komm mal wieder runter.“ Ich glaubte ihm nicht. Ich konnte ihm nicht glauben. „Spar dir deine Mühe“, stieß ich heißer hervor und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Nicht weinen. Jetzt nicht weinen. Ich drückte mich an ihm vorbei und schlug mit einem lauten Knall die Zimmertür hinter mir zu. Der Abend war gelaufen. Gut, dass wir geredet hatten. Keine 30 Sekunden später schepperte Tom Wax durch unsere Wohnung. Torben hatte die Anlage voll aufgedreht. Sirenen zerrissen die Luft. In meinen Regalen tanzten meine Bücher zum Takt. Der Beat drückte unbarmherzig gegen mich an. Der Acid arbeitet meine Nerven auf. Wahrscheinlich rief der alte Braun bereits die Bullen. Ich zog mir mein Kissen über den Kopf und drückte es fest an meine Ohren. Das tat er doch jetzt mit Absicht! Torben, du Arsch!

DER GRAF

Die nächsten Tage gingen wir uns bemüht aus dem Weg. Jeder verschanzte sich in seinem Zimmer. Wir achteten beide sorgfältig darauf, uns weder im Bad noch in der Wohnküche frühmorgens zu begegnen, und waren beide froh, wenn der jeweils andere die Wohnung verließ. Die Vorlesungen über die Heterogenität in Erziehung und Bildung bei Professor Dr. Fuchs-Mandelbaum ließ ich über mich ergehen und hielt mich in den Seminareinheiten weitestgehend zurück. Ich betrieb oberflächliche Konversation mit einigen Studienkameraden, setzte mich in der Mensa allein an einen Tisch, vergrub meine Nase in Fachtexten, ohne wirklich zu verstehen, was in ihnen stand. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen. Als ich Sydney in die Arme lief, nuschelte ich nur ein kurzes „Hallo“ in ihre Richtung und hastete davon. Reden wollte ich nicht, nicht einmal mit meiner besten Freundin. Sie würde es verstehen. Im Jugendzentrum versuchte ich nach Kräften, nicht vollkommen auszurasten, als zwei unserer Schützlinge aus mir unerfindlichen Gründen plötzlich wie wild gewordene Berserker aufeinander losgingen und nur mit Mühe von Harald und mir getrennt werden konnten. Eine Plastikflasche traf meinen Kopf. Hausverbote wurden erteilt. Ich tat, was getan werden musste, ohne wirklich ganz bei der Sache zu sein. Leon hatte mir eine WhatsApp geschrieben und gefragt, ob wir uns zum Klettern treffen wollten. Ich hatte abgelehnt. Zu viele offene Fragen waberten durch mein Gehirn. An den Abenden verbarrikadierte ich mich mit einem großen Becher Ben & Jerries vor meinem Laptop und schrieb an meiner Hausarbeit, während Torben seine Aufenthalte im Büro derart in die Länge zog, dass ich mich fragte, ob er sich nicht gleich ein Feldbett mitnehmen wollte. Wenn ich ehrlich war, missfiel mir die Situation, in die wir uns wieder einmal zielsicher hineinmanövriert hatten.

Und dann kam Mittwoch. Und meine wöchentliche Sitzung bei Dr. Thalbach. Endlich. Ich musste dringend Druck abbauen. Zu Anfangs kam es mir befremdlich vor, mein Seelenchaos gemeinsam mit diesem Psychologen zu entwirren. Schon bei der ersten Sitzung hatte er mich auf meine Muster geschickt. Binnen Sekunden traf er all meine Knöpfe. Meine innere Struktur mit all meinen entwickelten komplexen und manchmal verworrenen Verhaltensmechanismen, Ansichten und Wertevorstellungen, Ansprüchen, Erwartungshaltungen an mich, meine Umwelt und das Universum im Allgemeinen boten sich für ihn dar wie eine leichte Lektüre. Ich war erbost nach Hause gestapft und hatte mich geärgert, wie unverschämt diese Person gewesen war, mich so zu entblößen. Mit seinem spitz zulaufenden Ziegenbart, der schmalen Nase und dem dünnen Drahtgestell seiner Brille erinnerte er mich schwer an Graf Falko von Falkenstein aus den Bibi-und-Tina-Geschichten, die ich als Kind so gerne gehört hatte. Seine ruhige und besonnene Art verlieh ihm zudem etwas Aristokratisches. „Sie sind eine Kämpfernatur. Ihr Wille wird Ihnen helfen“, waren seine Worte gewesen. Na hoffentlich behielt er recht. Ich war mir da ja nicht so sicher.

„Und, wie fühlen Sie sich jetzt, wo Sie mir das alles hier so schildern, was Ihnen die letzten Tage passiert ist?“ Beschissen. Eindeutig beschissen. „Ich vertraue ihm einfach nicht mehr.“ Dr. Thalbach nickte und vermerkte sich etwas in seinem Notizbuch. Zu gerne würde ich wissen, was er da immer reinkritzelte. „Was würden Sie denn verlieren, wenn Sie ihm wieder vertrauen würden? Wir haben die Früchte unseres Handelns ja nicht in der Hand. Deshalb müssen wir manchmal riskieren, enttäuscht zu werden. Auch wenn das dann weh tut.“ Er blickte mich über den Rand seiner Brille an. Seine Augen bohrten sich förmlich in meinen Schädel. „Ja, mag sein“, druckste ich herum und wich seinem Blick aus. „Ich vertraue halt auf Taten und nicht auf Worte. Sag was und handel dann halt auch danach. Er verhält sich so widersprüchlich mir gegenüber. Wie soll man denn Verlässlichkeit schaffen, wenn man sich nicht an Abmachungen hält?“ Gott, was laberte ich hier eigentlich für einen Müll? Torben hatte mir nie etwas zugesichert. Erstaunlich, dass der Graf nicht selbst am Rad drehte, wenn er täglich mit Patienten wie mir zu tun hatte. Dr. Thalbach griff stattdessen nach seinem Wasserglas und nippte daran. „Ist es Ihr Bruder, der sich gerade widersprüchlich verhält, oder sind es Sie selbst, Frau Schneider?“ Tadaa! Da hatte er mich wohl wieder mal am Arsch. „Könnte es denn sein, dass sich Ihr Bruder tatsächlich geändert, im Konkreten seine Suchtproblematik eine positive Entwicklung genommen hat und Sie das nur nicht mitbekommen haben? Oder noch zu sehr in ihrer Rolle als Beschützerin festhängen, dass Sie seine Entwicklung nicht mitgehen können oder wollen?“ Nein. Ganz bestimmt nicht. „Ich hasse es, wenn es kompliziert wird“, wich ich seiner Frage aus. „Warum kann nicht alles einfach sein?“ Trotzig sah ich meinen Psychologen an, der sich allem Anschein nach ein Lachen verkneifen musste. Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Im Chaos liegt so viel Potenzial. Auch für Sie. Nutzen Sie es. Sie haben jetzt die Möglichkeit, etwas Neues zu erschaffen. Für sich, für Ihren Bruder, für Ihre Mitmenschen und für Ihr Leben ganz allgemein.“ Dr. Thalbach wusste so gut wie ich, dass wir hier aktuell nur kleine Bretter bohrten. Die richtig dicken Dinger umschifften wir geflissentlich. Ich war noch nicht bereit, in meinen Abgrund zu steigen. Ich brauchte Zeit. Und vor allem anderen brauchte ich Mut.

TORTEN

Als die Sitzung beendet war, trat ich nach draußen an die frische Luft und blinzelte. Zarte Schneeflocken benetzten mein Gesicht und hinterließen feuchte Stellen auf meiner Haut. Ein scheues Lächeln huschte über meinen Mund. Ich hatte Schnee schon immer als etwas ganz Bezauberndes empfunden. Wer war ich in diesem Spiel? Elsa, die Eiskönigin? Die mutige Anna ganz bestimmt nicht. Vielleicht war ich aber auch nur eine Randfigur. Wählte ich selbst meinen Platz? Ich schob den Gedanken beiseite. Jetzt war Schluss; keine Überstunden machen. Ich setzte beherzt einen Schritt vor den anderen. Gleich um die Ecke gab es ein kleines, niedliches Café. Über der Tür prangte ein Schild, das den interessierten Besucher darauf hinwies, dass das Gebäude bereits 1903 stand und man hier nur auserlesene, handgefertigte Köstlichkeiten in heimeligem Ambiente zum Verzehr finden würden. Das Rosenglanz war ein Ort, an dem die Zeit still zu stehen schien. Und ich fragte mich bisweilen, welches Königsschloss seines Mobiliars dafür beraubt worden war. Es roch nach Klassikern der Weltliteratur, antiker Kunst und frisch gemahlenem Kaffee. Ich bog um die Ecke, um den Hinterhof zu kreuzen. Am Personaleingang wurde ich bereits erwartet. Der Torten-Boy schnippte soeben seine abgebrannte Kippe mit dem Zeigefinger in die Pfütze, die sich schräg vor seinen Füßen durch den schmelzenden Schneematsch gebildet hatte. Und grinste mich breit an. Er hatte mittellanges, schwarzes Haar mit einem Undercut, den man nur sah, wenn er sich einen Zopf band. Sein schwarzes T-Shirt war stellenweise mit Mehlstaub bepudert. Ich schätzte ihn auf 17, vielleicht auch schon 18. Schwer zu sagen. Irgendwie sahen die Jungs heute immer älter aus, als sie tatsächlich waren. Er drehte sich um, verschwand durch die Tür, um wenige Sekunden später mit einem kleinen Päckchen herauszukommen, und trat an mich heran. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er es mir hinstreckte. Der Kerle freute sich sichtlich, mich zu sehen. Ich nahm mein Geschenk dankbar an mich.

Als ich außer Sichtweite war, zog ich das Papier ein wenig zur Seite und lugte ins Innere des Päckchens. Käse-Sahne-Torte dieses Mal. Mir lief jetzt schon das Wasser im Mund zusammen. Was für ein Genuss würde es werden, diese leckere Köstlichkeit zu verspeisen. So schlimm konnte es doch um mich gar nicht gestellt sein, wenn derlei kleine Aufmerksamkeiten es vermochten, meine Seele so zu erfreuen. Ich redete es mir zumindest jetzt einmal ein. Dr. Thalbachs Worte arbeiteten in mir. Ich setzte mich in Bewegung, meine Nase immer noch tief ins Gebäck gesteckt. Sollte es wahr sein? Sollte der Wandel das sein, auf das ich mich konzentrieren sollte? Aber sie war doch notwendig gewesen, die Sicherheit, die Konsequenz, die Kontrolle, die Stabilität in der Zeit des unbändigen Chaos, als Torben eingebrochen war. Ja, war? Ich schnaubte. ‚Stillstand ist der Tod. Geh voran, bleibt alles anders‘, hieß es doch bei Grönemeyer. Wie sonst funktionierte Evolution? Sicher nicht, indem alles immer schön geordnet lief. Jeder Mensch mit ein bisschen Grips in der Birne wusste doch eigentlich, dass sich im Leben immer alles ändert. Warum sah ich es nicht? War es bei mir denn keine Evolution, sondern eine Revolution, da im Inneren? Ich wollte doch nicht weitermachen wie bisher. Ich hatte meine eigene Idee davon, wer ich zu sein glaubte und wer ich war. Was bildete sich das Leben da eigentlich ein, mich weiterhin in mir selbst gefangen zu halten? War das Wut? Wut auf mich selbst? „Vorsicht“, stieß eine Stimme vor mir aus. „Passen Sie doch auf!“ Erschrocken fuhr ich zusammen. Jetzt wäre ich doch fast schnurstracks gedankenverloren in eine ältere Dame hineingelaufen, die jetzt drohend mit ihrem Spazierstock vor meiner Nase herumfuchtelte. „Es tut mir leid. Entschuldigung“, kam es kleinlaut aus meinem Mund. „Das hätte es zu unserer Zeit nicht gegeben. Da hatte man noch Respekt vor dem Alter“, grummelte sie. „Aber die Jugend von heute ...“ Ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu, sondern ging einfach weiter. Das mit den Gedankenspiralen, das musste echt aufhören. Sonst wurde ich am Schluss noch überfahren. Ich blieb abrupt stehen. Moment. Respekt vor dem Alter? Als ob ich den nicht hätte. Hatte mich die Alte da gerade beschimpft? Sie kannte mich gar nicht. Was wollte sie also? Ich hatte Respekt. Mir so etwas vorzuwerfen, das war einfach nur unverschämt. Wiederstrebende Kräfte zogen in mir. ‚Sie meint es nicht so‘, sagte das Engelchen auf meiner Schulter. ‚Blas der Schnepfe den Marsch!‘, kreischte das Teufelchen dagegen. Ich drehte mich um. Das musst du dir nicht gefallen lassen. „Ich habe Respekt vor dem Alter. Aber sicherlich nicht vor jeder Alten!“, maulte ich dem Mütterchen hinterher. In meinen Kopf kam sofort die Korrektur dazu: vollkommen deplatziert. Schäm dich! Wo ist deine Kinderstube geblieben?

Fünf Minuten und ein paar Kreuzungen später stand ich vor unserer Wohnanlage. Es war ein Gemenge aus schlicht gehaltenen Mehrparteienhäusern im 90er-Jahre-Stil, nicht wirklich schick, eher praktisch gehalten. Ich drückte die Eingangstür auf. Auf dem Weg die Treppe hoch ging ich an unserem Briefkasten vorbei und lugte hinein. Er war leer. Ich atmete erleichtert aus. Keine Post war immer gute Post. Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch aus dem Augenwinkel, wie die Tür zu Herrn Brauns Wohnung ruckartig, aber doch fast geräuschlos ins Schloss gezogen wurde. Ich hörte die Kette rasseln. Dann seufzte ich. Meine Augen rollten unwillkürlich nach oben. Die Nervensäge hatte wieder spioniert, mehr schlecht als recht. „Ich habe Sie gesehen. Und gehört. Herr Braun“, sagte ich mit tadelndem Unterton. „Da müssen Sie sich schon ein bisschen besser anstrengen.“ Er war nur schwer zu ertragen, und das ging nicht nur mir so. Torben und ich wohnten im dritten Stock. Oben angekommen, ließ ich erst einmal meine Tasche zu Boden gleiten, streifte meine Schuhe ab, ließ den Mantel dort fallen, wo ich stand, schnappte mir im Vorbeigehen auf dem Weg zur Couch von der Küchenzeile eine Gabel, unterdrückte den drängenden Impuls in mir, hinter jedem Sofakissen nach leeren Flaschen zu suchen, und ließ mich mit einem gehörigen Seufzer auf die Liegefläche fallen. In meinen Händen hielt ich meinen Schatz. Voller Vorfreude entpackte ich feierlich die Käse-Sahne-Torte und spießte mir das erste Stück Lebensfreude auf. Der Torten-Boy leistete wirklich gute Arbeit. Er sorgte dafür, dass ich zumindest EIN Tages-Highlight hatte. Ich fragte mich, ob er nicht irgendwann Probleme kriegen würde, wenn er mir immer heimlich etwas zusteckte. Faktisch bestahl er ja gerade seinen Arbeitgeber, oder etwa nicht?

Zu Anfangs hatten wir uns skeptisch beäugt. Das heißt vielmehr, ich war skeptisch gewesen, jedes Mal wenn ich am Rosenglanz vorbeigegangen war und ihn da rauchend hatte stehen sehen, mit diesen wachen Augen, die jeden Schritt von mir zu verfolgen schienen. Er wirkte nicht ernsthaft bedrohlich, eher wie einer meiner Schützlinge aus dem Jugendzentrum. Aber zwischenzeitlich überkam mich dann immer wieder doch die irritierende Furcht, er könnte mir auflauern, meine Schwäche ausnutzen, mich in eine dunkle Gasse zerren und vergewaltigen. Gut, nicht jeder war ein Krimineller. Und ich war auch kein Opfer. Irgendwann stand er dann da, mit dem ersten Kuchenstück. Und ein aufmunterndes Nicken hatte mir bedeutet, ich solle es doch bitte an mich nehmen. Einfach so. Keiner hatte ihn darum gebeten. Er hatte es einfach gemacht. Doch aus welchem Grund? Was waren seine Motive? Unbeholfen und weil ich nicht respektlos sein wollte, hatte ich es mitgenommen und zu Hause sofort in der Mülltonne entsorgt. Sollte er doch jemanden anders vergiften. Als er von da an jedoch jeden Mittwoch mit einem Tortenstück auf mich wartete und ich es langsam leid war, die wirklich anmutigen Köstlichkeiten wegzuwerfen, begann ich, mich zu wundern. Unwahrscheinlich, dass er mit jedem weiteren Stück die Dosis des ominösen Vielleicht-Betäubungsmittels erhöhte und darauf wartete, dass ich im richtigen Moment vor ihm zusammenbräche. Ich entschied mich also dazu, das nächste Stück zu probieren. Dies erwies sich allerdings als emotional größere Herausforderung, als ich dachte. Da saß ich also, vor mir auf dem Tisch das in meiner Fantasie vermeintlich vergiftete Tortenstück, und hielt meine Gabel wie eine Forke beim Bauernaufstand zur Verteidigung von Leib und Leben dem Gegner entgegen. In meinem Kopf malte ich mir aus, wie mir der Schaum aus dem Mund quellen würde, während ich bewusstlos zu Boden sinken würde. Dann stach ich zu. Blitzschnell erlegte ich das erste Stück, bevor ich mir selbst wieder im Weg stehen würde. Stille. Ich hörte in mich hinein. Ich war augenscheinlich noch nicht tot. Und es hatte lecker geschmeckt. Ich beschloss also, dass der Torten-Boy vielleicht doch ganz in Ordnung war und mir vielleicht einfach nur etwas Gutes tun wollte. So etwas soll es ja geben. Und ich ertappte mich auch dabei, wie ich mich tatsächlich darauf freute, ihn zu unserer Zeit an unserem Ort jedes Mal wiederzusehen. Es gab mir, so blöd, wie es klang, schlussendlich irgendwie Sicherheit, denn es war vorhersehbar.

Als ich gerade den letzten Rest der Käse-Sahne-Torte mit meiner Gabel vom Pappteller kratzte, klingelte es an unserer Tür. Ich stand auf, warf einen Kontrollblick in die Wohnung – okay, zur Not vorzeigbar – und öffnete dann. Es war Sydney. „Hast du deine Tasche schon gepackt?“, fragte sie und trat beschwingten Schrittes ein. Mein Blick sprach wohl Bände, denn sie lachte vergnügt. „Jetzt schau nicht wie ein Schaf. 18:00 Uhr. Sauna?“ Mit ihrem Zeigefinger klopfte sie mehrmals schnell an meine Stirn. „Klingelt da irgendwas bei dir?“

ROSEN