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Jara steht auf der alten Eisenbahnbrücke über der Ruhr und starrt ins tiefdunkle Gewässer. Anto, die gerade noch neben ihr saß, ist in den Fluss gesprungen und taucht nicht wieder auf. Das Einzige, was Jara von hier oben erkennen kann, ist der Baseballschläger, mit dem sie in dieser Nacht ein Autofenster eingeschlagen haben und der jetzt nicht sinken will. Als Jara zum ersten Mal auf Anto trifft, ist diese zwar die schlechteste Spielerin auf dem Fußballplatz, aber trotzdem mit Abstand die mutigste. Die beiden freunden sich an, und schnell ist klar: Ihre Schwesternschaft steht über allem – sie teilen Lipgloss, Cherry Cola und Gewaltfantasien. Jeden Abend ein neuer Plan, sie haben alles im Blick und alles im Griff. Bis ihnen Stück für Stück die Kontrolle entgleitet. Und nun bleibt die Frage: Wohin mit all der Wut? In ihrem Debütroman zeichnet Mascha Unterlehberg das bestechende und kraftvolle Porträt einer zarten Freundinnenschaft, die sich gegen den Druck von außen und eine stets drohende Gewalt behaupten muss – bis es Zeit ist, zurückzuschlagen. »Mascha Unterlehberg schreibt hart und weich, klar und schimmernd. Dieser Roman beschleunigt den Puls und lässt den Atem stocken.« RUTH-MARIA THOMAS
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Wir lehnen uns aneinander, wir erwidern die Blicke. Wir warten.«
Jara steht auf der alten Eisenbahnbrücke über der Ruhr und starrt ins tiefdunkle Wasser. Anto, die gerade noch neben ihr saß, ist in den Fluss gesprungen und taucht nicht wieder auf. Und Jara schießt all das durch den Kopf, was sie zu diesem Moment auf der Brücke geführt hat: Mitte der Nullerjahre treffen Jara und Anto auf einem Fußballplatz aufeinander. Ihre Freundinnenschaft entfaltet sich wie ein Sturm – sie ziehen um die Häuser, nehmen sich, was sie brauchen, und sind sich einig: Ihre Schwesternschaft trägt sie durch die Welt. Doch irgendwann entgleitet ihnen diese Sicherheit, zuerst kaum merklich und dann unaufhaltsam.
In ihrem Debütroman zeichnet Mascha Unterlehberg das bestechende und kraftvolle Porträt einer zarten Freundinnenschaft, die sich gegen den Druck von außen und eine stets drohende Gewalt behaupten muss.
© Birte Filmer
Mascha Unterlehberg, geboren in Mülheim an der Ruhr, hat Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte in Freiburg und Paris studiert sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie hat an Theatern in Deutschland und der Schweiz gearbeitet, war Finalistin des 27. open mike und nahm mit ›Wenn wir lächeln‹ 2023 am Literaturkurs in Klagenfurt teil.
Mascha Unterlehberg
WENN WIR LÄCHELN
Roman
Content Note:
Dieser Text thematisiert Gewalt, sexualisierte Gewalt und Suizid.
E-Book 2025
© 2025 DuMont Buchverlag GmbH&Co.KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44bUrhG behalten wir uns explizit vor.
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: ©Johanna Bath
Satz: Angelika Kudella, Köln
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1080-3
www.dumont-buchverlag.de
That girl thinks she’s the queen of the neighborhood
I got news for you, she is!
Rebel Girl, Bikini Kill[1]
Wir treiben uns Stahlplatten in die Schultergelenke.
Tänzeln auf der Stelle, tarieren die Schwere des Metalls aus. Werfen die Köpfe vorm Spiegel von links nach rechts.
Beugen uns vor, um uns von Nahem zu betrachten.
Erkennen jede Wimper, jede Pore, jede Unreinheit und lieben alles, was wir vor uns sehen.
Werfen die Haare nach hinten, glatt, alles glatt.
Verteilen Lipgloss auf unseren Mündern, und es riecht nach Kirsche.
Machen uns bereit für die Nacht, pumpen Survivor, pumpen Fighter, pumpen Stronger durch den hellblauen Ghettoblaster, die Mix-CD kreist, und wir kreisen auch.
Können alle Refrains, alle Choreos, kennen jedes Video auf MTV und jedes Detail darin.
Halten kurz still, aber nicht, weil wir erschöpft sind.
Ziehen uns den finalen Lidstrich mit einem feuchten schwarzen Kajal.
Legen die Köpfe in den Nacken, halten einander die Flasche. Schlagen uns auf den Rücken, wenn wir uns verschlucken, schlagen uns auf den Rücken, wann immer uns danach ist.
Checken den Inhalt der Handtaschen, checken den Sitz der Viskosetops, der Kunstlederröcke und der gebleachten Jeans. Legen fein gehämmerte Schlagringe an, bevor wir das Haus verlassen.
Laufen auf die Straße, laufen zum Bus, und die Ringe funkeln im Licht der Laternen.
Wenn wir in den Bars dieser Stadt sitzen, glitzert alles, und alles ist endlos. Bis es hell wird, noch ungreifbar viele Stunden, und das Geld geht nicht aus.
Anto hat sich die Nägel machen lassen, neongrün und weiß.
Sie laufen vorne spitz zu und riechen auch jetzt, zwei Tage später, nach Acryl. Jedes Mal, wenn sie etwas berührt, den Tisch oder ihr Glas, gibt es ein leises Klackern, und in mir zieht sich etwas zusammen.
Wie Krallen, sage ich,
Wenn ich’s nicht besser wüsste, hätte ich Angst vor dir.
Tja, sagt Anto,
Heute Nacht wird aufgeschlitzt.
Unter dem kleinen, runden Tisch liegen unsere Baseballschläger. Meiner ist blau lackiert, Antos Schläger ist aus hellem, unbehandeltem Holz, in dessen Maserung sich alles einschreiben wird.
Später werfen wir sie in den Fluss, sagt sie, als könne sie meine Gedanken lesen, und legt die ausgestreckten Beine auf dem gegenüberstehenden Stuhl ab. Ihre Füße stecken in schwarzen Stiefeln mit dicken Sohlen.
Wenn wir in den Bars dieser Stadt sitzen und Anto eine Rum-Cola-Runde schmeißt, was bedeutet, dass wir die Zeche prellen, weil Anto niemals Geld für Rum-Cola ausgeben würde.
Wenn wir in den Bars sitzen und die Blicke auf uns spüren, dann erinnern wir uns, erinnern sich unsere Körper daran, wie es war, als uns die Blicke das erste Mal trafen.
Wie aufregend das war, wie schmeichelhaft: Fremde Blicke von fremden Männern, die schon viel gesehen haben mussten, so viel älter als wir, und uns trotzdem für würdig befanden, uns sahen, und wir wurden größer dabei und erwachsener und wurden es doch nicht.
Wenn wir die Blicke im Rücken spüren und die Erinnerung in unsere Körper zurückkehrt, dann ist es an der Zeit.
Dann stehen wir auf, schnell und geschmeidig manchmal, und an anderen Tagen schwankend, als würden wir nichts vertragen.
Als würde uns eine lächerliche Rum-Cola-Mischung aus dem Gleichgewicht bringen, aber das ist alles nur ein Spiel.
Wir stehen dann auf, wir drehen uns um, und wenn wir können, dann lächeln wir.
Wir lächeln, wir lehnen uns aneinander, wir erwidern die Blicke. Wir warten.
EINS
1
Wir stehen auf der Eisenbahnbrücke, die keine mehr ist, nur noch stillgelegte Schienen und rostige Streben, und Anto schleudert ihren Schläger wie einen Speer ins Wasser.
Er taucht halb unter, der Griff steht beinahe senkrecht in der Luft, kippt dann um und treibt auf der Oberfläche.
Ich sehe sie von der Seite an,
Hast du wirklich gedacht, dass der untergeht? Ich mein, das ist Holz, Holz treibt oben, oder?
Halt den Mund, sagt sie und starrt aufs Wasser, als könne sie den Schläger durch Gedankenkraft dazu bringen, von der Oberfläche zu verschwinden,
Der geht schon noch unter.
Aber ich sehe an der Art, wie sie Luft durch die Nase zieht, dass auch sie Zweifel hat.
Der Fluss ist eine glatte schwarze Fläche, ist das Geräusch eines Körpers, der eintaucht, ein Klatschen.
Ringe, die im Licht der wenigen Laternen größer werden.
Der Fluss ist: unsichtbare Strudel und Hochwasser im Herbst und ein Mann, der ertrunken ist, als er seinen Hund retten wollte.
Der Fluss verschluckt Anto, lässt sie verschwinden, und der Schläger treibt immer noch oben, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, in die ihr Körper eingeschlagen ist.
Anto, schreie ich,
Scheiße.
Aber ich kann mich nicht dazu bringen, ihr zu folgen.
Diesmal nicht.
Sie weiß von den Strudeln. Vom Sog, gegen den auch gute Schwimmerinnen chancenlos sind (und Anto ist keine gute Schwimmerin) und von dem du dich, solltest du einmal hineingeraten, nach unten ziehen lassen musst, bis es nicht mehr weitergeht. Nach unten, um dem Strudel zu entkommen und dann seitlich wegzutauchen.
Kann sie beim Aufprall das Bewusstsein verloren haben?
Spring niemals in Wasser, von dem du nicht weißt, wie tief es ist, das ist eine Regel wie: nicht mit vollem Bauch schwimmen gehen, nicht neben der Badewanne die Haare föhnen, niemals mit dem Messer im Toaster hantieren.
Ich weiß nicht, wie tief das Wasser an dieser Stelle ist.
Ich weiß, dass wir hier noch nie runtergesprungen sind.
Ich sowieso nicht, aber auch Anto nicht, obwohl sie ein paarmal so getan hat, als ob.
Ich stehe auf der Eisenbahnbrücke, und Anto ist weg und auf dem Wasser nur die sich ausdehnenden Ringe.
Spiele alle Möglichkeiten durch, und dann spielen sich die Möglichkeiten selbst durch, immer schneller, von vorne bis hinten und wieder von vorn.
Sehe mich in eine Rettungsdecke gehüllt am Ufer, mit Weitstrahlern und Motorbooten suchen sie die Ruhr nach ihr ab. Verbrenne mir die Zunge an zu heißem Tee, und ein Psychologe will mich zur Seite nehmen, aber die Polizei hat noch Fragen. Krame in meiner Handtasche nach dem Personalausweis, die Boote legen am Steg an, und gefunden haben sie nur den Schläger.
Die Boote legen am Steg an, und gefunden haben sie Anto, die Wasser geschluckt hat und sich übergeben muss, fast blau im Gesicht ist, aber lebendig. Legen am Steg an, und gefunden haben sie einen leblosen Körper.
2
Ich erinnere mich nicht, wann ich zuletzt so aufgeregt war. Vielleicht bei unserer ersten richtigen Verabredung, und wie viele Jahre ist das jetzt her?
Komm, wann du willst, hat sie am Telefon gesagt,
Ich bin sowieso da.
Ihre Stimme klingt wie immer. Als hätten wir uns erst gestern gesehen, als würde nichts zwischen uns stehen.
Perfekt, sage ich, und dann, ohne nachzudenken,
Ist meine Zahnbürste noch da?
Deine was? Was weiß ich, Jara, ich hab die jedenfalls nicht weggeschmissen.
Okay. Sorry, ist ja auch egal. Ich komm gegen sechs, ja?
Ja, wie du willst.
Sie sitzt im Dachfenster, die Beine angewinkelt, die Füße auf der Schräge abgestützt. Sieht mich schon von Weitem, aber hat es nicht nötig, mir zu winken.
Erst, wenn ich so nah bin, dass ich fast wieder aus ihrem Blickfeld verschwinde, wird sie mir etwas zurufen.
Jedes Mal, wenn ich sie so sehe, muss ich mir einen Moment lang vorstellen, wie sie gleich vor mir auf dem Boden aufschlägt. Dass ich dabei sein werde, wenn es passiert, sie aber nicht retten kann.
Ich muss sie auf den Rücken drehen, um festzustellen, dass sie nicht mehr atmet.
Ich drehe sie auf den Rücken und stelle fest, dass anstelle ihres Gesichts nur noch eine klaffende Wunde da ist, die nie wieder atmen kann.
Neben ihrem Körper muss ich auf den Krankenwagen warten, was mir in diesem Moment nicht schwerfallen wird, aber danach werde ich davon träumen, immer und immer wieder.
So etwas habe ich mir schon oft vorgestellt. Wenn ich versucht habe, an etwas anderes zu denken, wurde es meistens nur noch schlimmer.
Nur ein Mal saßen wir zu zweit dort oben, quetschten uns nebeneinander auf das schmale Fensterbrett, unsere nackten Oberschenkel klebten aneinander. Es kam mir sicher vor.
In diesem Moment hatte ich keine Angst, dass sie aus dem Fenster fallen würde.
Sie sieht wahnsinnig klein aus, aber das liegt auch daran, dass das Haus riesig ist, mit ungefähr tausend hellgrau gestrichenen Fensterläden und einer mattsilbernen Eisentür, die doppelt so groß sein muss wie normale Türen.
Ich weiß nicht, ob das ein schönes Haus ist. Ich weiß, dass ich auch gern drin wohnen würde.
Stell dir mal vor, wir würden zu zweit hier leben, habe ich an einem dieser Abende gesagt, an denen wir bei ihr im Wohnzimmer lagen, Chips und Weingummitüten zwischen uns auf dem Teppich, eine halb leere Flasche Cognac aus der Vitrine im Flur,
Das wäre perfekt.
Und meine Mutter? Wo soll die dann hin?
Ihre Stimme plötzlich schroff, alle Leichtigkeit mit einem Schlag daraus verschwunden. Als würde ich sie mit dem, was ich sagte, beleidigen, dabei tat sie ja selbst ständig so, als würde es ihre Mutter nicht geben.
Ich dachte schon, du wärst auf ’ne bessere Party eingeladen worden, ruft sie jetzt von oben,
Komm rein, ich mach uns was zu trinken.
Sie verschwindet im Haus, lässt das Fenster offen stehen.
Die Haustür ist angelehnt, in der Küche läuft laut Musik.
Als ich näher komme, erkenne ich I’m like a bird von Nelly Furtado. Das Lied habe ich Jahre nicht mehr gehört, aber ich erinnere mich, dass Mama es früher immer lauter gedreht hat, wenn es im Radio lief, dass sie den kompletten Text mitsingen konnte.
Auf dem Esstisch stehen mehrere Flaschen billiger Alkohol, dazwischen zwei Gläser, für die ich inzwischen die Bezeichnung Champagner Coupe gelernt habe. Zumindest hat Anto behauptet, dass die so heißen, auch wenn ich insgeheim bezweifle, dass irgendjemand außer ihr die noch so nennt. Es klingt wie ein Wort, das sie sonntagabends im Heimatkanal aufgeschnappt hat.
Wir haben keine Champagner Coupes zu Hause. Wir haben alte Senfgläser mit lustigen Motiven drauf, und ich habe mir da lange keine Gedanken drüber gemacht. Wie unsere Einrichtung so wirkt, wenn man zum ersten Mal in unsere Wohnung kommt.
Viel zu schade zum Wegschmeißen, sagt Mama, wenn sie mal wieder die angetrockneten Reste aus einem Glas kratzt, das mit Balu dem Bären bedruckt ist oder mit der Schlumpf-Familie oder mit diesen Steinzeitmenschen, ich habe vergessen, wie die heißen.
Die Marmorplatte neben der Spüle klebt. Zitronenscheiben, eine offene Packung Zucker, die weißen Körner überall verteilt.
Es sieht aus, als hätte Anto schon vor einer Weile angefangen zu trinken.
Sie kommt in die Küche und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ihr Lipgloss riecht süßlich, hinterlässt einen klebrigen Film auf meiner Haut.
Bist du alleine?
Ja logisch, Mama ist doch auf Kur. Ach sorry, kannst du ja nicht wissen.
In ihrer Stimme ist kein Vorwurf zu erkennen. Sie hält einen Cocktailshaker in der Hand, die Eiswürfel darin klirren, und als sie meinen Blick bemerkt, grinst sie mich an:
Hab nen neuen Drink erfunden, musst mal sagen, wie du den findest!
Ich finde, dass der neue Drink scheiße schmeckt, nach purem Alkohol, und sie freut sich, als ich ihr das sage.
Vielleicht hättest du den Zucker nicht in der ganzen Küche verteilen sollen, sondern auch ein bisschen was davon ins Glas, oder?
Du kannst dir ja Saft nachschenken, sagt sie,
Hab vergessen, dass du so zartbesaitet bist.
Wie geht’s deinen Armen?
Anto sieht auf ihre Unterarme, als hätte sie vergessen, dass diese eben noch in ellbogenlangen Gipsen gesteckt haben, streckt sie mir dann entgegen,
Ich würd sagen, ganz gut. Die Platten kommen irgendwann noch raus, aber ich kann wieder alles machen.
Zum Beweis dreht sie die Handgelenke hin und her, und ich bemerke sofort zwei rosafarbene Narben, die vorher noch nicht da waren.
Du hättest dabei sein müssen, als die Gipse abgenommen wurden. War krass eklig, guck, wie dünn meine Arme jetzt sind. Das ist doch nicht normal.
Ich werfe einen kurzen Blick auf ihre weißen Handgelenke, zucke mit den Schultern.
Für mich sehen die aus wie immer.
Klar, Jara, danke.
Sie tut, als wäre sie beleidigt, aber ich sehe, dass sie ein Grinsen unterdrückt. Unvermittelt sieht sie mich an,
Gehen wir raus?
Jetzt sofort?
Mein Champagner Coupe ist noch fast voll, im Flur steht die Tasche mit den neuen Sachen, die ich ihr zeigen wollte.
3
Einmal, als ich nachts nicht schlafen kann, sehe ich einen Schwarz-Weiß-Film im Fernsehen[2]. Ich hätte mir diesen Film normalerweise nicht angeschaut, aber auf den anderen Kanälen läuft nur Teleshopping, auf einem Sportsender einer dieser Softpornos – eine Frau kniet auf einem Billardtisch und so weiter. Bei so was bin ich früher manchmal hängen geblieben, mit einem komischen Gefühl im Bauch, aber ich glaube, darüber bin ich hinweg.
Als ich schließlich bei dem Film lande, liegt da jedenfalls gerade eine Frau in einem seidig schimmernden Nachthemd auf einem Hotelbett, eine Zigarette in der Hand. Ihr Gesicht wird in der Nahaufnahme gezeigt.
Irgendwas ist mit ihrem Blick. Aus irgendeinem Grund schalte ich nicht weg, obwohl mich so auf alt gemachte Filme eigentlich echt nicht interessieren.
Als sie fertig geraucht hat, steht die Frau auf und öffnet das Fenster. Sie durchquert den Raum, hebt ein Kleidungsstück vom Boden auf. Dann verschwindet sie aus dem Bild. Die Kamera filmt das Bett, die sich im Luftzug bauschenden Vorhänge.
Die Frau kommt wieder. Sie trägt jetzt ein dunkles Kleid mit einer langen Knopfleiste auf der Vorderseite. Zündet sich eine neue Zigarette an, schließt mit einer Hand die letzten Knöpfe ihres Kleides.
Dann geht sie auf das geöffnete Fenster zu, klettert auf das Fensterbrett und springt.
Ich habe das absolut nicht kommen sehen.
Jetzt sei nicht so, Anto sitzt mit überkreuzten Beinen vor dem Spiegel in ihrem Zimmer, zieht immer wieder dieselbe Haarsträhne durch ein Glätteisen. Es riecht langsam verbrannt, und ich bin mir nicht sicher, wie das ist, wenn Haare Feuer fangen. Wie gut oder schlecht sich die löschen lassen.
Es ist komisch, dass Anto sich darüber scheinbar keine Gedanken macht, ich weiß, dass sie Angst vor Feuer hat.
Ich habe schon ein paarmal gesehen, wie sie ihren Aschenbecher abends mit Wasser oder abgestandener Cola übergossen hat, um eventuell noch glimmende Zigaretten zu ertränken. Auch dann, wenn wir an dem Tag überhaupt nicht geraucht hatten.
Unnötig eklig, habe ich gesagt, wenn sie Cola statt Wasser genommen hat, und
Im Magen vermischt sich das alles, hat sie jedes Mal geantwortet.
Ich muss so dringend raus hier, sagt sie jetzt,
Das kannst du dir nicht vorstellen.
Kann ich schon, sage ich,
Aber können wir nicht trotzdem noch ein bisschen hier chillen? Nur für ’ne Stunde oder so?
Nee, Jara, echt nicht. Sorry. Lass uns fertig machen und dann in der Stadt was trinken gehen, ja? Das ist doch auch chillen, nur halt woanders.
Ich ziehe die Schultern hoch,
Okay.
Ich habe sowieso keine Gegenargumente. Wenn Anto sagt, dass sie mal raus muss, nachdem sie wochenlang im Krankenhaus war – nachdem ich sie einfach stehen gelassen und mich nicht mehr bei ihr gemeldet habe –, dann kann ich wirklich nichts dagegen sagen.
Ich ziehe ein Top mit Glitzersteinen an, das ich schon tausendmal getragen habe, und ziehe es dann wieder aus. Probiere es mit einem Oberteil von Anto, das nur auf der linken Seite von einem breiten Träger gehalten wird, dann mit einem Bandeau-Top, einem engen Jeanskleid.
Am Ende entscheide ich mich für ein altes graues PUMA-T-Shirt, von dem ich weiß, dass sie es eigentlich nur zum Schlafen trägt. Es hat Löcher am Saum und ist vom vielen Waschen ausgeblichen.
Anto wirft mir einen fragenden Blick zu, sagt aber nichts.
Es ist eine unausgesprochene Regel, dass wir anziehen, worin wir uns wohlfühlen, und das nicht kommentieren, und Anto hat sie bisher nur ein einziges Mal gebrochen, als ich eine hellblaue Bluse von Marc O’Polo mitnehmen wollte.
Sorry, aber das geht zu weit, hat sie gesagt und mir den Kleiderbügel aus der Hand genommen,
Ich mag dich echt gerne, aber so will ich nicht mit dir gesehen werden.
Und auch heute weiß ich natürlich, dass sie eigentlich recht hat. Das PUMA-Shirt ist alt und hässlich. Es ist nicht das Richtige für diese Nacht, in der alles perfekt sein soll.
Anto steht auf und wühlt in ihrer Kommode, wirft dann ein Kleidungsstück hinter sich,
Probier das mal.
Ich halte es hoch. Es ist ein gerade geschnittenes Kleid aus einem dunkelblauen, schimmernden Stoff. Es ist ganz anders als die Sachen, die wir sonst tragen. Es ist wunderschön.
Ich ziehe das T-Shirt aus und streife mir das Kleid über den Kopf. Es ist kühl auf der Haut. Anto betrachtet mich prüfend,
Sieht gut aus.
Ich sehe zu, wie sie auf die Knie geht und die Baseballschläger unter ihrem Bett hervorholt.
Ich nehm’ meine Jacke mit, sagt sie,
Darunter können wir die erst mal verstecken. Solange wir hier in der Gegend sind.
Alles klar.
Solange die Nachbarn gucken.
Jaja.
Ich nehme einen der Schläger in die Hand. Es ist der dunkelblaue mit den Sternen auf dem Griff. Streiche mit dem Finger darüber. Die Sterne sind mit dicker Farbe aufgemalt. Selbst wenn ich die Augen schließe, kann ich genau sagen, wo sie sich befinden.
4
Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, hatte sie Sandalen an, obwohl wir zum Fußball verabredet waren. Niemand von uns hat sie vorher irgendwo gesehen, außer Ilya natürlich, der sie mitgebracht hat und sie die ganze Zeit verlegen von der Seite anguckt. Er trägt wieder das vollgeschwitzte Deutschlandtrikot. Ballack steht hintendrauf, ausgerechnet. Ich habe ihn in den letzten Wochen nie in einem anderen Oberteil gesehen, und er lässt keine Gelegenheit aus, uns zu erzählen, was wir alle lieber nicht so genau wissen wollen: Echte Trikots darf man nicht waschen, dann sehen sie auch nach Jahren noch aus wie neu.
Anto hingegen hat doppelte Ohrlöcher, kleine glitzernde Steinchen darin und abblätternden blauen Nagellack auf den Fingern. Trägt ein weißes T-Shirt mit Fransen am Saum und kurze dunkelblaue Jeans. Sieht aus wie eins von diesen Mädchen, mit denen ich mich niemals abgeben würde, wenn Ilya sie nicht angeschleppt hätte.
Anto, sagt sie und guckt in die Runde,
Und wer seid ihr?
Wir stehen vor ihr auf dem Ascheplatz, in unseren Shorts und Stutzen und Stollenschuhen, und ich bilde mir ein, dass sie mich länger ansieht als die Jungs. Ohne es zu wollen, weiche ich ihrem Blick aus. Irgendwas ist mit ihren Augen, irgendwas macht mich da nervös.
Anto darf ihr Team wählen, sagt Ilya,
Das ist fair, weil sie niemanden kennt.
Die anderen murmeln zustimmend, und ich schaffe es, ein neutrales Gesicht zu machen. An Sonntagen, an denen kein Spiel ist und wir uns ohne Vlado, unseren Trainer, zum Kicken treffen, streiten Ilya und Leo immer darum, wer von beiden mehr zu sagen hat, und manchmal mische ich mich ein, aber heute habe ich keine Lust, mich mit ihnen anzulegen.
Anto überlegt nicht lange.
Du da, sagt sie,
In dem blauen T-Shirt. Du spielst bei mir.
Ihr Tonfall ist schroff, fast unfreundlich, und ich sage nicht, dass das ein Trikot ist, ein Zidane-Trikot, ein gefälschtes Zidane-Trikot, wie Leo sofort bemerkt hat.
Ich sage nichts, nicke einfach und stelle mich neben sie. Blicke in die Gesichter der anderen. Keine falsche Dankbarkeit, nur weil sie mich als Erste genannt hat.
Nach mir wählt sie Ilya, weil er sie mitgebracht hat, dann Leo und scheinbar wahllos ein paar der anderen Jungs.
Ich spiel’ im Zentrum, erkläre ich und bin erleichtert, als mir niemand widerspricht.
Ich passe nach links zu Ilya und warte darauf, dass er den Ball zurückspielt. Weil er sonst immer den Ball zurückspielt. Weil wir das schon tausendmal so gemacht haben, das unsere Eröffnung ist, wenn wir in einem Team sind.
Aber Ilya, der in diesem Moment ein Verräter geworden ist, versucht, quer über das ganze Feld eine Flanke zu Anto zu schlagen, und natürlich fliegt der Ball meterweit an ihr vorbei ins Aus. Ich renne zu ihm,
Was war das denn?
Er tut, als könne er mich nicht hören. Läuft sich frei, guckt zu Anto rüber, die so unglaublich schlechten Fußball spielt, dass ich kurz denke, sie will uns verarschen. Als hätte sie noch nie einen Ball am Fuß gehabt, kein einziges Spiel im Fernsehen gesehen. Sie fordert den Ball, nur um ihn dann weit neben dem Tor im Gebüsch zu versenken. Stolpert beim Versuch, ihre Gegner auszudribbeln, über ihre eigenen Füße.
Aber obwohl sie so wahnsinnig schlecht ist, wirklich jeden Pass verhaut und immer sofort den Ball verliert, spielen die anderen ihr zu, wenn sie es verlangt. Sie bedienen sie, lassen sie das Spiel an die Wand fahren. Sehen ihr dabei zu und beschweren sich nicht. Ich schwitze. Ich bekomme schlechte Laune. Ich beginne, ihr die Pässe zu verweigern.
Wir stehen im Kreis und reden nicht über das Spiel. Eine Eisteepackung geht rum, und Leo fällt nichts Besseres ein, als mit dem Ball auf eine Krähe zu zielen.
Wetten, die treff’ ich, sagt er und bringt sich in Position.
Die Krähe hockt etwa zwanzig Meter entfernt an der Außenlinie, bei den Pfützen, die nie verschwinden, auch dann nicht, wenn tagelang die Sonne scheint.
Leo setzt zum Schuss an und ist sich genauso sicher wie wir, dass er nicht treffen wird. Aber die Krähe, den Kopf in unsere Richtung gewandt, fliegt nicht weg. Und Leo trifft.
Ich bin die Erste, die sich in Bewegung setzt, oder zumindest die Erste, die den Rand des Spielfelds erreicht.
Die lebt noch, sage ich, nachdem ich nah rangegangen bin.
Die leidet.
Leo sagt nichts. Seine Unterlippe zittert.
Die leidet, wiederhole ich.
Anto sieht Leo an.
Ich mach das, sagt sie, rennt an den Tribünen entlang und verschwindet im Gebüsch.
Als sie zurückkommt, hält sie einen faustgroßen Stein in der Hand. Sie geht in die Knie.
Wird alles gut, sagt sie zur Krähe,
Musst keine Angst mehr haben.
Kurz streicht sie ihr über den Flügel, dann schlägt sie in einer einzigen schnellen Bewegung zu.
Ist okay, sagt sie danach zu Leo, der sie mit großen Augen ansieht,
Ist kein Ding.
Sie wischt sich die Hände an der Hose ab, hebt, was von der Krähe noch übrig ist, vorsichtig hoch und trägt sie zu einem Baum.
Ich hoffe nur, du bist da oben schneller unterwegs als hier, sagt sie, laut genug, dass wir sie hören können, und dreht sich zu uns um:
Steht nicht so blöd rum, begrabt sie halt.
5
Auf einer Seite im Internet werden Menschen aufgelistet, die eines Tages für immer verschwunden sind. Menschen, von denen bis heute keine Überreste gefunden wurden und die laut Eintrag als enzyklopädisch relevant gelten.
Was genau macht einen Menschen zu einer enzyklopädisch relevanten Person? Berühmte Eltern? Geld? Ein besonderes Talent? Wer entscheidet das?
Die Liste wird laufend ergänzt. Ein Großteil der Vermissten ist bei irgendeinem Extremsport in den Bergen oder auf offenem Meer verunglückt. Bei ein paar wenigen Personen heißt es, sie seien möglicherweise freiwillig untergetaucht, um an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen.
Ich wüsste gerne, was Anto an meiner Stelle machen würde.
Ob sie schon längst den Notdienst gerufen hätte, wenn ich gerade in die Ruhr gesprungen wäre. Ich würde behaupten, eher nicht. Wahrscheinlich übertreibe ich gerade komplett, schätze die Situation mal wieder vollkommen falsch ein.
Hat sie eine Sekunde darüber nachgedacht, in was für eine beschissene Lage sie mich bringt?
Wenn ich jetzt den Notdienst rufe, dann kommt auch die Polizei, das ist immer so. Jedes Mal, wenn ein Krankenwagen über rote Ampeln rast, mit Blaulicht und allem, kommt kurz danach ein Polizeiwagen hinterher. Ich habe das beobachtet, und es ist wirklich das Letzte, was wir jetzt brauchen.
Ein paar Typen in Uniform, die, wo sie schon einmal hier sind, unsere Daten erfassen wollen.
Unsere Personalausweise ganz genau studieren, mit ihren Taschenlampen draufleuchten, als gäbe es eine geheime Botschaft zu entschlüsseln. Wissen wollen, was wir hier machen, mitten in der Nacht, auf dieser Brücke.
Wahrscheinlich erklären sie uns noch, das sei nicht legal, die Brücke zu alt, zu gefährlich, etwas in der Art. Wollen uns nach Hause bringen und unsere Eltern informieren.
Dabei sind wir nicht zum ersten Mal hier, und ich schwöre:
Die Brücke ist sicherer als die meisten anderen Orte in der Stadt. Solange man nicht vorhat, hier hinunterzuspringen.
Wenn ich jetzt den Notdienst rufe, dann steht Anto, kurz nachdem ich aufgelegt habe, plötzlich wieder da. Sie wirft mir genervte Blicke zu.
Ohne dich wären wir jetzt nicht in dieser Situation, sagen die Blicke. Was rufst du auch die Polizei, sagen die Blicke, und ich werde innerlich nervös, weil ich es nicht ertrage, wenn sie mich so anguckt. Als hätte ich in ihren Augen komplett versagt, aber als hätte sie eigentlich auch nicht wirklich etwas anderes erwartet.
Ich weiß, ich sehe älter aus, sagt sie vielleicht zu dem Polizisten, der ihren Ausweis in der Hand hält, und schenkt ihm ein strahlendes Lächeln. Kein Anflug von Verunsicherung ist darin zu erkennen, obwohl genau in diesem Moment der andere Polizist unten am Ufer den Baseballschläger aus dem Wasser zieht. Er trägt schwarze Plastikhandschuhe, was leider darauf hindeutet, dass er den Schläger verdächtig findet. Dass er keine Spuren verwischen will.
Was könnt ihr mir denn hierzu sagen?, fragt er, als er wieder neben uns steht, und hält den Schläger hoch,
Ist der von euch?
Nee, sagt Anto,
Also echt jetzt, sehen wir aus, als hätten wir gerade Baseball gespielt? Wir haben nur hier gechillt, das ist alles. Ich bin reingefallen, blöd genug, und jetzt würde ich mich langsam gerne mal umziehen. Aus den nassen Sachen raus, verstehen Sie?
Die Polizisten, es sind beides Männer, werfen sich Blicke zu, und ich glaube, so etwas wie Überforderung darin erkennen zu können.
Na gut, sagt der eine schließlich,
Wenn die vom Notdienst nichts dagegen haben, dann könnt ihr jetzt gehen. Aber sieh zu, dass so was nicht noch mal passiert, wir haben wirklich Besseres zu tun, als angetrunkene Jugendliche aus dem Wasser zu ziehen.
Schon klar.
Er duzt Anto, seit er gesehen hat, dass sie nicht volljährig ist, und ich weiß, auch ohne sie anzusehen, dass ihr das nicht passt.
So oder so ähnlich wird es laufen, wenn ich jetzt den Krankenwagen rufe, und beinahe geht alles gut, aber dann, als sie schon wieder dabei sind aufzubrechen, bemerkt eine Sanitäterin die Schnitte an Antos Hand, die aussehen, als hätte sie in einen Berg voll Scherben gefasst.
6
Wir nehmen nichts mit, ruft sie mir über das Dach eines dunkelblauen