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In der Anthologie Wenn Worte blühen legen etablierte ebenso wie von der literarisch interessierten Öffentlichkeit noch zu entdeckende Autoren Zeugnis von ihrem schriftstellerischen Können ab. Sie stellen neue Texte vor, präsentieren aber auch Werke, die bislang in der Schreibtischschublade schlummerten. Dieser bunte Strauß literarischer Novitäten feiert die Sprachkunst in ihrer ganzen stilistischen Vielfalt, von der prägnanten lyrischen Beobachtung bis zur umfassenden Erzählung, von Werken, die den Idealen der "klassischen Schule" folgen, bis zu experimentellen Formen. Der Empfindungs- und Gedankenreichtum der Beiträge macht diese Frühjahrs-Edition zu einem Dokument der Fülle und Bandbreite zeitgenössischer Literatur - und zu einem Fest für Leserinnen und Leser, deren Sinne für den Reiz und die Schönheit des meisterhaften Umgangs mit Worten sie ansprechen will. Erleben Sie also eine vielschichtige Palette literarischer Genüsse, die in wahrer Wortblütenpracht erstrahlt.
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Seitenzahl: 164
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Was die geneigten Leser vorab wissen sollten:
Wir geben unseren Autoren die Freiheit, selbst über den Gebrauch von alter, neuer oder Schweizer Rechtschreibung zu entscheiden, daher variiert auch die Schreibweise in dieser Anthologie.
Vorwort der Herausgeberin
ANONYMA
Gräfin Monte Cristo oder: Mein Auftritt als Rachegöttin
CHRISTIAN BARSCH
HEXE KRET
CARL-WALTER BAUER
Wolkenbruch
Kismet
Abhängigkeit
Beziehung
Unverbindlich
Definition G
Narr
Punkte
Sand
Schlaf
Abschied
Ich
Definition L
Kaputt
Schreiben
Plato
Wegwerfeinmallyrik
Leben
Gewinn
Lesen
Gedanken
Frage
Selbstmord
Sommer
Berufsrisiko
Umsonst
Prophezeiung
DIETHELM MAX BUBBEL
GELENKT! VON WEM, WODURCH?
MANFRED ELSÄSSER
Die Kirche
Christliches Leben
Das große Angebot
Urlaubsfreude
Zwei alte Leute (C. u. M.)
Dem deutschen Spießer ins Stammbuch
Im Bayerischen Wald
Egon
Der rechte Glaube eines wahren Christen
REGINA FRANZISKA FISCHER
Schmetterlinge dieser Welt
AUTUMN C. FLOWERS
Die Beichte
THOMAS HELMER
Corona – gesellschaftliche Zeitenwende
Frustikus
HANSJÖRG KUPPARDT
Frühling
HERBERT KUPSCH
Heimliche Liebe
UTE MAGGAUER
Rauschen im Wind
Sehnsucht – Gedanken – Ehrlichkeit – Liebe
Lächeln
Nichts
Lebenslügen … oder …?
Advents-Gedanken und -Erinnungen
JOANNA MASSELI
Rosengarten auf dem Kopf
GÜNTHER MELCHERT
Das Mädchen Luna und deren Reittiere
Frau Amt von einer Behörde surft im Internet – bezüglich eines Herrn mit dem seltsamen Zunamen Unbe-Kant
Mitteilungen aus einer Seniorenresidenz
Mütterliche Fußangeln für ihren kleinen Jungen
WIEDERAUFERSTEHUNG EINER FRIEDENSTAUBE
MARTA PECK
Wind
Ferne
Diese Sucht
Die Zeit
Der Krieg
Die Fragen an die Liebe
MARIA QUINIUS
Träume schön!
MONIKA RANKERS
Nebeneinandersitzen
ADELHEID SCHMIDT
Das Glück des Menschen
Zeit des Lebens
Verantwortung des Menschen
Klugheit heute
Schritte
HARTMUT SCHUSTEREIT
Ein folgenreicher Törn
Die Falle
ROSWITHA CHARLOTTE SCHWENK
Rekordverdächtig
Eichhörnchen
TINE STUPP
Wir haben es in der Hand
Wahrheit
ROLAND WATZKE
Kindermund I
Kindermund II
Gedichte
Wie duftet das Leben!
Berührungen
Die Brücke
Messolongi (Missilunghi) – Mariopol
INNA ZAGRAJEWSKI
Wenn die Worte blühen
Autorenspiegel
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
das Leben auf unserer geplagten Erde hat eine so rasante Entwicklung aufgenommen und zeigt sich uns so voller Gegensätze, dass es nicht verwundert, wenn auch unsere Beiträge diese Gegensätze in ihrer Vielfalt widerspiegeln. Da kommen wir nicht umhin, von Jahr zu Jahr neue Überlegungen anzustellen, wie wir unser Leben zum Besseren verändern können, um endlich friedlich und freudvoller durch das Leben gehen zu können.
Wir wissen nicht, was noch alles von uns abverlangt wird und ob wir geneigt sein werden, allen Anforderungen gerecht zu werden. Bekanntlich ist ja der Weg das Ziel, und deshalb wird es wichtig sein, welchen Weg wir beschreiten, damit wir überhaupt an das gewünschte Ziel gelangen.
Erst die Vielfalt an Gedanken beleuchtet unser Leben von allen Seiten, denn wir können nicht immer nur eine Seite sehen, sonst werden wir einseitig kopflastig. Ob kurz oder lang, ob zahm oder wüst, ob schön oder haarsträubend, so sind nun einmal die Erfahrungen von uns allen, die hier aufs Papier gebracht wurden.
Eines steht doch fest, die Aufgaben in unserem jetzigen Jahrhundert sind so einmalig in der Geschichte, dass auch wir Menschen uns dieser Einmaligkeit bewusst werden, indem wir uns intelligent und liebevoll aus dem Herzen heraus zeigen, was in uns steckt. Nehmen wir die Herausforderung an. Es gibt keine Alternative.
Deshalb liebe Leserinnen und Leser, suchen Sie sich ein ruhiges Plätzchen, entdecken Sie die Vielfalt unserer Beiträge, die Sie wünschenswerterweise zum Nachdenken anregen.
In Liebe
Tine Stupp
Ich bin ein guter Mensch. Ehrlich. Solange man mich nicht für dumm verkauft oder nach Strich und Faden verarscht, würde ich mich als guten Menschen bezeichnen. Es braucht viel, um meine inneren Erinnyen zu entfesseln. Einer, des es geschafft hat, war mein Online-Date Peter. Peter war Arzt und via Internet in der heißen Phase seiner Scheidung auf der Suche nach einer Frau, mit der er Gespräche führen, spazieren gehen und Salsa tanzen konnte, so stand es zumindest in seinem Profil.
Da wir auf den ersten Blick viel gemeinsam hatten, verabredeten wir uns nach einigen Chats zum gemeinsamen Spaziergang. Ich war hin und weg. Er war zwar kein Bild von einem Mann, mehr so etwas wie ein sehr stabiler Bilderrahmen, gleich breit wie hoch, mit dem Nacken eines brunftigen Stiers und der üppigen Haarpracht eines tibetischen Mönchs, aber wer war ich schon, dass ich auf Äußerlichkeiten achtete? Peter war abgesehen davon genau das, was mir als Lebenspartner so vorschwebte.
Es stimmte schon, die Liebe macht nicht nur blind, sondern vor allem blöd. Von Peter hörte ich nämlich nach diesem unserem ersten und einzigen Treffen nichts mehr, außer ein paar Zeilen zum Thema „Warum ich mich eigentlich doch noch nicht mit einer neuen Frau treffen kann“. Er fuhr die „Ich-bin-noch-nicht-so-weit“-Schiene, und ich dumme Nuss glaubte ihm natürlich.
Aber der Zweifel nagte an mir. Und auch mein Bauchgefühl suggerierte mir, dass es sich lohnen würde, hier nachzuhaken. Ich organisierte mir einen zweiten Account für die Singlebörse und mailte ihn ganz gezielt an, mit dem Argument, sein Nickname hätte mich spontan angesprochen. Um dem Ganzen ein wenig Pep zu verleihen, wurde ich zur rassigen Italienerin mit deutschen Wurzeln, die zwar unglaublich viele Tipp- und Rechtschreibfehler produzierte, aber dafür auch nicht schüchtern war. Es schmerzte mich, dass er auf ein baldiges Treffen drängte, da er hier auf dieser Plattform bislang nur „herbe Enttäuschungen“ erlebt hatte. Die herbe Enttäuschung war wohl ich.
Vermutlich wollte ich ihn bis zu diesem Zeitpunkt nur testen, ob er wirklich noch nicht so weit war, sich mit Frauen zu verabreden, aber eigentlich kannte ich die Antwort bereits ab dem Moment, wo er meinem Alter Ego in Echtzeit antwortete. Ein Plan begann in mir zu reifen. Nicht umsonst hatte ich meine Diplomarbeit zum Thema „Rache“ verfasst, ich konnte hier also aus dem Vollen schöpfen, und zum ersten Mal in meinem Leben tat ich dies auch. Ich stellte mir den personifizierten Männertraum vor: lasziv und willig, zu allem bereit – und Sex am liebsten noch vor dem ersten Treffen war Un-Ehrensache. Auf seinen Vorschlag, doch am nächsten Tag etwas trinken zu gehen, willigte ich ein, allerdings mit dem Nachsatz: „Wir können danach ja noch zu mir gehen. Oder ist dir das zu direkt?“ Nun, was soll ich sagen, die Begeisterung am anderen Ende der Leitung hätte größer nicht sein können, und vermutlich stand nicht nur die Leitung.
Mein „Nome de Guerre“ war übrigens Stella, und Stella war ein heißer Feger. Die leidige Frage nach einem Foto löste Google für mich, und zwar zu meiner allergrößten Zufriedenheit. Schon erstaunlich, was so alles daherkam, wenn man nach Bildern zum Keyword „have fun“ suchte. Ich wusste sofort, wer Stella sein sollte. Ich fand sie auf dem Schnappschuss einer Privatparty (hallo Authentizität!), und sie war perfekt für meine Zwecke, fast zu gut, um echt zu sein (hallo Ironie!). Das Bild zeigte eine knackige Brünette, die in bauchfreiem Glitzertop und tiefsitzenden Jeans vor einer gut bestückten Bar ihren ebensolchen Body gekonnt in Pose setzte. Zur Krönung hielt sie dem Fotografen noch fröhlich beide bösen Finger in die Kamera. Auch ihr Gesichtsausdruck sprach Bände und ließ keinen noch so unvoreingenommenen Beobachter darüber im Unklaren, dass sie nicht vorhatte, diese Party allein zu verlassen.
Peters Kommentar auf „mein“ Foto war: „Na, du scheinst ja gut drauf zu sein.“ Endlich kannte ich die männliche Definition für gute Laune! Aber von da an wurde es heikel. Wie sollte ich ihn auflaufen lassen? Schließlich verabredeten wir uns im städtischen Park, am Eingang zum Pavilloncafé, wo es gleich im Auto zur Sache gehen sollte. Da Stella eindeutig dominante Tendenzen aufwies, musste Peter hoch und heilig (na ja, das sagte man ja wohl so) versprechen, er würde nackt im Auto auf seine Gebieterin warten. Bei Missachtung dieser wichtigen Regel würde Stella auf der Stelle kehrtmachen und das heiße Date platzen lassen, bevor es überhaupt hatte stattfinden können. Erwähnte ich schon, dass ich Peter im Winter kennenlernte? Ein sehr kalter Winter – und die Wetterfrösche prognostizierten für die kommende Nacht sternenklaren Himmel, was der ganzen Situation eine gewisse Doppeldeutigkeit, aber auch zusätzliche Härte verlieh. Aber Peter konnte es ja laut eigenen Angaben ohnehin nicht hart genug sein.
Am nächsten Tag saß ich pünktlich zur verabredeten Uhrzeit daheim vor meinem Kachelofen und schlürfte genüsslich ein Glas Rotwein. Ich hatte mir kurz überlegt, mir die Show vor Ort anzusehen, aber die eisige Kälte siegte über meine Neugier. Außerdem war mir die Gefahr, gesehen zu werden, doch zu groß. Ungefähr zur selben Zeit informierte meine beste Freundin Eve vom anderen Ende der Stadt aus die zuständige Polizeidienststelle, dass an besagter Ecke des Stadtparks ein nackter Mann in einem Auto sitzen und offensichtlich äußerst aufmerksam die Passanten taxieren würde. Ja, gute Freunde waren schwer zu finden!
Ich wartete am nächsten Tag noch das beleidigte „Ich war da und wo warst du“-Mail ab, inklusive einer äußerst amüsanten Schilderung seiner Begegnung mit der Polizei, um sicherzugehen, dass die sorgsam ausgelegte Falle auch zugeschnappt war. Danach löschte ich Stellas Profil und verlieh ihr so auf immer den Zauber des Geheimnisvollen. Ich fand, das war ich ihr schuldig. Solidarität unter Frauen genießt nicht umsonst einen gewissen Ruf. Meiner blieb indes unangetastet, und wie ich mittlerweile weiß, war diese Weitsicht in einer Kleinstadt wie der meinen auch äußerst ratsam und klug.
75. REKONSTRUKTION
Wie in dunkle Glockenwölbung
zart graviert mit feinem Stichel,
prangt an hoher Himmelskuppel
schönen Mondes schmale Sichel.
Bald dem Bett des Müden naht sich
Schlaf, trägt wunderweiche Schuhe,
streicht sacht über Stirn und Lider,
entnimmt Sand winziger Truhe.
Tief in bodenloses Jenseits
sinken Sorgen, Leiden, Kummer;
frisch lädt alle Batterien
nötig-segensreicher Schlummer.
Läßt recht mitleidvoll vergessen
Kreises Fratzen, die wüst narrten,
und am Folgemorgen wird dann
der Motor kräftiger starten.
Manchmal gar versüßt die Ruhe
Reigenkranz huschbunter Träume:
Unsrem Magus träumte, er sei
im vertrauten Kindheitsheime.
Säße mit dem kleinen Bruder
auf den Knien innig ge-
liebten weise-guten Vaters,
wäre Bärchen, Sim mit B.
Jagte, wohl behütet, nicht mehr
mit im Hast-Kampf-Krampfgetümmel,
schlösse alle Sorgen hinter
dunklen, modgeschmückten Himmel.
P(ost) S(omnium): Weil uns Erfahrung traf,
versichern wir dazu als Hexograph:
Was immer auch für Traumbilder wir malen,
stets triumphiert das Großreich des Realen.
76.
„Der, der Hexeverschen macht,
läßt ein Thema außer acht“,
übt voll Hohn Kritik
gieriger, jedoch ent-
täuschter Späherblick.
Wir verachten Prüderie,
mochten andererseits nie
Tändelei und Spiel
mit an sich so ernsten
Dingen. Nur soviel:
Fortlaufmann und Madam Vielheit –
welch bemerkenswertes Pärchen.
Er schenkt nichts, was ihr nützt,
sie weiß nichts, was ihn dämpft –
hält die Ehe noch viel Jährchen?
Sonst zwickt Fräulein Atropos mit
ihrem scharf geschliffnen Scherchen,
schnippschnapp, ein, womöglich
beide Lebensbändchen
durch – solch Ende wär kein Märchen.
77.
Es trifft sich mit Simsalabim auch
gewisse vornehme Gesellschaft
zu seltner Vorführung, die er nur
so inszeniert. Denn wunderquellhaft
bringt er Gewesenes herauf
in Farbe, plastisch, sehr phantastisch,
lautklar, mitunter leicht bombastisch.
Krieg steht bevor. Es kommen und versammeln
und lagern sich zu Sunem die Philister.
Und König Saul versammelt Israel
zu Gilboa. Im Herzen Furchtgeflüster
drängte ihn, den HErrn um Rat zu fragen; aber
der HErr antwortet ihm weder durch Träume,
noch durch Propheten, noch durch Licht. Saul fragt,
hoffend, daß er früher Zerschlagnes leime
(er hatte alle Wahrsager und Zeichen-
deuter Landes verwiesen), seine Knechte
nach einem Weib mit Wahrsaggeist; sie sagen,
ein Weib zu Endor sei dieszwecks die Rechte.
Verkleidet, nachts, mit noch zwei andern kommt er
zu ihr, bittet, jemanden zu beschwören.
Sie spricht, er kenne doch Königs Edikt,
wolle er ihre Seele ins Netz stören?
Saul aber schwört ihr bei dem HErrn, es solle
ihr dieses nicht zur Missetat geraten.
Und sie bringt Samuel herauf, einstigen
Richter, schreckerkennt Saul, den Renegaten.
Und der verneigt sich vor dem Alten, hörend,
er habe ihn unruhig gemacht; es werde
der HErr für Ungehorsam ihn hart strafen,
von seiner Hand reißen des Reiches Erde,
um David, seinem Nächsten, es zu geben,
ihn, Saul, und Israels gesamte Menge
in der Philister Hände fallen lassen.
Kraftlos schlägt nieder Saul in ganzer Länge.
Die gute Endorhexe schlachtet, arg ge-
troffenen Zunftfeind wieder zu ermannen,
ein Kalb, bäckt ungesäuertes Brot. Sie essen
und stehen auf und gehn die Nacht von dannen.
Israels Männer aber werden auf dem
Gebirge Gilboa von den Philistern
erschlagen samt den Söhnen Sauls. Und Saul
stürzt sich ins Schwert. Soviel. Genug des Düstern.
(1. Sam. 28,4-25)
Über den Köpfen Fragezeichen,
erhebt sich blinzelnd, augenreibend
die vornehme Gesellschaft. Sonne,
Kringel auf weiße Spukwand schreibend,
beguckt stumme Befangenheit –
daß Schwärze man des Sinns ausmerze,
macht eifrig man einige Scherze.
78. HEXENOSTERN
Vorbei an in gepflegten Gärtchen
orange blühnder Brunnenkresse
lenkt Kret die Schritte wie schon öfter
zum Vorstadtpark mit viel Interesse.
Den schönen Laubbäumen, Gebüschen
– Abglanz von echtem Waldgetriebe,
künstlich gruppiert, gepflegt – galt schon vor
sehr langen Zeiten ihre Liebe.
Sie schnüffelt: humus-, laubverborgen
wohl fünf-, zehn-, fünfzehn-, ja gar dreißig-,
gar fünfzig- (waren doch versteckend
Kolleginnen wieder recht fleißig)
mit Phallus impudicus L. ex Pers.
Es riecht nicht gut,
Riecher braucht Mut.
Aus kleinen weißen Eiern – mögen
sie Hexen- oder Teufels- heißen –
regt es sich wunderlich, unglaublich
schnell, wenn die Eihäutchen aufreißen:
Ein Stiel wächst (bis zu zwanzig Zenti-
metern) hoch, trägt als Dach ein Käppchen,
wabenartig gekammert, haltend
den grünen Sporenschleim. In Häppchen
wird er von mancherlei Insekten
verspeist; dankbar treiben die Sporen-
verbreitung (leeres Hütchen hat den
falschen Namen „Morchel“ geboren)
von Phallus impudicus L. ex Pers.
Stiel straff noch steht,
wird schlaff, vergeht.
So macht euch baldigst auf, ihr Kenner,
Verehrer von Delikatessen:
Wer Rettich mag und ihn entbehrt, darf
die kleinen weißen Wunder essen.
Und Kret, mildschönes Panorama
genießend, muß noch manchmal schnüffeln –
das schreibt sich wahrlich ins Geruchsbuch
mit sozusagen ehernen Griffeln.
„Nun will ich wieder stadtwärts wandern.
Seltnes Erlebnis bleibt, und so gern
hat niemand euren Duft, ihr Racker“,
sagt Kret, „lebt wohl, und frohe Ostern.“
Mit Phallus impudicus L. ex Pers.
schufen die Hex
Spezialgewächs.
– Vier vorangegangenen Stücken folgen vier weitere –
79.
Magus Sim ist heut vergnügt,
und sein Frohsinn ist begründet:
Wo Fortunas Kugel mündet,
der ists, dem sie Sträuße bindet
(wenn er längst Gesuchtes findet,
wenn sich ihm sonst Sprödes fügt).
Also Sim ist heut vergnügt,
denn er hat vor kurzen Stunden
mühelos ein (es folgt unten)
Magisches Quadrat gefunden
(Zauberformel für die Kunden),
wieder hat der Geist gesiegt.
Schöpferstolz läßt keine Ruh
(Herz, verbärgst du doch Ekstase),
er zeigts Kret, der lieben Base:
„Guck, was sagst nun du dazu?“
Kret schaut ziemlich flüchtig hin,
meint: „Solch Knobel-Spielerei
ließ mich immer kühl – verzeih.
Bist ja wie die Dobbertin.“
Aber Vetter Sim beteuert:
„Manche langen Theorien
sind nicht wichtiger; doch sie ziehn
an, weil man sie klug verschleiert.“
Und er streichelt desolat
sein so magisches Quadrat.
80.
Vielleicht ist das schier endlose Viel-Leben
kurz wie das Leben einer Eintagsfliege,
mißt man per Zollstock Relativität. (Von
Alpha bis Omega ein Schwung der Wiege?)
Daß Kreissein Zeit ist, scheint ein fabelhafter
Gedanke (niemals Stillstand, ewig Fließen);
die Relativität vielknapper Dauer
kann den Viel-Wandel nun noch mehr ver…süßen.
(Auch Zauberer Simsalabim
ruft: „Ach, das ist zu schlimm, zu schlimm!“)
Vielleicht hebt myriadenmeilenhoher
Gigant seit tausend Jahren schon die Faust,
die riesige. Ihm sinds Sekunden; Vielen
dauerts noch lange, bis sie niedersaust.
Und dieser Riesen-Riesenfaustschlag macht
Millionen Lichtstraßen zur Trümmernacht,
wenn Hohlkugel auf einmal er zerkracht –
hast du dergleichen, Viel, niemals gedacht?
Vielleicht ist Viel-Sein nur eine Verwicklung
der schlechthin existierenden Materie;
Viel sieht Zerstückelung gern als Fortentwicklung,
was aber lehrt das Jetzt? Was das Bisherige?
(So grausam darf Kreis-Sein nicht sein –
spielt nicht ein Plan doch mit hinein?)
81.
Stets hängt Trefferansage beim Lotto
„Für die Richtigkeit aller Angaben
übernehmen wir keine Gewähr“
schwänzchenhaft dran. Wär dies nicht als Motto
gut für vieles, das in Fragewaben
einfliegt (oft statt Wahrheit Honigmär)?
Wetterbericht stimmt sehr ungefähr
manchmal – ihm stünd gut: „Ohne Gewähr“.
Schlaues Buch behauptet, es erklär
alles – Nachsatz fehlt: „Ohne Gewähr“.
Prophetie ist heute populär –
hängt Appendix dran: „Ohne Gewähr“.
Manches schreibt ein Narr, ein größerer
glaubts, Drittmeinungen bleiben konträr –
„Für die Richtigkeit aller Angaben
übernehme ich keine Gewähr“
raubte der Kritik viele Handhaben,
gleichzeitig gäb man sich so mehr Air.
(Einer, der das völlig impulsiv
immer tut, ist Dr. Konjunktiv.)
82.
Mr. Damnum N. Temporis
in einem Buick Riviera
saust, den Zeitgewinn jagend,
durch die technische Ära.
Chrono- und Tachometer,
Stimmführer vom -meterchor,
schwingen die Zeiger hinter
traumhaft stark-schnellem Motor.
Manchmal klappern im Handschuhfach
Ärger, Sorgen und Leiden;
gern hätte er sie vergessen –
Mitfahrt war nicht zu vermeiden.
Mr. Damnum N. Temporis
jagt die Zeit, die flüchtige:
Staunen und Neid sät und erntet
dieser Glückliche, Tüchtige.
(Die, die in falsch Sehnsucht sich zerplundern,
würden sich über die Wahrheit wundern.)
Tag und Nacht – ists Hexenbann? –
sieht man ihn am Steuer liegen;
fraglos, weiß manch Klügelmann,
muß der Meister siegen.
(Hexe Kret hat seiner oft gedacht –
bastelklugwärts hat sie keine Macht.
Nein: Daß du stets mehr klügelverqueckst,
wie du dich auch immer reckst und streckst,
Kreis, zeigt klar, du bist grundtief verhext.)
Mr. Temporis jagt. Jagt
mit fast ungebrochner Frische
Zeit, die gern an Kreisen nagt –
ob sie ob der Jagd wohl klagt,
die kaum Grüblerische?
Wenn der Himmel auf die Erde zufließt
Und sich der Boden nicht wehren kann
Weil der Mensch die Natur zivilisiert
Dann ist die unbürokratische Hilfe der Regierung
Ein Akt aus dem Gehirn eines Barbaren.
Das Jetzt ist zu kurz
Um es leben zu können
Das Gestern ist zu lang
Um es vergessen zu können
Das Morgen ist zu weit
Um es nehmen zu können.
Ich kann mir nur dann in die Augen schauen
Wenn mich ein anderer dabei beobachtet.
Du dehnst dich aus
Tauchst in die Höhen deiner Gefühle
Lichtest den Anker
Des Segelschulschiffes „Ratio“
Holst dir das Leben
Als Lotsen an Bord
Packst Wünsche
Bedürfnisse
Ansprüche
In deine Kajüte
Füllst die Wasserfässer
Mit schwereloser Zärtlichkeit
Nimmst Kurs auf den weißen Strand
Deiner Aus-Sich-Dehn-Sehn-Sucht
Hörst die Wellen
Schaumgekrönter Sinnlichlichkeiten
Verscheuchst die Sturmwarnungen
Deiner Empfindlichkeiten
Eimerst die Brecher
Unbeabsichtigten Seegangs
In das ängstlich brodelnde Meer
Zurück
Wirfst deine Seele
Mit einem Rettungsring
Über Bord
Steuerst den Hafen
Deiner gemachten Erfahrungen
An
Schmeckst den Klabautermann
Deiner Enttäuschungen
Wie Salzwasser
Labst dich an der Gesetzmäßigkeit
Von Ebbe und Flut
Fischst deine Seele
Wieder auf
Und registrierst
Mit einem Lächeln
Dass der Steuermann
Sein Kapitänspatent
Einmal wieder
Auf deine Kosten machen wollte.
Ich pudere meine Einsamkeit wie eine Perücke
Die ich überstreife
Wenn ich verbindlich sein will
Ohne mich zu binden.
Der Gedanke
Ist die grausamste Form
Wahrheiten in Lügen zu taufen.
Ich bin ein Narr in meinen Augen
Weil ich nicht sehen will
Was wirklich ist
Ich bin ein Narr in deinen Augen
Weil du für mich
Ein Stück des Lebens bist
Ich bin ein Narr
Und mache mir was vor
Weil ich am Hörensagen
Schärfe mir mein Ohr
Ich bin ein Narr
Ein blinder Passagier in deinem Herzen
Wenn ich dein Narr bin
Möcht ich gern es sein
Ich bin für mich nur Narr
Und Schatten