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Atmosphärische Hochspannung vom Bestsellerautor der Winter-und-Parkov-Thriller: ein heißer Sommer auf dem Land, eine alte Sage, eine Leiche im Roggen. Der dreizehnjährige Max wird seit Tagen vermisst. Eines Abends taucht er teerverschmiert und ohne jede Erinnerung am Rand eines Roggenfeldes auf. Er scheint verändert und verwirrt. Als kurz darauf eine weitere Jugendliche entführt und ihre Mutter ermordet wird, steht die junge und entschlossene Kriminalkommissarin Ella Berger unter Hochdruck. Man erzählt sich, dass die Roggenmuhme aus der uralten Sage wieder umgehe, die Kinder stehle und als Wechselbälger zurückbringe. Die Bewohner des brandenburgischen Dorfes scheinen mehr zu wissen, als sie preisgeben. Es gibt nur einen Weg, das Mädchen zu retten und weitere Morde zu verhindern: Berger und die hinzugezogene LKA–Profilerin Aya Nakamura müssen das tödliche Geheimnis der Sage entlarven. Der packende Auftakt einer Serie mit zwei starken Ermittlerinnen: Berger nutzt ihr Einfühlungsvermögen, Nakamura hat als Profilerin ihre ganz eigenen Methoden. Martin Krüger hat mit der Bestsellerserie mit BKA-Ermittler Parkov und Hauptkommissarin Marie Winter bereits hunderttausende Leser:innen begeistert.
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Seitenzahl: 392
Martin Krüger
Thriller
Pass auf, dass dich die Roggenmuhme nicht holt.
Der dreizehnjährige Max wird seit Tagen vermisst. Eines Abends taucht er teerverschmiert und ohne jede Erinnerung am Rand eines Roggenfeldes auf. Er scheint verändert und verwirrt. Als kurz darauf eine weitere Jugendliche entführt und ihre Mutter ermordet wird, steht die junge Kriminalkommissarin Ella Berger unter Hochdruck. Man erzählt sich, dass die Roggenmuhme aus der uralten Sage umgehe, die Kinder stehle und als Wechselbälger zurückbringe. Die Bewohner des brandenburgischen Dorfes scheinen mehr zu wissen, als sie preisgeben. Es gibt nur einen Weg, das Mädchen zu retten und weitere Morde zu verhindern: Berger und die hinzugezogene LKA–Profilerin Aya Nakamura müssen das tödliche Geheimnis der Sage entlarven.
Ein heißer Sommer auf dem Land, eine alte Sage, eine Leiche im Roggen: Hochspannung von Erfolgsautor Martin Krüger.
Martin Krüger, Jahrgang 1986, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Seine Thrillerserie um Hauptkommissarin Winter und BKA-Kommissar Parkov steigt regelmäßig in die Top 10 der Kindle- und der BILD-Bestseller-Liste. Er lebt mit seiner Familie in Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Copyright © 2024 by Martin Krüger
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung David Keochkerian / Trevillion Images
ISBN 978-3-644-01725-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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«Es war einmal vor langer Zeit, da gab es ein Dorf und eine Mühle, und im Korn, im hohen Korn, da lebte ein Monster.» Der Junge lauschte der Stimme seiner Mutter, die so sanft klang wie das Wispern, das der Wind den Roggenfeldern entlockte. Auf seine halb geschlossenen Lider fiel der buttergelbe Schein der Nachttischlampe. Er mochte es, wenn sie ihm vorlas – noch vor einigen Monaten hatte es niemanden gegeben, der sich so um ihn sorgte, wie sie es nun tat.
«In dem Dorf», fuhr die Mutter fort, «lebte ein kleiner Junge. Wie jeden Tag ging er mit seinem Vater auf die Felder, um Äpfel zu pflücken. Das große Feld mit den höchsten Bäumen sollte es sein, wo die Früchte nach dem langen Sommer saftig, rot und rund wuchsen. Doch der Junge, klug und gewitzt, wie er war, entdeckte einen kleinen Fuchs zwischen den Apfelbäumen, der aufs Nachbarfeld lief, wo der Roggen dicht aufragte.
‹Geh nicht in den Roggen›, hatte der Vater ihn oft ermahnt, aber heute ließ der Junge sich nicht davon abhalten, denn der Roggen roch nach Abenteuer. Immer tiefer folgte er dem Tier hinein. Plötzlich war der Fuchs verschwunden. Der Junge spürte einen Blick auf sich, und er bekam es mit der Angst zu tun, so tief im Roggen. Da! Die Halme teilten sich, und hervor trat der alte Müller.
‹Junge›, sagte er, ‹du hast dich verirrt und siehst hungrig aus. Komm, koste von all den feinen Dingen, die man im Dorf aus meinem Mehl gemacht hat.› Und hinter ihm war eine gedeckte Tafel mit den feinsten Backwaren, die der Junge jemals gesehen hatte, Zuckerwerk und Kuchen. ‹Iss dich satt.›
Am Kopfende saß der Bürgermeister, gleich neben ihm der Pfarrer, und beide trugen ein dunkles Gewand und lächelten ihm zu. ‹Komm, Junge, iss mit uns …›
Zögerlich kam der Junge näher, doch erkannte er nun, dass die Backwaren verdorben waren, und Maden krabbelten über den Tisch. Also lief er davon, noch tiefer ins Roggenfeld hinein. Bald begann es zu regnen, als aus dem Dickicht der hohen Pflanzen eine weitere Gestalt hervortrat. Es war der Landstreicher, der, von allen ausgestoßen, am Dorfrand lebte. Er zog seinen Mantel aus und reichte ihn dem Jungen. ‹Hier›, meinte er» – und der Junge mochte es, wie seine Mutter dabei die Stimme verstellte –, «‹nimm den, er wird dich vor dem Regen schützen.›
Der Junge, wohlerzogen, wie er war, bedankte sich. Der Mantel hielt ihn warm. Nach einer Weile begegnete er im Feld einem Mädchen. Ihre Füße waren nackt, sie weinte im Regen, mutterseelenallein. Ihr reichte er den Mantel, damit sie geschützt war, dann ging er weiter.
Aus der Ferne, ganz leise nur, hörte er Stimmen über den Regen: Der Dorfgendarm rief nach ihm. Der Junge wusste, dass sie sich Sorgen um ihn machten, doch spürte er auch, dass er nicht mehr umkehren konnte.
Dafür war er schon zu weit ins Feld gegangen.
Irgendwann ließ der Regen nach. Weiter und weiter trugen ihn seine Füße, und bald wurde es Nacht. Über den Fluss, der das Feld zerschnitt, setzte er hinweg und bemerkte in der Ferne ein Licht, das auf und ab tanzte. Als er näher kam, sah der Junge Fackeln. Kinder tanzten um ein Feuer, ein stiller, ernster Reigen. Zweige steckten in ihren Haaren.
Dem Jungen wurde angst und bange. Jetzt erinnerte er sich nämlich, wer hier draußen lebte. Geh nicht zu tief ins Feld, hörte er die Stimme seines Vaters. Denn sie lebt da draußen, und wer sie sieht, wird für immer mit ihr tanzen. Die Hexe. Die Frau. Die Roggen–»
«Vera?», sagte sein Vater leise. «Ich glaube, er schläft. Du kannst mit dem Lesen aufhören.» Oh, sie glaubten wirklich, er wäre eingeschlafen. Ganz still und leise lag er da und lauschte. «Ist er nicht etwas zu alt für diese Märchengeschichten?»
«Aber diese mag er so gern. Und denk dran: Er hatte früher niemanden, der ihm vorgelesen hat. Er ist doch erst zehn.»
«Ich weiß.» Eine Diele knarrte leise. «‹Alte Dorfsagen im Wandel der Zeiten›», las sein Vater den Titel des Buches. «Faszinierend.»
«Ein Mann aus dem Dorf hat es mir gegeben.» Sie lachte leise. «Ich glaube, er hat es sogar selbst geschrieben.» Stille. «Ich … weißt du, ich bin glücklich. Das ist, was ich immer wollte. Mit dir.»
«Ich weiß, Vera. Ich weiß.»
Der Junge spürte, wie seine Mutter seine Stirn küsste. «Schlaf gut, Nathan.» Dann gingen sie beide hinaus.
Die Tür schloss sich leise.
Auch er fühlte etwas, das er seit dem Tod seiner leiblichen Eltern vor vielen Jahren kaum mehr gespürt hatte: Glück. Das Gefühl, ein Zuhause zu haben. Und einen neuen, schönen Namen.
Er hoffte, es würde immer so bleiben – und doch nagte der Zweifel an ihm. Nach all den Jahren in den Waisenhäusern wusste er eines sicher:
Nichts war für immer.
Der junge Mann trat aus dem Dickicht des Roggenfelds, eine dürre Silhouette im Licht der untergehenden Sonne.
Ein heißer Wind folgte ihm aus dem Osten, zerzauste sein schmutzig-blondes Haar, strich durch den Roggen, ließ die Halme wispern und knistern, trieb Staub die lange Landstraße herab, wo Vermisstenplakate mit seinem Foto hingen, rüttelte an der Tür eines alten Schuppens, dessen Fenster vernagelt waren, entlockte einem Hund, der in der Abendhitze döste, nur ein müdes Blinzeln, ehe er weiterzog, über die weiten goldenen, trägen Felder bis nach Custrow.
Einen bitteren Geruch trug dieser Wind mit sich, durchdrang seine schmeichelnde Wärme – metallisch, verdorben.
Später würde der Fahrer des Lieferwagens aussagen, dass er Max Jurek am Straßenrand gesehen hatte, wie er sich kraftlos in Richtung Dorf schleppte. Der eine Fuß schmutzig und nackt, während am anderen die Schnürsenkel des Sportschuhs herabbaumelten. Und er würde sich auch noch an ein anderes Detail erinnern: wie er starr in eine Richtung geblickt hatte. Und daran, wie er sich bewegte.
Ganz besonders daran.
Mit Max Jureks Rückkehr begann nicht der Schrecken, der Custrow heimsuchte, und ebenso wenig begann er mit dem heißen Ostwind – und doch waren sie beide für alles, was kommen sollte, mehr als nur Vorboten.
Der Turmfalke musterte Ella mit seinen Bernsteinaugen. «Er sieht aus, als wüsste er ganz genau, was mit ihm los ist. Und dass man ihm hier helfen will.» Sie blickte zu ihrem Vater hinüber, der den Vogel mit geübten Handgriffen untersuchte. «Schlaues Tier.»
«Das sind sie», sagte Friedrich. «Hervorragende Jäger. Dieses Exemplar ist ein Weibchen.» Er trat einen Schritt zurück, und das Falkenweibchen drehte den Kopf. Die Augen reflektierten das Licht der Sonne, die durch das Fenster der Auffangstation hereinfiel. Hier, hinter dicken Sandsteinmauern, war es kühl, so würde es auch für den Rest des Sommers bleiben. Dennoch lag seit heute Morgen etwas in der Luft, das den Wechsel der Jahreszeiten ankündigte, ein Geruch, ein Knistern im trockenen Korn, wenn der Wind hindurchstrich, das jene seltsame Zeit zwischen Sommer und Herbst einläutete.
Wieder blickte Ella zu ihrem Vater, der den verletzten Greifvogel mit fachkundigem Blick musterte. War da ein schwaches Zittern in seinen Fingern? Vielleicht. Wie lange würde er hier noch mithelfen können? Er fuhr noch sein kleines Auto, er war noch immer ein kompetenter Tierarzt, und dennoch … Die Zeit blieb nicht stehen.
Dr. Bosch, sein Hausarzt in Custrow, der seit Jahrzehnten seine Praxis in der Hauptstraße führte, hatte erklärt, dass Demenz ein schleichender Feind war. Ella mochte das Wort nicht, nicht in diesem Zusammenhang. Sie hatte mit genügend Feinden zu tun, aus allen Schichten der Gesellschaft. Vor einem Jahr war sie ihrem Vater zuliebe nach Custrow gezogen, hatte nach acht Jahren die Ermittlungsgruppe für Tötungs- und Entführungsdelikte in Berlin verlassen, nachdem ihre Versetzung zu einer kleinen Polizeiwache in Makow, fünfzehn Kilometer von Custrow und über einhundert von Berlin entfernt, genehmigt worden war. Es war eine ganz andere Welt, das Dorfleben und die kleine Wache mit nur zwei Kollegen – und manchmal, dies musste sie sich eingestehen, vermisste sie die Großstadt mit einer unbändigen Sehnsucht. Immerhin war sie erst fünfunddreißig.
Kriminalhauptkommissarin Ella Berger. Die Eisprinzessin, so hatte ein guter Freund und Kollege bei der Berliner Polizei sie genannt, wegen ihres hellblonden, fast weißen Haars, das sie einer Pigmentstörung zu verdanken hatte. Er war einer der wenigen, die sie so nennen durften. Mit ihrer Fähigkeit, sich in den Kopf von Tätern hineinversetzen zu können, in ihre Haut zu schlüpfen, hatte sie damals schnell einen Platz bei einer Ermittlungsgruppe gefunden – und ein Team, das sie willkommen hieß.
Wie seltsam, dass sie sich jetzt an all das Vergangene zurückerinnerte. Wir sind eine Familie von Ermittlern, hatte ihr Vater ihr oft gesagt, ich hab es immer gewusst, das ist Familientradition.
Ihr Vater, früher einer der wenigen forensischen Veterinärmediziner der Hauptstadt, hätte es verstanden, wenn sie nicht gekommen wäre. Du musst dich nicht um einen alten Mann sorgen, hatte er gesagt. Es geht mir gut. Hier bin ich zu Hause. Und ich habe etwas gefunden, das mir die Zeit vertreibt, wo ich helfen kann.
Und doch war sie hier. Vielleicht lag es auch daran, dass sie außer ihm niemanden mehr hatte.
Das Klingeln ihres Smartphones unterbrach die Stille und riss sie aus ihren Gedanken. Das Falkenweibchen drehte den Kopf, als wunderte sie sich über das Geräusch. «Das ist dienstlich.»
Ihr Vater nickte knapp. «Das ist es meistens, nicht wahr? Na, geh schon.»
Sie ging vor die Tür und nahm den Anruf entgegen. Ein Kollege informierte sie, dass Maximilian Jurek, ein Dreizehnjähriger aus Custrow, von seinen Eltern vermisst wurde. Der Junge hatte ab dem Mittag mit seinem Freund Tom Falkmann im Wald an einem Baumhaus gebaut. Als Falkmann gegen siebzehn Uhr zurück nach Custrow ging, blieb Jurek noch vor Ort. Sein Handy hatte er nicht dabei – das lag zu Hause auf seinem Schreibtisch in seinem Zimmer.
Ella bedankte sich und beschloss, Tom Falkmann aufzusuchen.
«Ich hab nichts bemerkt», erzählte er Ella. «Gar nichts, ehrlich! Keine Ahnung, er muss noch in unserem Versteck draußen sein.»
Aber Max kam nicht zurück und war nicht im Versteck, wie die Beamten schnell überprüften. Seine Eltern warteten, es wurde acht, neun Uhr abends – und Max blieb fort. Das war noch nie vorgekommen. Eine Überprüfung bekannter Sexualstraftäter in der Datenbank des LKA ergab keine Treffer in der Region.
Am nächsten Morgen fand ein Beamter der zur Unterstützung angeforderten Bereitschaftspolizei Maximilians linken Schuh mitten in einem Roggenfeld.
«Wir finden ihn», beruhigte Nils Martenitz die aufgelöste Mutter. Der Hauptkommissar vom Landeskriminalamt leitete die Suche. «Wir werden ihn finden.» Dann warf er Ella einen finsteren Blick zu, der genau das andeutete, was auch sie befürchtete: dass es schon zu spät war.
Obwohl das LKA in solchen Vermisstenfällen automatisch die Ermittlung übernahm, hatte sie ihm erklärt, dass sie bei der Ermittlung dabei sein wollte. Mein Revier, hatte Ella zu Martenitz gesagt. Und Sie wissen, was ich früher getan habe. Fragen Sie Berlin.
Martenitz hatte sofort zugestimmt.
«Und wo ist sein Rucksack?» Claire Jurek weinte verzweifelt. «Wieso findet ihr meinen Jungen denn nicht?»
Später verriet Tom ihnen, dass Max und er draußen in ihrem Versteck Gras geraucht hätten. «Es gibt einen Landstreicher, der in einem alten Wohnwagen ein Stück außerhalb von Custrow lebt. Der hat es uns verkauft.» Ella sah Tom an, dass er erleichtert war, das losgeworden zu sein. Sie berichtete Martenitz davon.
«Gut, Berger, sehr gut. Wir haben mittlerweile ein paar Tütchen mit Marihuana, etwa zehn Gramm, in dem Unterschlupf gefunden. Und es gibt einen Zeugen, der Max mit jemandem gesehen haben will.»
«Hat er konkrete Angaben gemacht?»
«Und ob. Er ist sich nicht hundertprozentig sicher, aber er glaubt, es war ein gewisser Beno Wicáz.»
«Das ist unser Landstreicher. Er …», Ella zögerte, «er ist harmlos. Ein paar Kleinigkeiten wegen Trunkenheit, aber … verflucht. Holen wir ihn uns?»
Der Ausdruck auf Martenitz’ gebräuntem Gesicht war stahlhart. «Wir holen ihn uns.»
In dem kleinen Vernehmungsraum in der Polizeiwache Makow war die Luft heiß und stickig. Die Klimaanlage funktionierte seit einem Monat nicht, und Ella spürte, wie ihr die Schweißtropfen über das Gesicht liefen und zwischen ihren Schulterblättern über den Rücken herabrannen. Beno Wicáz saß ihr gegenüber, während Martenitz mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Ein saurer Körpergeruch strömte ihr von dem Mann entgegen, er trug ein schmutziges, verschwitztes Hemd.
«Sie stecken ganz schön in der Scheiße.» Martenitz’ Stimme ließ Wicáz zusammenzucken. «Wir haben Maximilian Jureks Rucksack in Ihrem Wohnwagen gefunden. Und da sind Ihre Fingerabdrücke dran.»
Der Mann wich Ellas Blick aus. Er hatte etwas zu verbergen.
«Sein Rucksack!», sagte Martenitz erneut. «Erleuchten Sie mich, wie ist der dorthin gelangt?»
«Ich weiß es nicht. Also …» Wicáz schüttelte den Kopf, wippte nervös mit dem Knie auf und ab, während sein Blick zwischen ihnen hin und her huschte. Dann verbarg er sein Gesicht in den Händen. «Ich … das Ding hab ich einfach gefunden. Bin über ein Feld gelaufen. Da lag er. Also hab ich ihn mitgenommen. Das ist alles.»
«Sie haben den Kindern Gras verkauft.» Martenitz schnaubte. «Oder ist das auch nie geschehen? Hm? Haben die Jungs das Zeug auch nur so gefunden? Reden Sie, Mann.»
Wicáz räusperte sich. Er hat Angst, dachte Ella. Aber nicht unbedingt vor Martenitz oder vor einer Strafe. Es musste etwas anderes sein. Was war hier los?
«Würden Sie uns kurz allein lassen?», sagte sie zu ihrem Kollegen.
Martenitz warf ihr einen durchdringenden Blick zu. Verbock das hier nicht, konnte sie darin lesen, ehe er knapp nickte und hinausging. Ella hatte keinesfalls vor, es zu verbocken, ganz im Gegenteil, sie wusste, wie man mit Wicáz umgehen musste. Manchmal war es doch von Vorteil, augenscheinlich nur die Dorfpolizistin zu sein – jedoch mit der Erfahrung einer Großstadtermittlerin.
«Hören Sie, Beno. Bitte, sehen Sie mich einen Moment an.»
Als er seinen Vornamen hörte, hielt sein wippendes Bein inne. Wicáz blickte zu ihr auf. Er kannte sie, brachte sein Hang zum Alkohol und seine Vorliebe für nächtliche, laute Spaziergänge ihn doch immer wieder in Konflikt mit den Custrowern und damit auch mit ihr.
«Irgendwo da draußen ist ein Junge in Gefahr. Er ist verschwunden, Beno. Er war unterwegs, aber dann ist er nicht wieder nach Hause gekommen. Und Sie wissen davon.»
Wicáz nickte vorsichtig. Etwas war anders an ihm, er war schweigsamer als üblich, verunsichert. Wicáz war kein gefährlicher Mann, im Gegenteil, Ella würde ihn als harmlos einschätzen. Ihr berufsbedingter Argwohn riet ihr dennoch, vorsichtig zu bleiben. Aus dem Ordner, den Martenitz auf dem Tisch zwischen ihnen hatte liegen lassen, nahm sie eine Reihe von Fotos, um Wicáz’ Reaktion zu testen. «Sehen Sie sich die in aller Ruhe an. Erkennen Sie einen der Jugendlichen?»
Wicáz beugte sich vor, sein Stuhl knarrte leise. Dann hielt er inne und tippte mit dem schmutzigen Zeigefinger auf das Bild von Max.
«Ihn. Klar, ihn hab ich gesehen. Die anderen kenn ich nicht.»
Was du nicht sagst. «Wann war das?»
«Ist ’ne Weile her», erwiderte Wicáz. Seine Stimme klang rau. «Es stimmt. Ich hab den Jungs was verkauft. Nur ein bisschen. Sie wollten es probieren. Ich meine, was ist da schon dabei?»
«Ich frage Sie noch mal: Wann haben Sie den Jungen zuletzt gesehen?»
Er überlegte. Seine Augen waren blutunterlaufen, auf seiner Nase zeichneten sich feine rote Adern ab. Ella bemerkte, wie seine Finger auf seinem Knie trommelten. Ein Zeichen von Nervosität? Möglich. Vielleicht vermisste er aber auch nur seinen abendlichen Schnaps. «Zwei Wochen ist das her. Montag vor zwei Wochen. Manchmal erledige ich Sachen im Haus für die Leute hier, flick ein Rohr oder mach Unkraut weg. Die Jungs kommen dann vorbei.»
«Und der Rucksack?»
«Auf dem Feld!», rief Wicáz. «Ich hab doch gesagt, welches. Sie müssen mir glauben!»
«Was haben Sie da gemacht?» Ella sah ihn sehr ernst an.
«Ich bin gelaufen, einfach nur gelaufen, was soll ich denn …? Es ist ein guter Rucksack, ich dachte, den hätte wer weggeworfen.»
«Wussten Sie, wem er gehört?»
«Nein.» Er schüttelte den Kopf, dann sah er hinüber zum Fenster, als überlegte er, ob er sich hinausstürzen wollte. Die Festnahme des Landstreichers war nicht unbemerkt geblieben. Ella ahnte, dass sich die Neuigkeiten wie ein Lauffeuer in Custrow verbreiten würden. Viele im Dorf mochten Wicáz nicht besonders, und er wusste es.
«Meine Kollegen durchsuchen in diesem Moment den Wohnwagen. Ich warne Sie, Wicáz. Wenn Sie meine Zeit verschwenden, wenn wir etwas finden, das darauf hindeutet, dass Max bei Ihnen war …»
«War er nicht. Wirklich!» Seine Hände zitterten, und seine Augen füllten sich mit Tränen. «Ich schwöre es. Frau Kommissarin … bitte … Was soll ich denn machen? Was soll ich noch tun, damit Sie mir glauben …?»
«Sie bleiben heute Nacht hier.» Ella erhob sich, ging zur Tür. Es war ein langer Tag, und sie fragte sich, ob sie für alles bereit war, was im schlimmsten Fall noch kommen mochte.
Eine Gruppe uniformierter Polizisten der Bereitschaft, die sie unterstützten, blickte ihr entgegen, als sie das Büro betrat. Es roch nach Kaffee, Müdigkeit und der alles überlagernden Hitze. Martenitz kam auf sie zugeeilt. Ella trat einen Schritt zurück; zum Stressabbau kettenrauchende Kollegen hatte sie früher unzählige Male erlebt, und der Geruch eilte ihm voraus.
«Irgendetwas Brauchbares?»
«Er streitet alles ab», sagte Ella betont gelassen. «Warten wir auf den Wohnwagen.»
«Warten?», wiederholte der Hauptkommissar. «Nein. Sicher nicht. Wir kriegen es aus ihm raus. Gehen Sie nur, Berger. Wir knacken ihn. Machen Sie eine Pause.»
Ella hielt seinen Arm fest, ehe er die Tür zum Vernehmungszimmer öffnen konnte. «Ich denke nicht, dass wir den Richtigen haben», flüsterte sie. «Er war es nicht.»
Martenitz schnaubte, schob sich an ihr vorbei und ging in das Vernehmungszimmer, gefolgt von einem zweiten LKA-Beamten, der ihr knapp zunickte.
Gehen Sie, Berger. Ella spürte, wie es in ihr kochte. Sollte sie sich ihm widersetzen? Nein. Eine Konfrontation wäre falsch zu diesem Zeitpunkt.
Sie ging hinaus. Vor der Polizeiwache, einem zweistöckigen Klinkerbau mit dunklem Blechdach, hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt: vom Sommer gebräunte Gesichter mit dunklen Augenringen, die Müdigkeit und Sorge in die Haut gegraben hatten. Ella blickte ihnen von der Eingangstreppe entgegen. Der Entführer war vielleicht jemand aus Custrow selbst, jemand, der gerne zusah, was die Polizei unternahm. Blitzlicht flammte auf – ein Fotograf und ein Reporter rannten ihr entgegen.
«Haben Sie ihn? Haben Sie Maximilian Jureks Entführer festgenommen? Wo ist der Junge?»
Ella winkte ab, während sie auf den alten BMW M3 zusteuerte, den sie seit vielen Jahren fuhr. «Kein Kommentar.»
«Die Bürger von Custrow verlangen eine Erklärung!»
«Und die bekommen sie. Sobald wir wissen, wo Max ist.»
«Also gehen Sie davon aus, dass er nicht einfach von zu Hause weggelaufen ist?»
«Tut mir leid, kein Kommentar.» Das war Martenitz’ Aufgabe, und sie durfte sie ihm nicht abnehmen.
Ein Raunen ging durch die Menge, jäh abgeschnitten, als sie die Autotür schloss und losfuhr. Bald hatte sie Makow hinter sich gelassen. Das Abendrot tauchte die weiten Felder, die die Landstraße einschlossen, in glutrote Farbe.
Es war Ende August, und die Sonne spiegelte sich für einen Moment glitzernd auf dem Wasser des Güritzer Sees, während sie in zügigem Tempo dahinfuhr. Die Straße führte durch ein dunkles Waldstück mit schlanken Kiefern, dann wieder durch scheinbar endlose Felder, auf denen Roggen, Weizen und Mais wuchsen. Inmitten der Felder lag Custrow mit seinen etwa achthundert Einwohnern.
Die Sonne stand tief, und so sah sie es erst im letzten Moment. Dicht am Maisfeld, dürr und hochgewachsen, stand etwas in der hereinbrechenden Dunkelheit, das in einen zerschlissenen Umhang gehüllt war. Ella blinzelte: Wo der Kopf hätte sein sollen, war grobes, zerschlitztes Sackleinen.
Ella trat auf die Bremse.
Das Ding huschte zur Seite, hinein in den hochgewachsenen Roggen, mit einer Bewegung wie ein jähes Zucken – von einem Moment auf den nächsten war es fort.
Was zur Hölle war das?
Mit wild klopfendem Herzen wendete sie den Wagen, fuhr zurück, spähte durch das offene Fenster in den Roggen hinein, der fast zwei Meter hoch stand. Nichts. Die Pflanzen raschelten, als der Wind hindurchstrich.
In Ellas Ohren klang es wie ein lautes Atmen.
Da ist nichts, wollte ihr Verstand sie überzeugen, und doch spürte sie, dass etwas aus dem Dickicht heraus sie beobachtete.
Etwas war dort.
Wartete auf sie.
Sie stieg aus und ging, mit der Hand an ihrer Dienstwaffe, einige Schritte ins Feld. Sie schob die Roggenhalme zur Seite und versuchte, etwas zu erkennen. Doch nichts rührte sich, und der dunkle Erdboden war viel zu trocken, um Schuhabdrücke auszumachen.
Am Abend gelang es Ella abzuschalten, doch gegen Mitternacht, als sie einschlafen wollte, kam ihr das Ding wieder in den Sinn und sie wälzte sich voller unruhiger Gedanken hin und her. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Es war eine Art Vogelscheuche gewesen. Eine lebendige Vogelscheuche.
Sie griff nach den Schlaftabletten, die auf dem Nachttisch lagen, und spülte eine mit einem Glas Wasser hinunter. Durch das gekippte Fenster strich eine schwere, feuchtwarme Brise. Keine Abkühlung. Noch nicht.
In ihren Träumen wisperten die Kornfelder. Etwas schritt hindurch, bahnte sich seinen Weg mit großen, schwarzen Händen, die in sichelförmigen Klauen endeten. Und dahinter folgte ein Kind dem seltsamen Ding.
Als Ella am nächsten Morgen aufwachte, verdrängte sie den seltsamen Traum. Ein Polizist steht im Hier und Jetzt, hatte ihr Vater immer gesagt, sonst kann man sich nicht auf ihn verlassen.
Gegen Mittag ließen sie Beno Wicáz gehen. In seinem Wohnwagen gab es keine verwertbaren Spuren, und der Zeuge, der angegeben hatte, ihn mit Max gesehen zu haben, musste eingestehen, dass es auch jemand anders gewesen sein könnte.
Maximilian Jurek blieb verschwunden.
Claire Jurek trat mit einer eiskalten Dose Orangenlimonade auf die kleine Veranda hinter dem Haus, von der man auf die Roggenfelder am Dorfrand blickte. Nur eine kurze Pause gönnte sie sich, dann würde sie wieder mit dem Auto über die Landstraßen fahren, immer auf der fieberhaften, rastlosen Suche nach ihrem Sohn. Jetzt hielten sich ihre Augen am Grün des Birnbaums fest. Sie hatten einen kleinen verwilderten Garten, doch dahinter kam nichts mehr, nur die weiten Felder, die sich mit Buchenwäldern abwechselten, Felder, Wälder, Dörfer, Straßen. Die große Leere, scherzte Andrzej gern. So weit weg von allem, wie man in Deutschland nur sein konnte. Nun machte diese Abgeschiedenheit ihr Angst.
Und es gibt wieder Wölfe, erzählten sie sich im Ort. Wölfe, die sich an die Häuser heranwagen. Aber das waren nur Geschichten. Wölfe lebten in Rudeln, sie blieben unter sich. Ja, sie rissen Schafe, ein paar Bauern hatten sich beschwert, aber …
Aber.
Natürlich musste sie immer wieder daran denken. Wenn Max einem Wolf begegnet war, wenn er angegriffen worden war … Aber sie und das halbe Dorf hatten die Wälder abgesucht, die Felder … Hätte man ihn nicht schon längst finden müssen?
Claire zwang sich, diesen Gedanken zu verdrängen. Max lebt. Sie wusste es, wie nur eine Mutter es wissen konnte. Ihr Sohn war noch irgendwo dort draußen. Mit geschlossenen Augen spürte sie, wie der heiße Ostwind durch ihre Haare fuhr. Und sie spürte die Kälte der Getränkedose, fühlte, wie das Kondenswasser zwischen ihren Fingern hindurchrann.
Ein Rascheln, ein Knacken im Roggen ließ sie aufblicken.
Jemand stand dort auf der anderen Seite des Jägerzauns, der ihr Grundstück begrenzte. Eine Silhouette, kaum auszumachen vor der glutroten Sonne, die bald hinter dem Roggen versank.
«Max?» Die Worte verließen ihren Mund, noch ehe sie sich bewusst war, dass sie sie aussprach. «Max? Was machst du da?»
Die Stimme ihres dreizehnjährigen Sohnes klang heiser. «Mama», sagte er kehlig. «Ich … bin wieder zu Hause.»
Sein T-Shirt war schmutzig, und er trug keine Schuhe. In seinen Haaren hatten sich kleine Zweige verfangen. Als sie auf ihn zueilte, ihm den Schmutz aus dem Gesicht strich, während sich ihre Tränen mit seinen vermischten, wirbelte nur ein Gedanke durch ihren Kopf: Er ist nicht tot. Er lebt, und er ist wieder da. Gott sei Dank, er lebt.
Erst später, als sie versuchte, nach diesem verrückten, aufregenden Tag ein wenig Schlaf zu finden, trat ein zweiter Gedanke aus dem Unterbewusstsein hervor, und sie begriff, dass dieser zweite, seltsame Gedanke sie begleitet hatte, seit sie Max dort am Roggenfeld gesehen und ihn berührt hatte:
Es war heiß an diesem Abend, doch Max’ Haut war ganz kalt gewesen.
Mitten auf dem Feld stand eine menschengroße Puppe, komplett aus Zweigen geflochten. Schmutzige Stofffetzen schmückten die Gestalt, doch dort, wo sich der Kopf des Gebildes hätte befinden müssen, war etwas anderes.
Ella blickte in ein menschliches Gesicht, das ihrem eigenen ähnelte, das blonde Haar voller Zweige und Blattwerk: Sieh mich an, schien es zu sagen. Ich bin, was du sein wirst.
Auch in ihren Augen steckten Zweige, mit Gewalt hineingetrieben, die Augenflüssigkeit war über ihre Wangen gelaufen und getrocknet. Eine Krähe hockte auf einem dickeren Ast der Puppe und pickte am Fleisch ihrer Wange.
Ella hörte ihren eigenen Schrei – und dann wachte sie auf. Es war warm und stickig im Schlafzimmer der Wohnung, die ihr nach einem Jahr noch immer nicht vertraut war. Als wäre der eigentliche Besitzer, ein Fremder, gerade eben zur Tür hinausgegangen.
Ihr Smartphone läutete.
«Berger?», fragte sie verschlafen, als hätte der Albtraum ihre Hirnwindungen gelähmt. Nur eine Stunde Ruhe, mehr hatte sie doch gar nicht gewollt. Zehn Tage lang intensive Suche nach dem Vermissten. Sie alle brauchten etwas Ruhe. «Ich bin wach», sagte sie.
«Gut. Sie sollten herkommen. Sofort.»
«Was ist denn passiert?»
«Max ist zurück.»
Ella roch die Getreidefelder, die Custrow umschlossen, als sie zum Haus der Jureks fuhr. Der Ort sah aus, wie sie einem Fremden ein abgelegenes Dorf in der Weite Brandenburgs beschreiben würde: eine Ansammlung von alten Fachwerk-Bauernhäusern mit spitzen Giebeln entlang der Hauptstraße, ein Kirchturm in der Ferne, das neuere Backstein-Rathaus gleich neben dem einzigen kleinen Metzger, dazu eine Bäckerei, deren Besitzer sich resolut weigerte, aufzugeben, während andere einstige Geschäfte verrammelt waren. Ein paar Jugendliche hingen vor dem alten, winzigen Dorfkino herum, das man in einen leidlich besuchten Jugendtreff umgewandelt hatte. Ella kannte die meisten von ihnen, einige auch von gewissen nächtlichen, verbotenen Auto- und Motorroller-Rennen. Die leere Straße führte weiter an der Grundschule vorbei, das rote Backsteingebäude lag in diesen letzten Wochen der Sommerferien dunkel und brütend fernab der Straßenlampen. Ein paar Ecken weiter sah sie die kleine Praxis von Dr. Bosch und nicht unweit davon das wohl prächtigste Gebäude des Ortes, die Klinkerfassade saniert, die Sprossenfenster frisch gestrichen und ein Schild darüber, das es als das Dorfmuseum auswies.
Ella parkte vor dem Haus der Jureks und sammelte sich einen Moment, ehe sie der Familie gegenübertrat. Entführungsopfer konnten unvorhersehbar reagieren. Manchmal war das Erlebte so erschreckend, dass sie sich in den ersten Tagen an kaum etwas erinnerten, andere dagegen wurden von ihren Dämonen ihr ganzes Leben lang verfolgt. Große Nachtfalter flatterten um die Straßenlaterne. Der Vollmond schimmerte durch das Blattwerk, ein kühler, fahler Lichtschein. Bis auf einen kleinen Golf 7, den Ella als den Wagen des Custrower Hausarztes erkannte, und einen Streifenwagen, mit dem Martenitz hergekommen sein musste, war niemand hier – noch hatte die Neuigkeit nicht die Runde gemacht.
Paul Ullrich, der uniformierte Kollege, der bei der Eingangstür wartete, hatte die Hände in den Taschen vergraben. Er nickte ihr zu. «Der Junge ist drin. Sein Hausarzt, die Eltern, sie alle sind froh, dass er wieder da ist.»
Ella runzelte die Stirn. «Wer hat Dr. Bosch gerufen?»
«Die Mutter.»
Sie trat ein. In den letzten Tagen war sie mehrmals hier gewesen, und sie konnte förmlich spüren, wie sich die Atmosphäre im Haus verändert hatte. Ihr Blick fiel auf die Bilder, die über der Kommode im Flur hingen. Claire, Andrzej und Max. Eine kleine Familie. Kurzzeitig auseinandergerissen, nun wieder vereint. Es war, als schwebte Erleichterung durch alle Räume.
Hinter einer breiten Fensterfront im Wohnzimmer lag eine kleine Veranda und der Garten. Dahinter erstreckten sich die Kornfelder, so weit das Auge reichte. Im Licht des Vollmonds schimmerten die Roggen- und Gerstenhalme seltsam fremdartig.
Martenitz stand allein auf der Veranda. «Guten Abend», sagte er, als Ella hinaustrat, und kramte in der Hosentasche seiner ausgeblichenen Jeans nach seinen Zigaretten. Für einige Momente blieb das Ratschen seines Feuerzeugs das einzige Geräusch hier draußen, abgesehen von dem Zirpen der Grillen. Leicht ungeduldig fragte Ella: «Wann ist Max zurückgekommen?»
«Halb sieben, sagt seine Mutter. Er stand da drüben.» Martenitz deutete zum Roggenfeld.» Der Junge hat geweint, irgendwelche Sachen gestammelt. Dann hat sie ihren Mann angerufen. Der kam, dann haben sie den Hausarzt und uns informiert.»
«Irgendwelche Sachen?», fragte Ella.
«Unklar. Zusammenhanglos.»
«Das beunruhigt mich. Denkst du, wir können ihn befragen?»
Martenitz wollte antworten, verstummte jedoch, als sich die Glastür wieder öffnete. Dr. Bosch kam zu ihnen heraus, sein für gewöhnlich so offenes, freundliches Gesicht war angespannt und gezeichnet von Müdigkeit. Auch er hatte an der umfangreichen Suchaktion teilgenommen. Der Dorfarzt war groß und schlank, Ende sechzig, lebte allein und arbeitete gefühlt ohne Unterlass.
«Ah, Frau Berger. Guten Abend. Wie geht es Ihrem –»
«Alles in Ordnung heute mit meinem Vater», erwiderte sie. «Ist wirklich ein guter Abend, soweit ich das sehe. Max ist zurück.» Sie bemerkte, dass Bosch nicht besonders froh wirkte.
«Der Junge ist ganz schön mitgenommen. Ich habe ihn untersucht, ihm geht es so weit gut. Er wollte unbedingt duschen, sagte er. Verständlich. Er ist dehydriert, durcheinander, erschöpft. Was bemerkenswert ist: Er erinnert sich an nichts.»
«An gar nichts?»
Bosch schüttelte den Kopf. «Max hat Schürfwunden an den Händen. Gut, er könnte einfach hingefallen sein. Was interessanter ist, sind diese Flecken an den Beinen …»
«Flecken?»
«Ich habe die Stellen fotografiert und eine Probe genommen, ehe er sie abgewaschen hat.»
«Worum handelt es sich?»
«Es ist eine schwarze, klebrige Substanz.» Bosch zögerte einen Moment lang. «Erinnert an Teer, aber …»
«Teer? An seinen Beinen?»
«Er war zum Teil wie beschmiert mit diesem Zeug. Noch mehr davon unter seinen Fingernägeln.»
Jemand pochte an die Glastür. Max’ Vater gestikulierte hektisch in Richtung des Arztes.
Bosch riss die Tür auf, während Andrzej Jurek schon zurück in den Flur eilte. «Er kriegt plötzlich so schlecht Luft!», rief er, Panik in der Stimme.
«Wir rufen die Rettung, ja?»
«Tun Sie das», sagte Bosch, dann eilte er Jurek hinterher, schneller als Ella es einem Mann in seinem Alter zugetraut hätte. Sie rief bei der Leitstelle an; der Rettungswagen brachte Max nur einige Minuten später ins Krankenhaus in Makow. Seine Eltern begleiteten ihn, sodass Ella und Martenitz allein im Haus zurückblieben. Das Bett im Zimmer des Jungen war zerwühlt, und am Laken klebte eine dunkle, ölige Substanz. Martenitz’ Handy klingelte, und er wechselte einige knappe Sätze.
«Bosch hat aus dem Krankenhaus angerufen und Entwarnung gegeben. Sie werden Max über Nacht dort behalten, nur zur Vorsicht», sagte er zu Ella. «Er hatte vermutlich nur eine Panikattacke, nichts Ernsteres.»
Ella nickte knapp. «Wir sollten das mitnehmen. Analysieren lassen. Das Laken mit dem Zeug.»
Martenitz stimmte zu und kam mit einem Beutel der Spurensicherung zurück, in den sie das verschmierte Bettzeug packten. Dann verließen sie das Haus. Die Luft war still, warm und träge, als hätte man einen schweren Wollmantel über ganz Custrow ausgebreitet.
Martenitz verabschiedete sich und stieg in seinen Wagen. Ella blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und lauschte der Stille, während sich die Rücklichter des Wagens des Hauptkommissars entfernten. Etwas beunruhigte sie, etwas, das sie dazu brachte, die Tür hinter sich noch nicht ganz zu schließen.
Teerflecken? Ausgerechnet Teer? Wo war Max damit in Kontakt gekommen? Wofür wurde Teer benutzt? Beim Straßenbau? Sie googelte kurzerhand und rief dann Martenitz an.
«Berger? Vermissen Sie mich schon nach fünf Minuten?»
Sie überging die Bemerkung. «Hören Sie, offenbar benutzt man für den Straßenbau schon lange keinen Teer mehr», sagte sie sachlich. «Dafür gibt es heute Bitumenmischungen. Teer wird höchstens noch verwendet, um Eisenbahnschwellen wetterfest zu machen. Das könnte die Suche eingrenzen.»
«Die Suche ist vorerst beendet, Berger. Gehen Sie heim. Der Junge ist wieder da. Er wurde offenbar nicht misshandelt, also ist die Sache, sagen wir, ein bisschen weniger dringlich geworden, ja? Es hat Zeit bis morgen.»
«Wollen Sie etwa nicht wissen, wo er die zehn Tage war?» Martenitz’ scheinbares Desinteresse machte sie wütend.
«Natürlich will ich das. Okay, lassen Sie mich nachdenken … Eisenbahn, sagen Sie? Es gab da mal ein Werk, die haben Bahnschwellen aller Art hergestellt. Ich war da, als es schließen musste. Das ist aber Jahrzehnte her. Gab da eine unschöne Sache mit einem Arbeiter. Das können wir uns mal anschauen. Aber eins nach dem anderen. Warten wir erst mal, was das Labor zu diesen Spuren sagt. Und jetzt: Gute Nacht.»
Später würde sie nicht mehr genau sagen können, was sie dazu brachte, noch einmal zurück ins Haus zu gehen. Sie ging hinauf in das Obergeschoss, wo sich neben Max’ Zimmer ein kleines Badezimmer befand. Die Tür war nur angelehnt. Der Raum war winzig, ein Waschbecken, eine Toilette, eine Duschkabine.
Der Spiegel über dem Waschbecken war mit einem großen weißen Handtuch verhängt.
Wieso hatte Max sein Spiegelbild nicht sehen wollen? Was hatte er erlebt, dass er sein eigenes Gesicht nicht mehr sehen wollte?
Sie zog das Tuch herunter und öffnete das kleine Badezimmerfenster, von dem man über die Kornfelder blicken konnte. Sie konnte den Wind im Roggen rascheln hören. War jemand da draußen, der Max in seiner Gewalt gehabt hatte? Wie sonst ließe sich sein langes Verschwinden erklären? Aber welchen Zweck hat der Entführer verfolgt?
Sie hatte mit genügend Bestien in Menschengestalt zu tun gehabt, hatte mitansehen müssen, wie Entführungsopfer nach ihrer Befreiung wie Blumen verwelkt waren, weil nichts mehr den Schleier des Schreckens, den sie erlebt hatten und der sich für immer auf ihre Seele gelegt hatte, durchdringen konnte.
Ella hoffte, dass es bei Max anders sein würde.
Die nächsten Tage würden es zeigen.
Ella war es, als bewegte sich etwas im Spiegel gleich hinter ihr. Sie fuhr herum, erblickte aber nur ihr eigenes Spiegelbild. Gott, ich sehe schon Gespenster. Aber sie war kurz überzeugt, nicht allein gewesen zu sein.
Jemand hatte hinter ihr gestanden. Jemand, der aussah wie Max, über und über mit Teer beschmiert.
Das Korn sprach zu ihm, als wäre es die lang vergessene Stimme seiner Mutter, die ihm Märchen vorlas.
Manchmal war es ihm, als käme die Stimme direkt aus einer der Ähren, dann wieder von einem fernen, kaum zu bestimmenden Ort tief im Roggenfeld. In letzter Zeit sprach sie immer häufiger zu ihm – und was sie sagte, war Weisheit.
In dieser Nacht streifte er durch das Feld, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, und er genoss das Gefühl der Halme, des vollen Korns unter seiner Haut. Er strich darüber, sanft wie eine Liebkosung, und er lauschte.
Die Stimme sprach zu ihm, mal leiser, mal lauter, und drängend, manchmal sanft wie eine Mutter zum Kind.
Und er drang tiefer in das Meer aus Korn vor, spürte, wie es ihn umfing, ihn bestärkte, ihn sanft umschloss wie ein wärmender Mantel.
Ja, dachte er. Ja, das ist richtig. So soll es sein. Niemand sollte etwas dagegen tun, niemand etwas dagegen sagen. Niemand spürt sie, diese innigste aller Verbindungen. Sie begreifen es nicht. Niemand ist wie ich.
Ich bin einzigartig.
Schon früh hatte er begriffen, dass etwas anders war an der Art, wie er die Dinge betrachtete. Nur er verstand sie wirklich. Wie er vom Flirren der trockenen Luft über dem Asphalt angezogen wurde wie eine Motte vom Licht. Er hatte begriffen, dass eine geheime Wahrheit in den kleinsten Dingen versteckt war. Wie ignorant die anderen waren, es nicht zu sehen, einfach darüber hinweggingen, während sie mit ihrem belanglosen Tagwerk beschäftigt waren.
Er ging durch das Roggenfeld, entfernte sich weiter von allem.
Der Boden unter seinen nackten Füßen wurde dunkel, bis er von einer schwarzen, zähflüssigen Substanz überzogen war, die aus der Erde quoll. Dort, wo der Roggen entsprang, drang auch die Flüssigkeit hervor – tief im Herzen des Feldes.
Er hatte den Mittelpunkt erreicht. Ein Felsblock stand dort, grau und uralt. Er streckte die Hand aus, berührte ihn. Das Gestein war kalt und warm zugleich unter seinen tastenden Fingern, und er schmeckte Blut in seinem Mund.
Zu seiner Rechten drang ein schweres Rascheln durch das Roggenfeld, und als er hinübersah, kam die hochgewachsene, dürre Gestalt auf ihn zu.
Unaufhaltsam ihr Schritt. Zielstrebig. Voller Wut und Fokus. Der Geruch, den sie herantrug, war trocken, heiß und erdig. Er hörte das Knistern ihres Umhangs, der durch das Korn schleifte.
Dann blieb sie stehen.
«Wieder kommst du her.» Ihre Stimme klang wie glühende Kohlen, wie Mahlsteine. «Sieh mich an.»
Er blickte auf. In der Dunkelheit konnte er nur ihre Umrisse ausmachen – nichts, was ein Mensch gebären konnte, würde so aussehen. Sie wirkte, als wäre sie aus einem Garbengebinde entstanden, die Arme lang, der Körper dürr, verborgen unter einem zerschlissenen Umhang, die Augen dunkelrot glühend.
«Hast du Angst?», fragte sie ihn.
«Nein», erwiderte er.
«Natürlich hast du Angst. Lüg mich nicht an.» Ein wenig Glut flog durch die Luft, kleine Funken aus ihrem Mund, als sie leise boshaft lachte. «Aber Angst ist gut. Angst ist ein Lehrmeister.»
«Ich … ich verstehe nicht. Was geschieht …? Bin ich wach? Träume ich? Wir sind schon so oft hier gewesen, oder nicht? Ich kann mich nicht erinnern.»
«Sieh mich an. Du kannst dich erinnern. Streng dich an.»
Er tat es. Auch wenn es ihn erschreckte, was er sah, es ihn anekelte und faszinierte.
«Hör mir zu, dann wirst du es begreifen», sagte das Ding. «Der Morgen bricht bald an, und wir haben nur wenig Zeit.»
«Zeit? Wofür?»
«Stell keine Fragen, dummer Junge.» Sie zischte, und ihm war es, als käme das Zischen von jedem einzelnen der Roggenhalme, die ihn wie ein endloses Meer umgaben. «Wenn die Sonne aufgeht, gibt es Arbeit zu tun. Also hör zu.»
Sie kam noch näher, und entsetzt und erregt zugleich sah er, wie sie eine Hand ausstreckte – schwarz war die Haut, alt, aufgeplatzt und rissig von vielen Schrunden, die Finger von Blasen übersät. «Du weißt es, mein Lieber. Du weißt es.» Ihre Stimme klang mit einem Mal einschmeichelnd, ja, liebkosend. Er genoss den Klang und war ebenso abgestoßen davon.
«Ja. Ich weiß es.»
«Ich würde nie …»
«… nie …», wiederholte er.
«… lügen.»
«Nein.»
Sie war ihm nun ganz nah, und er spürte das innere Feuer, die Hitze, die von ihr abstrahlte. Nein, sie würde ihn niemals belügen.
Die Roggenmuhme log nie.
Nach einer viel zu kurzen Nacht und einem Traum, in dem sie das Gefühl nicht loswurde, jemand stünde direkt an ihrem Bett, fuhr Ella ins Krankenhaus, wo Claire Jurek und Martenitz sie erwarteten.
«Wie geht es ihm?», fragte Ella die übernächtigte Mutter.
«Er isst und trinkt, aber er ist auch noch, wie soll ich es sagen, verstört? Gefangen? So kommt er mir vor. Er spricht wenig. Sieht mich kaum an. Heute Nacht hatte er Albträume.»
Etwas Ähnliches hatte Ella erwartet. «Vielleicht sollten Sie einen Psychologen mit ihm reden lassen. Wir können uns darum kümmern.»
Claire Jurek schürzte vorwurfsvoll die Lippen. «Und vielleicht sollten Sie herausfinden, wo er die ganze Zeit über war.»
«Das werden wir. Wir würden jetzt gern mit ihm reden, wenn es Ihnen recht ist», sagte Ella behutsam. «Begleiten Sie uns bitte? Wir sind rechtlich verpflichtet, Minderjährige nur in Anwesenheit der Erziehungsberechtigten zu befragen.»
«Oh … ja. Klar. Er ist wach.»
Ella öffnete die Tür zum Krankenzimmer, Martenitz und Claire folgten ihr. Maximilian lag im Bett und sah von einem Comicheft auf. Er war recht groß für sein Alter, doch wirkte alles an ihm, als wäre es ein wenig zu lang geraten, als müsste er noch hineinwachsen, und sein Gesicht war noch immer das eines unschuldigen Jungen. Seine Haare waren sehr dunkel und standen von seinem Kopf ab. Da ist Argwohn in seinem Blick, dachte Ella, aber auch Angst. Seiner Mutter warf er nur einen kurzen Blick zu, und sie hielt sich im Hintergrund.
«Max, wir sind von der Polizei. Das ist mein Kollege Nils Martenitz vom Landeskriminalamt, mein Name ist Ella Berger, ich lebe auch in Custrow. Wir sind sehr erleichtert, dass du wieder da bist.» Ella verlieh ihrer Stimme einen betont freundlichen Tonfall.
«Erleichtert, aber auch wieder nicht», sagte Max. Seine Stimme klang rau, als hätte er sie eine ganze Zeit lang nicht benutzt. «Weil ihr wissen wollt, was los war.»
«Das wollen wir sehr gerne wissen, das stimmt.»
«Wo warst du, Junge?», fragte Martenitz. Ella warf ihm einen warnenden Blick zu und hoffte, er würde das Vertrauensverhältnis, das sie zu Max aufbauen wollte, nicht von vorneherein vermiesen.
«Ganz ehrlich, ich muss sagen, dass ich mich nicht mehr richtig erinnern kann.» Max klappte das Comicheft zu und legte es beiseite. «Ich bin noch ein bisschen in unserem Versteck geblieben, nachdem Tom schon nach Hause gegangen war. Wir haben ein Baumhaus gebaut.»
Ella sah, wie Martenitz die Brauen hob.
«Dann … Es war so irgendwann nach sieben, glaub ich. Hab die Kirchenglocken aus dem Dorf gehört. Ich bin also los, raus aus dem Wald und über die Felder.»
«Wieso über die Felder?», fragte Ella und war ein wenig überrascht, dass er so klar und relativ strukturiert berichtete.
«Ist der kürzeste Weg. Ich bin nicht der Einzige, der da lang geht. Die Bauern hassen es, aber es gibt da mittlerweile einen richtigen Trampelpfad.»
«Den haben wir gefunden», brummte Martenitz. «Deinen Schuh übrigens auch.»
«Irgendwas war da», erwiderte Max. Er sah zur Decke hinauf, musste sich erinnern, während sich ein gequälter Ausdruck auf sein Gesicht schlich. Hinter den halb zugezogenen Vorhängen surrte eine dicke Fliege sinnlos wieder und wieder gegen das Glas. «Ich weiß nicht mehr. Es ist mehr so ein Gefühl, an das ich mich erinnere. Ich bin gerannt und hab dabei den Schuh verloren. Dann … Dunkelheit.»
Seine linke Hand, die auf der Bettdecke lag, hatte sich in den Stoff gekrallt. «Danach kann ich mich irgendwie an noch viel weniger erinnern. Stimmen … irgendwelche komischen Stimmen im Dunkeln. Ich war eingesperrt. Es gab eine Tür, da wurde immer was durchgeschoben … Wasser … bisschen was zu essen.»
Ella hatte nicht erwartet, so viel von Max zu erfahren. «Hat jemand dort mit dir gesprochen?», hakte sie behutsam nach.
Eine Träne floss über Max’ Wange. Ella legte mitfühlend ihre Hand auf seine. Er hatte den Punkt erreicht, an den fast alle Entführungsopfer kamen. «Ganz ruhig, Max. Du machst das super. Wenn es nicht geht, dann können wir auch …»
«Geht schon.» Er schüttelte den Kopf. «Kann sein, dass jemand was zu mir gesagt hat. Erinner mich nicht wirklich. Das ist alles in so einem komischen Nebel, als wär es da, aber ich kann einfach nicht mehr drauf zugreifen. Vielleicht bild ich mir das auch nur ein. Aber wieso sollte jemand das überhaupt tun? Wieso …?»
«Ist okay, Max. Alles okay. Du bist jetzt in Sicherheit.»
«Ich weiß nicht. Bin ich das? Wer sagt, dass mir das nicht noch mal passiert?»
«Dir wird nichts mehr geschehen. Erinnerst du dich, wie du dort rausgelangt bist?»
Max starrte über ihre Schulter hinweg, irgendwo ins Leere. «Ich war einfach wieder unter der Sonne. Das Getreide hat sich unter meinen Fingern angefühlt, als würde es brennen … Ich bin nach Hause gegangen.»
Martenitz räusperte sich. «Berger, auf ein Wort, bitte.»
Sie gingen hinaus.
«Ich habe nicht das Gefühl, dass das viel bringt», sagte Martenitz.
«Das sehe ich anders. Ich habe das Gefühl, wenn wir ihm etwas Zeit geben, dann wird ihm noch mehr einfallen.»
«Meinen Sie? Dann nur zu, reden Sie mit ihm. Auch an den kommenden Tagen …» Martenitz seufzte. «Er ist unsere einzige Spur, das weiß ich. Aber Berger, sehen Sie ihn sich an. Er erinnert sich nicht. Ich kenne das. Das gab es schon früher, er braucht Betreuung, viel Zeit, um sich zu erholen, Zeit, die wir nicht haben, wenn wirklich jemand da draußen ist, der Kinder entführt.»
Eine Krankenschwester lief den Korridor entlang, warf ihnen einen Blick zu, sagte aber nichts.
«Es gibt auch noch andere Dinge, die wir in Erfahrung bringen müssen», erwiderte Ella leise. «Die Erde an seinem Schuh. Der Teer. Dann brauchen wir schnell eine Untersuchung seines Bluts, vielleicht gibt es irgendwelche Auffälligkeiten.»
Martenitz brummte zustimmend, was, wie Ella ihn einschätzte, einem Lob gleichkam. «Klingt vernünftig. Dann mache ich dem Labor Druck. Irgendwo werden wir einen Punkt finden, an dem wir ansetzen können.»
«Ich fürchte, wir brauchen Unterstützung», sagte Ella. «Ich spekuliere jetzt, aber wenn Max dem Entführer entkommen konnte, wird ihn das wütend machen. Er könnte Kompensation suchen, Triebabfuhr, ein neues Opfer, falls er es nicht gezielt auf Max abgesehen hatte. Daher würde ich vorschlagen, wir ziehen einen Fallanalytiker hinzu. Jemanden, der sich intensiv mit Max auseinandersetzen kann, damit wir Rückschlüsse auf den Täter ziehen können. Der Junge erinnert sich ganz eindeutig daran, irgendwo eingesperrt gewesen zu sein. Das ist zu ernst, um es zu ignorieren.»
«Sicher, Berger. Aber manchmal kann es Jahre dauern, bis ein Entführungsopfer sich erinnert, selbst mit professioneller Hilfe. Aber ja, was den Analytiker angeht, haben wir Glück: Eine Kollegin vom LKA hat sich schon bereit erklärt vorbeizuschauen. Sie werden sie später kennenlernen.»
Claire Jurek war zurück, hatte zwei Flaschen Wasser in den Händen und blickte den beiden Ermittlern entgegen. «Hat Max irgendetwas Brauchbares gesagt?»
«Durchaus», antwortete Ella. «Ich würde in den kommenden Tagen gern noch häufiger mit ihm sprechen, wenn Ihnen das recht ist.»
«Es belastet ihn doch nicht, oder?»