Wer auch immer du bist - Bettina Mann - E-Book

Wer auch immer du bist E-Book

Bettina Mann

4,9

Beschreibung

Briefe schreiben kann das Leben erleichtern. Das denkt auch Rosalie Parker, die versehentlich Post von einer Unbekannten erhält. Sie packt das Schicksal beim Schopf und antwortet mit einem gefühlsgeladenen Brief, was ihr gerade chaotisches Leben und die unglückliche Liebe zu einem Mann, der für sie unerreichbar ist, widerspiegelt. Was anfänglich wie ein unschöner Briefwechsel zwischen einer jungen und einer älteren Frau beginnt, wird allmählich zu einer kostbaren Brieffreundschaft. Was Rosalie nicht weiß: L. Maria Talhoff ist nicht wie angenommen eine ältere Dame. Die Situation spitzt sich zu, als Talhoff sie besuchen möchte.

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Seitenzahl: 170

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Zur Autorin

Bettina Mann, geboren 1969, lebt mit ihren Kindern in Stuttgart.

Berufliche Stationen

Studium an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg

Legasthenietherapeutin

Arbeitet seit 2000 an diversen Schulen im Raum Stuttgart.

»Wer auch immer du bist« ist ihr erster Roman.

Homepage: www.bettym.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

1

Sie stand vor dem Spiegel und zog einen Schmollmund. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, sie hasste ihren neuen Look! Ihre kurzen rotbraunen Haare standen ihr wild vom Kopf ab und schienen sich nicht bändigen zu lassen. In dem neuen eleganten Kleid, das ihr bis knapp über die Knie reichte, kam sie sich vor wie eine feine Dame, die ihre mondäne Erscheinung zur Schau stellen wollte. Nein, das war nicht sie – Rosalie Parker. Das passte nicht zu ihr. Eigentlich trug sie sonst fast ausschließlich Jeans, dazu ein Top, kombiniert mit verrückten Accessoires. Kein Wunder, dass sie sich nun sichtlich unwohl fühlte.

All das veranstaltete sie nur für ihn – den Mann, der sie vom ersten Augenblick an fasziniert, ja regelrecht gefesselt hatte. Sie hatte sich das nur angetan, weil er unlängst erwähnte, dass er Kleider und freche Kurzhaarschnitte überaus sexy fand. Sie sah noch einmal in den Spiegel. Dafür hatte sie nun also ihr Selbst aufgegeben! Sie wusste schon im selben Moment, als die Haare fielen, dass es ein Fehler gewesen war. Aber es war inzwischen wie eine Sucht, ihm gefallen zu wollen, und dagegen fühlte sie sich absolut machtlos.

Er war ein Mann, wie Rosalie ihn sich immer gewünscht hatte: groß, breitschultrig, dunkelhaarig. Außerdem hatte er beinahe ihre Lieblingsaugenfarbe: Blau – allerdings eher ein sattes Dunkelblau als ein leuchtend helles Stahlblau, wie sie es sich ausgesucht hätte, wenn sie hätte wählen dürfen. Er entsprach nicht unbedingt dem allgemeinen Bildnis eines Traummannes, aber das war ihr seltsamerweise von Anfang an egal gewesen. Dass seine Nase ein wenig zu groß war, spielte genauso wenig eine Rolle wie seine nicht zu übersehende Zahnlücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen. Rosalie fand trotz allem, dass er anziehend aussah, und vor allen Dingen – und das war ihr das Wichtigste – wirkte er unglaublich männlich!

Wann immer sie in seiner Nähe war, spürte sie diese Überlegenheit, die er ausstrahlte. Sie konnte seinen maskulinen Geruch im Treppenhaus noch wahrnehmen, wenn er schon längst hinter seiner Wohnungstüre verschwunden war, und manchmal ließ es ihr dabei den Atem stocken. Wann immer Rosalie konnte, beobachtete sie seine kraftvollen Bewegungen bis ins kleinste Detail und hätte sich ihm am liebsten hingegeben. Doch dann schämte sie sich jedes Mal für ihre aufkeimenden tiefen Gefühle und verbotenen Gedanken, die schon beinahe in Begierde umschlugen.

Das alles wäre ja noch gar nicht so schlimm gewesen, wäre da nicht die Tatsache, dass er bereits eine Freundin hatte.

Jonathan Ties war 37 Jahre alt und wohnte direkt nebenan. Vor einigen Monaten war er dort eingezogen – damals noch als Single. Seine Wohnung war, ähnlich wie Rosalies, eine zwar renovierungsbedürftige, aber praktisch geschnittene Zweizimmerwohnung mit einem kleinen Balkon, der zur Straße hinausführte. Rosalie konnte, wenn sie selbst draußen war, direkt zu ihm hinübersehen.

Genauso hatten sie sich auch kennengelernt. An einem der ersten Frühlingstage des Jahres, als sich Rosalie mit einer Tasse Kaffee und einem guten Buch auf ihren Balkon setzte, hörte sie den neuen Nachbarn durch das offene Fenster fluchen. Ihm war ganz offensichtlich etwas zu Bruch gegangen, denn der Klang von zerspringenden Scherben war ihr wohlbekannt. Ihr selbst passierte das so ungefähr dreimal die Woche. Das lag an der deutlich zu kleinen Küche, in der man nicht einmal genügend Platz hatte, sich umzudrehen, ohne mit dem Ärmel an unaufgeräumtem Geschirr hängenzubleiben und es zu Boden zu reißen. Ihr Fazit war also, die Küche stets unverzüglich in Ordnung zu bringen, um nicht doch noch Opfer ihres Chaoshaushaltes zu werden.

Rosalie musste unwillkürlich lächeln, als sie diese allzu vertrauten Geräusche aus der Nachbarwohnung vernahm. Sie beugte sich über die Brüstung und rief: »Hallo? Brauchen Sie eventuell die Unterstützung meines Hightechstaubsaugers?«

Zunächst schob sich ein wuschliger Kopf durch die Balkontüre, dann kam der Rest des erstaunt dreinblickenden Mannes zum Vorschein. Als er Rosalie direkt gegenüber erspähte, breitete sich auf seinem gerade noch genervten Gesichtsausdruck ein kleines schiefes Lächeln aus.

»Guten Morgen! Sie sind also meine Nachbarin. Ich bin Jonathan – Jonathan Ties, ihr Hauszuwachs.« Er lachte. »Tatsächlich bin ich erst gestern hier eingezogen und hatte noch keine Gelegenheit, mich vorzustellen.« Er zögerte einen Moment, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Die Sache mit dem Staubsauger klingt gut. In all dem Durcheinander von Umzugskisten würde es wahrscheinlich eine halbe Ewigkeit dauern, bis ich mein eigenes altmodisches Gerät gefunden hätte.« Das Wort »altmodisch« betonte er und zwinkerte ihr zu.

Rosalie legte ihr Buch zur Seite. »Ist gut, ich komme rüber!«

Kaum zwei Minuten später stand sie bei Jonathan in der Küche und half ihm das Chaos zu beseitigen.

»Ist aber auch verdammt eng hier«, meinte ihr neuer Nachbar und deutete auf die schmale Ablagefläche. »Da fragt man sich schon, wer so etwas konzipiert hat.«

Rosalie kicherte. »Du kannst dir sicher sein, wir haben hier im Haus alle schon einmal die gleiche Erfahrung gemacht und wenn es dich beruhigt – nicht nur einmal. Also, stell dich schon mal drauf ein, es wird vermutlich nicht das letzte Mal gewesen sein.«

Dass sie ganz selbstverständlich zum Du übergegangen war, schien Jonathan nicht im Geringsten zu stören. Im Gegenteil. Er nickte amüsiert und wischte noch einmal mit einem alten Lappen über den Fußboden.

»Nur schade, dass sich nun mein Frühstück verabschiedet hat.« Er blickte ein wenig niedergeschlagen auf den Müllsack, der neben ihm stand. »So ein leckeres Croissant zum morgendlichen Kaffee wäre schon eine feine Sache gewesen.«

Rosalie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Also, falls du noch Hunger hast – ich hätte da noch einiges in meinem Vorratsschrank und ein Kaffee ist schnell noch einmal aufgebrüht.«

Er erhob sich und lächelte dankbar. »Ich glaube, du hast mir eben meinen Sonntagvormittag gerettet. Bist du vielleicht so etwas wie ein wandelnder Engel auf Erden? Erst der Staubsauger, jetzt ein zweites Frühstück – nein, eigentlich wäre es ja mein erstes.«

Sie zwinkerte ihm zu und bedeutete ihm, ihr in ihre eigenen vier Wände zu folgen.

Die beiden verbrachten einen sehr unterhaltsamen Vormittag. Jonathan erzählte von seinem Umzug und Rosalie schilderte das bunte Hausleben ausführlich, betonte aber, dass sie bisher mit ihren Nachbarn noch nicht so ganz warmgeworden war, außer mit der alten Dame, die unter ihr wohnte. Sie beschlossen, dies für die Zukunft zu ändern und ihr kleines Treffen bei nächster Gelegenheit zu wiederholen.

Als Jonathan gegangen war, spürte Rosalie ihr Herz heftig schlagen. Was passierte da gerade mit ihr? Sie spürte Emotionen in sich auflodern, die seit Ewigkeiten irgendwo begraben schienen. Das alles kam ihr äußerst beängstigend vor. Reflexartig versuchte sie ihren Verdrängungsmechanismus in Gang zu setzen. Schließlich kannte sie diesen Jonathan kaum – um genau zu sein erst seit knapp zwei Stunden. Wie konnte es sein, dass er gleich solche Gefühle in ihr auslöste? War sie nun schon so ausgehungert, dass sie sich dem erstbesten Typen, der ihren Weg kreuzte, an den Hals werfen wollte?

Gut, sie hatte bereits seit fast drei Jahren keine feste Beziehung mehr gehabt und während der ganzen Zeit auch nur ein einziges Techtelmechtel, das sie seitdem zutiefst bereute, aber es war eben nun mal nicht mehr rückgängig zu machen und sie war schließlich auch keine Heilige.

Dennoch war dies alles doch kein Grund, nun so gefühlsduselig zu werden. Sie musste schleunigst einen kühlen Kopf bekommen.

Wie benebelt drehte sie sich im Kreis und ihre Gedanken mit ihr.

Da blieb nur eines: Hausarbeit! Je mehr, umso besser. Sie machte sich tatkräftig an die Arbeit. Vielleicht wäre die Sache ja doch noch zu etwas nütze!

2

In den kommenden Wochen trafen sie sich immer öfter. Nach der Arbeit oder am Wochenende frühstückten sie gemeinsam und manchmal gingen sie sogar abends aus. Rosalie zeigte Jonathan die schönsten Fleckchen der Stadt und nahm ihn sogar das ein oder andere Mal mit zu Freunden, mit denen sie sich gelegentlich traf. Manchmal fragte sie sich, ob da nun eigentlich mehr zwischen ihnen war als nur eine Nachbarschaft: eine sich langsam entwickelnde Beziehung, ein zartes Pflänzchen, das jeden Tag ein winziges bisschen wuchs und gedieh und irgendwann zu voller Blütenpracht erstrahlen würde.

Wenn sie ganz ehrlich war, wünschte sie sich nichts lieber als das.

Umso schmerzlicher hatte es sie getroffen, als er eines Morgens auf ihr Klingeln hin die Tür öffnete und Rosalie auf dem Sofa eine hübsche junge Frau im Morgenmantel erblickte.

»Hallo, Jonathan. Ich, wollte dich, … also ich …«, begann sie zu stammeln, »ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du Lust hättest, eine Tasse Kaffee mit deiner Lieblingsnachbarin zu trinken?« Dass das Frühstück mit ihm am Wochenende für sie schon beinahe eine obligatorische Verabredung war, erwähnte sie nicht. Stattdessen zog sie ein etwas gequältes Lächeln, während ihre Augen die schöne Unbekannte im Hintergrund musterten.

Jonathan druckste ein wenig verlegen herum, erwähnte etwas von einer kurzen Nacht und entschuldigte sich, dass er ihr gemeinsames Frühstück vergessen hatte. Ein wenig unentschlossen fuhr er sich durchs Haar und wich ihrem Blick aus.

Rosalie murmelte ein »Ist schon okay« und drehte sich hastig um, bevor er die Tür hinter sich schloss. Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, stellte sie sich vor, wie er mit dieser Blondine nun genau das tat, wovon sie selbst seit ihrer ersten Begegnung mit ihm jede Nacht träumte.

Dieses Leben war wieder einmal so ungerecht, als würde es sie bestrafen wollen für eine Schuld, von der sie gar nichts wusste.

Die Tage vergingen und Rosalie tat alles dafür, Jonathan nicht mehr begegnen zu müssen. Im Büro schüttete sie sich mit Arbeit zu und wann immer sie zu Hause war, beschäftigte sie sich, telefonierte, putzte wie eine Irre – schließlich hatte dieses Ablenkungsmanöver ja schon einmal geholfen – und vermied es tunlichst, einen Fuß auf ihren Balkon zu setzen, denn die Gefahr, ihn dort an einem lauen Sommerabend bei einem Glas Bier oder Wein anzutreffen, war leider groß; so groß, dass sie bereits zu zittern begann, wenn sie nur daran dachte. Das größte Übel dabei wäre, nicht nur ihn in ihr Blickfeld zu bekommen, sondern sein Anhängsel, wie Rosalie Jonathans neue Freundin heimlich nannte, gleich mit.

Letztlich wusste sie natürlich nicht wirklich, ob die junge Frau in enger Beziehung zu ihm stand, vielleicht war es ja auch nur eine harmlose Affäre oder die Freundin eines Freundes, die bei ihm Unterschlupf gesucht hatte. Es gab sicherlich eine Unzahl an Erklärungsmöglichkeiten – am liebsten wäre es ihr gewesen, es wäre seine Schwester, die vorübergehend bei ihm einziehen musste, weil ihr grässlicher Freund sie betrogen oder verlassen hatte. Dass eine solche Geschichte nur Wunschdenken war, war Rosalie zu jeder Sekunde bewusst. Diese Idee war geradezu lächerlich, aber sie war eben ein letzter Versuch, die heile rosa Welt zu erhalten, die sie sich in den vergangenen Wochen aufgebaut hatte.

Gedankenverloren nahm sie die Post zur Hand, die sie kurz zuvor aus ihrem Briefkasten genommen hatte und sah sie der Reihe nach durch. Werbung, Werbung und nochmals Werbung, dann noch eine Benachrichtigung ihrer Bank und … ja, da war noch ein Brief, adressiert an R. Parker von einer gewissen L. Maria Talhoff. Wer mochte das sein?

Sie ging im Kopf sämtliche Namen aus ihrem Geschäfts- und Privatleben durch, doch ohne Erfolg. Der Name war ihr gänzlich unbekannt.

Rosalie holte den Brieföffner von ihrem Schreibtisch und machte den Umschlag vorsichtig mit einer gekonnten Handbewegung auf. Sie zog den Brief heraus und entfaltete ihn.

Hallo, Robert,

es muss nun schon bald zwei Jahre her sein, dass wir beide uns das letzte Mal gesehen haben. Neulich habe ich ein paar Fotos von uns in Händen gehalten und darüber nachgedacht, wie schade es wäre, wenn wir uns einfach so aus den Augen verlieren würden. Schließlich haben wir beide schon eine Menge zusammen erlebt. Als Du damals aus Schotten weggezogen bist, hat mich das hart getroffen. Die gemütlichen Abende in unserer Dorfkneipe vermisse ich seitdem ebenso wie unsere Spaziergänge, bei denen Du mir so viel Wissenswertes über Deine neuesten beruflichen Fortbildungen erzählt und mich damit selbst auf interessante Ideen gebracht hast. Es würde mich interessieren, was aus Dir und Deinem Leben geworden ist. Ich hoffe, es ist kein schlechtes Zeichen, dass du dich so lange nicht mehr gemeldet hast.

Es wäre schön, wenn wir uns einmal wieder treffen könnten.

Viele Grüße

L.M. Talhoff

Rosalie schob den Brief zurück in seinen Umschlag. Ganz offensichtlich handelte es sich hierbei um eine Verwechslung. Nicht Rosalie Parker, sondern Robert Parker hätte den Brief erhalten sollen. Sie besah sich das Kuvert noch einmal genauer. R. Parker. Liebigstraße 15 in Frankfurt. Das war eindeutig ihre Anschrift.

Wie konnte das sein? Sie drehte den Brief in ihren Händen und überlegte. Vielleicht war die Absenderin nur im Besitz einer unvollständigen Anschrift ihres Adressaten. Sie kannte offenbar lediglich seinen Namen und den Wohnort und hatte sich über das Telefonverzeichnis die vermeintliche Adresse herausgesucht. Rosalie selbst hatte bei ihrem Eintrag ins örtliche Telefonbuch ihren Vornamen tatsächlich nicht ausschreiben lassen. Sie fühlte sich sicherer, wenn nicht jeder auf den ersten Blick ihre Identität kannte. Alleinstehende Frauen waren ja leider nicht selten Opfer von Telefonterror. Sie nickte bestätigend. So und nicht anders musste es gewesen sein. Jedenfalls fiel ihr keine andere vernünftige Erklärung ein. Sie legte den Brief zur Seite und dachte kurz darüber nach, ihn an die Absenderin zurückzuschicken.

Sie stellte sich vor, wie die Frau, die sich hier offensichtlich sehr viel Mühe gemacht hatte, einen Kontakt wiederherzustellen, der vermutlich schon seit längerem auf Eis lag, erwartungsvoll zu Hause saß und auf Antwort hoffte. Rosalie dachte an Jonathan und rümpfte die Nase. Das bringt doch sowieso alles nichts. Am Ende sind doch immer die Ehrlichen und Netten die Dummen! Verärgert knüllte sie den Brief zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Sie würde dieser Maria vermutlich einiges an Leid und Ärger ersparen, wenn sie das Schreiben einfach auf sich beruhen lassen würde. So konnte diese Frau dann wenigstens noch eine Weile von ihrem Liebsten träumen und im Zweifelsfall annehmen, den Brief doch falsch adressiert zu haben. Hiermit schien die Sache für Rosalie beendet. Doch es kam anders.

Drei Wochen später fand Rosalie erneut einen Brief von L. Maria Talhoff in ihrem Briefkasten. Diese Frau schien nicht so schnell aufzugeben. Rosalie wurde neugierig und öffnete den Umschlag noch im Treppenhaus.

Hallo, Robert,

nachdem ich Dir vor einigen Wochen schon einmal geschrieben, aber seitdem noch nichts von Dir gehört habe, gibt es wohl nur zwei Möglichkeiten, warum ich noch keine Antwort erhalten habe. Erstens, du wohnst nicht in der Liebigstraße 15 und scheinst innerhalb der letzten zwei Jahre Frankfurt verlassen zu haben, oder Du bist auf Reisen. Möglichkeit Nummer drei – Du hattest bis dato keine Zeit und/oder Lust, Dich bei mir zu melden – lasse ich nicht gelten. Und die Briefträger sind derzeit ja auch nicht auf Streik, was Möglichkeit vier ebenfalls ausschließt. Solltest Du also demnächst von Deiner Reise zurückkehren, dann melde Dich doch bitte bei mir. Es gibt da so einiges zu erzählen. Ich denke, das dürfte selbst Dich interessieren.

Bis dahin viele Grüße

L.M. Talhoff

Ganz schön direkt, die Dame, dachte Rosalie. Sie scheint nicht gerade zimperlich zu sein. Aber gut, dann weiß man wenigstens, woran man ist und bekommt ehrliche Fragen und Antworten.

Etwas ungeschickt steckte sie den Brief zurück in seinen Umschlag und schmunzelte. Na ja, so viel Hartnäckigkeit musste eigentlich belohnt werden. Sie schloss die Wohnungstüre auf, zog ihre Schuhe aus und warf den Brief auf den Küchentisch.

Der Tag war anstrengend gewesen. Das Telefon bei der Arbeit hatte nicht stillgestanden und die Kunden waren derzeit extrem ungeduldig – dazu noch ein ständig quengelnder Chef! Wer sollte das auf Dauer aushalten? Ihr wurde wieder einmal bewusst, dass sie die Stelle bei Morano Industries eigentlich schon lange wechseln wollte. Entweder sie bekam intern einen neuen Arbeitsplatz oder sie musste den Gedanken über einen Wechsel zur Konkurrenz endlich weiterdenken und die Sache dann auch tatkräftig angehen.

Sie angelte aus dem Küchenschrank ein Weinglas und holte aus dem Regal das Fläschchen Merlot, das sie bereits am Vorabend geöffnet hatte. Nachdem nun Jonathan kaum noch bei ihr vorbeischaute, musste sie wohl oder übel ihre Weinvorräte selbst vernichten. Selbstverständlich würde sie sich niemals aus Frust betrinken. Das war schließlich kein Mann wert! Sie wollten doch sowieso alle nur das eine! Um Rosalies Mund machte sich ein verächtliches Lächeln breit. Nein, das war wohl nicht ganz korrekt. Er hatte nicht einmal das eine von ihr gewollt. Jonathan wollte eben nur die eine, und die hatte er ja jetzt. Was brauchte er da noch eine nette Nachbarin, mit der er seinen Feierabend oder gar sein Wochenende gestalten konnte? Sie war wieder mal völlig überflüssig.

Aufgewühlt trank sie das Glas zu schnell aus und goss sich noch einmal nach. Um nicht ganz auf leeren Magen zu trinken, griff sie nach ein paar Salzstangen, die in einem Becher auf der Anrichte standen. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und nahm noch einmal den Brief zur Hand, den sie vorher dort abgelegt hatte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, aber sie erinnerte sich noch gut an die Zeilen, die sie kurz zuvor gelesen hatte.

Nachdem sie auch das zweite Glas geleert hatte, fällte sie einen Entschluss.

Sie würde dieser Maria Talhoff dann wohl doch einmal reinen Wein einschenken müssen, wenn nicht noch weitere Briefe an Robert Parker bei ihr ankommen sollten. Ihr Liebster schien sich aus dem Staub gemacht zu haben. Sie lachte auf. Dann bekam ihr Blick etwas Melancholisches. Nein, es tat ihr durchaus leid, dass sie der Dame die Illusionen zerstören musste – aber wenigstens war sie darin schon geübt.

Rosalie setzte sich an den Schreibtisch und kramte in der Schublade nach einem Stift. Es fiel ihr nicht ganz leicht, einen passenden Anfang zu finden. Wie sagt man jemandem, den man gar nicht kennt, dass nun bereits der zweite Brief falsch zugestellt wurde und der erste gar in den Mülleimer gewandert war? Nun ja, das musste sie ja so ausführlich nicht schreiben. Sie konnte ja einfach nur ganz sachlich zwei oder drei Sätze aufs Papier bringen und die Sache richtigstellen. Nach kurzer Überlegung schrieb sie:

Sehr geehrte Frau Talhoff,

Kaum geschrieben, strich sie die Zeile wieder durch.

Nein, das war wirklich unpassend und viel zu förmlich. Sie begann von neuem:

Liebe Frau Talhoff,

es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie Ihre Briefe an eine falsche Adresse geschickt haben.

Wieder hielt sie inne. Ihr schwirrte der Kopf, aber sie nahm noch einen Schluck und fuhr fort:

Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, denn einen Robert Parker kenne ich nicht, und wenn Sie einen guten Rat von mir beherzigen möchten: Lassen Sie das lieber mit den Männern!

Den letzten Satz strich sie ganz – so, wie der Brief jetzt schon aussah, würde sie das alles nochmals ins Reine schreiben müssen. Sie nahm den Stift noch einmal zur Hand und schrieb stattdessen:

Falls ich Ihnen einen Rat geben darf: Einen Mann, der selbst nicht die Initiative ergreift und sich nicht um die Frau bemüht, die sich ganz offensichtlich für ihn interessiert, den können Sie meistens gleich in der Pfeife rauchen!

Zufrieden lehnte sich Rosalie zurück. Ja, das musste sie einfach noch loswerden! Man konnte diese Frau ja schließlich nicht ins offene Messer laufen lassen.

Sie fügte noch eine abschließende Grußformel an, faltete den Brief danach zweifach und steckte ihn in ein passendes Kuvert. Glücklicherweise hatte sie auch noch eine Marke zur Hand. So musste sie deshalb nicht extra auf die Post. Das Ganze kostete sie schon Mühe genug.

Da sie sowieso nichts Besseres zu tun hatte, beschloss sie einen kleinen Abendspaziergang zum Briefkasten zu machen.

Eine gewisse Zufriedenheit machte sich in ihr breit, nachdem sie den Brief eingeworfen hatte und versöhnte sie mit ihren aufgewühlten, wenig positiv gestimmten Gedanken.

Das Licht bei Jonathan war schon aus, oder vielleicht war es auch einfach nicht an, weil er noch gar nicht zu Hause war. Oder noch schlimmer: Es war deshalb schon wieder aus, weil er mit seiner Liebsten Dinge tat, die sie sich nicht wirklich im Detail vorstellen wollte.