Wer die Lilie träumt - Maggie Stiefvater - E-Book + Hörbuch

Wer die Lilie träumt E-Book und Hörbuch

Maggie Stiefvater

4,5

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Beschreibung

Mit jedem Tag, den Blue mit Gansey verbringt, fällt es ihr schwerer, sich nicht in ihn zu verlieben - obwohl sie weiß, dass ein Kuss von ihr der Grund für seinen nahen Tod sein könnte. Sie ist fasziniert von seiner leidenschaftlichen Suche nach dem verschwundenen König Glendower, und in der knisternden Hitze des Sommers kommen Blue, Gansey und die Raven Boys diesem Ziel immer näher. Vor allem Ronans Fähigkeit, Gegenstände aus seinen Träumen in die reale Welt zu bringen, lässt die Lösung greifbar werden. Doch das Spiel mit der Traumwelt ist gefährlich und Blue und ihre Freunde sind nicht die Einzigen, die sich ihre Wünsche herbeiträumen wollen … Albträume, die zum Leben erwachen, charmante Auftragskiller und eine verbotene Liebe: Meisterhaft kombiniert Spiegel-Bestsellerautorin Maggie Stiefvater die lebendige Schilderung der Realität mit übernatürlichen Elementen und schafft so eine fesselnde Geschichte, die ihre Leser von der ersten Seite an begeistern wird. "Wer die Lilie träumt" ist der zweite von vier Bänden. Der Vorgängertitel lautet "Wen der Rabe ruft".

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Seitenzahl: 614

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Zeit:16 Std. 5 min

Sprecher:Madiha Kelling Bergner
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Beliebtheit




Für Jackson, in Erinnerugn an zahlreiche Chat-Vertipper

Was, wenn du schliefst?

Und was, wenn du in deinem Schlaf träumtest?

Und was, wenn du in deinem Traum in den Himmel aufstiegst

und dort eine wunderschöne, fremdartige Blume pflücktest?

Und was, wenn du diese Blume

beim Erwachen in der Hand hieltest?

Ja, was dann?

SAMUEL TAYLOR COLERIDGE

Die, die während der Nacht in der staubigen Tiefe ihres Verstandes träumen, wachen am Tage auf, um zu entdecken, daß alles nur Wahn war; aber die Tagträumer sind gefährliche Menschen, denn sie können ihren Tagtraum mit offenen Augen darstellen, um ihn wahr zu machen.

T.E. LAWRENCE

Ich kann Hundebesitzer nicht leiden. Das sind alles Feiglinge,

PROLOG

Ein Geheimnis ist etwas Seltsames.

Es gibt drei verschiedene Arten von Geheimnissen. Die erste ist jedem vertraut, die Art, für die mindestens zwei Personen nötig sind. Eine, die es bewahrt. Und eine weitere, die nie davon erfahren wird. Mit der zweiten Art – dem Geheimnis, das man vor sich selbst hat – verhält es sich schon etwas komplizierter: Die Welt ist voll von bekenntnislosen Bekennern und keiner von ihnen ahnt, dass sich all seine nie eingestandenen Geheimnisse unter einem einzigen Satz zusammenfassen ließen: Ich habe Angst.

Und schließlich gibt es noch eine dritte Art von Geheimnis und diese ist am schwierigsten aufzuspüren. Das Geheimnis, von dem niemand weiß. Möglich, dass einmal jemand davon gewusst hat und es mit ins Grab genommen hat. Oder aber es handelt sich um irgendein nutzloses Mysterium, verwaist und obskur, das unentdeckt geblieben ist, weil nie jemand danach gesucht hat.

Selten, sehr selten, bleibt ein Geheimnis auch verborgen, weil es zu groß ist, um vom menschlichen Verstand erfasst zu werden. Manches ist einfach zu verrückt, zu gigantisch, zu furchterregend, als dass man auch nur darüber nachdenken könnte.

Wir alle haben Geheimnisse. Wir sind ihre Bewahrer oder diejenigen, vor denen sie bewahrt werden. Geheimnisse und Kakerlaken – mehr wird am Ende nicht von uns übrig bleiben.

Ronan Lynch lebte mit allen drei Arten von Geheimnissen.

Das erste hatte mit seinem Vater zu tun. Niall Lynch war ein Dichter mit Hang zur Prahlerei, gescheiterter Musiker und charmanter Lebenskünstler, der, in Belfast aufgewachsen, ursprünglich aus Cumbria stammte, und Ronan liebte ihn wie nichts anderes auf der Welt.

Niall war ein gaunerhaftes Schlitzohr, aber die Lynchs lebten in Reichtum. Womit er sein Geld verdiente, war vielen ein Rätsel. Manchmal blieb er monatelang fort und niemand wusste, ob sein Verschwinden beruflicher Natur oder seinen kriminellen Machenschaften geschuldet war. Jedes Mal kehrte er mit einem Arm voller Geschenke und unvorstellbaren Bergen von Geld nach Hause zurück, doch für Ronan war das Erstaunlichste stets Niall selbst. Jeder Abschied fühlte sich an, als könnte es der letzte sein, und so war jede Rückkehr wie ein kleines Wunder.

»Als ich auf die Welt kam«, sagte Niall Lynch zu seinem mittleren Sohn, »hat Gott die Form, aus der ich gebildet wurde, mit solcher Wucht zerschmettert, dass die Erde gebebt hat.«

Das allein war bereits eine Lüge, denn wenn Gott wirklich Nialls Form zerbrochen hätte, müsste er zwanzig Jahre später einen täuschend ähnlichen Ersatz gehabt haben, mit dem er Ronan und seine zwei Brüder, Declan und Matthew, schuf. Die drei Brüder konnte man mit Fug und Recht als äußerst ansehnliche Kopien ihres Vaters bezeichnen, obwohl jeder von ihnen einen anderen seiner Vorzüge geerbt hatte. Declan verstand es genauso gut wie er, einen Raum für sich einzunehmen, bis dieser ihm buchstäblich die Hand schüttelte. In Matthews Locken waren Nialls Liebenswürdigkeit und Humor verwoben. Und Ronan hatte all das mitbekommen, was noch übrig war: gleißende Augen und ein kampfbereites Lächeln.

Von ihrer Mutter war in keinem von ihnen viel zu entdecken.

»Wirklich, es war ein richtiges Erdbeben«, erklärte Niall, als hätte jemand gefragt – und so wie man Niall kannte, hatte das vermutlich sogar jemand getan. »Vier Komma eins auf der Richterskala. Bei allem darunter hätte die Form auch höchstens einen Sprung bekommen, aber zerbrochen wäre sie nicht.«

Ronan war damals noch nicht besonders gut darin gewesen zu glauben, aber das war in Ordnung, denn sein Vater wollte, dass man ihn bewunderte, nicht, dass man ihm seine Geschichten abkaufte.

»Und bei dir, Ronan«, sagte Niall. Er sprach »Ronan« nicht so aus wie gewöhnliche Wörter. Sondern eher so, als hätte er eigentlich etwas vollkommen anderes sagen wollen – etwas wie »Messer« oder »Gift« oder »Rache« – und sich erst im allerletzten Moment doch für Ronans Namen entschieden. »Als du geboren wurdest, sind die Flüsse ausgetrocknet und die Kühe auf den Weiden von Rockingham County haben Blut geweint.«

Diese Geschichte hatte er schon öfter erzählt, obwohl Ronans Mutter, Aurora, beharrlich behauptete, sie sei gelogen. Als Ronan zur Welt gekommen sei, sagte sie, seien an den Bäumen Blüten gesprossen und die Raben über Henrietta hätten gelacht. Und während seine Eltern sich immer weiter über die Umstände seiner Geburt zankten, wies Ronan sie kein einziges Mal darauf hin, dass doch auch beide Versionen wahr sein könnten.

Eines Tages fragte Declan, der älteste der Lynch-Brüder: »Und was ist bei meiner Geburt passiert?«

Niall Lynch sah ihn an und antwortete: »Keine Ahnung. Da war ich nicht dabei.«

Wenn Niall »Declan« sagte, klang es immer, als habe er auch »Declan« sagen wollen.

Dann verschwand Niall für einen weiteren Monat. Ronan nutzte die Gelegenheit dafür, die »Schober«, wie die Familie Lynch liebevoll ihren riesigen Landsitz nannte, nach Hinweisen darauf zu durchstöbern, woher Nialls Geld kam. Er fand nichts über die Arbeit seines Vaters heraus, dafür aber einen vergilbten Zeitungsausschnitt in einer rostigen Metalldose. Der Artikel stammte aus dem Geburtsjahr seines Vaters. Nüchtern wurde darin über das Erdbeben von Kirkby Stephen berichtet, das im gesamten Norden Englands sowie im südlichen Teil Schottlands zu spüren gewesen war. Vier Komma eins. Bei allem darunter hätte die Form auch höchstens einen Sprung bekommen, aber zerbrochen wäre sie nicht.

Im Dunkel der darauffolgenden Nacht kehrte Niall Lynch nach Hause zurück und als er erwachte, stand Ronan neben seinem Bett in dem kleinen weiß getünchten Elternschlafzimmer. Die Morgensonne tauchte sie beide in engelhaftes Weiß, was an sich schon eine Lüge war. In Nialls Gesicht klebten Blut und blaue Blütenblätter.

»Ich habe gerade vom Tag deiner Geburt geträumt«, sagte Niall, »Ronan.«

Er wischte sich das Blut von der Stirn, um Ronan zu zeigen, dass sich keine Wunde darunter befand. Die darin gefangenen Blütenblätter hatten die Form winziger Sterne. Ronan war verblüfft, mit welcher Sicherheit er wusste, dass sie der Fantasie seines Vaters entsprungen waren. Noch nie war er sich einer Sache so sicher gewesen.

Die Welt klaffte auf und dehnte sich, plötzlich unendlich.

Ronan erwiderte: »Ich weiß, woher das Geld kommt.«

»Verrate es niemandem«, sagte sein Vater.

Dies war das erste Geheimnis.

Das zweite Geheimnis war perfekt verborgen. Ronan sprach es nicht aus. Ronan dachte nicht einmal daran. Dieses zweite Geheimnis, dasjenige, das er vor sich selbst hatte, fasste er niemals auch nur in Worte.

Doch es war immer da.

Und dann, drei Jahre später, träumte Ronan vom Auto seines Freundes, Richard C. Gansey III. Gansey vertraute ihm bedingungslos, es sei denn, es ging um Waffen. Um Waffen oder eine einzige andere Sache – seinen teuflisch grellen dreiundsiebziger Camaro mit den schwarzen Rallyestreifen. In wachem Zustand brachte Ronan es nie weiter als bis auf den Beifahrersitz. Wann immer Gansey die Stadt verließ, nahm er seinen Autoschlüssel mit.

In Ronans Traum jedoch war Gansey nicht da, dafür aber der Camaro. Der Wagen wartete in der Ecke eines verlassenen, leicht abschüssigen Parkplatzes auf ihn und in der Ferne schimmerten geisterhaft blau die Berge. Ronans Hand schloss sich um den Griff der Fahrertür. Er testete seine Kraft. Sie war erträumt und reichte lediglich für die Vorstellung davon, eine Tür zu öffnen. Aber das war genug. Ronan ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Die Berge und der Parkplatz waren reine Fantasie, den Geruch im Inneren des Wagens jedoch steuerte sein Erinnerungsvermögen bei: Benzin, Kunstleder, alte Fußmatten und viele, viele Jahre umschlossen ihn.

»Der Schlüssel steckt«, dachte Ronan.

Und genauso war es.

Der Schlüsselbund baumelte am Zündschloss, verlockend wie eine metallene Frucht, und Ronan konzentrierte sich eine Weile auf das Bild in seinem Bewusstsein. Ein paarmal schob er den Schlüsselbund zwischen dem Traum und seinem Gedächtnis hin und her und dann schloss er die Hand darum. Er fühlte das weiche Leder und die ausgefransten Kanten des Etuis, das kalte Metall des Rings und des Kofferraumschlüssels, die schmale, scharfkantige Verheißung des Zündschlüssels zwischen seinen Fingern.

Dann wachte er auf. Als er die Hand öffnete, lagen die Schlüssel darin. Vom Traum zur Wirklichkeit.

Dies war sein drittes Geheimnis.

1

Theoretisch und aller Wahrscheinlichkeit nach würde Blue Sargent einen dieser Jungen töten.

»Jane!« Der Schrei kam von der anderen Seite des Hügels. Er galt Blue, obwohl sie gar nicht Jane hieß. »Beeil dich!«

Als einzige Nicht-Hellseherin in einer überaus großzügig mit übersinnlichen Kräften ausgestatteten Familie hatte sie in ihrem Leben schon ziemlich oft die Zukunft vorausgesagt bekommen, und jedes Mal hatte es geheißen, sie werde eines Tages ihre wahre Liebe töten, sobald sie den Jungen küsste. Außerdem war ihr prophezeit worden, dieses sei das Jahr, in dem sie sich verlieben werde. Und als wäre das noch nicht genug, hatte Blue im April zusammen mit ihrer Halbtante Neeve, einem professionellen Medium, einen der Jungen auf dem unsichtbaren Leichenweg gesehen, was bedeutete, dass er innerhalb der nächsten zwölf Monate sterben würde. Das alles summierte sich zu einer äußerst beunruhigenden Gleichung.

Im Moment wirkte der betreffende Junge, Richard Campbell Gansey III., allerdings ziemlich lebendig. Der feuchte Wind auf der Kuppe des weitläufigen grünen Hügels ließ sein leuchtend gelbes Poloshirt flattern und seine beneidenswert braunen Beine steckten in einem Paar Cargoshorts. Jungen wie er starben nicht; sie sonnten sich und lungerten vor öffentlichen Bibliotheken herum. Er streckte Blue, die vom Auto aus die Flanke des Hügels erklomm, die Hand entgegen, eine Geste, die ihn jedoch weniger hilfsbereit wirken ließ als vielmehr wie einen Fluglotsen.

»Jane. Das musst du dir ansehen!« An seinen Worten haftete der honigweiche Akzent alten Virginia-Geldadels.

Während Blue sich, das Teleskop über der Schulter, den Hügel hinaufquälte, lotete sie im Geiste die aktuelle Gefahrenstufe aus: Bin ich schon in ihn verliebt?

Gansey kam den Abhang heruntergaloppiert und nahm ihr das Teleskop ab.

»So schwer ist das ja wohl auch nicht«, verkündete er und stapfte wieder nach oben.

Blue war sich einigermaßen sicher, nicht in ihn verliebt zu sein. Sie war zwar noch nie verliebt gewesen, traute sich jedoch durchaus zu, den Unterschied zu erkennen. Gut, ein paar Monate zuvor hatte sie tatsächlich eine Vision gehabt, in der sie ihn geküsst hatte, und diese Vorstellung erschien ihr tatsächlich immer noch alles andere als abwegig. Ihre Vernunft jedoch, die bei Blue nur allzu oft die Oberhand hatte, führte diesen Umstand eher darauf zurück, dass Richard Campbell Gansey III. einen schönen Mund hatte, als auf zart erblühende Liebe.

Und sowieso würde das Schicksal eines Tages noch sein blaues Wunder erleben, wenn es glaubte, ihr vorschreiben zu können, in wen sie sich verlieben sollte.

»Ich hätte gedacht, du wärst ein bisschen kräftiger«, setzte Gansey nach. »Seid ihr Feministinnen nicht normalerweise ziemlich muskulös?«

Definitiv nicht verliebt.

»Nur weil du grinst, während du so was sagst, ist es noch lange nicht lustig«, entgegnete Blue.

Als jüngster Schritt in seinem Plan, den walisischen König Owen Glendower zu finden, hatte Gansey angefangen, Wandergenehmigungen bei verschiedenen Grundbesitzern in der Gegend einzuholen. Jedes der Gebiete kreuzte an irgendeiner Stelle die durch Henrietta verlaufende Ley-Linie – eine unsichtbare Energielinie, die spirituelle Orte miteinander verband – und grenzte außerdem an Cabeswater, einen geheimnisvollen Wald, der direkt auf der Linie lag. Gansey war überzeugt, dass Glendowers Grab, in dem er seit Jahrhunderten schlief, sich irgendwo in Cabeswater befand. Es hieß, dass der König demjenigen, der ihn weckte, eine Gunst erweisen würde – was Blue in letzter Zeit oft durch den Kopf spukte. Wie es schien, hatte Gansey diese Gunst tatsächlich nötig. Nicht dass Gansey gewusst hätte, dass er in wenigen Monaten tot sein würde. Oder Blue vorhatte, es ihm zu erzählen.

»Wenn wir Glendower finden«, dachte Blue bei sich, »können wir Gansey sicher retten.«

Der steile Anstieg führte sie auf eine grüne, weitläufige Hochebene oberhalb der bewaldeten Hügel. Tief, tief unter ihnen lag Henrietta. Das Städtchen war umschlossen von Feldern, die mit vereinzelten Gehöften und grasendem Vieh gesprenkelt waren, so klein und beschaulich wie eine Modelleisenbahnlandschaft. Alles, mit Ausnahme der bläulich aufragenden Bergkette am Horizont, war grün und flirrte in der Sommerhitze.

Doch die Jungs hatten keine Augen für den Ausblick. Sie standen in einem engen Kreis zusammen: Adam Parrish, schmal, hellbraunes Haar; Noah Czerny, schmuddelig und mit hängenden Schultern; und Ronan Lynch, dunkel und raubtierhaft. Auf Ronans tätowierter Schulter hockte sein zahmer Rabe, Chainsaw. Obwohl das Tier vorsichtig war, zeigten sich bereits feine rote Striemen rechts und links des Trägers von Ronans schwarzem Muskelshirt. Die drei Jungen blickten konzentriert auf etwas, das Ronan in den Händen hielt. Gansey warf das Teleskop achtlos ins üppige Gras und gesellte sich zu ihnen.

Adam machte Platz für Blue und ihre Blicke trafen sich kurz. Wie immer war Blue fasziniert von seinem Gesicht. Es war nicht auf gewöhnliche Weise schön, sondern eher interessant. Er hatte die Henrietta-typischen markanten Wangenknochen und tief liegenden Augen, doch seine Version von beidem wirkte irgendwie feiner. Das ließ ihn ein kleines bisschen fremdartig erscheinen. Undurchschaubar.

»Nichts für ungut, liebes Schicksal, aber ich entscheide mich für den hier«, dachte sie nachdrücklich. »Und nicht für Richard Gansey III. Du kannst mir gar nichts vorschreiben.«

Adams Hand strich über ihren nackten Ellbogen. Die Berührung war wie ein Flüstern in einer Sprache, die sie nicht sonderlich gut beherrschte.

»Mach es mal auf«, forderte er Ronan auf. In seiner Stimme lag Argwohn.

»Alter Skeptiker«, knurrte Ronan, aber er wirkte nicht wütend. Das kleine Modellflugzeug passte genau in seine Handfläche. Es bestand aus reinweißem, glattem Plastik und wies geradezu lächerlich wenige Details auf: nichts als ein flugzeugförmiges Ding. Ronan öffnete das Batteriefach auf der Unterseite. Es war leer.

»Tja, das wird dann wohl nichts«, kommentierte Adam. Er klaubte einen Grashüpfer von seinem Kragen. Seit seinem seltsamen rituellen Handel im Vormonat behielt der Rest des Grüppchens ihn sehr genau im Auge. Falls Adam diese neue Art von Aufmerksamkeit bewusst war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Ohne Batterien und Motor kann es nicht fliegen.«

Jetzt begriff Blue, worum es ging. Ronan Lynch, der große Geheimniskrämer, unerschrockene Einzelkämpfer, Teufelskerl, hatte ihnen vor Kurzem eröffnet, dass er Dinge aus seinen Träumen in die Wirklichkeit holen konnte. Beweisstück Nummer eins: Chainsaw. Gansey war begeistert gewesen; er gehörte zu den Menschen, die zwar nicht unbedingt alles glaubten, es aber nur zu gern glauben wollten. Adam dagegen, der in seinem Leben hauptsächlich dadurch vorangekommen war, dass er alles, was ihm als Wahrheit präsentiert wurde, hinterfragte, brauchte natürlich einen Beweis.

»›Ohne Batterien und Motor kann es nicht fliegen‹«, äffte Ronan mit piepsiger Stimme Adams leichten Henrietta-Akzent nach. »Noah: die Fernbedienung.«

Noah stapfte durch das hohe Gras und suchte nach der Funkfernbedienung. Genau wie das Flugzeug war auch diese weiß und glänzend, mit abgerundeten Ecken. Daneben wirkten selbst Noahs Hände beinahe körperlich. Dafür, dass er nun schon seit einer ganzen Weile tot war, kam er sowieso erstaunlich wenig geisterhaft daher und auf der Ley-Linie wirkte er nahezu lebendig.

»Wofür ist denn das Fach, wenn nicht für Batterien?«, wollte Gansey wissen.

»Keine Ahnung«, erwiderte Ronan. »In meinem Traum waren kleine Bomben drin, aber die wurden anscheinend nicht mitgeliefert.«

Blue streifte ein paar Ähren von den langen Grashalmen. »Hier.«

»Gut mitgedacht, Winzling.« Ronan stopfte die Samen in die kleine Luke. Dann streckte er die Hand nach der Fernbedienung aus, aber Adam fing sie ab, hob sie an sein Ohr und schüttelte sie.

»Das Ding wiegt ja überhaupt nichts«, stellte er fest und ließ das Gerät in Blues Hand fallen.

Es war wirklich sehr leicht, das musste auch Blue zugeben. Es hatte fünf winzige weiße Knöpfe: Vier waren über Kreuz angeordnet, während der fünfte sich ein Stückchen abseits befand. Auf Blue wirkte dieser fünfte Knopf ein bisschen wie Adam. Er arbeitete immer noch auf dasselbe Ziel hin wie die anderen vier. Aber er war ihnen nicht mehr so nah wie zuvor.

»Es wird fliegen«, versicherte ihm Ronan, der nun nach der Fernbedienung griff und Noah das Flugzeug reichte. »Es hat in meinem Traum funktioniert, also wird es jetzt auch funktionieren. Halt es mal hoch.«

Noah, noch immer mit hängenden Schultern, nahm das winzige Flugzeug zwischen Daumen und Zeigefinger und hob es hoch, als wollte er einen Bleistift werfen. Blue fühlte ein aufgeregtes Flattern in der Brust. Es war unmöglich, dass Ronan dieses Ding herbeigeträumt hatte. Andererseits war in letzter Zeit so viel Unmögliches passiert.

»Kerah«, krächzte Chainsaw. Das war ihr Name für Ronan.

»Ja«, stimmte Ronan ihr zu. Dann wandte er sich gebieterisch an die anderen: »Einen Countdown, bitte.«

Adam verzog das Gesicht, Gansey, Noah und Blue jedoch zählten gehorsam im Chor: »Fünf, vier, drei …«

Bei »Null« drückte Ronan einen der Knöpfe.

Lautlos schoss das kleine Flugzeug zwischen Noahs Fingern hervor und erhob sich in die Luft.

Es funktionierte. Es funktionierte tatsächlich.

Gansey lachte laut auf, während sie alle die Köpfe in den Nacken legten und dem Flugzeug nachsahen. Blue hielt die Hand über die Brauen, um das kleine weiße Ding im sommerlichen Dunst nicht aus den Augen zu verlieren. Es war so klein und detaillos, dass es beinahe wie ein echtes Flugzeug wirkte, das Tausende von Metern über den Hügeln dahinflog. Mit einem aufgebrachten Krächzen flatterte Chainsaw von Ronans Schulter und nahm die Verfolgung auf. Ronan steuerte das Flugzeug mal nach links, mal nach rechts, ließ es über der Hochebene dahinsausen und Chainsaw jagte hinterher. Als es schließlich wieder über ihre Köpfe hinwegflog, drückte er den fünften Knopf. Ein Schwall Ähren regnete herab und die kleinen Samen purzelten ihnen über die Schultern. Blue klatschte in die Hände und hob die Arme, um einen von ihnen aufzufangen.

»Du unerhörte Kreatur«, sagte Gansey. Seine Begeisterung war ansteckend und vorbehaltslos, so strahlend wie sein Grinsen. Adam legte den Kopf in den Nacken und starrte zu dem Flugzeug hoch, einen versonnenen Ausdruck in den Augen. Noah hauchte ein »Wow«, die Hand noch erhoben, als warte er darauf, dass das Flugzeug zu ihm zurückkam. Ronan dagegen stand einfach da, die Fernbedienung in der Hand, den Blick gen Himmel gerichtet, ohne zu lächeln, aber auch nicht unzufrieden. Seine Augen wirkten furchterregend lebendig und um seinen Mund lag ein wilder, triumphierender Zug. Mit einem Mal erschien Blue der Gedanke, dass er Dinge herbeiträumen konnte, absolut nicht mehr abwegig.

In diesem Moment war Blue ein kleines bisschen verliebt in jeden Einzelnen von ihnen. In ihre Magie. Ihre Suche. Ihre Erhabenheit und Andersartigkeit. In ihre Raven Boys.

Gansey boxte Ronan auf die Schulter. »Glendower ist mit Magie gereist, wusstet ihr das? Also zusammen mit Magiern. Zauberern. Die haben ihm geholfen, das Wetter zu beeinflussen – vielleicht solltest du uns mal einen Kälteeinbruch herträumen.«

»Haha.«

»Die konnten übrigens auch die Zukunft voraussagen«, fügte Gansey an Blue gewandt hinzu.

»Warum erzählst du mir das?«, erwiderte sie schmollend. Ihr fehlendes wahrsagerisches Talent war inzwischen legendär.

»Vielleicht haben sie ihm auch dabei geholfen, die Zukunft vorauszusagen«, korrigierte Gansey sich schnell, was zwar nicht sonderlich viel Sinn ergab, aber immerhin zeigte, dass er seinen Ausrutscher wiedergutmachen wollte. Blues aufbrausendes Wesen und ihre Fähigkeit, die hellseherischen Kräfte anderer zu verstärken, waren ebenfalls legendär. »Sollen wir dann los?«

Blue schnappte sich eilig das Teleskop, bevor Gansey es aufheben konnte – er quittierte es mit einem Blick –, während die anderen Jungen Karten und Kameras und diverse Messgeräte für elektromagnetische Frequenzen einsammelten. Dann machten sie sich auf den Weg die Ley-Linie entlang, wobei Ronan immer noch seinem Flugzeug und Chainsaw nachsah – einem weißen und einem schwarzen Vogel vor dem azurblauen Deckengewölbe der Welt. Während sie liefen, kam plötzlich ein leichter Wind auf, der über das Gras strich und den Geruch nach fließendem Wasser und im Schatten verborgenen Felsen mit sich trug, und Blue erschauderte wieder und wieder unter ein und derselben Erkenntnis: Magie gibt es wirklich, Magie gibt es wirklich, Magie gibt es wirklich.

2

Declan Lynch, der älteste der Lynch-Brüder, war niemals allein. Er war zwar nie mit seinen Brüdern zusammen, aber allein war er auch nicht. Er war ein Perpetuum mobile, das durch die Energie anderer am Laufen gehalten wurde: Mal plauderte er in einer Pizzeria mit einem Freund, mal wurde er, die Hand eines Mädchens über dem Mund, in eine Nische gezogen, mal scherzte er mit einem älteren Mann über die Motorhaube von dessen Mercedes hinweg. Solche Zusammenkünfte erfolgten auf so natürliche Weise, dass niemand hätte sagen können, ob Declan selbst der Magnet war oder der angezogene Metallspan.

Dies stellte den grauen Mann vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten bei seinem Unterfangen, einen geeigneten Moment für ein Gespräch abzupassen. Was dazu führte, dass er sich einen Großteil des Tages auf dem Gelände der Aglionby Academy herumdrücken musste.

Das Warten an sich jedoch war nicht so unangenehm, wie er befürchtet hatte. Zur Überraschung des grauen Mannes verströmte das eichenüberschattete Schulgebäude tatsächlich einen gewissen Charme. Der Bau strahlte eine schäbige Imposanz aus, die sich nur durch Alter und Wohlstand erreichen ließ. Die Schülerunterkünfte waren leerer, als sie es vermutlich während des Schuljahrs gewesen wären, aber sie waren nicht verlassen. Noch immer gingen dort die Söhne steinreicher Firmenbosse, die gerade zu einem Fototermin in irgendein Dritte-Welt-Land geflogen waren, ein und aus, Söhne von Punkmusikern auf Tour, die andere Dinge im Kopf hatten, als sich um ihre siebzehnjährige, ungeplante Nachkommenschaft zu kümmern, und nicht zu vergessen die Söhne toter Männer, die sie niemals wieder nach Hause holen würden.

All diese Teilzeit-Söhne, so wenige es auch sein mochten, sorgten für einen beträchtlichen Geräuschpegel.

Der Flügel, in dem sich Declan Lynchs Zimmer befand, war nicht so schön wie andere Teile des Schulkomplexes, aber das Geld hinter seinen Kulissen ließ ihn immer noch hübsch wirken. Das Gebäude war ein Überbleibsel aus den Siebzigern, einem technicolorbunten Jahrzehnt, für das der graue Mann große Sympathien hegte. Die Eingangstür sollte sich eigentlich nur mithilfe eines Codes öffnen lassen, aber jemand hatte sie mit einem Gummikeil offen gehalten. Der graue Mann schnalzte missbilligend mit der Zunge. Natürlich hätte er sich nicht von einer verschlossenen Tür aufhalten lassen, aber es war die Absicht, die zählte.

Obwohl: Da war der graue Mann sich gar nicht so sicher. Für ihn zählten eigentlich eher Taten.

Im Inneren wartete das Wohnheim mit der schlichten Atmosphäre eines annehmbaren Hotels auf. Hinter einer der geschlossenen Türen toste ein kolumbianischer Hip-Hop-Song, brachial und verführerisch. Der graue Mann bevorzugte andere Musikrichtungen, aber er erkannte durchaus auch den Reiz in dieser. Er warf einen Blick auf die Tür. Die Zimmer im Aglionby-Wohnheim waren nicht nummeriert. Stattdessen waren die Türen mit Tugenden beschriftet, von denen die Schulleitung hoffte, dass die jungen Leute sie mit in ihr zukünftiges Leben nehmen würden. Diese hier mit »Barmherzigkeit«. Es war nicht die, nach der der graue Mann suchte.

Er ging in die andere Richtung weiter und las die Aufschriften an den Türen (»Fleiß«, »Großzügigkeit«, »Frömmigkeit«), bis er schließlich Declan Lynchs Zimmer erreichte. »Dynamik«.

Der graue Mann war selbst einmal in einem Artikel als »dynamisch« bezeichnet worden. Er war sich jedoch ziemlich sicher, dass dies auf seine auffallend geraden Zähne zurückzuführen war. Ebenmäßige Zähne schienen eine wichtige Grundvoraussetzung für Dynamik zu sein.

Er fragte sich, wie es wohl um Declan Lynchs Gebiss bestellt war.

Hinter der Tür war kein Geräusch zu hören. Er drehte den Knauf, vorsichtig. Abgeschlossen. »Braver Junge«, dachte er.

Am anderen Ende des Flurs wummerte die Musik wie die heraufziehende Apokalypse. Der graue Mann warf einen Blick auf die Uhr. Die Leihwagenfirma schloss in einer Stunde und wenn er eins hasste, waren es öffentliche Verkehrsmittel. Er würde kurzen Prozess machen müssen.

Er trat die Tür ein.

Declan Lynch saß auf einem der zwei Betten im Zimmer. Er war ziemlich gut aussehend, mit vollem, dunklem Haar und einer eleganten, römisch anmutenden Nase.

Und er hatte ausgezeichnete Zähne.

»Was soll das?«, fragte er.

Statt zu antworten, riss der graue Mann Declan vom Bett hoch und schleuderte ihn gegen das Fenster. Das Geräusch wirkte seltsam gedämpft; das Lauteste daran war der Atem, der dem Jungen aus der Lunge getrieben wurde, als er mit dem Rückgrat gegen die Fensterbank krachte. In der nächsten Sekunde aber hatte er sich schon wieder gefangen und begann, sich zu wehren. Er war kein schlechter Boxer und der graue Mann merkte ihm an, dass er sich aus dieser Tatsache einen Überraschungsvorteil errechnete.

Doch der graue Mann wusste bereits, dass Niall Lynch seinen Söhnen das Boxen beigebracht hatte. Das Einzige, was der graue Mann von seinem Vater gelernt hatte, war, wie man »Trebuchet« aussprach.

Eine Weile rangen sie miteinander. Declan war nicht schlecht, aber der graue Mann war besser. Er wirbelte den Jungen durch sein Zimmer und fegte mit dessen Schulter Pokale, Kreditkarten und Autoschlüssel von der Kommode. Der dumpfe Laut, mit dem sein Kopf gegen eine der Schubladen donnerte, ging im Lärm der Bässe am anderen Ende des Flurs unter. Declan holte aus und verfehlte sein Ziel. Der graue Mann trat ihm die Beine unter dem Körper weg und stieß ihn hart gegen die Wand neben dem Möbelstück. Dann setzte er zu einer neuen Runde an und hielt nur kurz inne, um einen Motorradhelm aufzuheben, der in die Mitte des Raums gerollt war.

Mit einer einzigen schnellen Bewegung zog sich Declan an der Kommode hoch und nahm eine Pistole aus der Schublade.

Er richtete sie auf den grauen Mann.

»Stehen bleiben«, sagte er schlicht. Er entsicherte die Waffe.

Damit hatte der graue Mann nicht gerechnet.

Er blieb stehen.

In Declans Gesicht drängten sich die unterschiedlichsten Emotionen, Angst jedoch war nicht darunter. Es war offensichtlich, dass er die Pistole nicht besaß, falls er eines Tages überfallen werden sollte, sondern um auf den Tag vorbereitet zu sein, an dem es passierte.

Der graue Mann fragte sich, was das wohl für ein Leben sein musste, stets in der Erwartung, dass einem jemand die Tür einrannte. Kein besonders angenehmes, vermutete er. Wahrscheinlich sogar alles andere als das.

Dass Declan Lynch zögern würde, auf ihn zu schießen, glaubte er nicht. Seine Haltung wirkte absolut entschlossen. Seine Hand zitterte ein wenig, aber der graue Mann ging davon aus, dass das eher eine Folge der erlittenen Verletzungen war, nicht von Unsicherheit.

Der graue Mann zögerte einen Moment und schleuderte dann den Helm. Der Junge feuerte, aber es gab nichts als einen Knall. Der Helm krachte auf Declans Hand und der graue Mann nutzte die Schrecksekunde, um vorzuschnellen und ihm die Waffe aus den schlaffen Fingern zu pflücken. Er nahm sich die Zeit, den Sicherungshebel wieder einrasten zu lassen.

Dann schlug er Declan den Lauf der Pistole ins Gesicht. Dies wiederholte er noch einige Male, um seinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen.

Schließlich gestattete er Declan, auf die Knie zu sinken. Der Junge kämpfte geradezu heldenhaft gegen die Bewusstlosigkeit an. Mit dem Schuh drückte der graue Mann ihn das restliche Stück zu Boden und drehte ihn dann auf den Rücken. Declans Augen waren starr auf den Deckenventilator gerichtet. Blut rann ihm aus der Nase.

Der graue Mann kniete sich neben ihn und drückte ihm den Pistolenlauf in den Magen, der sich bedenklich hob und senkte, während er nach Luft schnappte. Er fuhr mit der Waffe über die rechte Niere des Jungen und sagte in entspanntem Plauderton: »Wenn ich dir hier reinschieße, dauert es zwanzig Minuten, bis du tot bist, und niemand wird dich retten können, egal, wie viel Mühe die Sanitäter sich geben. Wo ist der Greywaren?«

Declan sagte nichts. Der graue Mann ließ ihm ein wenig Zeit für seine Antwort. Kopfwunden neigten dazu, das Denken zu verlangsamen.

Als Declan noch immer stumm blieb, richtete er die Waffe auf Declans Oberschenkel. Er stieß den Lauf so heftig in sein Fleisch, dass der Junge aufkeuchte. »Hier würde es nur fünf Minuten dauern. Aber dafür bräuchte ich eigentlich gar keine Pistole. Die Spitze deines Regenschirms da drüben würde völlig ausreichen. Fünf Minuten, bis du tot bist, und drei, bis du dir wünschst, du wärst es.«

Declan schloss die Augen. Oder zumindest das eine. Das linke war ohnehin schon so gut wie zugeschwollen.

»Ich weiß es nicht«, murmelte er schließlich. Seine Stimme klang schläfrig. »Ich weiß nicht, was das ist.«

»Das Lügen kannst du deinen Politikern überlassen«, sagte der graue Mann ruhig. Damit wollte er Declan zu verstehen geben, dass er Bescheid wusste, über sein Leben, sein Praktikum. Er wollte ihm zeigen, dass er seine Hausaufgaben gemacht hatte. »Ich weiß, wo ich deine Brüder finde. Ich weiß, wo deine Mutter wohnt. Ich kenne den Namen deiner Freundin. Haben wir uns verstanden?«

»Ich weiß nicht, wo er ist.« Declan zögerte. »Das ist die Wahrheit. Ich weiß es nicht. Ich kenne nur das Wort.«

»Wie wär’s mit einem kleinen Handel?« Der graue Mann stand auf. »Du findest dieses Ding für mich und wenn du es geschafft hast, gibst du es mir. Und dann siehst du mich nie wieder.«

»Und wie kann ich Sie erreichen, wenn ich es gefunden habe?«

»Ich glaube, du hast immer noch nicht ganz begriffen. Ich bin dein Schatten. Ich bin die Spucke, die du schluckst. Der Husten, der dich nachts wach hält.«

Declan fragte: »Haben Sie meinen Vater getötet?«

»Niall Lynch.« Der graue Mann kostete die Silben einzeln auf der Zunge. Seiner Meinung nach war Niall Lynch ein ziemlich mieser Vater gewesen, der sich erst umbringen ließ und dann seinen Söhnen erlaubte, in einem Wohnheim mit sperrangelweit geöffneten Eingangstüren zu leben. Die Welt, so kam es ihm vor, war voller schlechter Väter. »Dieselbe Frage hat er mir auch gestellt.«

Declan Lynch atmete stockend aus: ein halber Atemzug, dann der Rest. Endlich, das konnte der graue Mann sehen, bekam er es mit der Angst zu tun.

»Okay«, sagte Declan. »Ich werde ihn finden. Aber dann lassen Sie uns in Ruhe. Sie alle.«

Der graue Mann legte die Pistole zurück in die Schublade und schloss sie. Dann sah er auf die Uhr. Ihm blieben noch zwanzig Minuten, um seinen Mietwagen abzuholen. Vielleicht würde er sich sogar die nächstgrößere Klasse gönnen. Kleinwagen hasste er genauso leidenschaftlich wie öffentliche Verkehrsmittel. »In Ordnung.«

»Okay«, sagte Declan noch einmal.

Der graue Mann verließ das Zimmer und lehnte die Tür hinter sich an. Sie schloss nicht mehr richtig; er hatte beim Öffnen eine der Angeln verbogen. Aber er war sich sicher, dass schon irgendeine Stiftung für den Schaden aufkommen würde.

Er hielt inne und lugte durch den Türspalt zurück ins Zimmer.

Aus Declan Lynch würde sich noch einiges mehr herausholen lassen.

Ein paar Minuten lang geschah gar nichts. Declan lag einfach da, blutend und verkrümmt. Dann tasteten sich die Finger seiner rechten Hand über den Boden, dorthin, wo sein Handy gelandet war. Er rief jedoch nicht die Polizei. Mit quälender Langsamkeit – seine Schulter war mit ziemlicher Sicherheit ausgekugelt – wählte er eine andere Nummer. Kurz darauf begann ein Telefon neben dem anderen Bett zu klingeln. Dem Bett, so viel wusste der graue Mann bereits, das Declans jüngerem Bruder Matthew gehörte. Der Klingelton war ein Song von Iglu & Hartly, die der graue Mann zwar kannte, aber alles andere als schätzte. Der graue Mann wusste, wo Matthew Lynch war: Er schipperte gerade mit ein paar Jungs aus der Gegend in einem Boot über den Fluss. Genau wie sein Bruder konnte er es nicht ertragen, allein zu sein.

Declan ließ das Telefon seines jüngsten Bruders länger klingeln, als nötig gewesen wäre, die Augen geschlossen. Nach einer Weile drückte er AUFLEGEN und wählte eine andere Nummer. Auch diesmal nicht die der Polizei. Wer auch immer es war, den er zu erreichen versuchte, er nahm nicht ab. Und sorgte zudem dafür, dass Declans bereits angespannte Miene sich noch mehr verfinsterte. Der graue Mann hörte den blechernen Rufton, es klingelte und klingelte, bis schließlich eine kurze Mailboxnachricht erklang, deren Wortlaut er nicht verstand.

Declan Lynch schloss die Augen und zischte: »Ronan, wo zum Teufel steckst du?«

3

Das Problem ist die Tarnung«, brüllte Gansey über den Motorenlärm hinweg in sein Telefon. »Wenn Glendower sich einfach finden lassen würde, indem man bloß über die Ley-Linie spaziert, wäre sicher schon vor Jahrhunderten jemand über ihn gestolpert.«

Sie waren mit Pig, Ganseys altem, schreiend orangefarbenem Camaro auf dem Weg zurück nach Henrietta. Gansey fuhr, denn das tat er immer, wenn sie mit dem Camaro unterwegs waren. Und das Gespräch drehte sich um Glendower, denn wenn man sich in Ganseys Gesellschaft befand, drehten sich fast alle Gespräche um Glendower.

Auf dem Rücksitz hatte Adam den Kopf auf eine Weise angelehnt, die sowohl dem Telefongespräch als auch seiner Erschöpfung gerecht wurde. In der Mitte beugte sich Blue vor, um besser lauschen zu können und gleichzeitig Grassamen von ihrer Häkelstrumpfhose zu zupfen. Auf ihrer anderen Seite saß Noah, obwohl niemand sicher sein konnte, wie lange er ihnen körperlich erhalten bleiben würde, je weiter sie sich von der Ley-Linie entfernten. Es war eng und die Hitze ließ es noch enger erscheinen, während die Klimaanlage sich abmühte und die kühle Luft durch jede Ritze in dem vor Ritzen strotzenden Fahrzeug nach draußen verschwand. Die Klimaanlage des Camaros hatte nur zwei Stufen: an oder kaputt.

Jetzt sagte Gansey ins Telefon: »Das ist alles.«

Ronan lehnte sich an das rissige Kunstleder der Beifahrertür und kaute an den Bändchen an seinem Handgelenk. Sie schmeckten nach Benzin, ein Aroma, das Ronan gleichzeitig als sexy und sommerlich empfand.

Für ihn ging es nur hin und wieder um Glendower. Gansey musste Glendower finden, weil er einen Beweis für das Unmögliche suchte. Etwas, um dessen Existenz Ronan bereits wusste. Sein Vater war unmöglich gewesen. Er selbst war unmöglich. Ronan wollte Glendower hauptsächlich deswegen finden, weil Gansey es wollte. Selten dachte er darüber nach, was passieren würde, wenn sie ihn tatsächlich entdeckten. Er stellte es sich ein bisschen wie Sterben vor. Als Ronan jünger und Wundern gegenüber noch aufgeschlossener gewesen war, hatte er sich den Moment seines Todes oft mit schwärmerischer Genauigkeit ausgemalt. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass man am Tag, an dem man Gott an der Himmelspforte gegenübertrat, Antworten auf all seine Fragen bekäme.

Und Ronan hatte eine Menge Fragen.

Glendower aufzuwecken, musste ziemlich ähnlich sein. Vielleicht mit weniger Engeln und mehr Walisisch. Nicht ganz so tribunalartig.

»Nein, das verstehe ich natürlich.« Gansey sprach mit seiner professoralen Mr-Gansey-Stimme, die Selbstsicherheit verströmte und nebenbei Ratten und kleinen Kindern »Na los, na los, kommt alle mit!« zuzuflüstern schien. Bei Ronan hatte sie jedenfalls ihre Wirkung nicht verfehlt. »Aber wenn man davon ausgeht, dass Glendower irgendwann zwischen 1412 und 1420 hierhergebracht wurde, und davon, dass sein Grab unmarkiert geblieben ist, könnte doch die natürliche Bodenakkumulation die Spuren verwischt haben. Starkman vermutet, dass mittelalterliche Artefakte mittlerweile von einer anderthalb bis fünf Meter dicken Sedimentschicht bedeckt sind. … Ja, ich weiß selbst, dass das hier kein Überschwemmungsgebiet ist. Aber Starkman ist von der Annahme ausgegangen, dass … Ja, richtig. Was halten Sie von GPR?«

Blue warf Adam einen Blick zu. Er hob nicht mal den Kopf, als er leise für sie übersetzte: »Ground Penetrating Radar. Bodenradar.«

Die Person am anderen Ende der Leitung war Roger Malory, ein unfassbar alter britischer Professor, mit dem Gansey einmal in Wales zusammengearbeitet hatte. Genau wie Gansey erforschte er seit Jahren die Ley-Linien. Anders als Gansey benutzte er sie jedoch nicht für die Suche nach einem uralten König. Er schien sich eher hobbymäßig damit zu beschäftigen, wenn gerade mal keine Parade anstand, die er besuchen konnte. Ronan hatte ihn nie persönlich kennengelernt und war auch nicht traurig darum. Alte Leute machten ihn nervös.

»Und was ist mit einer Förster-Sonde?«, schlug Gansey vor. »Wir haben uns das Ganze schon ein paarmal aus der Luft angesehen. Ich fürchte nur, vor dem nächsten Winter, also solange die Bäume noch belaubt sind, werden wir auf die Weise nicht viel weiterkommen.«

Ronan rutschte auf seinem Sitz hin und her. Seit seiner großen Flugschau auf der Hochebene war er absolut aufgekratzt. Am liebsten hätte er etwas niedergebrannt. Er legte die Hand direkt auf die Lüftungsschlitze im Armaturenbrett, um nicht zu überhitzen. »Du fährst mal wieder wie ’ne Oma.«

Gansey winkte ab, die allgemein anerkannte Geste für »Halt die Klappe«. Am Rand der Autobahn hoben vier schwarze Kühe die Köpfe und blickten dem Camaro gelangweilt hinterher.

Wenn ich am Steuer säße … Ronan dachte an die Camaroschlüssel, die er herbeigeträumt hatte und die nun in einer Schublade in seinem Zimmer versteckt lagen. Langsam spielte er im Geiste die Möglichkeiten durch. Er warf einen Blick auf sein Handy. Vierzehn entgangene Anrufe. Er ließ es zurück in das Türfach fallen.

»Und ein Protonenmagnetometer?«, fragte Gansey schließlich Malory. Dann fügte er genervt hinzu: »Ich weiß, dass sich das gut für Unterwasser-Ortungen eignet. Dafür brauche ich es ja.«

Es war Wasser gewesen, das ihrer heutigen Suche ein Ende gesetzt hatte. Gansey hatte beschlossen, dass ihr nächster Schritt darin bestehen würde, erst einmal Cabeswaters Grenzen zu bestimmen. Bis heute hatten sie den Wald immer nur von Osten her betreten und waren nie bis zu seinen anderen Rändern vorgedrungen. Diesmal hatten sie ihre Expedition ein ganzes Stück nördlich von ihren bisherigen Startpunkten beginnen lassen und alle Messgeräte auf den Boden gerichtet, um sofort Bescheid zu wissen, sobald sie die nördliche Grenze des Magnetfelds erreichten. Nach einer mehrstündigen Wanderung waren sie jedoch an einen See gelangt.

Gansey war wie angewurzelt stehen geblieben. Nicht etwa, weil der See unüberwindbar gewesen wäre: Er war gerade mal einen Hektar groß und der Pfad, der außenherum führte, hielt keine offensichtlichen Tücken bereit. Gansey war auch nicht unbedingt geblendet von der Schönheit des Gewässers gewesen. Tatsächlich war es sogar eher unansehnlich: ein unnatürlich quadratisches Becken auf einer überschwemmten Wiese.

Was Gansey hatte innehalten lassen, war die unübersehbare Tatsache, dass der See von Menschen geschaffen war. Auf die Möglichkeit, dass Teile der Ley-Linie überflutet waren, hätte er schon viel eher kommen müssen. Aber das war er nicht. Und obwohl es ihm nicht schwerfiel, daran zu glauben, dass Glendower nach Hunderten von Jahren noch lebendig sein könnte, kam es ihm doch ziemlich aussichtslos vor, dass er das Kunststück, ihn zu finden, unter Tonnen von Wasser vollbringen würde.

Gansey hatte verkündet: »Wir müssen einen Weg finden, im Wasser zu suchen.«

Adam hatte erwidert: »Ach, komm schon, Gansey. Wie hoch ist denn die Wahr…«

»Wir müssen im Wasser suchen.«

Ronans Flugzeug war ins Wasser gestürzt und trieb nun unerreichbar auf der Oberfläche. Sie machten sich auf den langen Weg zurück zum Auto. Und Gansey rief Malory an.

»Als ob«, dachte Ronan, »uns ein verknitterter alter Mann in dreitausend Meilen Entfernung weiterhelfen könnte.«

Gansey legte auf.

»Und?«, fragte Adam.

Gansey warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu. Adam seufzte.

Ronan war der Meinung, sie könnten den See doch einfach umrunden. Das käme allerdings einem Kopfsprung in die Geheimnisse von Cabeswater gleich. Zwar schien der alte Wald der wahrscheinlichste Ort, an dem sie Glendower finden würden, doch die knisternde Willkür der neu erweckten Ley-Linie hatte die Gegend ziemlich unberechenbar gemacht. Selbst Ronan, der sich nicht sonderlich darum scherte, ob er das Zeitliche nun früher oder später segnete, musste zugeben, dass die Aussicht, von wilden Tieren niedergetrampelt zu werden oder in eine vierzig Jahre dauernde Zeitschleife zu geraten, alles andere als verlockend war.

Das Ganze war allein Adams Schuld – schließlich war er es gewesen, der die Ley-Linie geweckt hatte, auch wenn Gansey immer noch gern so tat, als hätten sie die Entscheidung als Gruppe getroffen. Und was immer es für ein Handel gewesen war, den Adam dafür hatte eingehen müssen, er machte nun auch ihn ein kleines bisschen unberechenbar.

Ronan, selbst nicht frei von Sünden, war nicht so sehr erstaunt über Adams Tat als vielmehr über Ganseys Beharren darauf, weiterhin so zu tun, als wäre Adam ein Heiliger.

Gansey war kein Lügner. Und diese Unwahrheit stand ihm nicht.

Ganseys Handy gab ein Zirpen von sich. Er las die Nachricht und ließ das Telefon dann mit einem erstickten Aufstöhnen neben den Schaltknüppel fallen. Wie von plötzlicher Melancholie erfasst, lehnte er gequält den Kopf an den Sitz. Adam bedeutete Ronan, das Telefon aufzuheben, aber Ronan hasste Telefone mehr als beinahe alles andere auf der Welt.

Also blieb es geduldig liegen und wartete.

Schließlich beugte sich Blue vor und schnappte es sich. Sie las die Nachricht vor: »Könnte am Wochenende deine Hilfe gebrauchen. Helen kann dich abholen. Falls du schon was anderes vorhast, das hier hat Vorrang.«

»Hat das mit dem Kongress zu tun?«, fragte Adam.

Allein das Wort »Kongress« ließ Gansey aufstöhnen und Blue voller Verachtung zischen: »Kongress!« Ganseys Mutter hatte vor Kurzem verkündet, dass sie für ein Abgeordnetenamt kandidieren wolle. Im frühen Stadium der Kampagne war Gansey noch nicht direkt davon betroffen gewesen, aber es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich das änderte. Jeder wusste, dass Gansey, der gut aussehende, mustergültige Sohn, der furchtlose Forscher und Einserschüler, eine Karte war, die jede angehende Politikerin ausspielen musste.

»Sie kann mich nicht zwingen«, sagte Gansey.

»Als ob das nötig wäre, du Muttersöhnchen«, schnaubte Ronan.

»Träum mir eine Lösung.«

»Muss ich gar nicht. Die Natur hat dir ja wohl ein Rückgrat verpasst. Aber wenn du meine Meinung dazu hören willst: Scheiß auf Washington.«

»Und genau das ist der Grund, warum du nie zu so was eingeladen wirst.«

Auf der Nebenspur raste ein Wagen heran. Ronan, der Fachmann für Straßenrennen, bemerkte ihn als Erster. Ein weißer Blitz. Dann eine ausgestreckte Hand mit erhobenem Mittelfinger. Das andere Auto schoss nach vorn, fiel ein Stück zurück und schoss dann wieder nach vorn.

»Meine Güte«, sagte Gansey. »Ist das Kavinsky?«

Natürlich war es Joseph Kavinsky, einer ihrer Mitschüler von der Aglionby und außerdem Henriettas berüchtigtster Amateurfälscher. Kavinskys gefürchteter Mitsubishi Evo strotzte vor jugendlicher Schönheit, mondweiß mit einem schwarzen, gierig klaffenden Kühlergrill und einem riesigen, kunstvoll hingeklecksten Bild eines Messers auf jeder Flanke. Der Mitsubishi war gerade frisch vom Abschlepphof der Polizei zurückgekehrt, die ihn für einen Monat konfisziert hatte. Der Richter hatte Kavinsky gewarnt, dass sein Auto, sollte er noch einmal beim Rasen erwischt werden, vor seinen Augen in die Schrottpresse wandern würde, so wie sie es bei den reichen Rowdys in Kalifornien handhabten. Es ging das Gerücht, Kavinsky habe daraufhin nur gelacht und erwidert, dann würde er eben dafür sorgen, dass er nie wieder geschnappt werde.

Und wahrscheinlich würde er das auch nicht. Einem weiteren Gerücht zufolge hatte nämlich Kavinskys Vater den Sheriff von Henrietta geschmiert.

Um die Freilassung des Mitsubishis gebührlich zu feiern, hatte Kavinsky seine Frontscheinwerfer mit drei Schichten Lack gegen Laser-Geschwindigkeitsmessungen behandelt und sich einen neuen Radardetektor zugelegt.

Zumindest gab es Gerüchte darüber.

»Wie ich diesen Typen hasse«, murmelte Adam.

Ronan war klar, dass auch er ihn eigentlich hassen müsste.

Das Fahrerfenster des Mitsubishis senkte sich und gab den Blick auf Joseph Kavinsky frei, die Augen hinter einer weißrandigen Sonnenbrille verborgen, deren Gläser den Himmel reflektierten. Die Goldkette um seinen Hals war ein breites, funkelndes Grinsen. Sein Gesicht erinnerte an einen Flüchtling, hohlwangig und unschuldig.

Er grinste träge und formte an Gansey gewandt etwas mit den Lippen, das auf »…ussy« endete.

Es gab nichts an Kavinsky, das nicht verachtenswert gewesen wäre.

Ronans Herz schlug schneller. Muskelgedächtnis.

»Na los«, drängte er Gansey. Der Asphalt der vierspurigen Autobahn erstreckte sich vor ihnen, grau und gesprungen. Die Sonne ließ die orangefarbene Motorhaube des Camaros erstrahlen, unter der der extrem aufgemotzte und meist tragisch unterforderte Motor schläfrig vor sich hinwummerte. Alles an dieser Situation schrie danach, dass jemand ordentlich das Gaspedal durchtrat.

»Ich hoffe wirklich, du willst hier kein Rennen initiieren«, entgegnete Gansey steif.

Noah stieß ein heiseres Lachen aus.

Gansey sah kein einziges Mal zu Kavinsky oder dessen Beifahrer, dem allgegenwärtigen Prokopenko, hinüber. Letzterer war schon länger sein Kumpel, wenn man denn bei einer Beziehung wie zwischen Elektron und Atomkern von so etwas sprechen konnte, seit Kurzem aber schien es, als sei er offiziell zum obersten Spießgesellen befördert worden.

»Ach, komm schon, Mann«, sagte Ronan.

»Wie kommst du überhaupt darauf, dass das funktionieren würde?«, schaltete sich Adam ein, dessen träge Stimme vor Herablassung triefte. »Pig ist schließlich mit fünf Personen beladen …«

»Noah zählt nicht«, fiel Ronan ihm ins Wort.

»Hey«, protestierte Noah.

»Du bist tot. Du wiegst nichts!«

Adam fuhr fort: »… wir haben die Klimaanlage an und das da ist ein Evo. Von null auf hundert in vier Sekunden. Was glaubst du denn, wie lange dieser Wagen hier braucht? Fünf Sekunden? Sechs? Denk doch mal nach.«

»Ich hab ihn schon mal geschlagen«, erwiderte Ronan. Er konnte es kaum ertragen, mit anzusehen, wie sich die Chance auf ein Rennen vor seinen Augen in Luft aufzulösen drohte. Sie lag so dicht vor ihnen, der Adrenalinstoß zum Greifen nah. Und dann auch noch ausgerechnet gegen Kavinsky. Jeder Zentimeter von Ronans Haut kribbelte vor nutzloser Energie.

»Erzähl mir nichts – doch nicht mit deinem Auto. Nicht mit dem BMW.«

»Ganz genau«, widersprach Ronan. »Mit meinem BMW. Kavinsky ist ein grottenschlechter Fahrer.«

Gansey sagte: »Interessiert mich nicht. Es gibt kein Rennen. Kavinsky ist ein Mistkerl.«

Kavinsky auf der anderen Spur verlor die Geduld und beschleunigte. Jetzt erhaschte auch Blue einen Blick auf den Jungen am Steuer. »Was, der da? Der ist kein Mistkerl. Der ist ein Arschloch.«

Einen Moment lang breitete sich Stille im Inneren des Camaros aus, als jeder für sich überlegte, auf welche Weise sich Blue die Tatsache enthüllt haben mochte, dass Joseph Kavinsky ein Arschloch war. Nicht dass sie damit unrecht gehabt hätte.

»Siehst du?«, sagte Gansey. »Jane ist ganz meiner Meinung.«

Ronan sah Kavinskys Gesicht, als dieser sich zu ihnen umdrehte und ihnen einen Blick durch die Sonnenbrille zuwarf. Und sie alle als Feiglinge abstempelte. Ronans Finger kribbelten. Der weiße Mitsubishi jagte davon und ließ nur eine dünne Abgaswolke zurück. Als der Camaro schließlich die Ausfahrt nach Henrietta erreichte, war längst nichts mehr von ihm zu sehen. Die Hitze brachte den Asphalt zum Flimmern und ließ die Erinnerung an Kavinsky wie ein Trugbild erscheinen. So als hätte es ihn nie gegeben.

Ronan sackte in seinem Sitz zusammen, alle Energie war wie aus ihm herausgesaugt. »Mit dir kann man echt keinen Spaß haben, Alter.«

»So was ist kein Spaß«, entgegnete Gansey, während er den Blinker setzte, »so was nennt sich Ärger.«

4

Der graue Mann hatte nicht geplant, eines Tages zu den schweren Jungs zu gehören.

In Wirklichkeit besaß er sogar einen Abschluss in etwas, das in keinerlei Verbindung zu körperlicher Gewalt stand. Er hatte ein gar nicht mal so erfolgloses Buch mit dem Titel Bruderschaft in der angelsächsischen Lyrik geschrieben, das inzwischen in mindestens siebzehn College-Kursen im ganzen Land Pflichtlektüre war. Der graue Mann hatte sorgsam so viele dieser Leselisten wie möglich gesammelt und sie zusammen mit Cover-Entwürfen, Vorabseiten und zwei an sein Pseudonym adressierten Lobbriefen in einen Ordner geheftet. Immer wenn er ein bisschen Aufmunterung brauchte, holte er den Ordner aus seinem Nachtschränkchen und blätterte ihn durch, während er sich ein oder sieben Bierchen genehmigte. Er hatte etwas erreicht.

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