Wer findet das Opfer - Ross Macdonald - E-Book

Wer findet das Opfer E-Book

Ross Macdonald

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Beschreibung

Auf dem Weg nach Sacramento findet Privatdetektiv Archer am Rand des Highways einen angeschossenen Anhalter, der kurz darauf tot zusammenbricht. Bis der Fall geklärt ist, hängt Archer in Las Cruces fest, wo jeder jeden kennt und niemand alles sagt, was er weiß. Alkohol und Drogenschmuggel, Gangs und Banküberfälle. Die Ereignisse überschlagen sich, und unter der Oberfläche schwelen alte Konflikte: In dieser Kleinstadt ist jeder ein Verdächtiger und jeder ein Opfer.

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Ross Macdonald

Wer findet das Opfer

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Stegers

Mit einem Nachwort von Donna Leon

Diogenes

Für Ivan von Auw jr.

Einer fürchtete, er könnte einen Mörder finden;

Einer fürchtete, er könnte ein Opfer finden.

Einer war weiser als der andere.

Stephen Crane

1

Er war der gruseligste Tramper, den ich je mitgenommen habe. Er bäumte sich im Graben auf. Seine Augen waren schwarze Löcher in dem gelben Gesicht, sein Mund eine grellrote Schmierspur, wie eine aufgeschminkte Clownsmaske. Der erhobene Arm brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er fiel wieder nach vorne aufs Gesicht.

Ich trat auf die Bremse und setzte die knapp hundert Meter dorthin zurück, wo er lag, ein dunkelhaariger Mann in Jeans und grauem Arbeitshemd, bäuchlings zwischen den Stechapfelsträuchern. Jetzt war er still wie der Tod. Doch als ich mich neben ihn hockte, hörte ich ihn stöhnen und röcheln.

Ich stützte seine Hüfte mit dem Knie ab, legte eine Hand unter seinen leblosen Kopf und drehte den Körper auf den Rücken. Das Blut an seinem Mund warf winzige Bläschen. Die Hemdbrust war dunkel und feucht. Als ich das Hemd aufknöpf‌te, sah ich zwischen den klatschnassen Brusthaaren das runde Loch, aus dem noch immer kleine helle Spritzer schossen.

Ich zog mir die Jacke aus und riss mir das Hemd vom Leib. Zusammengeknüllt legte ich es auf die Einschussstelle und band es mit meiner Krawatte fest. Der Verwundete rührte sich und stöhnte. Die Lider über den staubig schwarzen Augen zuckten. Er war ein junger Mann, und er lag im Sterben.

Ich sah Richtung Süden, dann Richtung Norden. Keine Autos, keine Häuser, gar nichts. Irgendwo nördlich von Bakersf‌ield hatte ich eine Autoschlange überholt, danach niemand mehr. Es herrschte eine Art Zeitflaute, in der man sein Herz das Leben herunterzählen hört, sonst nichts. Die Sonne war hinter dem Küstengebirge untergegangen, Dämmerlicht erfüllte das Tal. Ein Schwarm Schwarzdrosseln kreuzte den Himmel wie ein scharfer, peitschender Wind.

Ich hob den Mann hoch, wobei sein Kopf gegen meine Brust sackte, und trug ihn zum Auto. Es war nicht so einfach, er war weder groß noch schwer, nur völlig schlaff. Ich schaffte ihn auf die Rückbank, bettete seinen Kopf auf meine Reisetasche, damit er nicht erstickte, und warf die Autodecke über ihn.

In dieser Haltung blieb er die nächsten neun, zehn Kilometer. Ich kippte meinen Rückspiegel nach unten, sodass ich ihn im Auge hatte. Während draußen das Dämmerlicht allmählich schwand, verschwand im Spiegel sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit.

Ich kam an einem Schild vorbei: CAMP FREMONT, U.S. MARINE CORPS BASE. Ein Maschendrahtzaun erstreckte sich entlang des Highways. Dahinter standen reihenweise verwitterte Baracken bis zum buckligen Horizont Spalier. Kein Anzeichen von Leben. Die Wellblechhangars der angeschlossenen Airbase hätten auch Hügelgräber sein können, von einem untergegangenen Volk von Riesen errichtet.

Dann erschienen Lichter am Straßenrand, dahinter ein Städtchen aus Lichtern. Neon verfärbte die dunstige Luft grün und gelb: KERRIGAN’S COURT – DELUXE MOTOR HOTEL. Die Lobby und die ein Pueblo bildenden Gästehäuser waren hell erleuchtet. Ich hielt vor der Lobby an und ging hinein.

Sie war ganz in blondem Furnierholz gehalten, die Polstermöbel aus grünem Kunstleder. Die Frau an der Empfangstheke war ebenfalls blond. Ihre schmalen blauen Augen musterten mich und machten mir bewusst, dass ich halb nackt war. Ich knöpf‌te mir beim Herantreten die Jacke zu.

»Kann ich Ihnen helfen?«, sagte sie kühl.

»Ein Mann in meinem Auto braucht dringend Hilfe. Ich bringe ihn herein, und Sie rufen einen Arzt.«

Ihre Augenbrauen wanderten abwärts, eine Sorgenfalte tat sich zwischen ihnen auf. »Ist er krank?«

»Bleivergiftung. Er wurde angeschossen.«

Hektisch stand sie auf und öffnete eine Tür hinter sich. »Don, komm mal einen Moment.«

»Er braucht sofort einen Arzt«, sagte ich. »Wir haben keine Zeit für viele Worte.«

»Keine Zeit wofür?« Ein großer Mann füllte den Türrahmen. Breitschultrig, in hellem Gabardineanzug, bewegte er sich wie ein Athlet, der aus der Form geraten war. »Was ist denn jetzt schon wieder? Kannst du nicht ein Mal etwas selbst erledigen?«

Ihre schlanken Hände rangen miteinander. »Ich dulde es nicht, dass du so mit mir redest.«

Er lächelte schmallippig. Das Gesicht unter dem rotblonden Bürstenhaarschnitt war von Alkohol oder Zorn erhitzt. »In meinem Haus rede ich, wie es mir passt.«

»Du bist betrunken, Don.«

»Du hast mich noch nie betrunken gesehen.«

Sie standen sich dicht gegenüber, hinter der Theke, Auge in Auge, in Ingrimm vereint.

»Draußen verblutet ein Mann. Wenn Sie ihn nicht aufnehmen wollen, könnten Sie wenigstens einen Krankenwagen rufen«, sagte ich.

Der Mann wandte sich mir zu, die Augen graue Dreiecke unter doppelten Lidfalten. »Verbluten? Wer?«

»Ich kenne ihn nicht. Rufen Sie nun Hilfe oder nicht?«

»Ja, natürlich«, sagte die Frau.

Sie holte ein Telefonbuch unter der Theke hervor, suchte die Nummer heraus und wählte. Der Mann ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

»Kerrigans Motor Court«, sagte sie. »Mrs. Kerrigan am Apparat. Wir haben hier einen Verletzten. – Nein. Er ist offenbar angeschossen worden. – Ja. Scheint ernst zu sein. Ein Notfall.«

Sie legte auf. »Das Bezirkskrankenhaus schickt einen Krankenwagen.« Mit gesenkter Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, fügte sie hinzu: »Tut mir leid, was eben passiert ist. In unserer Familie zeigen wir in der Not keine Größe, wir werden kleingeistig.«

»Nicht so schlimm.«

»Doch. Es tut mir wirklich leid.«

Sie beugte sich über den Tresen zu mir herüber. Ihre hellen glatten Haare waren stramm aus dem Gesicht gekämmt, wie um seine ausgeprägte Schönheit zu unterstreichen.

»Kann ich sonst gar nichts tun?«, fragte sie, und ihre Stimme wurde immer höher. »Die Polizei rufen?«

»Das macht das Krankenhaus. Dazu ist es gesetzlich verpflichtet. Danke für Ihre Mühe, Mrs. Kerrigan.«

Sie folgte mir zur Tür, eine aufgewühlte Frau, die ihre Chance, sich als Mensch zu erweisen, vertan hatte, und es nicht dabei bewenden lassen konnte. »Es muss schrecklich für Sie sein. Ist er ein Freund von Ihnen?«

»Er bedeutet mir nichts. Ich habe ihn auf dem Highway gefunden.«

Sie berührte meinen Arm, als wollte sie Fühlung mit der Wirklichkeit aufnehmen, zog aber die Hand schnell zurück, als würde der Kontakt ihr Angst machen. Ihre Augen ruhten auf meiner Brust. Ich sah auf die trocknende blutverschmierte Stelle, wo der Kopf gelegen hatte.

»Sind Sie auch verletzt? Kann ich irgendwas für Sie tun?«

»Nein. Nichts«, sagte ich und ging nach draußen.

Kerrigan beugte sich durch die geöffnete Autotür über die Rückbank. Als er meine Schritte auf dem Kies vernahm, richtete er sich abrupt auf.

»Atmet er noch?«

»Ja, er atmet.« Das alkoholhaltige Blut war aus seinem Gesicht gewichen und hatte Flecken hinterlassen. »Wir sollten ihn nicht bewegen, denke ich, aber wenn Sie es wünschen, tragen wir ihn ins Haus.«

»Er könnte Ihren Teppich beschmutzen.«

»Sie brauchen nicht gleich unfreundlich zu werden, Kollege. Sie haben doch gehört, dass ich angeboten habe, ihn ins Haus zu tragen.«

»Geschenkt.«

Er trat näher an mich heran, die Augen im Scheinwerferlicht trüb und steingrau. »Wo haben Sie ihn gefunden?«

»Im Straßengraben, ein paar Kilometer südlich der Marine Base.«

»Warum haben Sie ihn ausgerechnet hierhergebracht, bis auf meine Schwelle, wenn ich fragen darf?«

»Sie dürfen. Es war das erste Haus, an dem ich vorbeikam. Das nächste Mal fahre ich weiter.«

»So habe ich es nicht gemeint. Ich habe mich nur gefragt, ob es Zufall war.«

»Warum? Kennen Sie ihn?«

»Ja. Er fährt einen Truck für die Spedition Meyer in der Stadt. Er heißt Tony Aquista.«

»Kennen Sie ihn gut?«

»Das würde ich nicht sagen. Durch meinen Betrieb habe ich flüchtigen Kontakt zu den meisten Pennern in Las Cruces. Aber mit mexikanischen Truckern verkehre ich nicht.«

»Schön für Sie. Haben Sie eine Ahnung, wer auf ihn geschossen haben könnte?«

»Blöde Frage.«

»Sie könnten sie trotzdem beantworten.«

»Wer gibt Ihnen das Recht, Fragen zu stellen, Kollege?«

»Sagen Sie nur Kollege zu mir. Das macht mich heiß.«

»Sie haben sich gar nicht vorgestellt.«

»Stimmt.«

»Vielleicht sollte ich Ihnen auch ein paar Fragen stellen«, sagte er. »Sie haben nicht zufällig selbst auf ihn geschossen?«

»Sie sind sehr scharfsinnig. Natürlich habe ich auf ihn geschossen. Bevor ich geflohen bin.«

»War ja nur eine Frage. Mir ist das Blut an Ihnen aufgefallen.«

Er lächelte hämisch. Sein Mundwerk, bald sensibel, bald brutal, zog meine Faust an wie ein Magnet ein Stück Eisen. Er war recht groß und noch nicht so alt, aber ein bisschen benebelt. Ich steckte die Faust in die Tasche und ging auf die andere Seite des Autos.

Ich schaltete das Deckenlicht an. Tony Aquista stieß noch immer seine traurigen kleinen Luftbläschen aus. Seine Augen waren jetzt fest geschlossen. Er war blind und taub vor Anstrengung, sich am Leben festzuhalten. Auf der Straße seufzte der Krankenwagen.

Ich folgte ihm auf der Rückfahrt durch die Vororte entlang des Highways, vorbei an Motels und Hütten und Trailer Parks, wo Soldaten und Geschäftsreisende, Touristen und Wanderarbeiter zeitweilig die Nächte verbringen, mit zeitweiligen Bettgenossen. An einer sechsspurigen Zusammenführung zweier Hauptstraßen bog der Krankenwagen vom Highway links ab.

Ich verpasste den grünen Pfeil und musste warten. In der Ferne war das Krankenhaus zu erkennen, ein langer weißer, von Lichtern durchbohrter Kasten. Neben dem Highway ragte in die Nacht wie ein riesiges Traumbild die Leinwand eines Freiluftkinos, auf der sich zwei Männer zum Rhythmus leidenschaftlicher Musik prügelten.

Der Eingang zur Rettungsstelle befand sich auf der Rückseite des Krankenhauses. Das rote Leuchtschild NOTAUFNAHME warf einen höllischen Schimmer auf die ölverschmierte betonierte Einfahrt. Bevor ich hineinging, holte ich ein sauberes Hemd aus meiner Reisetasche und zog es an.

Im Behandlungsraum stand ein halbes Dutzend weißer Kittel um einen Tisch, auf dem Tony Aquista lag. Jetzt waren sogar seine Lippen gelb. Aus einer umgedrehten Flasche tropf‌te Blut in einen Schlauch, der an seinem Arm fixiert war.

Ein junger Arzt, in der Ausbildung oder Assistenzarzt, beugte sich über das ausdruckslose Gesicht und drückte die Daumen in die Augenhöhlen. Aquista rührte sich nicht. Der Raum schien den Atem anzuhalten. Ich stellte mich neben den Arzt. Er sah mich scharf an.

»Sind Sie ein Patient?«

»Ein Zeuge. Ich habe diesen Mann gefunden.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie hätten ihn früher finden sollen.« Er wandte sich an eine der Schwestern. »Verschwenden Sie kein Blut mehr an ihn.«

Sie klemmte den Gummischlauch ab und trennte ihn von der halb leeren Flasche. Die strengen Gerüche des Krankenhauses und der Zersetzung stiegen mir in die Nase.

»Stirbt er?«

»Er ist schon gestorben. Kein Puls, keine Atmung. Er muss ziemlich lange geblutet haben, hatte wohl keinen halben Liter mehr im Körper.«

»Schussverletzung?«

»Keine Frage, meiner Meinung nach. Lungenverletzungen sind mörderisch.«

Ich sah Tony Aquista ins Gesicht. Es hatte sich verändert, von Fleisch zu Wachs, und es grinste.

»Also Mord.«

Ich muss es laut gesagt haben, mit belegter Stimme. Der Arzt sah mich zerknirscht an.

»Ist der Mann ein Freund von Ihnen?«

»Nein. Aber so etwas wünsche ich keinem Menschen, egal wem. Haben Sie die Polizei verständigt?«

»Den Sherif‌f. Es ist hier im Bezirk passiert, oder?«

»Da wurde er jedenfalls in den Straßengraben geworfen.«

Er wandte sich zur Tür und rief mir über die Schulter zu: »Ich nehme an, der Sherif‌f möchte, dass Sie sich zur Verfügung halten.«

Ich verschwieg ihm, dass es mein Beruf war, in sterilen Räumen auf Polizeibeamte zu warten. Auf diesen wartete ich außerhalb des Behandlungsraums, auf einem Klappstuhl aus Metall. Der Krankenhausbetrieb um mich herum ging weiter. Schwestern kamen und gingen, reinigten den Raum für den nächsten Notfall. Tony Aquista, gesichtslos, unter einem Laken, wurde in die Leichenhalle am anderen Ende des Flurs gerollt.

In Gedanken folgte ich ihm in die kalte Finsternis. Das passiert manchmal, wenn ein Jüngerer stirbt. Es war, als hätte sich ein Teil von mir unter dem grellen Licht in Wachs verwandelt.

Irgendwo in den grummelnden Eingeweiden des Gebäudes erhob sich der schrille Schrei eines Kindes. Womöglich ein Neugeborenes, das die Einwohnerzahl von Las Cruces wieder ausglich.

2

Ein großer Mann in einem grauen Straßenanzug öffnete die Tür der Leichenhalle. Mit seinem blendend weißen Stetson verfehlte er um Haaresbreite den Türsturz, als er nach draußen trat. Er klatschte mit der flachen Hand auf die Betonwand und sagte zu dem Hilfssherif‌f hinter ihm: »Was ist mit Tony passiert, verdammt noch mal?«

Der Hilfssherif‌f zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich irgendwelche Weibergeschichten. Sie kennen doch Tony, Chef.«

»Ja. Ich kenne Tony.«

Der ausgreifende Schatten des Sherif‌fs verlängerte sich in meine Richtung. Das Gesicht unter der Hutkrempe war lang und hager wie sein Körper und verbrannt von der Sonne im Tal. Obwohl jung für sein Amt, etwa mein Alter, konnte ich sehen, wie sich die Narben alter Schmerzen von den Augenrändern aus verzweigten und die Mundwinkel nach unten zogen. Seine tief‌ liegenden Augen waren dunkel wie die Fenster eines Geisterhauses.

»Haben Sie ihn hergebracht?«

»Ja.«

»Sie sind nicht aus Las Cruces, oder?«

»Los Angeles.«

»Verstehe.« Er nickte, als hätte ich ein vernichtendes Geständnis abgelegt. »Dann geben Sie uns mal Ihren Namen und Ihre Adresse.«

Ich nannte ihm meinen Namen, Lew Archer, und meine Geschäftsadresse, Sunset Boulevard. Der Hilfssherif‌f notierte sie sich. Der Sherif‌f zog einen zweiten Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber.

»Ich bin Sherif‌f Church. Das ist Danelaw, mein Of‌f‌icer vom Erkennungsdienst. Und was machen Sie beruf‌lich, Mr. Archer, außer den barmherzigen Samariter spielen?« Wenn Church hatte witzig sein wollen, dann war es ihm gründlich misslungen.

»Ich bin Privatdetektiv.«

»Sieh an. So ein Zufall. Oder nicht? Was haben Sie auf dem Highway gemacht?«

»Ich bin Auto gefahren. Bin unterwegs nach Sacramento.«

»Heute Nacht nicht mehr«, sagte er. »Den barmherzigen Samariter spielen zahlt sich heutzutage nicht aus. Sie müssen einiges an Bürokratie über sich ergehen lassen. Außerdem brauchen wir Sie als Zeugen.«

»Das ist mir klar.«

»Ich versuche, es schnell zu machen, wenn ich kann – bis morgen oder übermorgen. Also, heute ist Donnerstag. Können Sie bis Samstag bleiben?«

»Wenn es sein muss.«

»Gut. Wo haben Sie ihn aufgelesen?«

»Er lag im Straßengraben, ein paar Kilometer südlich vom Marinestützpunkt. Er schaffte es, auf die Knie hochzukommen und mir zu winken.«

»Er war also noch bei Bewusstsein. Hat er was gesagt?«

»Er verlor das Bewusstsein noch ehe ich bei ihm war. Ich wollte ihn nicht anrühren, aber es gab keine Möglichkeit zu telefonieren, niemanden, den ich nach Hilfe hätte schicken können. Ich habe ihn auf die Rückbank meines Autos gelegt und vom ersten Haus, an dem ich vorbeikam, einen Krankenwagen gerufen.«

»Wo war das?«

»Kerrigans Motor Court. Kerrigan hat ganz schön heftig reagiert. Anscheinend kannte er Aquista. Er wollte nichts mit ihm zu tun haben. Tot oder lebendig. Seine Frau hat den Krankenwagen für mich gerufen.«

»Was hatte Mrs. Kerrigan dort zu schaffen?«

»Sie saß am Empfang.«

»War denn Kerrigans Geschäftsführerin nicht dort? Miss Meyer?«

»Wenn, dann habe ich sie nicht gesehen. Spielt das eine Rolle?«

»Nein.« Die Stimme des Sherif‌fs schwoll an. Er brachte sie wieder unter Kontrolle. »Das höre ich zum ersten Mal, dass Kate Kerrigan dort arbeitet.«

Danelaw sah von seinem Notizbuch auf. »Sie ist schon die ganze Woche dort draußen.«

Church sah ihn an, als hätte er noch Fragen, schluckte sie jedoch hinunter. Sein Kehlkopf bewegte sich auf und ab.

»Kerrigan war ziemlich angeheitert. Das erklärt vielleicht sein Verhalten. Er hat mich gefragt, ob ich den Mann erschossen hätte.«

Der Sherif‌f verkniff sich ein Lächeln. »Was haben Sie darauf geantwortet?«

»Nein. Ich habe den Mann nie vorher gesehen. Ich möchte das auch zu Protokoll geben, für den Fall, dass er noch mehr dummes Zeug redet.«

»Keine schlechte Idee, unter den gegebenen Umständen. Und jetzt zeigen Sie mir den Weg zu der Stelle, wo Sie ihn gefunden haben.«

Wir standen beide gleichzeitig auf. Seine knochige Hand krallte sich um meine Schulter und schob mich zum Ausgang. Schwer zu sagen, ob ich es als aufmunternde Geste oder als Befehl verstehen sollte. Ich schüttelte die Hand mit einem Schulterzucken ab.

Er fuhr einen neuen schwarzen Mercury Special mit Tarnkennzeichen und ohne Aufschrift. Er folgte mir Richtung Süden, stadtauswärts, den Weg, den ich gekommen war. Die Verkehrsflaute, die während der Dämmerung geherrscht hatte, war vorbei. Die Nacht war angebrochen. Ein Scheinwerferpaar nach dem anderen stieß aus dem Süden kommend durch das Tal, blitzte grell in meinen Augen auf und erlosch. Ein zweites Dienstfahrzeug überholte uns.

Wir fuhren durch das verlassene Camp, und ich fing an, den Seitenstreifen abzusuchen. Die Scheinwerfer der Autos hinter uns pflügten durch den Graben wie zerbrochene Ruder. Nach zwei irrtümlichen Stopps fand ich die Stelle. Sie war markiert durch eine Reihe trocknender Blutstropfen auf dem Schotterbankett. Die geknickten Stechapfelstängel an der Böschung wiesen noch den Abdruck der ausgestreckten Glieder eines menschlichen Körpers auf.

Mehrere Deputys stiegen aus dem zweiten Streifenwagen. Darunter ein breitschultriger Indigener mit flinken blitzenden Augen. Ungeduldig begrüßte er den Sherif‌f.

»Die Zentrale hat Kontakt mit Meyer aufgenommen. Tony war heute mit einem Truck unterwegs, und der Truck wird vermisst.«

»Was hatte er geladen?«

»Das wollte Meyer nicht sagen. Er möchte mit Ihnen darüber sprechen. Wenn ich den Hund, der das getan hat, in die Finger kriege …« Der Mann in der tristen olivgrünen Uniform sah in die Runde und durchstach mich schließlich förmlich mit seinem Blick.

Der Sherif‌f legte einen väterlichen Arm auf Sals Schulter. »Immer mit der Ruhe. Ich weiß, wie viel euch Blutsverwandtschaft bedeutet. Tony war Ihr Cousin, nicht wahr?«

»Der Sohn meiner Tante mütterlicherseits.«

»Wir kriegen die, die das getan haben, Sal, aber wir müssen sichergehen, dass wir auch an die Richtigen rankommen. Dieser Mann hier hat nichts mit dem Mord zu tun. Er hat Tony gefunden und ins Krankenhaus gebracht.«

»Sagt er das?«

»Ich sage das.« Der Sherif‌f schlug unerwartet einen förmlichen Ton an. »Wo ist Meyer jetzt?«

»Auf dem Betriebsgelände.«

»Fahren Sie rüber zur West Side, und besorgen Sie sich alles Wissenswerte über den Truck. Richten Sie dem alten Herrn aus, dass ich später vorbeikomme. Geben Sie eine Fahndung nach dem Truck raus. An allen Ausfallstraßen aus dem County sollen Straßensperren errichtet werden. Verstanden, Sal?«

»Yessir.«

Der Hilfssherif‌f lief zu seinem Auto. Der Sherif‌f und die übrigen Männer suchten mit Augen, Fingern und Taschenlampen den Boden ab.

Danelaw, der Of‌f‌icer vom Erkennungsdienst, nahm einen Abdruck von meiner Schuhsohle und verglich ihn mit den Abdrücken im Graben. Es gab sonst keine Abdrücke außer meinen, auch keine neuen Reifenspuren auf dem Schotterbankett.

»Es scheint so, als hätte man ihn aus einem Auto abgeladen«, sagte Church. »Oder aus seinem Truck. Wie auch immer, jedenfalls hat das Fahrzeug die Betondecke nicht verlassen.« Er sah mich an. »Haben Sie ein Auto beobachtet? Oder einen Truck?«

»Nein.«

»Gar nichts?«

»Nein.«

»Es ist auch möglich, dass sie gar nicht angehalten haben, sondern ihn einfach rausgeworfen und liegen gelassen haben, und er ist aus eigener Kraft von der Straße gekrochen.«

Danelaw rief ihm vom Straßenrand aus zu: »Ich würde sagen, so war es, Chef. Es finden sich Blutspuren, da, wo er sich in den Graben geschleppt hat.«

Church spuckte auf den Boden. »Eine widerliche Sache.« Wie beiläufig wandte er sich an mich. »Kann ich mal Ihre Zulassung sehen?«

»Klar doch.« Ich zeigte ihm meine Lizenz.

»Sieht echt aus. Und was, sagten Sie, hatten Sie in Sacramento vor?«

»Ich habe es Ihnen nicht gesagt. Ich muss einem Gesetzgebungsausschuss Bericht erstatten.« Ich nannte ihm den Namen des Ausschussvorsitzenden. »Er hat mich beauf‌tragt, den Drogenhandel in den südlichen Countys zu untersuchen.«

»Würde die Geschichte bestehen, wenn ich mir die Mühe machte, sie nachzuprüfen?«

»Selbstverständlich. Ich habe den Schriftverkehr dabei.«

Ich wollte schon zum Auto gehen, doch Church hielt mich zurück.

»Nicht nötig. Sie stehen nicht unter Verdacht. Sal Braga ist ein Heißsporn, und zufällig ist er mit Tony Aquista verwandt. In dieser Stadt ist jeder mit jedem verwandt. Das macht die Dinge manchmal kompliziert.« Er schwieg einen Moment.

»Was halten Sie davon, wenn wir zu Kerrigan fahren und ihn befragen?«

»Reizende Idee.«

Mittlerweile war die Straße gesäumt von Autos, dienstlichen und privaten. Ein Highway Patrolman regelte mit einer Taschenlampe den Verkehr. Er verschaffte dem Mercury des Sherif‌fs Platz, damit er wenden konnte, und ich folgte ihm in meinem Auto.

Der rote Schimmer über der Stadt erinnerte mich an die Spiegelung des NOTAUFNAHME-Schildes am Krankenhaus in der Öllache, war nur unendlich viel größer. Jenseits der glühenden Stadt, in den Bergen, rotierte der Lichtstrahl eines Leuchtfeuers, als suchte er die Nacht ab nach irgendeinem Sinn.

3

Kerrigan musste den Sherif‌f erwartet haben. Als ich hinter dem Mercury vorfuhr, trat er aus der Lobby.

»Wie geht’s, Brand?«

»Geht so.«

Sie gaben sich die Hand. Jedoch fiel mir auf, dass jeder den anderen während der Unterhaltung beobachtete, wie Schachspieler, die schon mal gegeneinander angetreten waren. Oder Gegner eines tödlicheren Spiels als Schach. Nein, sagte Kerrigan, er wisse nicht, was mit Aquista passiert sei. Er habe nichts gesehen, nichts gehört, nichts Schlimmes getan. Der Mann in dem Auto habe ihn gefragt, ob er sein Telefon benutzen dürfe, das sei seine einzige Verbindung zu dem Fall. Er sah mich unverhohlen feindselig an.

»Wie läuft das Geschäft?« Church sah hinauf zu dem erleuchteten Belegt-Schild. »Die Frage erübrigt sich wohl.«

»Ehrlich gesagt, ziemlich mies. Ich habe das Schild eingeschaltet, weil meine Frau zu aufgeregt ist, um den Empfang zu besetzen. Behauptet sie jedenfalls.«

»Ist Anne in Urlaub?«

»So könnte man es nennen.«

»Hat sie gekündigt?«

Kerrigan hob und senkte die schweren Schultern. »Ich wüsste nicht. Ich wollte schon Sie fragen.«

»Warum mich?«

»Sie ist immerhin verwandt mit Ihnen. Sie kommt schon die ganze Woche nicht zur Arbeit, und ich kann sie nicht erreichen.«

»In ihrer Wohnung ist sie auch nicht?«

»Da geht keiner ans Telefon.« Kerrigan sah mit strenger Miene zum Sherif‌f auf. »Haben Sie sie auch nicht gesehen, Brand?«

»In dieser Woche noch nicht«, sagte der Sherif‌f und ergänzte nach einer Pause: »Wir haben Anne sowieso ein bisschen aus den Augen verloren.«

»Komisch. Ich dachte, sie gehörte praktisch zur Familie.«

»Falsch gedacht. Sie trifft sich ab und zu mit Hilda, aber sonst führt Anne ihr eigenes Leben.«

Kerrigan lächelte sein hässliches Lächeln. »In dieser Woche vielleicht mehr als sonst, was?«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Das liegt ganz bei Ihnen.«

Church machte einen großen Schritt auf ihn zu, die Fäuste geballt. Seine Augen waren weit aufgerissen und finster, und sein Gesicht hatte in dem farbigen Licht eine grüne Patina. Es sah krank aus vor Wut.

Ich öffnete die Autotür und setzte einen Fuß auf den Schotter. Das Geräusch gebot ihm Einhalt. Zitternd stand er vor Kerrigan und sah hinab auf dessen boshaftes Grinsen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt. Mechanisch lief er bis zum Rand des Scheinwerferlichts und blieb dort mit gesenktem Kopf und dem Rücken zu uns stehen.

»Wollen Sie mir das Maul verbieten, oder was?«, sagte Kerrigan vergnügt. »Noch so ein Wutausbruch, und Sie waren die längste Zeit Sherif‌f.«

Mrs. Kerrigan trat aus der Tür zur Hotellobby. »Ist irgendwas, Don?« Sie trug ein Silberfuchs-Cape und eine ängstliche Miene zur Schau.

»Irgendwas ist immer. Ich habe dem Sherif‌f gesagt, dass Anne Meyer diese Woche nicht erschienen ist. Anscheinend gibt er mir die Schuld. Ich bin für seine verdammte Schwägerin nicht verantwortlich.«

Zaghaft legte sie eine Hand auf seinen Arm, wie jemand, der ein aufgebrachtes Tier beruhigen will. »Das musst du missverstanden haben, Darling. Er kann dir unmöglich die Schuld dafür geben, was Anne so treibt. Wahrscheinlich will er sie nach Tony Aquista fragen.«

»Warum?«, sagte ich. »Hat sie Aquista auch gekannt?«

»Natürlich hat sie ihn gekannt. Er war verknallt in sie. Stimmt’s, Don?«

»Halt die Klappe.«

Sie wich zurück, strauchelte auf ihren High Heels, als hätte man sie geschubst.

»Reden Sie weiter, Mrs. Kerrigan. Es könnte wichtig sein. Aquista ist eben gestorben.«

»Gestorben?« Sie griff sich mit den Händen an die Brust, dann krallten sich ihre Finger in den Fuchspelz. Sie sah von mir zu ihrem Mann, ihre blauen Augen verfinsterten sich. »Ist Anne darin verwickelt?«

»Ich wüsste nicht«, sagte er. »Es reicht, Kate. Geh rein. Du frierst, bist ganz durcheinander und blamierst dich.«

»Nein. Du kannst mich nicht herumkommandieren. Ich habe das Recht zu reden, mit wem ich will.«

»Du wirst vor diesem Scheißkerl nicht dein Maul aufreißen.«

»Ich habe doch gar nichts …«

»Halt die Klappe«, wiederholte er mit leiser, tödlicher Stimme. »Du hast mir schon genug Ärger eingebracht.«

Er fasste von hinten unter ihre Ellenbogen und beförderte sie zum Eingang der Hotellobby. Sie wehrte sich nur schwach gegen seine Umklammerung und warf, als er sie losließ, keinen Blick zurück.

Er kam wieder zu mir raus, strich sich dabei selbstverliebt durchs Haar. Es war zu einem Bürstenschnitt gestutzt, zu kurz für sein Alter. Vermutlich gehörte Kerrigan zu der Sorte Männer in den besten Jahren, die nicht damit fertigwurden, dass ihre Jugend vorüber ist. Es verlieh ihm ein unwirkliches Äußeres, hinter dem Grausamkeit loderte.

»Man kann seine Frau auch mit Freundlichkeit fertigmachen.«

»Ich weiß, wie man mit Ladys umgeht. Ob echten oder eingebildeten. Ich weiß auch, wie man mit neugierigen Arschlöchern umgeht. Wenn Sie nicht in offizieller Funktion hier sind, schlage ich vor, dass Sie mein Grundstück verlassen. Aber schnell.«

Ich sah mich nach Church um. Er stand in einer Telefonzelle, am hinteren Ende einer Reihe von Gästehäusern des Motor Courts. Er hielt den Hörer ans Ohr, sprach aber selbst nicht.

»Verhandeln Sie das mit dem Sherif‌f«, sagte ich. »Ich bin mit ihm zusammen hier.«

»Wer sind Sie eigentlich, Kollege? Wenn ich nun das Gefühl hätte, dass Sie den Sherif‌f auf mich angesetzt haben …«

»Was dann, Sweetheart?« Sollte er nur kommen. Ich behielt die Hände bei mir, das Kinn gereckt und hoffte, dass er nach mir ausholen und mir Gelegenheit geben würde zu kontern.

»Dann lägen Sie am Boden und könnten Ihre Zähne einsammeln.«

»Ich dachte, Sie schubsen nur Frauen herum.«

»Soll ich es Ihnen beweisen?«

Er bluffte nur. Aus den Augenwinkeln verfolgte er wachsam, wie der Sherif‌f sich näherte. Die Miene des Sherif‌fs war ernst und gefasst.

»Ich muss mich entschuldigen«, wandte er sich an Kerrigan. »Ich verliere nicht oft die Nerven so wie eben.«

»Ach nein? Noch so ein Ausraster vor einem Steuerzahler, und Sie kriegen nicht mal mehr genug Wählerstimmen für den Job des Hundefängers zusammen.«

»Immer langsam. Schwamm drüber. Ich habe Sie nicht verletzt.«

»Würde ich an Ihrer Stelle auch nicht versuchen.«

»Ich sagte Schwamm drüber«, wiederholte Church leise. Seine Gesichtsmuskeln zeigten deutlich die Anstrengung, die es ihn kostete, sich zu beherrschen. »Erzählen Sie mir mehr über Anne. Anscheinend weiß niemand, wo sie steckt. Sie hat Hilda nichts davon gesagt, dass sie ihre Stelle kündigt oder irgendwo hinfährt.«

»Sie hat nicht gekündigt. Sie ist nur übers Wochenende weggefahren und am Montagmorgen nicht zur Arbeit erschienen. Offenbar ist sie aus dem Wochenende nicht zurückgekommen. Ich habe nichts von ihr gehört.«

»Wo ist sie hingefahren?«

»Sagen doch Sie es mir. Sie ist mir gegenüber nicht auskunftspflichtig.«

Einen langen Moment standen sie sich regungslos gegenüber. Zwischen ihnen war etwas Gefährlicheres als drohende Handgreif‌lichkeiten, ein Hass, der über Gewalt hinausging und der sie vollkommen in Beschlag nahm, wie eine große Leidenschaft.

»Sie sind ein Lügner«, sagte Church schließlich.

»Vielleicht bin ich ein Lügner. Und wenn schon. Falls ich einer bin.«

Church sah, dass ich sie beobachtete, und gab mir mit einem Wink den unabweisbaren Befehl, mich zu verziehen. Ich überließ die beiden ihrem stillen erbitterten Streit und ging in die dunkle Hotellobby.

Das grüngelbe Licht, das durch die Jalousien hineinkam, drang kaum in die Dunkelheit vor. Mrs. Kerrigan lag zusammengekauert auf einem Sofa in der hintersten Ecke. Ich sah nur ihre silberblonden Haarspitzen und feucht schimmernden Augen.

»Wer ist da?«

»Archer. Der Ihnen den Ärger eingebracht hat.«

»Sie haben mir keinen Ärger eingebracht. Den hatte ich schon vorher.« Sie stand auf und trat in die Mitte des Raums. »Sie sind nicht von der örtlichen Polizei, Mr. Archer.«

»Nein. Ich bin Privatdetektiv. Sonst sind die südlichen Countys mein Revier. Hier bin ich nur hineingestolpert.«

»So wie wir alle.« Ein zarter, angenehmer Duft ging von ihr aus, wie die Sehnsucht nach halb vergessenen Sommern. Ihr sorgenvolles Geflüster hätte die Stimme der atmenden Dunkelheit sein können. »Was hat das alles zu bedeuten?«

»Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich. Sie kennen die Beteiligten.«

»Wirklich? Eigentlich nicht. Im Grunde kenne ich nicht mal meinen eigenen Mann.«

»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«

»Sieben Jahre. Sieben magere Jahre.« Sie zögerte. »Sind Sie so ein Detektiv, den man anheuert, um Sachen über andere Leute herauszufinden, Mr. Archer?«

Ich sagte Ja, so einer sei ich.

»Könnte ich Sie … Kann ich Ihnen vertrauen?«

»Das hängt von Ihnen ab. Andere Leute konnten es, aber ich habe keine Empfehlungsschreiben dabei.«

»Würde es viel kosten? Ich habe etwas Geld übrig.«

»Ich weiß nicht, an was Sie gedacht haben.«

»Natürlich nicht. Entschuldigen Sie. Ich bin furchtbar zerstreut heute Abend.«

»Oder aber Sie wollen es mir nicht sagen.«

»Das könnte sein.« Ich spürte ihr Lächeln, auch wenn ich es nicht sehen konnte. »Es könnte aber auch sein, dass ich nicht genau weiß, was ich von Ihnen will. Auf keinen Fall will ich irgendwem Ärger machen.«

»Zum Beispiel Ihrem Mann.«

»Ja. Meinem Mann.« Sie senkte die Stimme, dass sie kaum zu vernehmen war. »Ich habe Don gestern Abend beim Packen erwischt, seine zwei großen Koffer. Ich glaube, er hat die Absicht, mich zu verlassen.«

»Warum fragen Sie ihn nicht?«

»Das würde ich mich nicht trauen«, sagte sie mit einer Art trostlosem Humor. »Er könnte mir eine Antwort geben.«

»Lieben Sie ihn?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte sie etwas ungestüm. »Ich habe ihn mal geliebt, vor ziemlich langer Zeit.«

»Eine andere Frau?«

»Andere Frauen.«

»Ist Anne Meyer darunter?«

»Früher mal, soviel ich weiß. Letztes Jahr hatten sie was miteinander. Er hat mir gesagt, es sei vorbei, aber vielleicht geht es ja weiter. Wenn Sie sie finden könnten, finden Sie auch heraus, mit wem sie sich trifft –« Sie verstummte.

»Seit wann genau wird sie vermisst?«

»Seit vergangenem Freitag, als sie ins Wochenende aufgebrochen ist.«

»Wo hat sie das Wochenende verbracht?«

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«

»Mit Ihrem Mann?«

»Nein. Jedenfalls behauptet er das. Ich wollte sagen …«

Hinter mir ertönte Kerrigans Stimme. »Was wolltest du sagen?«

Unbemerkt hatte er die Tür zur Lobby geöffnet. Sein massiger Schatten trat aus dem Lichtkegel und schob sich in den Raum. Er drängte sich an mir vorbei und neigte sich angespannt zu seiner Frau.

»Ich habe dir gesagt, du sollst dein Maul nicht so weit aufreißen.«

»Ich habe doch gar nicht …«

»Ich habe dich gehört. Oder willst du jetzt auch noch behaupten, ich sei ein Lügner, Kate?«

Eine seitliche Drehung verlieh ihm Schwung. Ich hörte den Aufprall des Schlags und wie die Frau nach Luft schnappte. Ich packte Kerrigan an der Schulter.

»Finger weg, Sie Schläger.«

Sein dickes Schulterpolster bröselte, irgendetwas riss. Kerrigan jaulte hündisch auf und wandte sich mir zu. Eine seiner fuchtelnden Fäuste traf mich seitlich am Hals.

Ich wich zurück in den Lichtkegel der Tür und ließ Kerrigan herankommen. Er griff wie ein Rammbock an, zielte direkt auf meine linke Seite. Er kam dabei aus der Deckung, und ich parierte mit einem kurzen rechten Cross zum Kinn. Seine Knie gaben nach. Er wankte, ich versetzte ihm noch einen Schlag mit der Linken, bevor er vornüber auf dem Teppich landete.

Seine Frau kniete sich neben ihn. »Männer! Ihr seid wie schlimme kleine Jungs.« Sie wiegte seinen Kopf in der Hand und wischte sein aufgeplatztes Kinn mit einem spitzenbesetzten Taschentuch ab. »Ist er schwer getroffen, was meinen Sie?«

»Das bezweif‌le ich. Ich habe nicht oft zugeschlagen.«

»Sie hätten ihn überhaupt nicht schlagen sollen.«

»Er hat es nicht anders gewollt.«

»Ja, mag schon sein.« Kerrigan regte sich und stöhnte. Sie schaute verängstigt zu mir auf. »Besser, Sie verschwinden. Don hat eine Waffe, und er kann damit umgehen.«

»Hat er Aquista damit umgelegt?«

»Natürlich nicht. Wie abwegig«, sagte sie mit hoher, abwehrender Stimme. »Mein Mann hat nichts damit zu tun. Er war den ganzen Nachmittag hier bei mir.«

Kerrigan wand sich erschöpft in ihren Armen und versuchte, sich aufzurichten.

»Bitte gehen Sie jetzt«, sagte sie, ohne mich anzusehen.

»Und der Auf‌trag, über den wir gesprochen haben?«

»Den vergessen wir ganz einfach. Noch mehr Ärger ertrage ich nicht.«

»Sie müssen es wissen. Es ist ja Ihre Ehe.«

4

Der Mercury des Sherif‌fs war weg, der in Flutlicht getauchte Schotterplatz lag wie eine verwaiste Arena da. Ich lenkte meinen Wagen auf den Highway und folgte dem Verkehr stadteinwärts, allerdings nicht lange. Ein unbestimmtes Gefühl der Zugehörigkeit zog an mir, wie ein langes Gummi, das mich mit den Kerrigans und ihren Schwierigkeiten verband: Neugier, von mir aus, doch hatte auch Mrs. Kerrigans verborgene blonde Schönheit viel damit zu tun. Ich wollte, dass sie ihre Schwierigkeiten überwand und ihr Mann tiefer in seinen versank.

Das Gummiband erreichte seine maximale Ausdehnung und brachte mein Auto auf dem Seitenstreifen zum Halt. Eine Lücke im Verkehrsfluss erlaubte mir eine Kehrtwende. Ich fuhr an dem Motor Court vorbei, machte nach hundert Metern erneut eine Kehrtwende und parkte im dunklen Schatten einer Eiche am Straßenrand.

Ich rauchte zwei Zigaretten. Dann erlosch das Flutlicht, und das grüngelbe Neonschild wurde in Finsternis getaucht. Ich schaltete die Zündung ein und drückte den Starter.

Die Fenster der Lobby wurden dunkel, und Kerrigan erschien. Mit auf‌fallend kurzen Schritten überquerte er den Schotterplatz in Richtung einer Gasse, die hinter der Reihe der Gästehäuser verlief. Eine Minute später kam sein feuerrotes Cabrio daraus hervorgefahren. Er hupte ungeduldig. Mrs. Kerrigan erschien, hielt sich das Silberfuchs-Cape um die Schulter und lief zu dem Cabrio.

Der Wagen war leicht zu beschatten. Ich folgte ihm nach Las Cruces, dann quer durch die Stadt bis in eine Wohngegend. Hier setzte Kerrigan seine Frau vor einem großen zweigeschossigen Haus ab, das sich terrassenförmig an den Hang schmiegte. Ich merkte mir die Stelle.

Kerrigan kehrte ins Stadtzentrum zurück; er fuhr, als wäre sein Auto eine Zerstörungsmaschine. Schließlich stellte er es in einer Seitenstraße der Main Street ab. Ich suchte mir einen Parkplatz und verfolgte ihn zu Fuß.

Wir befanden uns in den ärmeren Teilen der Altstadt, einer Brache aus billigen Hotels, Trödelläden und Geschäften für gebrauchte Möbel, mexikanischen und chinesischen Restaurants. Unter einem Restaurantschild, SAMMY’S ORIENTAL GARDENS, blieb Kerrigan stehen und sah links und rechts die Straße entlang. Ich duckte mich in den Eingang eines Pfandhauses. Der schwach erleuchtete Innenraum lag hinter Gitterfenstern wie eine wirre Erinnerung an eine Zivilisation.

Als ich wieder auf den Bürgersteig trat, war Kerrigan verschwunden. Ich rannte im Laufschritt hin und sah durch das mit Fliegendreck übersäte Fenster. Kerrigan schritt bis zum hinteren Teil des Raums, begleitet von einem chinesischen Kellner, der ihm lächelnd den Weg zu einem verhangenen Tordurchgang wies. Ich wartete, bis er außer Sicht war, dann ging ich hinein.

Es war ein großes, altmodisches Restaurant mit einem gut besetzten Bartresen auf der einen und Sitznischen aus schwarz-orange gestrichenem Holz auf der anderen Seite. Von der rauchgeschwärzten Decke aus Pressblech hingen trostlose unbeleuchtete Papierlaternen. Ein müder Deckenventilator rührte in der Atmosphäre, die sich aus ranzigem Fett und Sojasoße, whiskeygetränktem Atem und menschlichem Schweiß zusammensetzte. Die Gäste entstammten den niederen Rängen des Lebens, Raubeine von den Ölfeldern und ihre Frauen, Cowboys in hochhackigen Reitstiefeln, ein alter Säufer, der selbstvergessen in seinem Rausch in einer Nische saß und darauf wartete, dass die Träume einsetzten.

Der chinesische Kellner kam wieder nach vorne und bleckte die Zähne.

»Möchten Sie eine Nische, Sir?«, sagte er betont.

»Lieber hätte ich ein Separee.«

»Tut mir leid, Sir. Das ist besetzt. Wären Sie eine Minute früher gekommen.«

»Macht nichts.«

Ich ließ mich in einer der vorderen Nischen nieder, sodass ich den Torbogen im Spiegel hinter der Bar im Blick hatte. Der Kellner gab die Bestellung für einen doppelten Whiskey on the rocks weiter und trug das Tablett durch den Torbogen. Als er mir die Speisekarte brachte, sagte ich: »Die Papierlaternen sind eine Brandgefahr. Ich bin etwas ängstlich, was Feuer betrifft. Hat das Haus einen Hinterausgang?«

»Nein, Sir. Aber es ist absolut sicher hier. Wir hatten noch nie ein Feuer. Möchten Sie jetzt bestellen, Sir?«

Mir fiel ein, dass ich seit Mittag nichts gegessen hatte. Ich bestellte eine Flasche Bier und ein Clubsteak. »Eines Königs würdig«, stand in der Speisekarte, und »Also bringen Sie Ihre Königin mit«. Von wegen.

Gerade spülte ich die letzten zähen Fetzen des Steaks mit Bier hinunter, als von der Straße ein Mädchen hereinspaziert kam. Ihr Kopf war klein und meisterlich geformt, bedeckt mit kurzen schwarzen Haaren, wie glitzernde Seide. Sie hatte schmale dunkle Augen und einen Schmollmund. Ihr nerzbraun gefärbter Kaninchenfellmantel stand offen, und beim Gehen wiegte sie sich provokant in den Hüften.

Alle Männer am Tresen, einschließlich des Barkeepers, eines Filipinos, bemerkten sie umgehend. Sie verharrte am Eingang, saugte die Aufmerksamkeit wie Benzin oder Nahrung auf, aalte sich darin. Ihr weicher Körper mit der schmalen Taille schwoll geradezu an, und ihre Brüste reckten sich den Stielaugen entgegen.

Unsere Blicke trafen sich. Ich lächelte unwillkürlich. Sie sah mich verächtlich an und wandte sich an den Kellner.

»Ist er da?«

»Er ist gerade gekommen, Miss. Er wartet im Hinterzimmer auf Sie.«

Sie lief mit wiegenden Hüften hinter ihm her, und ich fragte mich, ob sie wohl Anne Meyer war. Sie sah nicht aus wie eine Hotelangestellte. Eher wie eine Schauspielerin, die es unten im Süden nicht geschafft hatte, oder wie eine sehr erfolgreiche Amateurnutte auf dem Weg zum Profi. Ganz gleich, welchem Gewerbe sie nachging, Sex musste darin eine Rolle spielen. Sie war so voller Sex, wie eine Traube voller Saft ist, und so jung, dass er noch nicht bitter geworden war.

Ich wartete, bis der Kellner durch die Pendeltür in der Küche verschwunden war. Dann stand ich auf und ging zu dem verhangenen Torbogen. Der Flur dahinter war schmal und schlecht beleuchtet, auf den beiden Türen am anderen Ende stand HERREN und DAMEN. Ein Türrahmen weiter vorne war mit einem dicken grünen Vorhang verhängt, durch den ich eine gedämpf‌te Unterhaltung vernahm. Ich lehnte mich daneben an die Wand.

Zuerst hörte ich die Stimme des Mädchens. »War das deine Frau am Telefon? Ich habe noch nie mit ihr gesprochen. Sie drückt sich sehr gebildet aus.«

»Gebildet ist sie, allerdings. Zu gebildet.« Kerrigan stieß ein freudloses Schnauben aus. »Du hättest nicht im Hotel anrufen sollen. Gestern Abend hat sie mich beim Packen erwischt. Sie hat was spitzgekriegt, leider.«

»Über uns?«

»Über alles.«

»Na und? Sie kann uns nichts anhaben.«

»Du kennst sie nicht«, sagte er. »Sie ist immer noch verknallt in mich, auf ihre Art. Und im Moment zählt jede Kleinigkeit. Ich dürf‌te gar nicht hier sein.«

»Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?«

»Natürlich freue ich mich. Ich finde nur, wir hätten damit warten sollen.«

»Ich habe den ganzen Tag gewartet, Donny. Ich hatte kein Gras mehr, und mir sind die Nerven durchgegangen. Ich musste dich sehen. Ich musste wissen, was passiert ist.«

»Nichts ist passiert. Es hat geklappt. Es ist alles vorbei.«