Wer hat Angst vorm Lehrerwerden? - Sabine von Baasmann - E-Book

Wer hat Angst vorm Lehrerwerden? E-Book

Sabine von Baasmann

0,0

Beschreibung

Ja, und es hat wehgetan, klagt ein Referendar, der mit Quarkbällchen beworfen wurde und fasst so das ganze Elend von Schule, Ausbildung und Quereinstieg zusammen. Kann man ein Referendariat auch kaufen? Hedwig, reich und klug, Traumberuf Lehrerin, hat Prüfungsangst. Sie engagiert über einen Mittelsmann Sabine, arm, naiv und mutig, angehende Journalistin. Die macht als Hedwigs Stuntfrau für sie das Referendariat und ermittelt vor Ort Sinn und Unsinn von Schule und Lehrerausbildung. Kann das gut gehen? Erfahrungen und praktische Tipps für die Bewältigung des Referendariats, schrille Unterhaltung, Schreckliches und Tröstliches mischen sich zu einem tragisch-komischen Kaleidoskop von Bekenntnissen und Dokumenten eines Lehramtsschwindels. Kabarett oder Realität? Hier kommen alle zu Wort - auch die, für die Schule eigentlich gemacht wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 250

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Handelnde Personen

Prolog

Ebay Kleinanzeigen

Sabine Bendler

Projektnotiz 1

Drei Monate später

Projektnotiz 2: Fasching und ich war nicht verkleidet

Projektnotiz 3: Operation Hedwig

Projektnotiz 4: Frau Baasmann hier, Frau Baasmann da

Projektnotiz 5: Lehrer sein – Pro und Contra

Ankommen

So wahr mir Gott helfe

Hedwig Baasmann

Es geht los

Sabine Bendler

Eckdaten

Projektnotiz 6: Fachseminare

Projektnotiz 7: Hospitation bei Husche

Projektnotiz 8: Unerwartete Informationsquelle

Projektnotiz 9: Ferien helfen nicht

Projektnotiz 10: Die 5b „Am Meer“

Projektnotiz 11: April, April – mein erster Unterrichtsentwurf

Karl Kluge

Die werden sich noch wundern

Sorgen im April

Sabine Bendler

Projektnotiz 12: Schlimmer als gedacht

Projektnotiz 13: Jetzt aber

Projektnotiz 14: Kompetenzraster

Projektnotiz 15: Kuchen und Kasten

Projektnotiz 16: Gruppenhospitation mit Mispel

Projektnotiz 17: Parzival, Erdmute und Schockstarre

Karl Kluge

Alles unselig

Sabine Bendler

Projektnotiz 18: Die Eule hat Prüfung

Projektnotiz 19: Elternchat

Projektnotiz 20: Ich will nicht mehr

Hedwig Baasmann

Mut zum Übergriff

Sabine Bendler

Projektnotiz 21: Aha-Erlebnis vor Weihnachten

Weihnachtsauszeit

Projektnotiz 22: Frühblüher und Stopptanz

Projektnotiz 23: Modulprüfung

Projektnotiz 24: Corona

Projektnotiz 25: Schwule Könige

Hilde Hacke-Düne

Wer wird Lehrerin? Wer wird Lehrer?

Schlaflos

Klatsch und Kompetenzen

Sabine Bendler

Brokes Stick

Think, Pair, Share

Vor der Prüfung

Nach der Prüfung

EPILOG

Vier Jahre später

HANDELNDE PERSONEN

Hedwig Baasmann

... hat Geld, Ehrgeiz, Prüfungsangst und den dringenden Wunsch, Lehrerin zu werden.

Karl Kluge (KK)

... ist Hedwig Baasmanns Life-Coach, hat mit ALFI ein ehrgeiziges Projekt entwickelt und sieht sich auf dem Titelblatt von Psychologie Jetzt.

Sabine Bendler

... ist stellvertretende Lehramtsanwärterin mit journalistischen Ambitionen und Hedwigs Alter Ego.

Klaus Stumpe

... ist allgemeiner Seminarleiter, mag weinende Referendarinnen und seinen Hasenfellmantel.

Sebastian Maximilian Stein-Finger

... ist Fachseminarleiter für Mathematik, hat Struktur und Eloquenz und wäre gerne locker.

Babette Hohn-Stauffen

... ist eine dynamische Fachseminarleiterin für Sachunterricht, neidisch auf Stein-Fingers strukturiertes Denken, hat ein großes Herz und zu jedem Thema ein laminiertes Quartett.

Hilde Hacke-Düne

... ist Fachseminarleiterin für Deutsch, vertritt überzeugend den Kern humanistischer Bildung und ist leicht verwirrt immer noch besser als viele andere Lehrkräfte.

Arthur Treppe

... ist Verwaltungsmitarbeiter der allerbesten Sorte – ein Engel.

Winfried Broke

... leitet die Grundschulabteilung einer Gemeinschaftsschule, scheut sich nicht vor Wikingerhörnern und hat eine Couch in seinem Büro.

Gisela Platte

... ist Lehrerin an Sabines Schule, ihre wenig hilfreiche Mentorin und hat Schuldistanz und häufige Nervenzusammenbrüche.

Lehramtsanwärterinnen und -anwärter (LAAs) in Sabines Seminaren:

Norbert Husche

... möchte Lehrer sein, aber nicht, dass Schülerinnen und Schüler seinen Namen erfahren.

Stefanie Beimke

... hat den Willen, eine gute Lehrerin zu werden, aber hat´s einfach nicht drauf.

Lena Euler

... steht kurz vor der Prüfung und an der Schwelle zu Übergewicht.

Lado Moskowitsch

... hat eine stets dienstbereite Mutter und höllische Angst vor Gebäckteilen, die ihn treffen könnten. Sein „Ja, und es hat weh getan!“ wird in die Geschichte der Lehrerausbildung eingehen.

Frank Müller-Heinze

.... ist von eher unauffälliger Intelligenz, braucht viel Schlaf, freitags frei und viele Kartoffeln.

Andrea Stegner

... hat eine Rechtschreibschwäche, zu der sie steht, und liebt Glockenröckchen.

Jana Punsen

... wiederholt das Referendariat und kann den Fotokopierer nicht bedienen.

Manuel Spitz

... hat braune Schokoaugen und sexuelle Attraktivität, weiß aber nicht, wann Nikolaus ist.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und tatsächlichen Dokumenten sind zufällig, die Episoden Verfremdungen und Verdichtungen realer Geschehnisse.

PROLOG

Ebay Kleinanzeigen

Journalistik Studentin, kreativ, aufgeschlossen und diskret, mit weiten Interessen, bietet Hilfe und Coaching bei der Erstellung von Projektarbeiten an.

Nachricht auf Ebay Kleinanzeige

Ich habe mit großem Interesse Ihre Anzeige gelesen und habe ein Angebot für Sie, das in Übereinstimmung mit Ihren Qualifikationen steht. Diskretion ist unbedingte Voraussetzung für eine zukünftige Zusammenarbeit. Es handelt sich um ein langfristiges pädagogisches Projekt, welches bei erfolgreichem Abschluss finanziell für Sie äußerst interessant sein könnte. Ich handle als Agent für eine Person, die im Falle eines Übereinkommens Ihre Projektpartnerin sein wird. Bei Interesse bitte ich Sie um ein Treffen am Nikolaustag um 11.11 Uhr im Hard Rock Café. Erkennungszeichen „Grüner Pudel“.

SABINE BENDLER

Projektnotiz 1

Von zwei Dingen war ich bisher fest überzeugt. Ich werde nie Lehrerin und ich neige nicht zu betrügerischen Handlungen. Warum ich dann doch ins Hard Rock Café gegangen bin? Neugier? Das magische Wort „finanziell“?

Mein Magen war ein einziges Knäuel, meine Hoffnung, dass der „grüne Pudel“ mir Alkohol anbieten würde. Das hilft manchmal bei Nervosität, aber nur kurz. Leider vertrage ich nur wenig. Zu viel und ich werde weinerlich. Sehr unpassend.

Unten hingen nur ein paar hippe Touristen herum. Ich fand ihn oben. Die grüne Mütze lag auf dem Stuhl neben ihm, er fischte mit fettigen Fingern in einer Portion Chicken Wings herum, was ihm aber erstaunlicherweise nicht peinlich war. Der Mann war vielleicht Ende 40, groß, nicht unansehnlich, wenn man so was mag. Distinguierte Erscheinung, dunkle Haare, nach hinten gegelt. Den zweireihigen Anzug schmückte eine gelbe Krawatte mit lila Möpsen oder Häschen – offensichtlich verfügte der Träger über kein natürliches Schamgefühl. Er stand höflich auf, sagte „Karl Kluge“, ich sagte „Sabine Bendler“. Er wischte sich die Finger immerhin an einer Papierserviette ab, bevor er mir die Hand schüttelte, musterte mich kurz und bot mir den Platz ihm gegenüber an. Ich setzte mich, er setzte sich. Die Bedienung kam, er ermunterte mich, meine Wünsche vorzutragen, nahm ungerührt zur Kenntnis, dass ich eine Margarita trinken, aber nichts essen wollte. Er sagte, er sei von Beruf Life-Coach und weihte mich selbstbewusst und voller Enthusiasmus für seine eigene Begabung in ein Projekt ein, das in der Zusammenfassung so aussieht:

Ich soll schlicht und ergreifend für eine andere Person, die er abwechselnd Vertragsgeberin und Projektpartnerin nannte, die Lehrerausbildung machen. Ja, die Ausbildung zur Lehrerin im Berliner Schuldienst – als ihr Double oder eher als ihre Stuntfrau, denn sie wird ja gute Gründe haben, es nicht selbst zu machen.

Ich nahm paralysiert einen großen Schluck aus meinem Cocktailglas, er begann seine Ausführungen mit einer langen Schilderung der verschiedenen Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Versagensängsten und gleichzeitig anspruchsvollen Zielen, die darin gipfelte, dass er, Kluge, nun wegweisend etwas Neues entwickelt habe, nämlich „ALFI“. Das habe ich mir noch mental notiert (ALFI steht für Aktive-Lebens-Feld-Intervention), bevor mir der Alkohol in den Kopf stieg. Es handele sich um einen Ansatz, der die erfahrbare Lebensrealität eines Menschen ändert, statt den Menschen selbst.

In diesem Fall bedeute es, dass seine Klientin in ihrer Zukunft nicht erst Lehrerin werden muss, sondern durch meine Hilfe Lehrerin sein kann, ohne die angstbesetzte Ausbildung selbst absolvieren zu müssen. Er hätte im Grundsatz einen Artikel über dieses bahnbrechende kommende Ereignis für die Zeitschrift Psychologie Jetzt schon fertig in der Schublade liegen, bräuchte halt aber noch die durch meinen Einsatz zu liefernden belastbaren Daten.

Er redete und redete, nach 5 Minuten hatte ich den Faden verloren, nach weiteren fünfzehn den überwiegenden Teil meines praktischen Verstandes. Mein Gehirn löste sich in seinem wichtigtuerischen gleichförmigen Raunen auf, gefördert von dem übermäßigen Vorkommen des Wortes „Kompetenz“, das sich erfahrungsgemäß seit meinem Bachelor-Studium auch in geringeren Dosen wie Blei auf meine Gedanken legt.

Doch dann, ziemlich abrupt, schaute er auf die Uhr und sein Handy, öffnete eine Mappe und entnahm ihr ein doppelseitig beschriebenes Papier plus Fülleretui. Ein Vertrag wäre bereits aufgesetzt. Er legte ihn neben seinen Teller.

Eine surrealistische Stimmung umfing mich, die schweinslederne Dokumentenmappe, der edle Füller, dazu in eigenartigem Kontrast die grellbunte Speisekarte, die Flachbildschirme an den Wänden, ein Musikvideo von Sting. Alles waberte. Mein Blick fiel auf die abgenagten Hühnerflügel in Resten von Blue Cheese Dressing. Das holte mich wieder runter.

Was ich denn so über die Berliner Lehrerausbildung wisse, fragte er mich ganz geschäftsmäßig. Ich musste zugeben: fast nichts. Geprägt durch meine Schulzeit fand ich den Beruf in einem Gemisch aus Unkenntnis und Naivität nicht erstrebenswert. Es war mir auch unverständlich, dass, verursacht durch die Berliner Lehrerknappheit, ein kurzer Run auf diesen Beruf ausgebrochen war. Die Kinder meiner Nachbarn sollten auf Lehramt studieren und der Vater überlegte sich ernsthaft, Quereinsteiger zu werden. Begründung: Er wollte endlich weniger arbeiten und mehr Geld verdienen. Diese Welle ist aber schon wieder abgeebbt. Für mich nachvollziehbar.

Ich kenne nicht eine Person von denen, die mit mir vor vierzehn Jahren Abitur gemacht haben, die ich interessant fand und die dann diesen Weg gewählt hatte. Außer mir natürlich. Auf Druck meiner Eltern und weil ich auch bei mir selbst keinerlei andere Leidenschaft entdecken konnte, hatte ich mich an der FU für das Lehramtsstudium eingeschrieben und war auch zwei Semester dabeigeblieben. Diese beiden Semester hatten mich nicht überzeugt. Die meisten meiner Mitstudentinnen und die wenigen Mitstudenten fand ich im innovativen Bereich eher unauffällig, die Dozentinnen auch. Meine hielten es für ihre Pflicht, uns möglichst lange aus der Praxis, sprich Schule, herauszuhalten, damit wir nicht die Unsitten von Frau Müller und Frau Meier kopierten, die angeblich Smileys vergeben und nichts von Kognition verstehen würden. Wir sollen uns stattdessen unter ihrer Anleitung in „komplexitätsreduzierten“ Situationen – in Rollenspielen mit Videografien – auf den Beruf vorbereiten. Vollendeter Irrsinn, denn selbst mir Unwissenden war bewusst, dass der Beruf darin besteht, mit Komplexität und Unvorhersehbarem umzugehen.

Es hatte jedoch etwas Gutes: Ich entdeckte eine Leidenschaft, als ich meine Erlebnisse aus schierem Leidensdruck auf meinem Laptop in Worte fasste: Schreiben. Die Entscheidung auf Germanistik mit Schwerpunkt Journalismus umzusatteln, war eine folgerichtige seelische Befreiung. Jedoch: Ich wusste beklagenswert wenig über die erfolgreich verdrängte Lehrerausbildung, gab das zu und wurde nun von Herrn Kluge aufgeklärt.

Wenn es alles nach seinen Plänen läuft, sieht meine Rolle in seinem Projekt – so wie ich es verstanden habe – wie folgt aus:

Ich mache das Referendariat, aber nicht für mich, sondern stellvertretend für Kluges Klientin, die Hedwig Baasmann heißt und pathologische Prüfungsangst hat. Das erste Staatsexamen hat diese Frau schon vor der Einführung von Bachelor und Master gemacht und das ist noch gültig – aus welchen Gründen auch immer. Darauf baue ich auf. Das Ganze läuft dann anderthalb Jahre und entspricht der Ausbildungszeit nach dem Masterstudium bis zur Zweiten Staatsprüfung.

Ich unterrichte 8 Stunden selbst, und besuche parallel dazu ein allgemeines Seminar und drei Fachseminare. Der Leiter des allgemeinen Seminars ist gleichzeitig mein Chef. Kluge entschuldigte sich – immerhin – für die veraltete männliche Form, es könnte natürlich auch eine Frau sein. Er wies mich darauf hin, dass es im Bildungssektor wichtig wäre, alles und jedes zu gendern.

Die Seminarleitung koordiniert also meine Ausbildung und in dem allgemeinen Seminar erfahre ich Grundsätzliches über Pädagogik und Didaktik. In den Fachseminaren erlerne ich die Didaktik und Methodik der Fächer – das sind bei mir Mathe, Deutsch und Sachunterricht. Überall werde ich von Leiterinnen und Leitern dieser Gruppen betreut. In der Schule gibt es anleitende Lehrkräfte und Schulleitungen, die mich in meinem spezifischen Umfeld begleiten und beraten. Kurz: Ich werde von einem stützenden Netz von Leitern und Leiterinnen umgeben sein. In der ersten Februarwoche wird es darüber hinaus einen Einführungskurs geben, der mich in kompakter Form auf alles vorbereiten wird. Und: Frau Baasmann zahlt gut. Dass ich selbst nichts kann und weiß, scheint in der augenblicklichen Lage des Bildungssystems in Berlin nicht so schlimm zu sein, weil der überwiegende Teil meiner Mitauszubildenden aufgrund des eklatanten Lehrermangels sowiesoQuereinsteigende sind, d.h. eigentlich so ähnliche Vorkenntnisse haben wie ich. Ob das stimmt, wird sich zeigen.

Soweit sein Vorschlag zu meiner Zukunft. Ich fand das echt kein Ding. Und wenn die anderen auch keine Ahnung haben – umso besser. Ein Job wie jeder andere. Wo war der Pferdefuß? Naja, halt, dass ich es für eine andere Person stellvertretend machen sollte – Betrug also. Warum wollte die es nicht selbst machen? Meine Frage beantwortete Kluge mit einer kurzen biographischen Schilderung meiner finanzkräftigen Projektpartnerin, für die nur noch diese Möglichkeit in Frage komme, um ihren Traumberuf ergreifen zu können, der nicht zwingend mit der Tätigkeit als Lehrerin ende, sondern möglicherweise darüber hinausginge. Mir ist immer noch schleierhaft, was diese Möglichkeit wohl sein könnte. Schulleiterin? Schulsenatorin? Kultusministerkonferenzvorsitzende?

Direkt nach der erfolgreich absolvierten Prüfung und mit dem Zeugnis in der Hand würde sie ihre Identität wieder zurückverlangen, in der Schule als Lehrerin beginnen und ich würde in der Anonymität verschwinden. Mein eigener Name würde gar nicht in den Ausbildungsunterlagen auftauchen. Ich wäre sofort nach der Prüfung wieder raus aus der Nummer und wieder Sabine Bendler. Das Wichtigste sei für mich, während des Referendariats die Rolle seiner Klientin einzunehmen.

Dafür übergab er mir ein DIN A 5 Blatt mit Hedwig Baasmanns Eckdaten. Auf grünem Papier gedruckt. Wichtiges drucke er immer farbig aus, meinte er.

Damit ich alles entsprechend nachlesen könne, übergab er mir zusätzlich das „Handbuch des Vorbereitungsdienstes in der Berliner Schule“. Da stünde alles drin. Ich kam gar nicht auf die Idee zu fragen, woher er das denn hätte. Ich weiß eigentlich auch immer noch nicht, warum er auf meine Annonce geantwortet hat und auch noch so schnell. Vielleicht, weil der Text zu erkennen gab, dass ich bereit war, Dinge am Rande der Legalität zu tun? Meine Anzeige stand zu meiner eigenen Überraschung direkt unter „Ghostwriter für Bachelorarbeit schon ab 69 Euro“.

Auf den grünen Zettel und das Handbuch legte er einen Umschlag, den er selbst umgehend öffnete. Er schaute sich kurz, aber gelassen um und zählte eintausend Euro vor – zweihundert als Aufwandsentschädigung für dieses Gespräch und achthundert, falls es zum Abschluss käme.

Plötzlich fand ich alles sehr attraktiv und auch wirklich spannend, hatte aber doch noch einen Rest von Hemmung, so dass ich das Geld erst mal liegen ließ und den Vertrag wenigstens überflog. Die Attraktivität steigerte sich. Alles in mir schrie: Sabine, greif zu! Nur – im letzten Absatz stand klein und lapidar, dass ich während der Vertragsdauer auf intime Beziehungen jeglicher Art verzichten sollte. Nie mehr einen Lover für die nächsten anderthalb Jahre? Kommt nicht in Frage. Vielleicht treffe ich den Mitreferendar meines Lebens, mit dem ich noch kurz vor dem biologischen Aus begabte und Bratsche spielende Kinder haben werde? Auf meinen energischen Protest hin musste er das gleich durchstreichen mit seinem schwarzgrünen Montblanc Füller.

Er wird mir den geänderten Vertrag zuschicken. Jetzt steht da nur, dass ich keine Person in die Wohnung (die extra für mich angemietet wird) mitnehmen darf. Das geht. Ich werde mein Zimmer in meiner WG auf jeden Fall behalten.

Kluge hat alles wieder eingepackt. Warum habe ich nicht gleich auf einer Kopie bestanden? Wir hätten doch in den nächsten Copyshop gehen können. Ich lerne auch nie. Zweifelsfrei standen schließlich zwei Namen unter einem Dokument, an das ich mich nur teilweise erinnere: Hedwig Baasmanns Name und meiner – Sabine Bendler. Wahrscheinlich ist das Ding sogar „justiziabel“. Meine Dozentinnen und Dozenten an der Uni lieben das Wort, als ob ein bisschen von dem professionellen wichtigtuerischen Schimmer auf sie abfärben könnte.

Und dann nahmen die Dinge ihren Lauf: Ich habe das Geld eingesteckt, denn Geld ist leider bei mir ein Thema. Ich habe weder nennenswertes eigenes – wenn man von den Einkünften aus Deutschprüfungen und dem bisschen Kellnern in der „Luise“ absieht – noch reiche Liebhaber und lebe immerzu knapp über meine finanziellen Verhältnisse, d.h. bin immer noch abhängig von den Zuwendungen meiner Eltern, die sich am BAföG Satz orientieren. Demütigend. Vor allem, weil ich sie belüge und sie denken, dass ich bald Lehrerin bin. Also habe ich das Teil wirklich unterschrieben, wenn auch nicht mit Blut, dann doch mit dunkelblauer Tinte, nicht einfach mit Kuli oder so. Eine Wolke von Seele, Geld und Ruhm lag im Raum. Sollte ich hoffentlich mal Drehbücher schreiben, hier könnte stehen „feierlich, faustig, unheimlich“. Ich finde den Stoff jetzt schon brillant.

Kurz nach der Unterschrift hatte ich ein merkwürdiges ziehendes Gefühl in der Magengrube. Was, wenn das der megagroße Fehler meines Lebens wird? Was, wenn ich das alles nicht kann? Kontinuierliche Arbeit und frühes Aufstehen liegen mir nicht wirklich. Und kriminell ist es wahrscheinlich auch. Identitätsklau und so. Aber hier will sich ja jemand beklauen l a s s e n – das ist doch was anderes, oder? Und was bleibt denn außer Arbeit? Reiche Männer? Die stehen nicht vor meinem Balkon Schlange. Meine Liebesverhältnisse sind ein einziges Desaster. Vielleicht hätte ich doch mehr in mein Aussehen investieren, mich mehr quälen sollen mit Sport, Faszien- Training, Diäten, vielleicht auch mit Haarverlängerung? Aber jetzt ist das sowieso zu spät – Millionäre suchen mehrheitlich unter Dreißig.

Herr Kluge hatte es plötzlich eilig gehabt, seine grüne Pudelmütze aufgesetzt, die so gar nicht zu dem edlen anthrazitfarbenen Zweireiher passte, hatte gezahlt, mir galant in den Mantel geholfen, mich gut erzogen am lin Ich war beflügelt. Ich weiß, dass ich ihr helfen kann.

schnell um die Ecke in die Meinekestraße verschwunden. Draußen im winterlichen Matschwetter auf dem dezent erleuchteten Ku´damm war der Spuk weg und die Vorauszahlung in meiner Tasche präsent.

DREI MONATE SPÄTER

Projektnotiz 2: Fasching und ich war nicht verkleidet

Mein erster Schultag: Ich hatte mir den anders vorgestellt. Ich war dem Schild „Sekretariat“ gefolgt, sah die offene Tür zum Lehrerzimmer, gab mir einen Ruck und stand unbeachtet einen Moment im Eingang. Ich nahm meinen Mut zusammen, atmete tief durch und ging rein.

Noch nicht einmal der fette Frosch nahm von mir Kenntnis.

„Von mir kriegst du keine Listen!“, grummelte er Kleopatra an.

„Wann krieg´ ich sie denn?“

„Frühestens nach Ostern!“. Kleopatra schien das nicht zu beeindrucken. Sie lachte schrill und für eine Akademikerin unverhältnismäßig dreckig. Ich glaube, ich muss meine spießigen Vorstellungen korrigieren.

Ein Mensch in einem zerlöcherten Betttuch – Schweizer-Käse-Kostüm? – ließ einen abwesenden Blick über mich laufen, kratzte sich am Bart, popelte dann verträumt im Ohr, ordnete mich offensichtlich als uninteressant ein und wandte sich einem Bücherstapel zu. Eine Frau mit kleinen Mausohren und inkongruentem Tupfen-T-Shirt keifte am Abwasch herum, ohne abzuwaschen. In einer Art Teeküche stapelte sich ein großer Haufen Geschirr. Der gesamte Raum war zugemüllt: Berge von Papieren, Büchern und Katalogen. Die Wände hingen voller Zettel, teilweise übereinander, teilweise vergilbt. Eine Gruppe verkleideter Frauen unterhielt sich über Diäten.

„Nach 18 Uhr esse ich keine Kohlehydrate mehr“, sagte die eine.

„Kohlsuppe, ich schwöre auf Kohlsuppe“, erwiderte eine andere.

„Weight Watchers, damit hatte ich vor zehn Jahren schon großen Erfolg“, beschwor eine kleine, dickliche Frau mit Elfenflügeln eine zukünftige Realität.

„Alleine bekommst du das sowieso nicht hin. Immer nur Kohlsuppe und für die Kinder muss ich dann ja trotzdem noch normal kochen. Das schaffe ich nicht, schließlich bin ich berufstätig.“

„Wieso kriegst du das nicht hin? Ernährungsberatung gehört doch zum Beruf!“

„Haha, beraten und machen ist ein Unterschied“

Eine Eule flatterte dazu, kicherte unmotiviert und mischte sich ein: „Ich habe jede Diät aufgegeben. Mit dem ganzen Ausbildungsstress muss ich sowieso essen und essen. Aber ich sage mir immer: lieber fett als durchfallen.“

„Gott, Kleine, mach dir doch nicht so viel Gedanken. Die nehmen jeden und jede. Wir sind Mangelware und du bist dann ein geprüftes Mangelexemplar“, warf der Schweizer Käse ein.

„Und wenn du immer noch Sorgen hast, dann geh einfach zu Broke ins Hinterzimmer auf die Couch“, nuschelte der Frosch. Der Käse grinste dazu anzüglich. Du lieber Himmel! Was ist das hier?

Die Elfe wühle in Papieren. „Ich muss dringend an die Jugendherberge wegen der Klassenfahrt schreiben. Freddys Mutter will nicht – ich zitiere – dass Freddy wieder kein Schweinefleisch essen darf. Ich hatte schon eine Liste geschickt mit vegan, vegetarisch und halal. Soll ich jetzt noch Hausmannskost dazu schreiben?

„Nee, das ist ja normales Essen – was immer normal ist. Vielleicht aber noch koscher wegen Daniel!“

„Stimmt. Aber wer weiß, ob die das machen. Egal. Ich muss jetzt raus und zu meinen kleinen Idioten im ersten Stock.“

Ehe ich Zeit hatte, das mental zu bewerten, kam eine alternde Hexe rein und stürzte sich auf mich:

„Sie sind die Neue? Wunderbar! Zwei Kolleginnen sind krank. Können Sie gleich die eine dritte Klasse übernehmen und mit denen heute Fasching feiern!?“

„Ich ähm...“, stammelte ich, aber ohne, dass ich mich vorstellen oder sonst irgendetwas sagen konnte, schob sie mich in Richtung Treppenhaus und sagte mir, dass ich in den zweiten Stock müsse. Super, Herr Stumpe! Ich hatte doch extra gefragt, ob wir uns an unserem ersten Tag auch verkleiden sollten. Mein Seminarleiter, hatte mir versichert, dass außer dem Gespräch mit dem Schulleiter am ersten Tag nichts stattfinden würde.

Nun war ich im zweiten Stock. Um mich herum waren alle verkleidet, Kinder und Erwachsene. Nur ich nicht! Und in welchen Raum ich sollte, hatte mir die Hexe auch nicht gesagt. Eine Carmen mit schwarzer Perücke muss meinen fragenden Blick erkannt haben:

„Du – ich sage jetzt einfach mal DU – feierst heute mit uns Fasching. Wir haben ein gemeinsames Buffet aufgebaut. Das kannst du bewachen und achte bitte darauf, dass alle Kinder erst etwas Gesundes essen, bevor sie an die Kuchen und Süßigkeiten gehen.“ Sprach es und zog sich mit einer anderen Person, die wie ein undefiniertes graues Tier mit Schweinsohren aussah, in einen Klassenraum zurück.

Ich stand als einzige Lehrkraft am Buffet und versuchte die ersten zehn Minuten, ungefähr fünfzig mir völlig unbekannte Kinder, von denen mindestens ein Drittel übergewichtig war, von den Kuchen und Süßigkeiten fernzuhalten und auf die Möhren umzuleiten. Da war sie – schneller als erwartet – die Rolle der Ernährungsberaterin. Lehrkräfte scheinen so etwas wie eierlegende Wollmilchsäue zu sein – vielleicht sollte das graue Schweineohren-Tier-Kostüm so etwas darstellen?

Keine Zeit zum Grübeln. Zwei Mädchen fotografierten mich mit ihren Handys. „Wer sind Sie? Sind Sie neu? Haben wir mit Ihnen?“ Ich glaube, ich habe nur ein undifferenziertes Geräusch gemacht, das sie als Zustimmung auslegten. „Sind Sie streng?“ Ich schüttelte verneinend den Kopf – wie blöd kann man sein? Jetzt machten sie auch noch ein Video.

Irgendwann unterbrach die Lehrerin das Gespräch mit ihrer Kollegin, um mir mitzuteilen, dass das Frühstück nun beendet sei und jede Klasse in ihrem Raum Fasching feiern sollte. Also ab in den Raum mit „meinen“ Kindern. Den kannten sie ja. Ein Junge wies mich auf eine Sitzordnung hin. Ich beschloss, das zu ignorieren. Was heißt „beschloss“? Dazu war ich aufgrund des wachsenden Aktionsdrucks gar nicht in der Lage. Sie saßen irgendwie, einige Mädchen saßen auf dem Schoß von anderen – Kinder suchen Nähe. Ich fragte, was sie spielen wollten und erfuhr: Berufe-Pantomime. Wenigstens waren sie sich einig, dachte ich. Nun musste ich lernen, dass „Terrorist“ und „Selbstmordattentäter“ für Drittklässlerdurchaus Berufe sind. Ein kleiner Polizist mit überdimensionierten Plastikhandschellen haute rhythmisch mit seinem Lineal auf den Tisch und forderte die Todesstrafe für Selbstmordattentäter. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir der Begriff „verhaltenskreativ“ nur aus Zeitungsartikeln über hochbegabte Kinder bekannt.

Dann waren sie auch mit noch so exotischen Berufen nicht mehr zu halten, also erinnerte ich mich, dass Bewegung an der frischen Luft immer guttut und verkündete, dass wir auf den Hof gehen wollten – obwohl ich zu diesem Zeitpunkt weder den Weg dorthin noch den Hof selbst kannte. Weil alle losstürmen wollten und Jacken im Februar nicht für nötig gehalten wurden, stellte ich mich vor die Tür und sagte, wir würden gemeinsam nach draußen gehen, wenn alle entsprechend angezogen wären. Einigen ging es nicht schnell genug, weshalb sich ein Spiderman vor mir aufbaute und mir ernsthaft erklärte:

„Ich kann dir den Rücken brechen!“

„Das macht mir nichts, ich habe den braunen Gürtel“, fiel mir zum Glück als Antwort ein. Das beeindruckte ihn wiederum so, dass er danach alles machte, was ich sagte. Merke: Bluffen hilft in diesem Beruf.

Das Hofgeschehen ist Teil einer Gedächtnislücke. Es passierte aber nichts Schlimmes und alle lebten noch, glaube ich, ich hatte sie ja nicht gezählt, als der Gong ging und sie die Treppe nach oben rasten und dann zurück polterten.

War ich froh, als ich alles überstanden hatte und sie weg waren. Schule ohne Schüler hat etwas Beruhigendes.

Um halb eins fand endlich das Gespräch mit dem immer noch verkleideten Schulleiter der Grundstufe statt. Er sagte, er hieße Broke und neigte seinen gehörnten Wikingerkopf. Ein wenig wunderte ich mich über die Hörner an seinem Helm. So oft wie er im nachfolgenden Gespräch betonte, dass er begeisterter, studierter Historiker sei, hätte er doch wissen müssen, dass Wikinger Helme ohne Hörner trugen. Bildet er sich im Internet fort? Ich dachte an meine Vorsätze, erinnerte mich an den Passus im Vertrag, dass ich um gutes Auskommen mit meinen Ausbildern bemüht sein sollte und unterdrückte meine noch intakte Arroganz.

Also blieb ich ruhig und staunte emphatisch, als er berichtete, wie er ungeachtet diverser Intrigen Schulleiter geworden war. Ja, Intrigen, obwohl er doch so ein begnadeter Ausbilder sei, der seine Lehramtsanwärter mit Bestnoten durch die Prüfung bringe. Nun sollte ich also auch an diesem Glück teilhaben. Ich machte ein paar wertschätzende Geräusche, sozusagen als Anzahlung für Dankbarkeit. Nachdem er mir das Prinzip eines Stundenplans erklärt hatte, nämlich, dass meiner noch nicht fertig sei, kamen doch einige Details raus: Deutsch soll ich in der 5. Klasse unterrichten. Sachunterricht und Mathematik in einer 2. Klasse. Hin und wieder in der Sekundarstufe I hospitieren oder vertreten. Eine Frau Platte (Klassenlehrerin der 2. Klasse) wäre meine anleitende Lehrerin. Er könne mich ihr aber nicht vorstellen, da sie leider heute krank sei.

Dann ereignete sich etwas, das ich immer noch nicht einordnen kann. Er drückte mir eine Sofortkamera in die Hand. Ob ich ein Bild von ihm in seinem Kostüm machen könnte? Ja klar. Was soll man da auch sagen? Als er wegen der angeblich besseren Perspektive auf seinen Schreibtisch kletterte, konnte ich nur denken: Unattraktiv. Ich drückte schaudernd auf den roten Punkt, sah dann ganz schnell weg. Er druckte gleich zwei Fotos aus und gab mir eins. Ich nahm es mit abgewandtem Blick. Ehrlich gesagt, ich hoffe, dass dieser Mann nicht exemplarisch in Schulleiterrollen vertreten ist.

Fazit meines ersten Arbeitstages: Fasching ist keinesfalls etwas, bei dem sich die Lehrkräfte amüsieren. Sie tun, als ob. Das Ganze scheint mir ein „SO-TUN-ALS-OB“. Die Eule war nicht wirklich gut gelaunt, Broke nicht wirklich attraktiv, die Schülerinnen und Schüler sehr wahrscheinlich auch keine Idioten, wahrscheinlich noch nicht mal schlimm, obwohl sie sich alle Mühe gaben, cool zu sein. Mein brauner Gürtel existiert trotz schlagender Wirkung nicht wirklich und ich tue nur so, als ob ich Frau Baasmann sei. Und vielleicht ist Frau Platte auch gar nicht als anleitende Lehrerin verfügbar? Vielleicht ist das alles so ein „Fake“, wie ich einer bin?

Ich hoffe, Schule ist wenigstens tatsächlich ein Ort des Lernens!

Projektnotiz 3: Operation Hedwig

Ich bin gefangen in einem dunklen Raum mit Fröschen, Wikingern, wehklagenden Schulleitern und Kindern, die sich mit Schokoküssen vollstopfen. Einer will mit seinem Lineal auf meinen Kopf hauen.

Ich fahre hoch, mein Herz rast. Ich schaue mich um. Alles richtig, alles da: mein Handy, meine Handtasche, mein grüner Wollmantel, mein Schlüssel. Ich liege im „Schlafalkoven“, dem interessantesten Feature meiner neuen Einzimmerwohnung. Zugegeben, diese extra für mich angemietete Wohnung in der Motzstraße ist super. Ein großes Zimmer mit besagter Bettnische und einem sehr schicken Bad mit Schieferfußboden. Nicht schlecht. Halt eine Hülle für mein zukünftiges Leben als Arbeitsbiene. Alles ist schon möbliert. Bett, Schreibtisch, Regal, PC, Teppich für die ausgleichenden Gymnastikübungen.

Jedoch – es ist vier Uhr nachts und eine Panikwelle schießt hoch. Mein Gehirn mahlt und knirscht. Das war ein Traum, klar, aber schweißnass an der Realität klebend. Es gab meinen ersten Arbeitstag als Hedwig Baasmann. Ich BIN Hedwig. Ich BIN Lehrerin. Ich muss es sofort aufschreiben, sonst drehe ich durch. Außerdem – wie meine Lieblingsdozentin im kreativen Schreiben immer sagte: „Seien Sie froh über jedes schreckliche Ereignis: Happy people do not write. Wenn´s ganz furchtbar ist, denken Sie immer an das Material! Nachher sind das die Spitzenstorys. Kein Mensch will etwas über ein reizarmes Leben von glücklichen Menschen auf fruchtbaren Almwiesen mit Biokühen wissen, Menschen wollen über Schrecken und Elend lesen und sich schaudernd auf dem Sofa einkuscheln.“ Angesichts der unzähligen SOKOs von Leipzig bis Kroatien muss ich ihr recht geben – ein befriedigender TV-Abend scheint sich durch Schreckliches, das anderen geschieht, zu definieren.

Ich muss aber doch schlafen. Morgen will ich fit sein. Lehrerin sein heißt ja wohl nicht zwingend, stundenlang wach im Bett zu liegen.

Wie mir heute beim Zuhören der vielen Gespräche im Lehrerzimmer bewusst wurde, heißt Lehrerin zu sein, alles zu können. Quasi ein Team in einer Person. Multiprofessionalität ist angesagt und gewünscht. Besonders agil oder gar multitalentiert fühle ich mich gerade nicht, aber vielleicht bringt der Lehrerberuf diese Vielschichtigkeit quasi a priori mit? Oder wird sie sich durch „Learning on the Job“ ergeben?

Im Halbschlaf tauchen die Gesprächsfetzen der Kolleginnen und Kollegen auf. Sie flüstern mir zu, was sie alles neben Frosch, Elfe und Käse im Berufsalltag sein müssen:

Verwalter

Facility Manager

Dekorateur/ Raumausstatter

Erzieherin

Ersthelferin

Coach

Fallberater

Psychologin

Sozialarbeiter

Familienhelferin

Buchhalter

Stadtführerin

Museumspädagoge

Projektmanager

Finanzberaterin

Sexualtherapeut

Controller

Ernährungsberaterin…

... to be continued, oder? Warum gendern meine flüsternden Geister nicht konsistent und durchgehend? Anscheinend ist den Träumen egal, ob sie politisch korrekt sind.

Vielleicht macht es aus der Perspektive der Multiprofessionalität tatsächlich viel Sinn, Quereinsteiger mit ins Boot zu holen, um Expertise gewährleisten zu können. Im Sinne von „Was wir allein nicht schaffen, das schaffen wir zusammen“. Oder verderben zu viele Köche den Brei?

Ich aktiviere die Restposten meines autogenen Trainings und atme in meine Füße und Beine. Geht nicht. Atmen schon, einschlafen nicht. Training beinhaltet Regelmäßigkeit. So kann das nichts werden. Mir fehlt halt die Konsequenz. In meinem neuen Projekt muss das anders werden. Ich werde es „Operation Hedwig“ nennen. Das gefällt mir. Das klingt handfest und zielorientiert. Mein Rücken tut weh. Sind das schon die ersten Anzeichen meines Identitätstausches? Ich bin doch erst 34 und Hedwig schon älter, wenn auch nicht so viel. Von Rückenproblemen hatte KK – so nenne ich Karl Kluge in meinen Gedanken – aber nichts gesagt. Und überhaupt war Gesundheit nicht mit im Deal gewesen.

5.40 h: Schluss jetzt. Statt mich rumzuwälzen kann ich diese Zeit zwischen Nacht und Tag nutzen, um mich mit meiner neuen Identität anfreunden. Mentales Training für mein Doppelleben. Ich wühle auf meinem Schreibtisch – wie Recht hatte KK doch mit dem farbigen Papier– und hole den grünen und für mich adaptierten Hedwig-Steckbrief raus.

Hedwig Baasmann

Verheiratet: seit 15 Jahren mit Heinz-Dieter, Politiker, ehe-

mals Banker (52)

Alter: 36