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Vergeude keine Krise, fahre mit der Bahn Die Bahn: eine unerschöpfliche Quelle von Ärgernissen? Völlig falsch, sagt Dietmar Bittrich. Nirgends gelingen Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung besser als hier. Wabernde Essensdüfte, mit Bananenschalen zugestopfte Tischmülleimer, lautstarke Sabbeltanten, ständige Verspätungen, geänderte Wagenreihenfolgen und ausgefallene Reservierungen: Die Bahn ist ein rollender Kurs in Wundern. Doch aufgemerkt: Solch vermeintliche Pannen und Störungen sind in Wirklichkeit das preiswerteste und nachhaltigste Coaching-Angebot Deutschlands. Selbst wer sorgenvoll und mit Skepsis einen Zug besteigt, verlässt ihn glücklich, selbstbestimmt, sogar erleuchtet – mithilfe dieses unvergleichlichen Buches!
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Seitenzahl: 150
Dietmar Bittrich
Wer später kommt, hat länger Zeit
Die Bahn als ultimative Schule des Lebens
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Die Bahn ist eine Weisheitslehrerin. Wahrscheinlich die beste, die wir haben. Sie schenkt Einsicht. Wer ein Ticket erwirbt – und selbst wer schwarzfährt –, bekommt nicht nur die Reise, sondern dazu ein unvergleichliches Coachingangebot.
Ach, tatsächlich? Wovon ist hier die Rede? Etwa von jenem Unternehmen, das mit seinen ewigen Verspätungen und Baustellen, mit seinen Umleitungen und Ausfällen die Kundschaft nur an ein einziges Ziel bringt: an den Rand des Nervenzusammenbruchs?
Ja, genau. Aber an diesem Rand wird es spannend! Da glänzt die Erleuchtung!
Haben wir nicht mal davon gehört, dass Krisen in Wirklichkeit Chancen sind? Dass Herausforderungen Spaß machen? Dass nichts anderes so viel Wachstumspotenzial birgt wie Ärger? Und dass alles, was passiert, einen Sinn hat und Feedback gibt?
Das ist uns mal zu Ohren gekommen. Klang ganz gut. Wir konnten beifällig nicken.
Aber das war nur die Theorie. Die Bahn bietet die Praxis. Krisen, Ärger, Störungen und jede Menge Herausforderungen hält sie freigebig für uns bereit. Pures Wachstumspotenzial. Lauter Geschenke.
Schon das Buchen nötigt unser Gehirn, frische Neuronen zu bilden und sich neu zu vernetzen. Anders wäre der Tarifdschungel nicht zu durchschauen. Mit dergleichen Verjüngungskuren geht es weiter. Auf dem Bahnsteig können wir trainieren, wozu wir nie Zeit fanden: Achtsamkeit. »Ca. 10 Minuten später«, verspricht die Anzeigetafel. Wir spüren unseren Atem. Den Boden unter den Füßen. Lassen den Blick schweifen und entdecken: »Heute ca. 20 Minuten später«. Ah! Wenn es so weitergeht, kriegen wir eine komplette Stunde Achtsamkeitstraining zusammen!
Verpassen wir etwas dabei? Wenn wir eine Stunde zu spät kommen? Vielleicht. Aber wollen wir wirklich pünktlich eintreffen zum neunzigsten Geburtstag des Onkels? Eher nicht.
Die äußeren Geschehnisse, stellte der Zen-Meister Dogen fest, spiegeln nur den inneren Willen. Dann verwirklicht also die Bahn, was wir uns unbewusst wünschen? Im Falle des neunzigsten Geburtstags bestimmt. Sie liefert sogar die Entschuldigung dazu!
Wenn wir jedoch in den Urlaub reisen und nun den Anschlusszug verpassen und heute überhaupt nicht mehr ans Ziel kommen? Sondern irgendwo stranden? Dann ist lächelnd der Bahnberater Dalai Lama zur Stelle: »Besuche einmal im Jahr einen Ort, den du noch nicht kennst!« Na, bitte. Buddhistische Pflicht erfüllt. Mit der Bahn gelingt das sogar mehrmals im Jahr!
Natürlich dürfen wir auch ausrasten. Selbst das ist ein Geschenk. Empörung fördert den zerebralen Blutfluss.
So reiht sich ein Glückserlebnis ans andere. Und das setzt sich fort mit versagenden Klimaanlagen, ausfallenden Reservierungsanzeigen, mit geschlossenen Bordrestaurants, gefluteten Klos, gesperrten Abteilen hier und Überfüllung dort, mit kreischenden Mitreisenden, verstänkerter Luft, Dauertelefonierern, Schienenersatzverkehr.
Während des Zusammentragens all dieser begeisternden Geschenke blieb immer nur eine Frage: Wie viele Kilometer müssen wir zurücklegen, wie viel Zeit aufwenden, um in den Genuss all dieser Gaben zu gelangen? Kann die Bahn nicht mal einen Crashkurs anbieten?
Und sie hat es getan! Mit dem 9-Euro-Ticket – möge es für immer im ganzen Kosmos gelten! – sind die wagemutigsten Träume in Erfüllung gegangen.
Eine einzige Zugfahrt oder nur der Versuch, in einen Zug zu gelangen, beschert nun alles auf einmal: das soziale Erlebnis, den Intensivunterricht in Völkerkunde und Evolution, digitales Detoxen und Intervallfasten, Inklusion, Integration, den Zwang zum Krisenmanagement, die Einsicht in die Unerbittlichkeit des Schicksals, demütige Hingabe ans Unausweichliche und die Zuflucht zu innerer Freiheit und ewigem Frieden.
Wenn zudem, wie es zuletzt mehrfach geschehen ist, ein Zug wegen Überfüllung sämtliche Reisenden wieder auf den Bahnsteig abschiebt, um völlig leer an sein Ziel zu fahren, dann wissen wir: Die Bahn schenkt uns ein Sinnbild des Lebens. Das Leben braucht uns nicht. Es schert sich nicht um uns. Es fährt ohne uns weiter. Was für eine Erleuchtung! Danke.
Der Bahnsteig ist dicht bevölkert. Gleich kommt der Zug. Bislang hattest du, wie alle anderen, auf die Anzeige vertraut. Demnach würde der Zustieg zu deiner Klasse in den Abschnitten A bis E erfolgen. Deswegen stehst du hier, an diesem strategisch günstigen Punkt, wo es nicht ganz so voll ist, weit weg von Rolltreppe und Fahrstuhl.
Aber jetzt knackt es im Lautsprecher. Das verheißt immer etwas Gutes! Und siehe, die Ansage verkündiget euch frohe Botschaft zum erwarteten ICE mit der Nummer Soundso und dem Ziel Dingsda mit Halt in schrumpfenden Orten: »Dieser Zug verkehrt heute in umgekehrter Wagenreihung.« Ja! Das ist es! Erleichterung!
Die Bahn ist gesetzlich der Gesundheit ihrer Nutzer verpflichtet. Deshalb setzt sie, wo immer es nötig scheint, die Umkehrung der Wagenreihung ein. Und damit die Wirkung nachhaltig ist, teilt sie die Veränderung erst unmittelbar vor der Einfahrt mit. Nur so kann diese Maßnahme vorbeugend wirken gegen Krampfadern, Ödeme, Arthritis, Thrombosen.
Das lange Stehen in immer derselben Position auf Beton, mit der muskulären Anspannung in banger Erwartung des verspäteten Zuges, führte früher zu Schmerzen im unteren Rücken, zu Schwellungen in den Beinen und an Knöcheln und den Füßen. Du weißt: Die Bahn möchte allen Wartenden Lymphdrainagen anbieten, später mal. Bis es so weit ist, wird als Stimulans die Änderung der Wagenreihung eingesetzt. Zum Beispiel jetzt.
Los geht’s! Alle, die von A bis E einsteigen wollten, müssen jetzt zu F bis H wechseln. Schluss mit dem Stillstand, der die Bandscheiben komprimierte und das Herz gegen die Schwerkraft schuften ließ. Willkommen, muntere Bewegung! Hallo, all ihr Fahrgäste aus den Bereichen F bis H, die ihr euch aufmacht nach A bis E.
Der gepäckbeladene Umzug fördert die soziale Interaktion. Du begegnest Angehörigen höherer beziehungsweise niederer Klassen – je nachdem, an welchen Abschnitt des Bahnsteigs du umziehst. Doch überall schaust du in glückliche Gesichter. Viele Partnerschaften sind bei dieser Art High Speed Dating entstanden. Der Bahnsteig – englisch platform – gilt als preiswerteste Dating-Plattform. Und übrigens als die einzig verjüngende! Niemand hier wird noch Kneippkuren oder Kompressionsstrümpfe benötigen. Die sprudelnde Gegenstromlage aus Menschenleibern vitalisiert viel mehr. Verspannungen lösen sich, Durchblutung und Muskelaufbau kommen in Gang.
Alle Fahrgäste sind begeistert! Wirklich alle? Nun, von einigen weißt du es nicht. Manche haben die Ansage missverstanden. Die haben nicht Abschnitt »E« vernommen, sondern »I«. Die sind also weiter hinausgeeilt über G und über H und sind dann über den Rand der Rampe gebröselt. Denn »I« gibt es nirgends. Von denen wirst du nie wieder hören. Über Unfälle mit Personenschaden breitet die Bahn den Mantel des Schweigens. Jedenfalls wird der Zug nun nicht mehr ganz so voll sein.
Andere fühlen sich belästigt von der kurzfristigen Änderung. Das sind diejenigen, die ihren Kindern, Partnern oder Eltern gern Weisheiten mit auf den Weg geben wie: »Nichts bleibt, wie es ist« oder »Alles ändert sich«. Nur wenn sie selbst betroffen sind, ist Schluss mit weise. Die stöhnen also oder schimpfen sogar. Du hingegen ruhst in dir. Du erkennst die buddhistische Urweisheit: Weil alle Dinge und Umstände unbeständig sind, ist jedes Anhaften an ihnen vergeblich und führt zu Leid. Auch das will dieser Service der Bahn zeigen.
Und damit die Weisheit noch tiefer ins Herz sinkt, rollt jetzt der Zug ein. Und zwar exakt in der ursprünglich vorgesehenen Wagenreihung. Von wegen Änderung. Die Durchsage war ein Irrtum. Alle, die mit ihrem Gepäck von A bis E nach F bis H gezogen sind, dürfen wieder zurückkehren. Und umgekehrt. Noch einmal Fitness. Noch einmal Speed Dating. Noch einmal die Einsicht in die Unbeständigkeit allen Seins. Namasté, Verneigung, liebe Bahn!
Wenn du in Kassel-Wilhelmshöhe umsteigen darfst, meint das Schicksal es gut mit dir. Denn der Anschlusszug, auf den du hier wartest, wird sich verspäten. Oder er ist längst weitergefahren, denn dein eigener Zug war verspätet. In jedem Fall wirst du in aller Muße auskosten können, was der Fahrgastverband als unbeliebtesten Bahnhof des Landes ermittelt hat. »Ich fühle mich heute so Kassel-Wilhelmshöhe« gilt als anschauliche Beschreibung einer depressiven Verstimmung.
Aber was immer andere sagen – du wirst diesen Bahnhof genießen. Denn die Wege sind weit hier, und du gehst gern zu Fuß. Vor allem beim Wechseln des Bahnsteigs. Es gibt Aufzüge, doch sie führen lediglich zu Langzeitparkplätzen. Die ausgedehnten Strecken sind vorteilhaft beim Wechsel des Bahnsteigs. Du liebst das gesunde Treppensteigen. Wadenmuskulatur, Sprunggelenke und Achillessehnen werden hier nachhaltig trainiert. Wer häufiger in Kassel-Wilhelmshöhe umsteigt, benötigt kein Fitnesscenter. Der Bahnhof ist das Studio.
Die Gestaltung ist denkbar unübersichtlich, doch gerade das reizt deine Abenteuerlust. Sie weckt in dir jenes schlummernde Gen der Entdecker, die sich einst mutig ins Unbekannte wagten. Du stößt auf Warteräume, die winzig sind, und du freust dich für die Wartenden, denn gerade Enge stiftet Kontakte und fördert die ersehnte menschliche Nähe.
Du selbst musst nicht unbedingt sitzen. Das hast du schon im Abteil getan. Viel mehr genießt du das Auf-und-ab Wandern auf den endlosen Rampen. Du bewunderst die Betonarchitektur, die mit niedriger Überdeckung und sogenannten Fischbauchstützen etwas geschaffen hat, das es sonst nur im Orient gibt: einen Palast der Winde.
Wartende, die beklagen, es sei kalt hier, wenn es draußen warm ist, und eisig, wenn es draußen kühl ist, irren nicht. Und diejenigen, die beobachtet haben, dass es selbst bei Windstille auf diesen Bahnsteigen ständig zieht, haben ebenfalls recht.
Du genießt das. Die Kunst der Erbauer hat hier der globalen Erwärmung vorgebeugt. Wolltest du jemals nach Rajasthan reisen, um in Jaipur den Hawa Mahal zu bewundern, den Palast der Winde? Das ist nicht mehr nötig. Irgendein Großmogul musste dort fast tausend vergitterte Fenster einbauen lassen, um den Innenräumen kühlende Luftzirkulation zu verschaffen. Die Ingenieure in Kassel sind mit Beton ausgekommen.
Du hast von den Wüstenstädten im Iran gehört, wo sogenannte Windtürme (Badgir) ohne energiefressende Klimaanlagen und Ventilatoren allein durch den Kamineffekt die warme Luft aus den Räumen abführen. Und zwar so, dass ständig kalte Luft nachströmt. Bitte sehr: In Kassel-Wilhelmshöhe hast du einen großen Windturm, wenn auch in der Horizontalen.
Was andere sehen: Hier ist es hässlich, windig, kalt. Sie sind frustriert. Was du siehst: zwei Welterbestätten, Hawa Mahal und Badgir, in einem Bauwerk vereint. Und das auch noch kostenlos – wie das Fitnessangebot. Du bist dankbar.
Es gibt Verbindungen, da bleibt dir keine Wahl. Zumal wenn du spät buchst. Dann steht nur noch eine einzige Klick-Möglichkeit zur Verfügung. Wärest du mit der Planung etwas früher dran gewesen, hättest du günstiger reisen können. Und wärest du noch früher aufgestanden, um dich in die verschiedenen tollen Sparmöglichkeiten zu vertiefen, dann würden wir dich jetzt besuchen können. Und zwar in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie.
Denn da landet, wer sich im Dschungel der Bahntarife zurechtzufinden versucht. Quer-durchs-Land-Ticket, Länderticket, Sparpreis-Ticket, Super-Sparpreis-Ticket, Rückfahrt teurer als Hinfahrt, Gruppe mit vier zurechnungsfähigen Erwachsenen plus einer Seniorin nebst zwei Enkeln oder einem Mündel plus rolliger Katze – du hast alles durch. Jetzt tobst du in der Gummizelle. Der Direktor hat dir seine Eisenbahnermütze vermacht.
Die Verwirrung ist beabsichtigt. Sie soll dich beweglich halten. Unsere halbstaatliche Bahn sorgt dafür, indem sie ihr eigenes Tarifsystem ständig umstellt. Überdies existieren sogenannte Partnerunternehmen, die das ebenfalls tun. Und es gibt länderübergreifende Privatbahnen mit eigenen Abomodellen. Bei manchen kannst du Payback-Punkte sammeln. Einige erkennen deine Bahncard an, andere nicht mal deinen Personalausweis.
Weil das noch nicht vielfältig genug ist, konkurrieren in jedem Bundesland zahllose Verkehrsverbünde, die ihre Grenzen heimlich ausdehnen, um der geliebten Bundesbahn das Publikum abzujagen. Bei einigen profitierst du vom ermäßigten Steuersatz. Bei anderen wird er erhöht, sobald der Zugbegleiter dich erkennt. Und er gilt sowieso nicht mehr, wenn du eine gewisse Kilometergrenze überschreitest oder gar die Grenzen des Verbundes verlässt und ins Hoheitsgebiet eines anderen eindringst.
Es kann sein, dass du plötzlich in einer verbundfreien Zone landest. Wenn du versehentlich dort aussteigst, wirst du Menschen treffen, die da schon seit Jahren umherirren. Du erinnerst dich: Jedes Jahr verschwinden in Deutschland um die zehntausend Menschen, die niemals wieder auftauchen. Bitte sehr, etliche davon siehst du nun. Sie sind tariffremd ausgestiegen. Du könntest Fotos machen und sie an ›Aktenzeichen XY … ungelöst‹ beamen. Aber in verbundfreien Zonen gibt es keinen Handy-Empfang. Sonst ja auch nicht.
Und all das ist gut. Der Tarifdschungel gehört zur großen Schule des Lebens, durch die dich die Bahn geleitet. Dschungel heißt auch: All diese Tarife sind ökologisch. Es kann sein, dass du in Sachsen für einen Zug zwei Tickets lösen musst. Und dass bei einer Kontrolle beide falsch sind, obwohl du sie am Computer gebucht hast oder gerade deshalb. Aber egal wie teuer und wie bizarr der Algorithmus sich verrechnet haben mag, jeder gefahrene Kilometer rettet eine Quadratmeile Regenwald! Und jedes Umsteigen schützt das Klima viel mehr, als wenn du zu Hause geblieben wärest. Das ist doch wohl dein Geld wert. Der Tarifdschungel mag eine Hölle sein, aber es ist eine grüne Hölle.
Der Fahrgastclub Pro Bahn beschwert sich, das System sei zu komplex und »mit dem normalen Fahrgastabitur nicht mehr zu schaffen«. Aber das ist auch nicht das Ziel. Der Wirrwarr selbst ist das Ziel! Ist das so schwer zu begreifen? Der amerikanische Mathematiker Benoît Mandelbrot hat eine Arbeit über die Schönheit des Chaos verfasst. Dieses Werk brauchst du nicht zu lesen. Du wühlst dich durch das Tarifsystem der Bahn. Die Wissenschaft mag sich mit der Chaostheorie beschäftigen. Du bist bereits bei der Chaospraxis.
Und das bist du nicht nur aus Überzeugung – wer deinen Schreibtisch oder deine Schubladen kennt, weiß es. Du bist es aus Liebe. Ist denn nicht das Chaos der Ursprung aller Schöpferkraft? Gott brauchte das Chaos, um eine Welt zu erschaffen. Kreativitätsforscher haben bewiesen, dass Leute mit Hang zum Chaos mehr und originellere Ideen entwickeln. Nichts anderes möchte die Bahn: unsere Kreativität anspornen, unsere Spontaneität beleben, unsere Innovationskraft stärken.
Hast du deine Eisenbahnermütze aufgesetzt? Dann kommen wir dich jetzt besuchen.
Vor längeren Reisen dosierst du die Flüssigkeitsaufnahme. Du schlürfst Kaffee. Der macht wach und hilft nach Auskunft der Kaffeehändler gegen Diabetes und Gicht, die du allerdings sowieso nicht kriegen würdest. Du trinkst Tee. Denn Teehändler haben herausgefunden, dass Tee gegen Karies und Rheuma hilft. Das hätte deine Tante früher wissen sollen. Beide Getränke beugen, nach Erkenntnis der Importeure, der Demenz vor. Hat bei deinen Großeltern nicht geklappt. Aber bei dir funktioniert es! Und wenn du nun noch Orangensaft nachfüllst, um die Immunabwehr zu stärken, und Wasser, um dein Nervensystem geschmeidig zu halten, dann beginnt dein Reisetag als purer Gesundheitsbooster!
Tee spült, Kaffee beschleunigt, O-Saft treibt, Wasser läuft einfach so durch. Wenn dein Zug pünktlich fährt, ist das alles kein Problem. Aber falls er erst mal nicht kommt, weil es Störungen im Betriebsablauf gibt, dann wird auch dein eigener Betriebsablauf gestört. Da will was ablaufen. Nicht sofort. Das nicht. Du hast deine Blase total unter Kontrolle. Alles andere sowieso. Du begreifst deshalb nicht, warum manche Leute hier auf dem Bahnsteig so komisch von einem Bein aufs andere treten oder irgendwie verknotet hin und her tapern.
Andererseits wäre es doch ganz schön, wenn der Zug kommen würde. Du könntest gleich mal aufs WC gehen und würdest es danach großzügig für andere freigeben. So gequält, wie die Leute hier um dich herum aussehen, müsstest du sofort einsteigen, als Erster. Am besten in der ersten Klasse, wo die Passagiere souverän tun und das Klo so lange wie möglich ignorieren. Du könntest dich ohne gültiges Ticket ins erstklassige Klo schmuggeln und wenig später entspannt und unschuldig Richtung zweite marschieren.
Dazu müsste der Zug allerdings überhaupt mal eintreffen. Aha, etwa fünfzehn Minuten Verspätung, verkündet jetzt die elektronische Anzeige. Das reicht nicht, um nach Hause zu fahren. Nicht mal, um rasch ins nahe Kaufhaus zu gehen und zurückzukehren. Ein paar der Leute, die eben noch mit gekreuzten Beinen ausharrten, machen sich jetzt auf den Weg zu jener Einrichtung, die früher »Bahnhofstoiletten« genannt wurde. Sie heißt jetzt rail & fresh und kostet einen Euro. Als sie noch kostenlos war, saß im Gang eine betagte Gestalt an einem Tischchen, rauchte, füllte Kreuzworträtsel aus und hatte einen Teller mit blinkenden Münzen vor sich. Lauter Euros, keine Centstücke. Wenn man sich ohne Spende vorbeidrücken wollte, musste man sich wenigstens herzlich bedanken.
Auf diese billige Tour geht es nicht mehr. Ohne vorherige Bezahlung kommst du bei rail & fresh nicht durch die Sperre. Du kannst einen Euro einwerfen oder, weil du gerade keinen hast, bargeldlos zahlen. Aber warum solltest du einen Euro opfern, nur weil dein Zug sich verspätet? Müsste es nicht vielmehr umgekehrt so sein, dass du pro Minute Verspätung einen Euro ausgezahlt bekommst? Der Gedanke zeugt von hoher Intelligenz, hilft aber jetzt nicht weiter. Ebenso wenig hilfreich sind Gedanken an Klos mit rauschender Spülung oder an Meereswellen, an Wasserfälle oder an strömenden Regen.
Du kannst an die Wüsten dieser Erde denken. Aber nicht an die Oasen mit ihren sprudelnden Quellen! Oder du denkst gar nichts. Du praktizierst Achtsamkeit. Du spürst deinen Atem. Fühlst den Boden unter deinen Füßen. Du hörst die vielfältigen Klänge dieses weltstädtischen Bahnhofs. Die Stimmen, die Durchsagen, das Zischen der Bremsen. Das leise Motorensummen des auf dem Nebengleis wartenden ICEs.
Hallo? Auf dem Nebengleis wartet ein ICE? Wie lange noch? Ginge es dort eventuell kostenlos? Er wird bald in Gegenrichtung abfahren. Wie bald? Du würdest maximal fünf Minuten benötigen. Reinspringen, das WC aufsuchen, das bitte weder gesperrt noch besetzt ist, die Kleidung blitzschnell lockern, dann an Meereswellen, Wasserfälle und strömenden Regen denken. Fertig. Eventuell noch die Hände unter den Wasserspender halten. Und raus.
Also, wann fährt er? In sechs Minuten! Das würde reichen. Auf jeden Fall! Oder doch nicht? Nein. Das ist zu riskant. Nächster Halt Erfurt. Das wäre zu teuer bezahlt.
Du lenkst dich weiter ab. Du sagst dir Songtexte auf von den Hits deiner leidenschaftlichen Zeiten. Oder von Kinderliedern. Du erfindest Namen für Leute, die du hier siehst. Du malst dir vor deinem inneren Auge den Weg aus, den du nach Hause gehen würdest, mit jedem Schaufenster, mit jeder Abzweigung, mit jedem Baum, bis du zu Hause endlich …
Da, einen Bahnsteig weiter wartet ein Regionalexpress! Die Klos in solchen Zügen gehören nicht zu den Orten, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt. Aber in diesem Fall würdest du eine Ausnahme machen. Du bewegst dich graziös und elastisch auf den Regionalbahnsteig zu. Abrupte Bewegungen wären jetzt falsch.
Plötzlich zerschneidet ein Pfiff die Stille. Die Türen schließen sich. Abfahrt.