Werke aus den Jahren 1913-1917 - Sigmund Freud - E-Book

Werke aus den Jahren 1913-1917 E-Book

Sigmund Freud

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Gesammelte Werke in Einzelbänden, Band X: Märchenstoffe in Träumen Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten Zur Einführung des Narzißmus Der Moses des Michelangelo Triebe und Triebschicksale Die Verdrängung Das Unbewußte Bemerkungen über die Übertragungsliebe Zeitgemäßes über Krieg und Tod Vergänglichkeit Trauer und Melancholie

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Sigmund Freud

Band 10:Werke aus den Jahren 1913-1917

Fischer e-books

MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN

MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN

Es ist keine Überraschung, auch aus der Psychoanalyse zu erfahren, welche Bedeutung unsere Volksmärchen für das Seelenleben unserer Kinder gewonnen haben. Bei einigen Menschen hat sich die Erinnerung an ihre Lieblingsmärchen an die Stelle eigener Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben die Märchen zu Deckerinnerungen erhoben.

Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kommen, finden sich nun auch häufig in Träumen. Zur Deutung der betreffenden Stellen fällt den Analysierten das für sie bedeutungsvolle Märchen ein. Von diesem sehr gewöhnlichen Vorkommnis will ich hier zwei Beispiele anführen. Die Beziehungen der Märchen zur Kindheitsgeschichte und zur Neurose der Träumer werden aber nur angedeutet werden können, auf die Gefahr hin, die dem Analytiker wertvollsten Zusammenhänge zu zerreißen.

I

Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den Besuch ihres Mannes empfangen hat: Sie ist in einem ganz braunen Zimmer. Durch eine kleine Tür kommt man auf eine steile Stiege, und über diese kommt ein sonderbares Männlein ins Zimmer, klein, {3}mit weißen Haaren, Glatze und roter Nase, das im Zimmer vor ihr herumtanzt, sich sehr komisch gebärdet und dann wieder zur Stiege herabgeht. Es ist in ein graues Gewand gekleidet, welches alle Formen erkennen läßt. (Korrektur: Es trägt einen langen schwarzen Rock und eine graue Hose.)

Analyse: Die Personsbeschreibung des Männleins paßt ohne weitere Veränderung[1] auf ihren Schwiegervater. Dann fällt ihr aber sofort das Märchen von Rumpelstilzchen ein, der so komisch wie der Mann im Traume herumtanzt und dabei der Königin seinen Namen verrät. Dadurch hat er aber seinen Anspruch auf das erste Kind der Königin verloren und reißt sich in der Wut selbst mitten entzwei.

Am Traumtag war sie selbst so wütend auf ihren Mann und äußerte: Ich könnte ihn mitten entzweireißen.

Das braune Zimmer macht zunächst Schwierigkeiten. Es fällt ihr nur das Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so — holzbraun — getäfelt ist, und dann erzählt sie Geschichten von Betten, in denen man zu zweien so unbequem schläft. Vor einigen Tagen hat sie, als von Betten in anderen Ländern die Rede war, etwas sehr Ungeschicktes gesagt, — in harmloser Absicht, meint sie, — worüber ihre Gesellschaft fürchterlich lachen mußte.

Der Traum ist nun bereits verständlich. Das holzbraune Zimmer[2] ist zunächst das Bett, durch die Beziehung auf das Speisezimmer ein Ehebett.[3] Sie befindet sich also im Ehebett. Der Besucher sollte ihr junger Mann sein, der nach mehrmonatiger Abwesenheit zu ihr gekommen war, um seine Rolle im Ehebett zu spielen. Es ist aber zunächst der Vater des Mannes, der Schwiegervater.

Hinter dieser ersten Deutung blickt man auf eine tiefer liegende rein sexuellen Inhalts. Das Zimmer ist jetzt die Vagina. (Das {4}Zimmer ist in ihr, im Traume umgekehrt.) Der kleine Mann, der seine Grimassen macht und sich so komisch benimmt, ist der Penis; die enge Tür und die steile Treppe bestätigen die Auffassung der Situation als einer Koitusdarstellung. Wir sind sonst gewöhnt, daß das Kind den Penis symbolisiert, werden aber verstehen, daß es einen guten Sinn hat, wenn hier der Vater zur Vertretung des Penis herangezogen wird.

Die Auflösung des noch zurückgehaltenen Restes vom Traume wird uns in der Deutung ganz sicher machen. Das durchscheinende graue Gewand erklärt sie selbst als Kondom. Wir dürfen erfahren, daß Interessen der Kinderverhütung, Besorgnisse, ob nicht dieser Besuch des Mannes den Keim zu einem zweiten Kind gelegt, zu den Anregern dieses Traumes gehören.

Der schwarze Rock: Ein solcher steht ihrem Manne ausgezeichnet. Sie will ihn beeinflussen, daß er ihn immer trage anstatt seiner gewöhnlichen Kleidung. Im schwarzen Rock ist ihr Mann also so, wie sie ihn gern sieht. Schwarzer Rock und graue Hose: das heißt aus zwei verschiedenen, einander überdeckenden Schichten: So gekleidet will ich dich haben. So gefällst du mir.

Rumpelstilzchen verknüpft sich mit den aktuellen Gedanken des Traumes — den Tagesresten — durch eine schöne Gegensatzbeziehung. Er kommt im Märchen, um der Königin das erste Kind zu nehmen; der kleine Mann im Traum kommt als Vater, weil er wahrscheinlich ein zweites Kind gebracht hat. Aber Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur tieferen, infantilen Schicht der Traumgedanken. Der possierliche kleine Kerl, dessen Namen man nicht einmal weiß, dessen Geheimnis man kennen möchte, der so außerordentliche Kunststücke kann (im Märchen Stroh in Gold verwandeln) — die Wut, die man gegen ihn hat, eigentlich gegen seinen Besitzer, den man um diesen Besitz beneidet, der Penisneid der Mädchen, — das sind Elemente, deren Beziehung zu den Grundlagen der Neurose, wie gesagt, {5}hier nur gestreift werden soll. Zum Kastrationsthema gehören wohl auch die geschnittenen Haare des Männchens im Traume.

Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten wird, was der Träumer mit dem Märchen macht, und an welche Stelle er es setzt, so wird man dadurch vielleicht auch Winke für die noch ausstehende Deutung dieser Märchen selbst gewinnen.

II

Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheitserinnerungen in dem Umstande findet, daß seine Eltern ihr bisheriges Landgut gegen ein anderes vertauschten, als er noch nicht fünf Jahre war, erzählt als seinen frühesten Traum, der noch auf dem ersten Gut vorgefallen, folgendes:

„Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem Bett liege (mein Bett stand mit dem Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nußbäume; ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nachtzeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf etwas passen. Unter großer Angst, offenbar von den Wölfen aufgefressen zu werden, schrie ich auf und erwachte. Meine Kinderfrau eilte zu meinem Bett, um nachzusehen, was mit mir geschehen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich überzeugt war, es sei nur ein Traum gewesen, so natürlich und deutlich war mir das Bild vorgekommen, wie das Fenster aufgeht und die Wölfe auf dem Baume sitzen. Endlich beruhigte ich mich, fühlte mich wie von einer Gefahr befreit und schlief wieder ein.“

„Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des Fensters, denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Bewegung auf den {6}Ästen des Baumes, rechts und links vom Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. — Ich glaube, dies war mein erster Angsttraum. Ich war damals drei, vier, höchstens fünf Jahre alt. Bis in mein elftes oder zwölftes Jahr hatte ich von da an immer Angst, etwas Schreckliches im Traum zu sehen.“

Er gibt dann noch eine Zeichnung des Baumes mit den Wölfen, die seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des Traumes fördert nachstehendes Material zutage.

Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Erinnerung gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine ganz ungeheuerliche Angst vor dem Bilde eines Wolfes in einem Märchenbuche zeigte. Die ältere, ihm recht überlegene Schwester pflegte ihn zu necken, indem sie ihm unter irgend einem Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er entsetzt zu schreien begann. Auf diesem Bilde stand der Wolf aufrecht, mit einem Fuß ausschreitend, die Tatzen ausgestreckt und die Ohren aufgestellt. Er meint, dieses Bild habe als Illustration zum Märchen von Rotkäppchen gehört.

Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn an die Schafe denken, von denen große Herden in der Nähe des Gutes gehalten wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlich mit, diese Herden zu besuchen, und er war dann jedesmal sehr stolz und selig. Später — nach eingezogenen Erkundigungen kann es leicht kurz vor der Zeit dieses Traumes gewesen sein, — brach unter diesen Schafen eine Seuche aus. Der Vater ließ einen Pasteurschüler kommen, der die Tiere impfte, aber sie starben nach der Impfung noch zahlreicher als vorher.

Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm eine Geschichte ein, die er den Großvater erzählen gehört. Er kann sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Traume, aber ihr Inhalt spricht entschieden für das erstere. Die Geschichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei der Arbeit, da öffnet {7}sich das Fenster und ein Wolf springt herein. Der Schneider schlägt mit der Elle nach ihm — nein, verbessert er sich, packt ihn beim Schwanz und reißt ihm diesen aus, so daß der Wolf erschreckt davonrennt. Eine Weile später geht der Schneider in den Wald und sieht plötzlich ein Rudel Wölfe herankommen, vor denen er sich auf einen Baum flüchtet. Die Wölfe sind zunächst ratlos, aber der verstümmelte, der unter ihnen ist und sich am Schneider rächen will, macht den Vorschlag, daß einer auf den anderen steigen soll, bis der letzte den Schneider erreicht hat. Er selbst — er ist ein kräftiger Alter — will die Basis dieser Pyramide machen. Die Wölfe tun so, aber der Schneider hat den gezüchtigten Besucher erkannt und ruft plötzlich wie damals: Packt den Grauen beim Schwanz. Der schwanzlose Wolf erschrickt bei dieser Erinnerung, läuft davon und die anderen purzeln alle herab.

In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem im Traume die Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine unzweideutige Anknüpfung an den Kastrationskomplex. Der alte Wolf ist vom Schneider um den Schwanz gebracht worden. Die Fuchsschwänze der Wölfe im Traume sind wohl Kompensationen dieser Schwanzlosigkeit.

Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage schien nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf, ob sich sein Angstbild auf das Rotkäppchenmärchen bezogen haben könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illustrationen, zur Begegnung des Rotkäppchens mit dem Wolf im Walde und zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der Großmutter im Bette liegt. Es müsse sich also ein anderes Märchen hinter der Erinnerung an das Bild verbergen. Er fand dann bald, daß es nur die Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein sein könne. Hier findet sich die Siebenzahl, aber auch die sechs, denn der Wolf frißt nur sechs Geißlein auf, das siebente versteckt sich im Uhrkasten. Auch das Weiß kommt in dieser Geschichte vor, denn der {8}Wolf läßt sich beim Bäcker die Pfote weiß machen, nachdem ihn die Geißlein bei seinem ersten Besuch an der grauen Pfote erkannt haben. Beide Märchen haben übrigens viel Gemeinsames. In beiden findet sich das Auffressen, das Bauchaufschneiden, die Herausbeförderung der gefressenen Personen, deren Ersatz durch schwere Steine, und endlich kommt in beiden der böse Wolf um. Im Märchen von den Geißlein kommt auch noch der Baum vor. Der Wolf legt sich nach der Mahlzeit unter einen Baum und schnarcht.

Ich werde mich mit diesem Traum wegen eines besonderen Umstandes noch an anderer Stelle beschäftigen müssen und ihn dann eingehender deuten und würdigen.[4] Es ist ja ein erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen Inhalt im Zusammenhang mit anderen Träumen, die bald nachher erfolgten, und mit gewissen Begebenheiten in der Kinderzeit des Träumers ein Interesse von ganz besonderer Art wachruft. Hier beschränken wir uns auf die Beziehung des Traumes zu zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben, zum „Rotkäppchen“ und zum „Wolf und die sieben Geißlein“. Der Eindruck dieser Märchen äußerte sich bei dem kindlichen Träumer in einer richtigen Tierphobie, die sich von anderen ähnlichen Fällen nur dadurch auszeichnete, daß das Angsttier nicht ein der Wahrnehmung leicht zugängliches Objekt war (wie etwa Pferd und Hund), sondern nur aus Erzählung und Bilderbuch gekannt war.

Ich werde ein andermal auseinandersetzen, welche Erklärung diese Tierphobien haben und welche Bedeutung ihnen zukommt. Vorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung sehr zu dem Hauptcharakter stimmt, welchen die Neurose des Träumers in späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die Angst vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkrankung gewesen, und die ambivalente Einstellung zu jedem Vaterersatz beherrschte sein Leben wie sein Verhalten in der Behandlung.

{9}

Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste Vaterersatz war, so fragt es sich, ob die Märchen vom Wolf, der die Geißlein auffrißt, und vom Rotkäppchen etwas anderes als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen Inhalt haben.[5] Der Vater meines Patienten hatte übrigens die Eigentümlichkeit des „zärtlichen Schimpfens“, die so viele Personen im Umgang mit ihren Kindern zeigen, und die scherzhafte Drohung: „Ich fress’ dich auf“ mag in den ersten Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein zu spielen und zu kosen pflegte, mehr als einmal geäußert worden sein. Eine meiner Patientinnen erzählte mir, daß ihre beiden Kinder den Großvater nie lieb gewinnen konnten, weil er sie in seinem zärtlichen Spiel zu schrecken pflegte, er werde ihnen den Bauch aufschneiden.

{10}
{11}

EIN TRAUM ALS BEWEISMITTEL

EIN TRAUM ALS BEWEISMITTEL

Eine Dame, die an Zweifelsucht und Zwangszeremoniell leidet, stellt an ihre Pflegerinnen die Anforderung, von ihnen keinen Moment aus den Augen gelassen zu werden, weil sie sonst zu grübeln beginnen würde, was sie in dem unbewachten Zeitraum Unerlaubtes getan haben mag. Wie sie nun eines Abends auf dem Diwan ausruht, glaubt sie zu bemerken, daß die diensthabende Pflegerin eingeschlafen ist. Sie fragt: Haben Sie mich gesehen?; die Pflegerin fährt auf und antwortet: Ja, gewiß. Die Kranke hat nun Grund zu einem neuen Zweifel und wiederholt nach einer Weile dieselbe Frage. Die Pflegerin beteuert es von neuem; in diesem Augenblicke bringt eine andere Dienerin das Abendessen.

Dies ereignete sich eines Freitag abends. Am nächsten Morgen erzählt die Pflegerin einen Traum, der die Zweifel der Patientin zerstreut.

Traum: Man hat ihr ein Kind gegeben, die Mutter ist abgereist, und sie hat das Kind verloren. Sie fragt unterwegs die Leute auf der Straße, ob sie das Kind gesehen haben. Dann kommt sie an ein großes Wasser, geht über einen schmalen Steg. (Dazu später ein Nachtrag: Auf diesem Steg ist plötzlich die Person einer anderen Pflegerin wie eine Fata Morgana vor ihr {13}aufgetaucht.) Dann ist sie in einer ihr bekannten Gegend und trifft dort eine Frau, die sie als Mädchen gekannt hat, die damals Verkäuferin in einem Eßwarengeschäft war, später aber geheiratet hat. Sie fragt die vor ihrer Tür stehende Frau: Haben Sie das Kind gesehen? Die Frau interessiert sich aber nicht für diese Frage, sondern erzählt ihr, daß sie jetzt von ihrem Manne geschieden ist, wobei sie hinzufügt, daß es auch in der Ehe nicht immer glücklich geht. Dann wacht sie beruhigt auf und denkt sich, das Kind wird sich schon bei einer Nachbarin finden.

Analyse: Von diesem Traum nahm die Patientin an, daß er sich auf das von der Pflegerin abgeleugnete Einschlafen beziehe. Was ihr die Pflegerin, ohne ausgefragt zu werden, im Anschluß an den Traum erzählte, setzte sie in den Stand, eine praktisch zureichende, wenn auch an manchen Stellen unvollständige Deutung des Traumes vorzunehmen. Ich selbst habe nur den Bericht der Dame gehört, nicht die Pflegerin gesprochen; ich werde, nachdem die Patientin ihre Deutung vorgetragen hat, hinzufügen, was sich aus unserer allgemeinen Einsichtnahme in die Gesetze der Traumbildung ergänzen läßt.

„Die Pflegerin sagt, bei dem Kind im Traume denke sie an eine Pflege, von welcher sie sich außerordentlich befriedigt gefühlt habe. Es handelte sich um ein an blennorrhoischer Augenentzündung erkranktes Kind, das nicht sehen konnte. Aber die Mutter dieses Kindes reiste nicht ab, sie nahm an der Pflege teil. Dagegen weiß ich, daß mein Mann, der viel auf diese Pflegerin hält, mich ihr beim Abschied zur Behütung übergeben hat, und daß sie ihm damals versprach, auf mich achtzugeben — wie auf ein Kind!“

Wir erraten anderseits aus der Analyse der Patientin, daß sie sich mit ihrer Forderung, nicht aus den Augen gelassen zu werden, selbst in die Kindheit zurückversetzt hat.

„Sie hat das Kind verloren,“ fährt die Patientin fort, „heißt, sie hat mich nicht gesehen, hat mich aus den Augen verloren. {14}Das ist ihr Geständnis, daß sie wirklich eine Weile geschlafen und mir dann nicht die Wahrheit gesagt hat.“

Das Stückchen des Traumes, in dem die Pflegerin bei den Leuten auf der Straße nach dem Kinde fragt, blieb der Dame dunkel, dagegen weiß sie über die weiteren Elemente des manifesten Traumes gute Auskunft zu geben.

„Bei dem großen Wasser denkt sie an den Rhein, aber sie setzt hinzu, es war doch weit größer als der Rhein. Sie erinnert sich dann, daß ich ihr am Abend vorher die Geschichte von Jonas und dem Walfisch vorgelesen und erzählt habe, daß ich selbst einmal im Ärmelkanal einen Walfisch gesehen. Ich meine, das große Wasser ist das Meer, also eine Anspielung auf die Geschichte von Jonas.“

„Ich glaube auch, daß der schmale Steg aus der nämlichen, in Mundart geschriebenen lustigen Geschichte herrührt. In ihr wird erzählt, daß der Religionslehrer den Schulkindern das wunderbare Abenteuer des Jonas vorträgt, worauf ein Knabe den Einwand macht, das könne doch nicht sein, denn der Herr Lehrer habe ein anderes Mal gesagt, der Walfisch habe einen so engen Schlund, daß er nur ganz kleine Tiere schlucken könne. Der Lehrer hilft sich mit der Erklärung, Jonas sei eben ein Jude gewesen, und der drücke sich überall durch. Meine Pflegerin ist sehr religiös, aber zu religiösen Zweifeln geneigt, und ich habe mir darum Vorwürfe gemacht, daß ich durch meine Vorlesung vielleicht ihre Zweifel angeregt habe.“

„Auf diesem schmalen Steg sah sie nun die Erscheinung einer anderen ihr bekannten Pflegerin. Sie hat mir deren Geschichte erzählt, diese ist in den Rhein gegangen, weil man sie aus der Pflege, in der sie sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen, weggeschickt hatte.[6] Sie fürchtet also auch wegen jenes Ein{15}schlafens weggeschickt zu werden. Übrigens hat sie am Tage nach dem Vorfall und der Traumerzählung heftig geweint und mir, auf meine Frage nach ihren Gründen, recht barsch geantwortet: ,Das wissen Sie so gut wie ich, und jetzt werden Sie kein Vertrauen mehr zu mir haben.‘“

Da die Erscheinung der ertränkten Pflegerin ein Nachtrag, und zwar von besonderer Deutlichkeit war, hätten wir der Dame raten müssen, die Traumdeutung an diesem Punkte zu beginnen. Diese erste Hälfte des Traumes war nach dem Berichte der Träumerin auch von heftigster Angst erfüllt, im zweiten Teil bereitet sich die Beruhigung vor, mit welcher sie erwacht.

„Im nächsten Stück des Traumes,“ setzt die analysierende Dame fort, „finde ich wieder einen sicheren Beweis für meine Auffassung, daß es sich darin um den Vorfall am Freitag abends handelt, denn mit der Frau, die früher Verkäuferin in einem Eßwarengeschäfte war, kann nur das Mädchen gemeint sein, welches damals das Nachtmahl brachte. Ich bemerke, daß die Pflegerin den ganzen Tag über Üblichkeiten geklagt hatte. Die Frage, die sie an die Frau richtet: ,Haben Sie das Kind gesehen?‘, ist ja offenbar abgeleitet von meiner Frage: ,Haben Sie mich gesehen?‘, wie meine Formel lautet, die ich eben zum zweitenmal stellte, als das Mädchen mit den Schüsseln eintrat.“

Auch im Traume wird an zwei Stellen nach dem Kinde gefragt. — Daß die Frau keine Antwort gibt, sich nicht interessiert, möchten wir als eine Herabsetzung der anderen Dienerin {16}zugunsten der Träumerin deuten, die sich im Traume über die andere erhebt, gerade weil sie gegen Vorwürfe wegen ihrer Unachtsamkeit anzukämpfen hat.

„Die im Traume erscheinende Frau ist nicht wirklich von ihrem Manne geschieden. Die ganze Stelle stammt aus der Lebensgeschichte des anderen Mädchens, welches durch das Machtwort ihrer Eltern von einem Manne fern gehalten — geschieden — wird, der sie heiraten will. Der Satz, daß es in der Ehe auch nicht immer gut abgeht, ist wahrscheinlich ein Trost, der in Gesprächen der beiden zur Verwendung kam. Dieser Trost wird ihr zum Vorbild für einen anderen, mit dem der Traum schließt: Das Kind wird sich schon finden.“

„Ich habe aber aus diesem Traume entnommen, daß die Pflegerin an jenem Abend wirklich eingeschlafen war und darum weggeschickt zu werden fürchtet. Ich habe darum den Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung aufgegeben. Übrigens hat sie nach der Erzählung des Traumes hinzugefügt, sie bedauere es sehr, daß sie kein Traumbuch mitgebracht habe. Als ich bemerkte, in solchen Büchern stehe doch nur der schlimmste Aberglaube, entgegnete sie, sie sei gar nicht abergläubisch, aber das müsse sie sagen: alle Unannehmlichkeiten ihres Lebens seien ihr immer an Freitagen passiert. Außerdem behandelt sie mich jetzt schlecht, zeigt sich empfindlich, reizbar und macht mir Szenen.“

Ich glaube, wir werden der Dame zugestehen müssen, daß sie den Traum ihrer Pflegerin richtig gedeutet und verwertet hat. Wie so oft bei der Traumdeutung in der Psychoanalyse, kommen für die Übersetzung des Traumes nicht allein die Ergebnisse der Assoziation in Betracht, sondern auch die Begleitumstände der Traumerzählung, das Benehmen des Träumers vor und nach der Traumanalyse sowie alles, was er ungefähr gleichzeitig mit dem Traume — in derselben Stunde der Behandlung — äußert und verrät. Nehmen wir die Reizbarkeit der Pflegerin, ihre Beziehung auf den unglückbringenden Freitag u. a. hinzu, so werden wir {17}das Urteil bestätigen, der Traum enthalte das Geständnis, daß sie damals, als sie es ableugnete, wirklich eingenickt sei und darum fürchte, von ihrem Pflegekind weggeschickt zu werden.[7]

Aber der Traum, welcher für die Dame eine praktische Bedeutung hatte, regt bei uns das theoretische Interesse nach zwei Richtungen an. Der Traum läuft zwar in eine Tröstung aus, aber im wesentlichen bringt er ein für die Beziehung zu ihrer Dame wichtiges Geständnis. Wie kommt der Traum, der doch der Wunscherfüllung dienen soll, dazu, ein Geständnis zu ersetzen, welches der Träumerin nicht einmal vorteilhaft wird? Sollen wir uns wirklich veranlaßt finden, außer den Wunsch(und Angst-) Träumen auch Geständnisträume zuzugeben sowie Warnungsträume, Reflexionsträume, Anpassungsträume u. dgl.?

Ich bekenne nun, daß ich noch nicht ganz verstehe, warum der Standpunkt, den meine Traumdeutung gegen solche Versuchungen einnimmt, bei so vielen und darunter namhaften Psychoanalytikern Bedenken findet. Die Unterscheidung von Wunsch-, Geständnis-, Warnungs- und Anpassungsträumen u. dgl. scheint mir nicht viel sinnreicher, als die notgedrungen zugelassene Differenzierung ärztlicher Spezialisten in Frauen-, Kinder- und Zahnärzte. Ich nehme mir die Freiheit, die Erörterungen der Traumdeutung über diesen Punkt hier in äußerster Kürze zu wiederholen.[8]

Als Schlafstörer und Traumbildner können die sogenannten „Tagesreste“ fungieren, affektbesetzte Denkvorgänge des Traumtages, welche der allgemeinen Schlaferniedrigung einigermaßen widerstanden haben. Diese Tagesreste deckt man auf, indem man den manifesten Traum auf die latenten Traumgedanken zurückführt; sie sind Stücke dieser letzteren, gehören also den — bewußt oder unbewußt gebliebenen — Tätigkeiten des Wachens an, die {18}sich in die Zeit des Schlafens fortsetzen mögen. Entsprechend der Mannigfaltigkeit der Denkvorgänge im Bewußten und Vorbewußten haben diese Tagesreste die vielfachsten und verschiedenartigsten Bedeutungen, es können unerledigte Wünsche oder Befürchtungen sein, ebenso Vorsätze, Überlegungen, Warnungen, Anpassungsversuche an bevorstehende Aufgaben usw. Insofern muß ja die in Rede stehende Charakteristik der Träume nach ihrem durch Deutung erkannten Inhalt gerechtfertigt erscheinen. Aber diese Tagesreste sind noch nicht der Traum, vielmehr fehlt ihnen das Wesentliche, was den Traum ausmacht. Sie sind für sich allein nicht imstande, einen Traum zu bilden. Streng genommen sind sie nur psychisches Material für die Traumarbeit, wie die zufällig vorhandenen Sinnes- und Leibreize oder eingeführte experimentelle Bedingungen deren somatisches Material bilden. Ihnen die Hauptrolle bei der Traumbildung zuschreiben, heißt nichts anderes als den voranalytischen Irrtum an neuer Stelle wiederholen, Träume erklärten sich durch den Nachweis eines verdorbenen Magens oder einer gedrückten Hautstelle. So zählebig sind wissenschaftliche Irrtümer und so gern bereit, sich, wenn abgewiesen, unter neuen Masken wieder einzuschleichen.

Soweit wir den Sachverhalt durchschaut haben, müssen wir sagen, der wesentliche Faktor der Traumbildung ist ein unbewußter Wunsch, in der Regel ein infantiler, jetzt verdrängter, welcher sich in jenem somatischen oder psychischen Material (also auch in den Tagesresten) zum Ausdruck bringen kann und ihnen darum eine Kraft leiht, so daß sie auch während der nächtlichen Denkpause zum Bewußtsein durchdringen können. Dieses unbewußten Wunsches Erfüllung ist jedesmal der Traum, mag er sonst was immer enthalten, Warnung, Überlegung, Geständnis und was sonst aus dem reichen Inhalt des vorbewußten Wachlebens unerledigt in die Nacht hineinragt. Dieser unbewußte Wunsch ist es, welcher der Traumarbeit ihren eigentümlichen Charakter gibt als einer unbewußten Bearbeitung eines {19}vorbewußten Materials. Der Psychoanalytiker kann den Traum nur charakterisieren als Ergebnis der Traumarbeit; die latenten Traumgedanken kann er nicht dem Traume zurechnen, sondern dem vorbewußten Nachdenken, wenngleich er diese Gedanken erst aus der Deutung des Traumes erfahren hat. (Die sekundäre Bearbeitung durch die bewußte Instanz ist hiebei der Traumarbeit zugezählt; es wird an dieser Auffassung nichts geändert, wenn man sie absondert. Man müßte dann sagen: der Traum im psychoanalytischen Sinne umfaßt die eigentliche Traumarbeit und die sekundäre Bearbeitung ihres Ergebnisses.) Der Schluß aus diesen Erwägungen lautet, daß man den Wunscherfüllungscharakter des Traumes nicht in einen Rang mit dessen Charakter als Warnung, Geständnis, Lösungsversuch usw. versetzen darf, ohne den Gesichtspunkt der psychischen Tiefendimension, also den Standpunkt der Psychoanalyse, zu verleugnen.

Kehren wir nun zum Traume der Pflegerin zurück, um an ihm den Tiefencharakter der Wunscherfüllung nachzuweisen. Wir sind darauf vorbereitet, daß seine Deutung durch die Dame keine vollständige ist. Es erübrigen die Partien des Trauminhaltes, denen sie nicht gerecht werden konnte. Sie leidet überdies an einer Zwangsneurose, welche nach meinen Eindrücken das Verständnis der Traumsymbole erheblich erschwert, ähnlich wie die Dementia praecox es erleichtert.

Unsere Kenntnis der Traumsymbolik gestattet uns aber, ungedeutete Stellen dieses Traumes zu verstehen und hinter den bereits gedeuteten einen tieferen Sinn zu erraten. Es muß uns auffallen, daß einiges Material, welches die Pflegerin verwendet, aus dem Komplex des Gebärens, Kinderhabens kommt. Das große Wasser (der Rhein, der Kanal, in dem der Walfisch gesehen wurde) ist wohl das Wasser, aus dem die Kinder kommen. Sie kommt ja auch dahin „auf der Suche nach dem Kinde“. Die Jonasmythe hinter der Determinierung dieses Wassers, die Frage, wie Jonas (das Kind) durch die enge Spalte kommt, gehören demselben {20}Zusammenhang an. Die Pflegerin, die sich aus Kränkung in den Rhein gestürzt hat, ins Wasser gegangen ist, hat ja auch in ihrer Verzweiflung am Leben eine sexualsymbolische Tröstung an der Todesart gefunden. Der enge Steg, auf dem ihr die Erscheinung entgegentritt, ist sehr wahrscheinlich gleichfalls als ein Genitalsymbol zu deuten, wenngleich ich gestehen muß, daß dessen genauere Erkenntnis noch aussteht.

Der Wunsch: ich will ein Kind haben, scheint also der Traumbildner aus dem Unbewußten zu sein, und kein anderer scheint besser geeignet, die Pflegerin über die peinliche Situation der Realität zu trösten. „Man wird mich wegschicken, ich werde mein Pflegekind verlieren. Was liegt daran? Ich werde mir dafür ein eigenes, leibliches verschaffen.“ Vielleicht gehört die ungedeutete Stelle, daß sie alle Leute auf der Straße nach dem Kinde fragt, in diesen Zusammenhang; sie wäre dann zu übersetzen: und müßte ich mich auf der Straße ausbieten, ich werde mir das Kind zu schaffen wissen. Ein bisher verdeckter Trotz der Träumerin wird hier plötzlich laut, und zu diesem paßt erst das Geständnis: „Also gut, ich habe die Augen zugemacht und meine Verläßlichkeit als Pflegerin kompromittiert, ich werde jetzt die Stelle verlieren. Werde ich so dumm sein, ins Wasser zu gehen wie die X? Nein, ich bleibe überhaupt nicht Pflegerin, ich will heiraten, Weib sein, ein leibliches Kind haben, daran lasse ich mich nicht hindern.“ Diese Übersetzung rechtfertigt sich durch die Erwägung, daß „Kinderhaben“ wohl der infantile Ausdruck des Wunsches nach dem Sexualverkehr ist, wie es auch vor dem Bewußtsein zum euphemistischen Ausdruck dieses anstößigen Wunsches gewählt werden kann.

Das für die Träumerin nachteilige Geständnis, zu dem wohl im Wachleben eine gewisse Neigung vorhanden war, ist also im Traume ermöglicht worden, indem ein latenter Charakterzug der Pflegerin sich desselben zur Herstellung einer infantilen Wunscherfüllung bediente. Wir dürfen vermuten, daß dieser Charakter {21}in innigem Zusammenhang — zeitlichem wie inhaltlichem — mit dem Wunsche nach Kind und Sexualgenuß steht.

Eine weitere Erkundigung bei der Dame, der ich das erste Stück dieser Traumdeutung danke, förderte folgende unerwartete Aufschlüsse über die Lebensschicksale der Pflegerin zutage. Sie wollte, ehe sie Pflegerin wurde, einen Mann heiraten, der sich eifrig um sie bemühte, verzichtete aber darauf infolge des Einspruches einer Tante, zu welcher sie in einem merkwürdigen, aus Abhängigkeit und Trotz gemischten Verhältnis steht. Diese Tante, die ihr das Heiraten versagte, ist selbst Oberin eines Krankenpflegerordens; die Träumerin sah in ihr immer ihr Vorbild, sie ist durch Erbrücksichten an sie gebunden, widersetzte sich ihr aber, indem sie nicht in den Orden eintrat, den ihr die Tante bestimmt hatte. Der Trotz, der sich im Traume verraten, gilt also der Tante. Wir haben diesem Charakterzug analerotische Herkunft zugesprochen und nehmen hinzu, daß es Geldinteressen sind, welche sie von der Tante abhängig machen, denken auch daran, daß das Kind die anale Geburtstheorie bevorzugt.

Das Moment dieses Kindertrotzes wird uns vielleicht einen innigeren Zusammenhang zwischen den ersten und der letzten Szene des Traumes annehmen lassen. Die ehemalige Verkäuferin von Eßwaren im Traume ist zunächst die andere Dienerin der Dame, die im Moment der Frage: „Haben Sie mich gesehen?“ mit dem Nachtmahl ins Zimmer trat. Aber es scheint, daß sie überhaupt die Stelle der feindlichen Konkurrentin zu übernehmen bestimmt ist. Sie wird als Pflegeperson herabgesetzt, indem sie sich für das verlorene Kind gar nicht interessiert, sondern von ihren eigenen Angelegenheiten Antwort gibt. Auf sie wird also die Gleichgültigkeit gegen das Pflegekind verschoben, zu der sich die Träumerin gewendet hat. Ihr wird die unglückliche Ehe und Scheidung angedichtet, welche die Träumerin in ihren geheimsten Wünschen selbst fürchten müßte. Wir wissen aber, daß es die Tante ist, welche die Träumerin von ihrem Verlobten geschieden {22}hat. So mag die „Verkäuferin von Eßwaren“ (was einer infantilen symbolischen Bedeutung nicht zu entbehren braucht) zur Repräsentantin der, übrigens nicht viel älteren, Tante-Oberin werden, welche bei unserer Träumerin die hergebrachte Rolle der Mutter-Konkurrentin eingenommen hat. Eine gute Bestätigung dieser Deutung liegt in dem Umstand, daß der im Traume „bekannte“ Ort, an dem sie die in Rede stehende Person vor ihrer Tür findet, der Ort ist, wo eben diese Tante als Oberin lebt.

Infolge der Distanz, welche den Analysierenden vom Objekt der Analyse trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter in das Gewebe dieses Traumes einzudringen. Man darf vielleicht sagen, auch soweit er der Deutung zugänglich wurde, zeigte er sich reich an Bestätigungen wie an neuen Problemen.

DAS MOTIV DER KÄSTCHENWAHL

DAS MOTIV DER KÄSTCHENWAHL

I

Zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und tragische, haben mir kürzlich den Anlaß zu einer kleinen Problemstellung und Lösung gegeben.

Die heitere ist die Wahl der Freier zwischen drei Kästchen im „Kaufmann von Venedig“. Die schöne und kluge Porzia ist durch den Willen ihres Vaters gebunden, nur den von ihren Bewerbern zum Manne zu nehmen, der von drei ihm vorgelegten Kästchen das richtige wählt. Die drei Kästchen sind von Gold, von Silber und von Blei; das richtige ist jenes, welches ihr Bildnis einschließt. Zwei Bewerber sind bereits erfolglos abgezogen, sie hatten Gold und Silber gewählt. Bassanio, der dritte, entscheidet sich für das Blei; er gewinnt damit die Braut, deren Neigung ihm bereits vor der Schicksalsprobe gehört hat. Jeder der Freier hatte seine Entscheidung durch eine Rede motiviert, in welcher er das von ihm bevorzugte Metall anpries, während er die beiden anderen herabsetzte. Die schwerste Aufgabe war dabei dem glücklichen dritten Freier zugefallen; was er zur Verherrlichung des Bleis gegen Gold und Silber sagen kann, ist wenig und klingt gezwungen. Stünden wir in der psychoanalytischen Praxis vor {25}solcher Rede, so würden wir hinter der unbefriedigenden Begründung geheimgehaltene Motive wittern.

Shakespeare hat das Orakel der Kästchenwahl nicht selbst erfunden, er nahm es aus einer Erzählung der „Gesta Romanorum“, in welcher ein Mädchen dieselbe Wahl vornimmt, um den Sohn des Kaisers zu gewinnen.[9] Auch hier ist das dritte Metall, das Blei, das Glückbringende. Es ist nicht schwer zu erraten, daß hier ein altes Motiv vorliegt, welches nach Deutung, Ableitung und Zurückführung verlangt. Eine erste Vermutung, was wohl die Wahl zwischen Gold, Silber und Blei bedeuten möge, findet bald Bestätigung durch eine Äußerung von Ed. Stucken,[10] der sich in weitausgreifendem Zusammenhang mit dem nämlichen Stoffe beschäftigt. Er sagt: „Wer die drei Freier Porzias sind, erhellt aus dem, was sie wählen: Der Prinz von Marokko wählt den goldenen Kasten: er ist die Sonne; der Prinz von Arragon wählt den silbernen Kasten: er ist der Mond; Bassanio wählt den bleiernen Kasten: er ist der Sternenknabe.“ Zur Unterstützung dieser Deutung zitiert er eine Episode aus dem estnischen Volksepos Kalewipoeg, in welcher die drei Freier unverkleidet als Sonnen-, Mond- und Sternenjüngling („des Polarsterns ältestes Söhnchen“) auftreten und die Braut wiederum dem Dritten zufällt.

So führte also unser kleines Problem auf einen Astralmythus! Nur schade, daß wir mit dieser Aufklärung nicht zu Ende gekommen sind. Das Fragen setzt sich weiter fort, denn wir glauben nicht mit manchen Mythenforschern, daß die Mythen vom Himmel herabgelesen worden sind, vielmehr urteilen wir mit O. Rank,[11] daß sie auf den Himmel projiziert wurden, nachdem sie anderswo unter rein menschlichen Bedingungen entstanden waren. Diesem menschlichen Inhalte gilt aber unser Interesse.

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Fassen wir unseren Stoff nochmals ins Auge. Im estnischen Epos wie in der Erzählung der Gesta Romanorum handelt es sich um die Wahl eines Mädchens zwischen drei Freiern, in der Szene des „Kaufmann von Venedig“ anscheinend um das nämliche, aber gleichzeitig tritt an dieser letzten Stelle etwas wie eine Umkehrung des Motivs auf: Ein Mann wählt zwischen drei — Kästchen. Wenn wir es mit einem Traum zu tun hätten, würden wir sofort daran denken, daß die Kästchen auch Frauen sind, Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie Büchsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw. Gestatten wir uns eine solche symbolische Ersetzung auch beim Mythus anzunehmen, so wird die Kästchenszene im „Kaufmann von Venedig“ wirklich zur Umkehrung, die wir vermutet haben. Mit einem Rucke, wie er sonst nur im Märchen beschrieben wird, haben wir unserem Thema das astrale Gewand abgestreift und sehen nun, es behandelt ein menschliches Motiv, die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen.

Dasselbe ist aber der Inhalt einer anderen Szene Shakespeares in einem der erschütterndsten seiner Dramen, keine Brautwahl diesmal, aber doch durch so viel geheime Ähnlichkeiten mit der Kästchenwahl im „Kaufmann“ verknüpft. Der alte König Lear beschließt, noch bei Lebzeiten sein Reich unter seine drei Töchter zu verteilen, je nach Maßgabe der Liebe, die sie für ihn äußern. Die beiden älteren, Goneril und Regan, erschöpfen sich in Beteuerungen und Anpreisungen ihrer Liebe, die dritte, Cordelia, weigert sich dessen. Er hätte diese unscheinbare, wortlose Liebe der Dritten erkennen und belohnen sollen, aber er verkennt sie, verstößt Cordelia und teilt das Reich unter die beiden anderen, zu seinem und aller Unheil. Ist das nicht wieder eine Szene der Wahl zwischen drei Frauen, von denen die jüngste die beste, die vorzüglichste ist?

Sofort fallen uns nun aus Mythus, Märchen und Dichtung andere Szenen ein, welche die nämliche Situation zum Inhalt {27}haben: Der Hirte Paris hat die Wahl zwischen drei Göttinnen, von denen er die dritte zur Schönsten erklärt. Aschenputtel ist eine ebensolche Jüngste, die der Königssohn den beiden Älteren vorzieht, Psyche im Märchen des Apulejus ist die jüngste und schönste von drei Sch western, Psyche, die einerseits als menschlich gewordene Aphrodite verehrt wird, anderseits von dieser Göttin behandelt wird wie Aschenputtel von ihrer Stiefmutter, einen vermischten Haufen von Samenkörnern schlichten soll und es mit Hilfe von kleinen Tieren (Tauben bei Aschenputtel, Ameisen bei Psyche) zustandebringt.[12] Wer sich weiter im Materiale umsehen wollte, würde gewiß noch andere Gestaltungen desselben Motivs mit Erhaltung derselben wesentlichen Züge auffinden können.

Begnügen wir uns mit Cordelia, Aphrodite, Aschenputtel und Psyche! Die drei Frauen, von denen die dritte die vorzüglichste ist, sind wohl als irgendwie gleichartig aufzufassen, wenn sie als Schwestern vorgeführt werden. Es soll uns nicht irre machen, wenn es bei Lear die drei Töchter des Wählenden sind, das bedeutet vielleicht nichts anderes, als daß Lear als alter Mann dargestellt werden soll. Den alten Mann kann man nicht leicht anders zwischen drei Frauen wählen lassen; darum werden diese zu seinen Töchtern.

Wer sind aber diese drei Schwestern und warum muß die Wahl auf die dritte fallen? Wenn wir diese Frage beantworten könnten, wären wir im Besitze der gesuchten Deutung. Nun haben wir uns bereits einmal der Anwendung psychoanalytischer Techniken bedient, als wir uns die drei Kästchen symbolisch als drei Frauen aufklärten. Haben wir den Mut, ein solches Verfahren fortzusetzen, so betreten wir einen Weg, der zunächst ins Unvorhergesehene, Unbegreifliche, auf Umwegen vielleicht zu einem Ziele führt.

Es darf uns auffallen, daß jene vorzügliche Dritte in mehreren Fällen außer ihrer Schönheit noch gewisse Besonderheiten hat. {28}Es sind Eigenschaften, die nach irgend einer Einheit zu streben scheinen; wir dürfen gewiß nicht erwarten, sie in allen Beispielen gleich gut ausgeprägt zu finden. Cordelia macht sich unkenntlich, unscheinbar wie das Blei, sie bleibt stumm, sie „liebt und schweigt“. Aschenputtel verbirgt sich, so daß sie nicht aufzufinden ist. Wir dürfen vielleicht das Sichverbergen dem Verstummen gleichsetzen. Dies wären allerdings nur zwei Fälle von den fünf, die wir herausgesucht haben. Aber eine Andeutung davon findet sich merkwürdigerweise auch noch bei zwei anderen. Wir haben uns ja entschlossen, die widerspenstig ablehnende Cordelia dem Blei zu vergleichen. Von diesem heißt es in der kurzen Rede des Bassanio während der Kästchenwahl, eigentlich so ganz unvermittelt:

Thy paleness moves me more than eloquence

(plainness nach anderer Leseart).

Also: Deine Schlichtheit geht mir näher als der beiden anderen schreiendes Wesen. Gold und Silber sind „laut“, das Blei ist stumm, wirklich wie Cordelia, die „liebt und schweigt“.[13]

In den altgriechischen Erzählungen des Parisurteils ist von einer solchen Zurückhaltung der Aphrodite nichts enthalten. Jede der drei Göttinnen spricht zu dem Jüngling und sucht ihn durch Verheißungen zu gewinnen. Aber in einer ganz modernen Bearbeitung derselben Szene kommt der uns auffällig gewordene Zug der Dritten sonderbarerweise wieder zum Vorschein. Im Libretto der „Schönen Helena“ erzählt Paris, nachdem er von den Werbungen der beiden anderen Göttinnen berichtet, wie sich Aphrodite in diesem Wettkampfe um den Schönheitspreis benommen:

Und die Dritte — ja die Dritte —

Stand daneben und blieb stumm.

Ihr mußt’ ich den Apfel geben usw.

{29}

Entschließen wir uns, die Eigentümlichkeiten unserer Dritten in der „Stummheit“ konzentriert zu sehen, so sagt uns die Psychoanalyse: Stummheit ist im Traume eine gebräuchliche Darstellung des Todes.[14]

Vor mehr als zehn Jahren teilte mir ein hochintelligenter Mann einen Traum mit, den er als Beweis für die telepathische Natur der Träume verwerten wollte. Er sah einen abwesenden Freund, von dem er überlange keine Nachricht erhalten hatte, und machte ihm eindringliche Vorwürfe über sein Stillschweigen. Der Freund gab keine Antwort. Es stellte sich dann heraus, daß er ungefähr um die Zeit dieses Traumes durch Selbstmord geendet hatte. Lassen wir das Problem der Telepathie beiseite; daß die Stummheit im Traume zur Darstellung des Todes wird, scheint hier nicht zweifelhaft. Auch das Sichverbergen, Unauffindbarsein, wie es der Märchenprinz dreimal beim Aschenputtel erlebt, ist im Traume ein unverkennbares Todessymbol; nicht minder die auffällige Blässe, an welche die paleness des Bleis in der einen Leseart des Shakespeareschen Textes erinnert.[15] Die Übertragung dieser Deutungen aus der Sprache des Traumes auf die Ausdrucksweise des uns beschäftigenden Mythus wird uns aber wesentlich erleichtert, wenn wir wahrscheinlich machen können, daß die Stummheit auch in anderen Produktionen, die nicht Träume sind, als Zeichen des Totseins gedeutet werden muß.

Ich greife hier das neunte der Grimmschen Volksmärchen heraus, welches die Überschrift hat: „Die zwölf Brüder.“[16] Ein König und eine Königin hatten zwölf Kinder, lauter Buben. Da sagte der König, wenn das dreizehnte Kind ein Mädchen ist, müssen die Buben sterben. In Erwartung dieser Geburt läßt er zwölf Särge machen. Die zwölf Söhne flüchten sich mit Hilfe der {30}Mutter in einen versteckten Wald und schwören jedem Mädchen den Tod, das sie begegnen sollten.

Ein Mädchen wird geboren, wächst heran und erfährt einmal von der Mutter, daß es zwölf Brüder gehabt hat. Es beschließt sie aufzusuchen, und findet im Walde den Jüngsten, der sie erkennt, aber verbergen möchte wegen des Eides der Brüder. Die Schwester sagt: Ich will gerne sterben, wenn ich damit meine zwölf Brüder erlösen kann. Die Brüder nehmen sie aber herzlich auf, sie bleibt bei ihnen und besorgt ihnen das Haus.

In einem kleinen Garten bei dem Hause wachsen zwölf Lilienblumen; die bricht das Mädchen ab, um jedem Bruder eine zu schenken. In diesem Augenblicke werden die Brüder in Raben verwandelt und verschwinden mit Haus und Garten. — Die Raben sind Seelenvögel, die Tötung der zwölf Brüder durch ihre Schwester wird durch das Abpflücken der Blumen von neuem dargestellt wie zu Eingang durch die Särge und das Verschwinden der Brüder. Das Mädchen, das wiederum bereit ist, seine Brüder vom Tode zu erlösen, erfährt nun als Bedingung, daß sie sieben Jahre stumm sein muss, kein einziges Wort sprechen darf. Sie unterzieht sich dieser Probe, durch die sie selbst in Lebensgefahr gerät, d. h. sie stirbt selbst für die Brüder, wie sie es vor dem Zusammentreffen mit den Brüdern gelobt hat. Durch die Einhaltung der Stummheit gelingt ihr endlich die Erlösung der Raben.

Ganz ähnlich werden im Märchen von den „sechs Schwänen“ die in Vögel verwandelten Brüder durch die Stummheit der Schwester erlöst, d. h. wiederbelebt. Das Mädchen hat den festen Entschluß gefaßt, seine Brüder zu erlösen, und „wenn es auch sein Leben kostete“ und bringt als Gemahlin des Königs wiederum ihr eigenes Leben in Gefahr, weil sie gegen böse Anklagen ihre Stummheit nicht aufgeben will.

Wir würden sicherlich aus den Märchen noch andere Beweise erbringen können, daß die Stummheit als Darstellung des Todes verstanden werden muß. Wenn wir diesen Anzeichen folgen {31}dürfen, so wäre die dritte unserer Schwestern, zwischen denen die Wahl stattfindet, eine Tote. Sie kann aber auch etwas anderes sein, nämlich der Tod selbst, die Todesgöttin. Vermöge einer gar nicht seltenen Verschiebung werden die Eigenschaften, die eine Gottheit den Menschen zuteilt, ihr selbst zugeschrieben. Am wenigsten wird uns solche Verschiebung bei der Todesgöttin befremden, denn in der modernen Auffassung und Darstellung, die hier vorweggenommen würde, ist der Tod selbst nur ein Toter.

Wenn aber die dritte der Schwestern die Todesgöttin ist, so kennen wir die Schwestern. Es sind die Schicksalsschwestern, die Moiren oder Parzen oder Nornen, deren dritte Atropos heißt: die Unerbittliche.

II

Stellen wir die Sorge, wie die gefundene Deutung in unseren Mythus einzufügen ist, einstweilen beiseite, und holen wir uns bei den Mythologen Belehrung über Rolle und Herkunft der Schicksalsgöttinnen.[17]

Die älteste griechische Mythologie kennt nur eine Μοῖρα als Personifikation des unentrinnbaren Schicksals (bei Homer). Die Fortentwicklung dieser einen Moira zu einem Schwesterverein von drei (seltener zwei) Gottheiten erfolgte wahrscheinlich in Anlehnung an andere Göttergestalten, denen die Moiren nahestehen, die Chariten und die Horen.

Die Horen sind ursprünglich Gottheiten der himmlischen Gewässer, die Regen und Tau spenden, der Wolken, aus denen der Regen niederfällt, und da diese Wolken als Gespinst erfaßt werden, ergibt sich für diese Göttinnen der Charakter der Spinnerinnen, der dann an den Moiren fixiert wird. In den von der Sonne verwöhnten Mittelmeerländern ist es der Regen, von dem die Fruchtbarkeit des Bodens abhängig wird, und darum wandeln sich die Horen zu Vegetationsgottheiten. Man dankt ihnen die {32}Schönheit der Blumen und den Reichtum der Früchte, stattet sie mit einer Fülle von liebenswürdigen und anmutigen Zügen aus. Sie werden zu den göttlichen Vertreterinnen der Jahreszeiten und erwerben vielleicht durch diese Beziehung ihre Dreizahl, wenn die heilige Natur der Drei zu deren Aufklärung nicht genügen sollte. Denn diese alten Völker unterschieden zuerst nur drei Jahreszeiten: Winter, Frühling und Sommer. Der Herbst kam erst in späten griechisch-römischen Zeiten hinzu; dann bildete die Kunst häufig vier Horen ab.

Die Beziehung zur Zeit blieb den Horen erhalten; sie wachten später über die Tageszeiten wie zuerst über die Zeiten des Jahres; endlich sank ihr Name zur Bezeichnung der Stunde (heure, ora) herab. Die den Horen und Moiren wesensverwandten Nornen der deutschen Mythologie tragen diese Zeitbedeutung in ihren Namen zur Schau. Es konnte aber nicht ausbleiben, daß das Wesen dieser Gottheiten tiefer erfaßt und in das Gesetzmäßige im Wandel der Zeiten verlegt wurde; die Horen wurden so zu Hüterinnen des Naturgesetzes und der heiligen Ordnung, welche mit unabänderlicher Reihenfolge in der Natur das gleiche wiederkehren läßt.

Diese Erkenntnis der Natur wirkte zurück auf die Auffassung des menschlichen Lebens. Der Naturmythus wandelte sich zum Menschenmythus; aus den Wettergöttinnen wurden Schicksalsgottheiten. Aber diese Seite der Horen kam erst in den Moiren zum Ausdrucke, die über die notwendige Ordnung im Menschenleben so unerbittlich wachen wie die Horen über die Gesetzmäßigkeit der Natur. Das unabwendbar Strenge des Gesetzes, die Beziehung zu Tod und Untergang, die an den lieblichen Gestalten der Horen vermieden worden waren, sie prägten sich nun an den Moiren aus, als ob der Mensch den ganzen Ernst des Naturgesetzes erst dann empfände, wenn er ihm die eigene Person unterordnen soll.

Die Namen der drei Spinnerinnen haben auch bei den Mythologen bedeutsames Verständnis gefunden. Die zweite, Lachesis{33}scheint das „innerhalb der Gesetzmäßigkeit des Schicksals Zufällige“ zu bezeichnen[18] — wir würden sagen: das Erleben — wie Atropos das Unabwendbare, den Tod, und dann bliebe für Klotho die Bedeutung der verhängnisvollen, mitgebrachten Anlage.

Und nun ist es Zeit, zu dem der Deutung unterliegenden Motive der Wahl zwischen drei Schwestern zurückzukehren. Mit tiefem Mißvergnügen werden wir bemerken, wie unverständlich die betrachteten Situationen werden, wenn wir in sie die gefundene Deutung einsetzen, und welche Widersprüche zum scheinbaren Inhalte derselben sich dann ergeben. Die dritte der Schwestern soll die Todesgöttin sein, der Tod selbst, und im Parisurteile ist es die Liebesgöttin, im Märchen des Apulejus eine dieser letzteren vergleichbare Schönheit, im „Kaufmann“ die schönste und klügste Frau, im Lear die einzige treue Tochter. Kann ein Widerspruch vollkommener gedacht werden? Doch vielleicht ist diese unwahrscheinliche Steigerung ganz in der Nähe. Sie liegt wirklich vor, wenn in unserem Motive jedesmal zwischen den Frauen frei gewählt wird, und wenn die Wahl dabei auf den Tod fallen soll, den doch niemand wählt, dem man durch ein Verhängnis zum Opfer fällt.

Indes Widersprüche von einer gewissen Art, Ersetzungen durch das volle kontradiktorische Gegenteil bereiten der analytischen Deutungsarbeit keine ernste Schwierigkeit. Wir werden uns hier nicht darauf berufen, daß Gegensätze in den Ausdrucksweisen des Unbewußten wie im Traume so häufig durch eines und das nämliche Element dargestellt werden. Aber wir werden daran denken, daß es Motive im Seelenleben gibt, welche die Ersetzung durch das Gegenteil als sogenannte Reaktionsbildung herbeiführen, und können den Gewinn unserer Arbeit gerade in der Aufdeckung solcher verborgener Motive suchen. Die Schöpfung der Moiren ist der Erfolg einer Einsicht, welche den Menschen mahnt, auch er sei ein Stück der Natur und darum dem unabänderlichen {34}Gesetze des Todes unterworfen. Gegen diese Unterwerfung mußte sich etwas im Menschen sträuben, der nur höchst ungern auf seine Ausnahmsstellung verzichtet. Wir wissen, daß der Mensch seine Phantasietätigkeit zur Befriedigung seiner von der Realität unbefriedigten Wünsche verwendet. So lehnte sich denn seine Phantasie gegen die im Moirenmythus verkörperte Einsicht auf und schuf den davon abgeleiteten Mythus, in dem die Todesgöttin durch die Liebesgöttin, und was ihr an menschlichen Gestaltungen gleichkommt, ersetzt ist. Die dritte der Schwestern ist nicht mehr der Tod, sie ist die schönste, beste, begehrenswerteste, liebenswerteste der Frauen. Und diese Ersetzung war technisch keineswegs schwer; sie war durch eine alte Ambivalenz vorbereitet, sie vollzog sich längs eines uralten Zusammenhanges, der noch nicht lange vergessen sein konnte. Die Liebesgöttin selbst, die jetzt an die Stelle der Todesgöttin trat, war einst mit ihr identisch gewesen. Noch die griechische Aphrodite entbehrte nicht völlig der Beziehungen zur Unterwelt, obwohl sie ihre chthonische Rolle längst an andere Göttergestalten, an die Persephone, die dreigestaltige Artemis-Hekate, abgegeben hatte. Die großen Muttergottheiten der orientalischen Völker scheinen aber alle ebensowohl Zeugerinnen wie Vernichterinnen, Göttinnen des Lebens und der Befruchtung wie Todesgöttinnen gewesen zu sein. So greift die Ersetzung durch ein Wunschgegenteil bei unserem Motive auf eine uralte Identität zurück.

Dieselbe Erwägung beantwortet uns die Frage, woher der Zug der Wahl in den Mythus von den drei Schwestern geraten ist. Es hat hier wiederum eine Wunschverkehrung stattgefunden. Wahl steht an der Stelle von Notwendigkeit, von Verhängnis. So überwindet der Mensch den Tod, den er in seinem Denken anerkannt hat. Es ist kein stärkerer Triumph der Wunscherfüllung denkbar. Man wählt dort, wo man in Wirklichkeit dem Zwange gehorcht, und die man wählt, ist nicht die Schreckliche, sondern die Schönste und Begehrenswerteste.

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Bei näherem Zusehen merken wir freilich, daß die Entstellungen des ursprünglichen Mythus nicht gründlich genug sind, um sich nicht durch Resterscheinungen zu verraten. Die freie Wahl zwischen den drei Schwestern ist eigentlich keine freie Wahl, denn sie muß notwendigerweise die dritte treffen, wenn nicht, wie im Lear, alles Unheil aus ihr entstehen soll. Die Schönste und Beste, welche an Stelle der Todesgöttin getreten ist, hat Züge behalten, die an das Unheimliche streifen, so daß wir aus ihnen das Verborgene erraten konnten.[19]

Wir haben bisher den Mythus und seine Wandlung verfolgt und hoffen die geheimen Gründe dieser Wandlung aufgezeigt zu haben. Nun darf uns wohl die Verwendung des Motivs beim Dichter interessieren. Wir bekommen den Eindruck, als ginge beim Dichter eine Reduktion des Motivs auf den ursprünglichen Mythus vor sich, so daß der ergreifende, durch die Entstellung abgeschwächte Sinn des letzteren von uns wieder verspürt wird. Durch diese Reduktion der Entstellung, die teilweise Rückkehr zum Ursprünglichen, erziele der Dichter die tiefere Wirkung, die er bei uns erzeugt.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, will ich sagen, ich habe nicht die Absicht zu widersprechen, daß das Drama vom König Lear die beiden weisen Lehren einschärfen wolle, man solle auf sein Gut und seine Rechte nicht zu Lebzeiten verzichten, und {36}man müsse sich hüten, Schmeichelei für bare Münze zu nehmen. Diese und ähnliche Mahnungen ergeben sich wirklich aus dem Stücke, aber es erscheint mir ganz unmöglich, die ungeheure Wirkung des Lear aus dem Eindrucke dieses Gedankeninhaltes zu erklären oder anzunehmen, daß die persönlichen Motive des Dichters mit der Absicht, diese Lehren vorzutragen, erschöpft seien. Auch die Auskunft, der Dichter habe uns die Tragödie der Undankbarkeit vorspielen wollen, deren Bisse er wohl am eigenen Leibe verspürt, und die Wirkung des Spieles beruhe auf dem rein formalen Momente der künstlerischen Einkleidung, scheint mir das Verständnis nicht zu ersetzen, welches uns durch die Würdigung des Motivs der Wahl zwischen den drei Schwestern eröffnet wird.

Lear ist ein alter Mann. Wir sagten schon, darum erscheinen die drei Schwestern als seine Töchter. Das Vaterverhältnis, aus dem so viel fruchtbare dramatische Antriebe erfließen könnten, wird im Drama weiter nicht verwertet. Lear ist aber nicht nur ein Alter, sondern auch ein Sterbender. Die so absonderliche Voraussetzung der Erbteilung verliert dann alles Befremdende. Dieser dem Tode Verfallene will aber auf die Liebe des Weibes nicht verzichten, er will hören, wie sehr er geliebt wird. Nun denke man an die erschütternde letzte Szene, einen der Höhepunkte der Tragik im modernen Drama: Lear trägt den Leichnam der Cordelia auf die Bühne. Cordelia ist der Tod. Wenn man die Situation umkehrt, wird sie uns verständlich und vertraut. Es ist die Todesgöttin, die den gestorbenen Helden vom Kampfplatze wegträgt, wie die Walküre in der deutschen Mythologie. Ewige Weisheit im Gewande des uralten Mythus rät dem alten Manne, der Liebe zu entsagen, den Tod zu wählen, sich mit der Notwendigkeit des Sterbens zu befreunden.

Der Dichter bringt uns das alte Motiv näher, indem er die Wahl zwischen den drei Schwestern von einem Gealterten und Sterbenden vollziehen läßt. Die regressive Bearbeitung, die er so {37}mit dem durch Wunschverwandlung entstellten Mythus vorgenommen, läßt dessen alten Sinn so weit durchschimmern, daß uns vielleicht auch eine flächenhafte, allegorische Deutung der drei Frauengestalten des Motivs ermöglicht wird. Man könnte sagen, es seien die drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dargestellt sind: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin. Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Laufe des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt. Der alte Mann aber hascht vergebens nach der Liebe des Weibes, wie er sie zuerst von der Mutter empfangen; nur die dritte der Schicksalsfrauen, die schweigsame Todesgöttin, wird ihn in ihre Arme nehmen

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ERFAHRUNGEN UND BEISPIELE AUS DER ANALYTISCHEN PRAXIS

ERFAHRUNGEN UND BEISPIELE AUS DER ANALYTISCHEN PRAXIS

Die Sammlung kleiner Beiträge, von welcher wir hier ein erstes Stück bringen,[20] bedarf einiger einführender Worte: Die Krankheitsfälle, an denen der Psychoanalytiker seine Beobachtungen macht, sind für die Bereicherung seiner Kenntnis natürlich ungleichwertig. Es gibt solche, bei denen er alles in Verwendung bringen muß, was er weiß, und nichts Neues lernt; andere, welche ihm das bereits Bekannte in besonders deutlicher Ausprägung und schöner Isolierung zeigen, so daß er diesen Kranken nicht nur Bestätigungen, sondern auch Erweiterungen seines Wissens verdankt. Man ist berechtigt zu vermuten, daß die psychischen Vorgänge, die man studieren will, bei den Fällen der ersteren Art keine anderen sind als bei denen der letzteren, aber man wird sie am liebsten an solchen günstigen und durchsichtigen Fällen beschreiben. Die Entwicklungsgeschichte nimmt ja auch an, daß die Furchung des tierischen Eis sich bei den pigmentstarken und für die Untersuchung ungünstigen Objekten nicht anders vollziehe als bei den durchsichtigen pigmentarmen, welche sie für ihre Untersuchungen auswählt.

Die zahlreichen schönen Beispiele, welche dem Analytiker in der täglichen Arbeit das ihm Bekannte bestätigen, gehen aber zumeist verloren, da deren Einreihung in einen Zusammenhang oft lange Zeit aufgeschoben werden muß. Es hat darum einen gewissen Wert, wenn man eine Form angibt, wie solche Erfahrungen und Beispiele veröffentlicht und der allgemeinen Kenntnis zugeführt werden können, ohne eine Bearbeitung von übergeordneten Gesichtspunkten her abzuwarten.

Die hier eingeführte Rubrik will den Raum für eine Unterbringung dieses Materials zur Verfügung stellen. Äußerste Knappheit der Darstellung erscheint geboten; die Aneinanderreihung der Beispiele ist eine ganz zwanglose.

Verschämte Füße (Schuhe)

Die Patientin berichtet nach mehreren Tagen Widerstand, sie habe sich so sehr gekränkt, daß ein junger Mann, den sie regelmäßig in der Nähe der Wohnung des Arztes begegne, und der sie sonst bewundernd anzuschauen pflegte, das letztemal verächtlich auf ihre Füße geblickt habe. Sie hat sonst wahrlich keine Ursache, sich ihrer Füße zu schämen. Die Lösung bringt sie selbst, nachdem sie gestanden hat, daß sie den jungen Mann für den Sohn des Arztes halte, der also zufolge der Übertragung ihren (älteren) Bruder vertritt. Nun folgt die Erinnerung, daß sie im Alter von etwa fünf Jahren ihren Bruder auf das Klosett zu begleiten pflegte, wo sie ihm urinieren zusah. Von Neid ergriffen, daß sie es nicht so könne wie er, versuchte sie eines Tages es ihm gleichzutun (Penisneid), benetzte aber dabei ihre Schuhe und ärgerte sich sehr, als der Bruder sie darüber neckte. Der Ärger wiederholte sich lange Zeit, so oft der Bruder in der Absicht, sie an jenes Mißglücken zu erinnern, verächtlich auf ihre Schuhe blickte. Diese Erfahrung, fügt sie hinzu, habe ihr späteres Verhalten in der Schule bestimmt. Wenn ihr etwas nicht beim ersten Versuch gelingen wollte, brachte sie nie den Entschluß zustande, es von neuem zu versuchen, so daß sie in vielen Gegenständen völlig versagte. — Ein gutes Beispiel für die Charakterbeeinflussung durch die Vorbildlichkeit des Sexuellen.

Selbstkritik der Neurotiker

Es ist immer auffällig und verdient besondere Aufmerksamkeit, wenn ein Neurotiker sich selbst zu beschimpfen, geringschätzig zu beurteilen pflegt u. dgl. Häufig gelangt man, wie bei den Selbstvorwürfen, zum Verständnis durch die Annahme einer Identifizierung mit einer anderen Person. In einem Falle zwangen die Begleitumstände der Sitzung zu einer anderen Lösung eines solchen Benehmens. Die junge Dame, die nicht müde wurde zu versichern, sie sei wenig intelligent, unbegabt usw., wollte damit nur andeuten, sie sei am Körper sehr schön, und verbarg diese Prahlerei hinter jener Selbstkritik. Der in all solchen Fällen zu vermutende Hinweis auf die schädlichen Folgen der Onanie fehlte übrigens auch in diesem Falle nicht.

Rücksicht auf Darstellbarkeit

Der Träumer zieht eine Frau hinter dem Bette hervor: — er gibt ihr den Vorzug. — Er (ein Offizier) sitzt an einer Tafel dem Kaiser gegen{42}über: — er bringt sich in Gegensatz zum Kaiser (Vater). Beide Darstellungen vom Träumer selbst übersetzt.

Auftreten von Krankheitssymptomen im Traume

Die Symptome der Krankheit (Angst usw.) im Traum scheinen ganz allgemein zu besagen: Darum (im Zusammenhange mit den vorhergehenden Traumelementen) bin ich krank geworden. Dies Träumen entspricht also einer Fortsetzung der Analyse in den Traum.

{43}

ZUR GESCHICHTE DER PSYCHOANALYTISCHEN BEWEGUNG

Fluctuat nec mergitur

Im Wappen der Stadt Paris

I

Wenn ich im Nachstehenden Beiträge zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung bringe, so wird sich über deren subjektiven Charakter und über die Rolle, die meiner Person darin zufällt, niemand verwundern dürfen. Denn die Psychoanalyse ist meine Schöpfung, ich war durch zehn Jahre der einzige, der sich mit ihr beschäftigte, und alles Mißvergnügen, welches die neue Erscheinung bei den Zeitgenossen hervorrief, hat sich als Kritik auf mein Haupt entladen. Ich finde mich berechtigt, den Standpunkt zu vertreten, daß auch heute noch, wo ich längst nicht mehr der einzige Psychoanalytiker bin, keiner besser als ich wissen kann, was die Psychoanalyse ist, wodurch sie sich von anderen Weisen, das Seelenleben zu erforschen, unterscheidet, und was mit ihrem Namen belegt werden soll oder besser anders zu benennen ist. Indem ich so zurückweise, was mir als eine kühne Usurpation erscheint, gebe ich unseren Lesern indirekten Aufschluß über die Vorgänge, die zum Wechsel in der Redaktion und Erscheinungsform dieses Jahrbuches geführt haben.

Als ich im Jahre 1909 auf dem Katheder einer amerikanischen Universität zuerst öffentlich von der Psychoanalyse reden durfte, habe ich, von der Bedeutung des Moments für meine Bestrebungen ergriffen, erklärt, ich sei es nicht gewesen, der die Psychoanalyse ins Leben gerufen. Dies Verdienst habe ein anderer, Josef Breuer, erworben zu einer Zeit, da ich Student und mit der Ablegung meiner Prüfungen beschäftigt gewesen sei (1880 bis {45}1882).[21] Aber wohlmeinende Freunde haben mir seither die Erwägung nahegelegt, ob ich meiner Dankbarkeit damals nicht einen unangemessenen Ausdruck gegeben. Ich hätte, wie bei früheren Veranlassungen, das „kathartische Verfahren“ von Breuer als ein Vorstadium der Psychoanalyse würdigen und diese selbst erst mit meiner Verwerfung der hypnotischen Technik und Einführung der freien Assoziationen beginnen lassen sollen. Nun ist es ziemlich gleichgültig, ob man die Geschichte der Psychoanalyse vom kathartischen Verfahren an oder erst von meiner Modifikation desselben rechnen will. Ich gehe auf dieses uninteressante Problem nur ein, weil manche Gegner der Psychoanalyse sich gelegentlich darauf zu besinnen pflegen, daß ja diese Kunst gar nicht von mir, sondern von Breuer herrührt. Dies ereignet sich natürlich nur in dem Falle, daß ihnen ihre Stellung gestattet, einiges an der Psychoanalyse beachtenswert zu finden; wenn sie sich in der Ablehnung keine solche Schranke auferlegen, dann ist die Psychoanalyse immer unbestritten mein Werk. Ich habe noch nie erfahren, daß Breuers großer Anteil an der Psychoanalyse ihm das entsprechende Maß von Schimpf und Tadel eingetragen hätte. Da ich nun längst erkannt habe, daß es das unvermeidliche Schicksal der Psychoanalyse ist, die Menschen zum Widerspruch zu reizen und zu erbittern, so habe ich für mich den Schluß gezogen, ich müßte doch von allem, was sie auszeichnet, der richtige Urheber sein. Mit Befriedigung füge ich hinzu, daß keine der Bemühungen, meinen Anteil an der vielgeschmähten Analyse zu schmälern, je von Breuer selbst ausgegangen ist oder sich seiner Unterstützung rühmen konnte.

Der Inhalt der Breuerschen Entdeckung ist so häufig dargestellt worden, daß deren ausführliche Diskussion hier entfallen {46}darf: die Grundtatsache, daß die Symptome der Hysterischen von eindrucksvollen, aber vergessenen Szenen ihres Lebens (Traumen) abhängen, die darauf gegründete Therapie, sie diese Erlebnisse in der Hypnose erinnern und reproduzieren zu lassen (Katharsis), und das daraus folgende Stückchen Theorie, daß diese Symptome einer abnormen Verwendung von nicht erledigten Erregungsgrößen entsprechen (Konversion). Breuer hat jedesmal, wo er in seinem theoretischen Beitrag zu den „Studien über Hysterie“ der Konversion gedenken muß, meinen Namen in Klammern hinzugesetzt, als ob dieser erste Versuch einer theoretischen Rechenschaft mein geistiges Eigentum wäre. Ich glaube, daß sich diese Zuteilung nur auf die Namengebung bezieht, während sich die Auffassung uns gleichzeitig und gemeinsam ergeben hat.

Es ist auch bekannt, daß Breuer die kathartische Behandlung nach seiner ersten Erfahrung durch eine Reihe von Jahren ruhen ließ und sie erst wieder aufnahm, nachdem ich, von Charcot zurückgekehrt, ihn dazu veranlaßt hatte. Er war Internist und durch eine ausgedehnte ärztliche Praxis in Anspruch genommen; ich war nur ungern Arzt geworden, hatte aber damals ein starkes Motiv bekommen, den nervösen Kranken helfen oder wenigstens etwas von ihren Zuständen verstehen zu wollen. Ich hatte mich der physikalischen Therapie anvertraut und fand mich ratlos angesichts der Enttäuschungen, welche mich die an Ratschlägen und Indikationen so reiche „Elektrotherapie“ von W. Erb erleben ließ. Wenn ich mich damals nicht selbständig zu dem später von Moebius durchgesetzten Urteil durcharbeitete, daß die Erfolge der elektrischen Behandlung bei nervösen Störungen Suggestionserfolge seien, so trug gewiß nichts anderes als das Ausbleiben dieser versprochenen Erfolge die Schuld daran. Einen ausreichenden Ersatz für die verlorene elektrische Therapie schien damals die Behandlung mit Suggestionen in tiefer Hypnose zu bieten, die ich durch die äußerst eindrucksvollen Demonstrationen von {47}Liébault und