Why Jack? - Bodo Steinberg - E-Book

Why Jack? E-Book

Bodo Steinberg

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Beschreibung

Fest entschlossen, mehr über seinen amerikanischen Vater und dessen Familie in Tennessee herauszufinden, macht sich Ralph Ahrendt auf den Weg nach Somerville, dem Geburtsort seines Vaters. Schon bald entwickelt sich die Suche nach Antworten zu einem Familiendrama, das trotz Wiedersehensfreude durch Lügen, Intrigen und Mord sein Leben auf den Kopf stellt.

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Why Jack? –Eine Tennesseestory

Bodo Steinberg

Roman

Alle Rechte, insbesondere aufdigitale Vervielfältigung, vorbehalten.

Keine Übernahme des Buchblocks in digitaleVerzeichnisse, keine analoge Kopieohne Zustimmung des Verlages.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buchesunter Hinweis auf den Verlag jederzeit freiverwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung desCoverbildes ist nur mit Zustimmungdes Verlages möglich.

www.net-verlag.de

Überarbeitete erste Auflage des net-Verlags 2021

Erstveröffentlichung unter dem Titel:

»Das Grab in Tennessee«

© Text: Bodo Steinberg

© Coverbild: Bodo Steinberg

Covergestaltung, Layout & Lektorat: net-Verlag

© net-Verlag, 09125 Chemnitz

ISBN 978-3-95720-301-4

eISBN 978-3-95720-327-4

Für meine Mutter

Inhaltsverzeichnis

1. KapitelDie Geburtstagsfeier

2. KapitelSomerville, Tennessee

3. KapitelDer Tod kam durch die Hintertür

4. KapitelDer Watov-Clan

5. KapitelZurück in die Vergangenheit

6. KapitelAlles ist nicht genug

7. KapitelDas Grab in Tennessee

8. KapitelDer Neubeginn

Nachtrag

1. Kapitel

Die Geburtstagsfeier

Wenn ich geahnt hätte, was für ein Drama die Nachforschungen über die Familie meines 1978 in Somerville verstorbenen Vaters auslösen würden, ich hätte die Finger davongelassen. Aber wer konnte damals, im Herbst 2006, schon damit rechnen, dass es im Verlauf dieser Geschichte Tote und einen grausamen, weit zurückliegenden Mordfall geben würde, der mir bis heute eine Gänsehaut über den Rücken jagt, wenn ich an die Reise nach Tennessee denke?

Dabei begann alles vollkommen harmlos. Es war der 28. Oktober 2006, als ich auf die Geburtstagsfeier einer guten Bekannten ging. Nach langer Zeit wieder mal alleine, weil sich einen Monat zuvor meine Frau von mir getrennt hatte. Nach über vierundzwanzig gemeinsamen Jahren. Vielleicht nicht ganz unerwartet, doch in der Konsequenz und Endgültigkeit doch überraschend und für mich ohne erkennbare Vorwarnung.

Ich war daher nicht gerade in der besten Stimmung und hatte mir fest vorgenommen, schon bald wieder zu gehen, um ungestört meine Wunden lecken zu können.

Bis auf die Gastgeberin, deren Mann und den zwölfjährigen Sohn waren mir die Geburtstagsgäste unbekannt. Es waren, wenn ich mich richtig erinnere, vierzehn Erwachsene und drei oder vier Kinder anwesend. Im Grunde alles sympathische, weltoffene Menschen, unter denen sich nicht einmal einer der sonst auf jeder Feier so unvermeidlichen »Besserwisser« befand, die ihre Meinung jedem und allem überstülpen wollen. Und ich muss sagen, ich fühlte mich trotz meiner angeschlagenen Stimmungslage gut aufgehoben in dieser Runde.

Nach dem Nachmittagskaffee bildeten sich über das ganze Haus verteilt kleinere Gesprächsgruppen. Einige standen in der Küche zusammen, die Raucher versammelten sich auf der Terrasse, und ich gesellte mich zu fünf Leuten, die in einer gemütlichen Wohnzimmerecke auf schweren Ledersesseln und einer Couch bei gedämpftem Licht, einem vorzüglichen Cognac und italienischem Rotwein beisammensaßen. Man diskutierte über Politik, Sport, Kindererziehung und die aufkommende Gewalt an den Schulen, bis ein geplagter Hauptschullehrer plötzlich damit anfing, über die gute alte Zeit zu schwärmen, in der angeblich alles besser, friedlicher und harmonischer zugegangen war als heute. »Noch vor dreißig, vierzig Jahren waren die Schüler wesentlich besser in Deutsch, Geschichte und Mathe«, meinte er. »Es wäre undenkbar gewesen, dass einer seinen Lehrer beschimpft oder sogar physisch attackiert. Heute wissen die meisten Schüler kaum etwas über Geografie, die Geschichte ihres eigenen Landes und andere Kulturen. Es interessiert sie auch nicht die Bohne! Viel lieber hocken sie den halben Tag lang mit Brutalospielen am PC oder ›genießen das Leben‹ vor der Glotze. Aber wenn sie ein Bewerbungsschreiben aufsetzen müssen, kommen auf einer halben Seite zwanzig gravierende Rechtschreibfehler vor, und die Personalchefs schlagen entsetzt die Hände vors Gesicht.«

In meiner Ledersessel-Ecke kam es zu spontaner Zustimmung, aber auch zu lautstarken Protesten der jüngeren Generation.

Es dauerte nicht lange, bis die Mutter des Geburtstagskindes das Thema ansprach, was unsere Eltern nach dem Krieg leisten mussten, um ihre Familien über Wasser zu halten, welche Rolle damals die Väter als Ernährer und Beschützer hatten und wie sie ihre Erziehungsansichten umzusetzen versuchten.

Jeder erzählte aus seinen meist persönlichen Erfahrungen; es wurde viel gelacht, aber auch Meinungsverschiedenheiten ausdiskutiert, bis schließlich alles darauf wartete, dass auch ich etwas zum Besten gab. Aber damit geriet die Gesprächsrunde ziemlich abrupt ins Stocken. Denn mir wurde schon während der Unterhaltung schnell bewusst, dass ich so gut wie nichts über meinen Vater erzählen konnte. Das Wenige, das ich wusste, stammte von meiner Mutter. Er war Amerikaner und nach dem Krieg bei der Militärpolizei in Schleißheim tätig gewesen, wo sie ihn im Sommer 1945 auf dem Flughafen kennenlernte. Ihre guten Englischkenntnisse verhalfen ihr damals zu einer der heiß begehrtesten Stellen in der Region als Flughafenangestellte der amerikanischen Militärregierung. Sie arbeitete in einer Baracke, gleich hinter dem Hangar, den es heute noch gibt.

Über ein Jahr lang machte er ihr den Hof und umwarb sie mit einer nie erlahmenden Hartnäckigkeit, bis sie irgendwann im Frühjahr ’46 inoffiziell zusammenzogen.

Inoffiziell deswegen, weil es von der damaligen Militärregierung nicht gerne gesehen wurde, wenn sich Soldaten der Army auf ein festes Verhältnis mit deutschen Frauen einließen.

Meine Mutter wehrte sich lange, aber vergeblich gegen ihre Gefühle, das gemeine, hinterhältige Getratsche der Leute im Ort und ihre verächtlichen Blicke. Für sie war sie nichts weiter als eine von »diesen Amihuren«, die nur wegen der besseren Verpflegung und anderer Vorteile mit einem GI ins Bett stiegen.

Mir war das, genauso wie meinem Vater, ziemlich egal; ich kam trotzdem eineinhalb Jahre später auf die Welt.

1952 ging er wieder in seine Heimat nach Tennessee zurück. Eigentlich sollte ich ihn dabei begleiten. Aber meine Mutter hatte sich und mich am Tag seines Abfluges bei einer Bekannten versteckt. Sie wollte, dass ich in Deutschland aufwuchs. In meiner Erinnerung ließ er nur ein stark verblasstes, fast unwirklich erscheinendes Bild zurück. Meine Mutter hatte mir von sich aus kaum etwas von ihm erzählt. Sie gingen im Streit auseinander.

Meine Fragen nach ihm hielten sich in den ersten Kinderjahren in Grenzen. Es passierte für einen vierjährigen Jungen einfach zu viel an aufregenden Dingen in dieser entbehrungsreichen, aber ungewöhnlich spannenden und schicksalhaften Nachkriegszeit. Dass sich meine Mutter fast täglich mit ihren Lebensmittelmarken anstellen musste, um ein paar Grundnahrungsmittel zu ergattern, ging fast unbemerkt an mir vorüber, aber die an uns vorbeidonnernden amerikanischen Panzer- und Lkw-Kolonnen und die Soldaten, die auf ihren stählernen Ungetümen saßen und uns Kinder regelmäßig mit Schokolade, Orangen und Keksen bewarfen, an die konnte ich mich wesentlich besser erinnern.

Aber die Nachkriegszeit hatte auch ihre kleinen und großen Dramen. Überall lagen Granaten, Flugzeugbomben und andere »Blindgänger« herum, von denen manche erst Jahre nach dem Ende des Kriegs ihre späten Opfer fanden. So wie meinen damaligen großen Blutsbruder Horst Weber, der immer auf mich aufgepasst und jeden verprügelt hatte, der mir blöd kam. Vor meinen Augen riss ihm eine explodierende Granate das rechte Bein weg, auf die er versehentlich getreten war.

Wenn ich trotz dieser Ereignisse, die mich oft Tag und Nacht beschäftigten, doch einmal etwas mehr über meinen »Dad« wissen wollte, wurde meine Neugier von meiner Mutter sehr schnell auf andere, wie sie meinte, »wichtigere« Dinge gelenkt.

Als wir 1953 nach München umzogen und meine Mutter nur ein halbes Jahr später einen gutaussehenden Witwer mit drei Kindern heiratete, hatte sie auch ganz andere Sorgen, als sich mit meinen Fragen um einen Mann zu kümmern, der für sie längst Vergangenheit war. Die Gegenwart war aufreibend und Zeit füllend genug. Unsere neu zusammengewürfelte Familie hatte nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Trotzdem erlebte ich eine herrliche, unvergleichliche Kindheit und Jugend.

Zu verdanken hatte ich das vor allem meinem »neuen Vater«. Einem fünfunddreißigjährigen, in München-Sendling geborenen Mann, der in der Mc-Graw-Kaserne bei den Amerikanern arbeitete. Mit seiner Größe von etwa 1,80 Meter, seinen schwarzen, lockigen Haaren und seinem dunklen Teint sah er aus wie ein Filmschauspieler. Fand ich jedenfalls. Er ließ mir genügend Freiräume, um mich auszutoben und weiterentwickeln zu können. Dazu verband uns von Anfang an eine gegenseitige, unkomplizierte Zuneigung.

Wir lebten am Stadtrand von München, in Obergiesing, umgeben von großen Grünanlagen, wildwachsenden Wiesen und Wald, und die herrliche Natur in den Isarauen konnte man in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad erreichen.

Bestimmt lag es damals auch an der Art meines Stiefvaters, dass ich die Fragen nach meinem »Erzeuger« so lange verdrängt hatte. Ich vermisste nichts, keine Vaterfigur, keine Freiheiten und keine Liebe. Aber die Stimme des Blutes lässt sich auf Dauer doch nie vollkommen zum Schweigen bringen, wie es so pathetisch heißt.

Ich wollte immer mehr wissen, je älter ich wurde. Es muss so um das Jahr 1980 herum gewesen sein, als ich meine Mutter wieder mit Fragen »nach ihm« zu bombardieren begann. Es war wie immer ein sehr anstrengendes Frage- und Antwortspiel. Die wichtigsten Daten, die ich ihr entlocken konnte, gab ich weiter an eine englischsprechende Freundin, die für mich einen Suchbrief formulierte. Voller Hoffnungen und wunderschöner Fantasien, wie unser Wiedersehen aussehen würde, schickte ich ihn an das »National Personnel Records Center«, Abteilung Military Personnel, nach St. Luis. Denn mein Vater war Offizier in der Air Force, und diese Zentrale besaß ein Archiv über Militärangehörige, das meine Suche nach ihm beenden sollte.

Nach über drei Monaten erhielt ich endlich eine Antwort aus den USA. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, wie ich den braunen DIN A 4-Umschlag aus dem Briefkasten holte, den Absender »The United States of America, Official Business« las, ihn noch im Treppenhaus aufriss und überflog.

Es waren nur vier handgeschriebene Zeilen, und ich brauchte für den niederschmetternden Inhalt keinen Übersetzer. Was »He is died« bedeutete, war mir auch bei meinen begrenzten Englischkenntnissen bewusst. Er war am 15. Juni 1978 gestorben.

Ich fühlte mich, als hätte mir jemand die Tür vor der Nase zugeschlagen. Die schon so lange in mir eingesperrte und immer wieder verdrängte Sehnsucht, ihn endlich kennenzulernen, fraß sich wie eine anschwellende Brandung, unabhängig von Verstand und Vergangenheit, in meinen Kopf. Wochenlang konnte ich an nichts anderes denken als daran, dass der Weg zu ihm endgültig und vorzeitig beendet war.

Wir würden uns in diesem Leben nie mehr sehen, nie mehr die Chance haben, uns wirklich kennenzulernen. Ich hatte, warum auch immer, viel zu lange gezögert.

An was er gestorben war, wo er beerdigt wurde, wo sein letzter Wohnort war und etwas über seine Familie, all das blieb auch nach einem weiteren Schreiben an das »National Personnel Records Center« unbeantwortet. Gab es dafür einen Grund?

Er wurde nur 56! Bestimmt kein normales Alter, um von dieser Welt abzutreten. Ich machte mir meine eigenen Gedanken darüber.

Die Zeit verging, Freundin, Beruf, Karriere, die Gründung eines eigenen Heims, all das verlangte verstärkt meine Aufmerksamkeit und bestimmte mein tägliches Leben.

Trotzdem bestand immer ein enger Kontakt zu den Eltern, im Gegensatz zu meinen Stiefgeschwistern, die ich fast nicht mehr sah.

1996 starb mein Stiefvater nach einer Hüftgelenksoperation. Er war nach dem »erfolgreichen Eingriff« (Ärztejargon) nicht mehr aus der Narkose erwacht und monatelang ins Koma gefallen. Er starb, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben, geräuschlos wie ein verwelktes Blatt vom Baum.

Ich konnte es lange nicht begreifen, dass viele Menschen, die ihn gut kannten, kaum Notiz davon nahmen. Wo blieben in seinen schweren letzten Tagen und Wochen die sogenannten »besten Freunde«, die zahlreichen Kriegs- und Schützenkameraden, die inzwischen teilweise erfolgreiche Geschäftsleute oder wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren? Sie beschäftigten sich wahrscheinlich, wie die meisten, ausschließlich mit ihren eigenen persönlichen Aktivitäten, den kleinen und großen Verdiensten um die Welt und dem alltäglichen Hinterherhecheln nach Glück, Geld und Anerkennung.

Auf der Beerdigung, auf der plötzlich Hunderte »Schützenkameraden«, Fahnenträger und vorher nie gesehene Personen einen »bunten und imposanten Abschiedszirkus« veranstalteten, wurde mir schmerzhaft bewusst, wie geräuschlos und vollkommen nebensächlich das Leben jeden Tag irgendwo verlischt und im Nichts verschwindet.

Als ich in der Nacht von der Geburtstagsfeier im Oktober 2006 nach Hause fuhr, ließen mich die Fragen nach meinem »anderen« Vater und seiner mir vollkommen unbekannten Familie im fernen Amerika nicht mehr los.

Gleich am nächsten Tag fuhr ich zu meiner Mutter und bat sie, mir alles, wirklich alles über meinen Vater und die Watovs zu erzählen. Aber sie war einsilbig wie immer, sie wollte nicht, dass ich Nachforschungen über ihn anstellte, und auch meine aufkommende Verärgerung über ihre sture Haltung änderte nichts an dieser Einstellung.

Und so war es nicht viel, was ich ihr damals an Neuigkeiten entlocken konnte.

»Lass dieses ständige Nachbohren und Rumwühlen in der Vergangenheit! Was vorbei ist, ist vorbei. Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück.« Sie sagte es mit ihrer rauen, brüchigen Stimme, und ein feuchter Glanz auf ihren Augen erklärte mehr als tausend Worte.

Von wegen alles vorbei, alles Steinzeit und schon lange vergessen. »Dein Vater war ein sehr emotionaler und krankhaft eifersüchtiger Mann. Wenn mich ein Bekannter nur ein paar Sekunden länger ansah, als er es für angemessen hielt, stellte er ihn sofort zur Rede oder brach eine Prügelei vom Zaun. Er ging auch sonst keinem Streit aus dem Weg, ja, er suchte in berüchtigten Lokalen und Bars sogar danach. Natürlich nannte das dein Vater mir gegenüber ganz anders. Er sprach immer davon, dass er seine Landsleute in Zaum halten müsse. Er wollte ihnen nur Grenzen aufzeigen, die sie nie überschreiten durften, um zu unzivilisierten wilden Tieren zu werden. Seine Brutalität und sein tanzender Gummiknüppel als MP waren in der ganzen Gegend gefürchtet. Betrunkene oder randalierende GI’s verdrückten sich lieber durch den Hintereingang oder das Toilettenfenster, wenn er mit seinem Bruder ein Lokal betrat, als den zweien zu begegnen. Es wäre nicht gutgegangen, wenn ich ihm mit dir in die USA gefolgt wäre. Ich weiß es. Es wäre nicht gut gegangen …« Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit großen traurigen Augen an.

Es schien, als wäre die Zeit nach dem Krieg plötzlich und heftig über sie hergefallen. Und es war nicht viel stehen geblieben von ihrem Schutzwall, den sie jahrzehntelang um sich aufgebaut hatte. Einmal zurückerinnert – und schon lag alles in Trümmern. Sie hatte nichts verarbeitet, nur verdrängt. Sechzig Jahre lang.

Doch nach diesem Tag, an dem ich für einen kurzen Moment in ihr gut gehütetes »Verlies« blicken konnte, verfiel sie wieder in ihr Schweigen und begann damit, ihren eingestürzten Wall Stein für Stein wiederaufzubauen, um sich dahinter zu verkriechen. Und ich konnte nichts dagegen tun.

Was ich an wirklichen Fakten bis zu diesem Tag wusste, war, dass mein Vater in Tennessee, drei Jahre nach seiner Rückkehr, eine Barbara Ann geheiratet hatte, dass er am 15. Juni 1978 im Alter von 56 Jahren in Somerville, seinem Geburtsort, gestorben war und dass es einen jüngeren Bruder mit dem Namen Frank gab. Ob er noch weitere Geschwister oder Kinder hatte, wie seine Eltern hießen, wo die Familie lebte – das alles lag nach wie vor im Dunklen.

Geburtstag, Geburtsort, Todesdatum, von 1942 bis 1952 bei der Army, zuletzt als MP in Oberschleißheim tätig, eine Sozialversicherungsnummer und ein Bruder, von dem ich außer dem Namen nichts wusste. Sollte das wirklich alles sein, was ich über meinen Vater und seine Familie in Erfahrung bringen konnte? Nein, damit wollte ich mich nicht zufriedengeben. Jetzt nicht mehr.

Am nächsten Tag versuchte ich, über das Internet mehr zu erfahren. Ich gab über die beiden großen Suchmaschinen seinen Familiennamen, Somerville und Tennessee ein. Die Ausbeute war ziemlich mager. Dazu kam, dass mir meine unzureichenden Englischkenntnisse ein paar Hürden in den Weg legten, die ich ohne zusätzliche Übersetzungshilfe nicht überwinden konnte.

Aber ich hatte Glück. Meine Bekannte, die mich zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen hatte, sprach sehr gut Englisch, und sie war bereit, mich bei meiner Suche tatkräftig zu unterstützen.

Sie fand über ein Familienregister heraus, dass es drei Familien mit dem Namen Watov in Somerville gab. Bei zweien war sogar eine Internetadresse angegeben. Sie übersetzte meine Schreiben ins Englische, schickte zwei an die Watovs mit der E-Mail-Adresse und eines an eine Genealogy-Company, die sich angeboten hatte, mir bei meinen Familiennachforschungen zu helfen.

Aber auch nach wochenlangem Warten und mühevollem Hin- und Hermailen kam ich keinen Schritt weiter. Entweder erhielt ich gar keine Antwort oder eine, mit der ich nicht viel anfangen konnte. Und als mir die amerikanische Genealogy-Company endlich mitteilte, welchen Betrag sie sich für ihre Bemühungen vorstellte, war auch klar, dass ich auf diese professionelle Hilfe verzichten musste.

Meine Enttäuschungen wurden täglich größer, die Misserfolge häuften sich. Immerhin gelang es uns irgendwann herauszufinden, dass es ein Watov-Familiengrab auf einem kleinen Baptistenfriedhof in Somerville gab. Aber mein Vater wurde nicht darin, sondern an einem anderen, abseits gelegenen Platz dieses Friedhofs beerdigt.

Natürlich stellten sich dabei unweigerlich die Fragen: Warum war das so? Und woran war er gestorben mit nur 56 Jahren?

Das Einzige, das mir spontan dazu einfiel, waren Krankheit und Unfall. Oder er war das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Auch Selbstmord kam in Betracht.

Was wusste ich schon, unter welchen Umständen er zuletzt lebte, welche Schicksalsschläge er zu verkraften hatte? Das würde eventuell sogar sein abseitsgelegenes Grab erklären.

Dass es noch einen ganz anderen realistischen, aber schrecklichen Todesgrund geben konnte, erfuhr ich erst viel später. Er kam mir zu diesem frühen Zeitpunkt meiner Nachforschungen nicht für den Bruchteil einer Sekunde in den Sinn.

Nach diesen ersten Tagen und Wochen der Spurensuche konnte ich kaum noch ruhig schlafen. Es war eine Art Fieber, ein Gemisch aus Neugier, Abenteuerlust und Sehnsucht, die mich gepackt hatte und nicht mehr losließ.

Am Tag und teilweise auch in der Nacht hing ich stundenlang im Internet, und in meinen unruhigen Schlafphasen durchwühlten mich die unglaublichsten Gedanken und Fantasievorstellungen über das Auffinden und Kennenlernen meiner amerikanischen Familie.

Aber meine Hoffnungen nach einer Kontaktaufnahme mit einem Watov aus der direkten Linie meines Vaters oder zumindest zur nächsten Generation wurden auch durch die selbstlose Unterstützung meiner Bekannten nicht erfüllt. Sie setzte ihr ganzes Wissen und Können in ihrer Freizeit ein, durchforstete das Internet bis in die geheimsten Winkel, doch ihre Nachforschungen erwiesen sich als zeitaufwendig, kompliziert und teilweise auch als zu teuer.

Als wir nach fünf Wochen nur unwesentlich weitergekommen waren, entschloss ich mich dazu, einfach nach Tennessee zu fliegen, um direkt vor Ort weiterzusuchen. Zumindest das Grab meines Vaters würde ich sehen, ich konnte mich endlich von ihm verabschieden, wenn auch nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte.

Vielleicht war es auch möglich, von ehemaligen Nachbarn, in Kneipen und Geschäften der näheren Umgebung oder der Kirche etwas mehr über ihn und seine Familie in Erfahrung zu bringen? Einwohnermeldeämter oder Rathäuser wie in Deutschland, die man mit solchen Fragen aufsuchen kann, gibt es in den Vereinigten Staaten leider nicht, wie ich leidvoll erfahren musste. Dort kann sich jeder niederlassen und leben, wo er möchte, ohne sich bei einer Behörde an- oder abzumelden. Es war mir darum schon bewusst, dass es unter Umständen ein mühsamer »Hürdenlauf« werden könnte, der in Somerville auf mich wartete.

Meine Neugier und vor allem meine Ungeduld stiegen trotzdem langsam ins Unermessliche. Am liebsten wäre ich sofort in ein Flugzeug gestiegen und nach Tennessee geflogen. Aber ich brauchte auf jeden Fall einen Dolmetscher, und noch hatte ich nicht die geringste Ahnung, was solch ein Flug und der Aufenthalt dort kosten würden. Doch das empfand ich inzwischen als relativ kleines Problem, so etwas konnte mich zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr von meinem im Kopf längst entschiedenen Abenteuer abhalten. Ich wollte nach Somerville, nein, ich musste nach Somerville, egal, welche Hindernisse noch zu überwinden waren.

Doch es wurde schon von Beginn an schwieriger, als ich dachte. Vor allem die Suche nach einem geeigneten Dolmetscher entpuppte sich als sehr problematisch.

Der Mann meiner Bekannten war wenig begeistert von der Idee, dass ich mit seiner Frau in die USA reisen wollte, was ich durchaus nachempfinden konnte. Meine Mutter, noch immer verbittert, wollte nicht, und in meiner näheren und weiteren Bekannt- und Verwandtschaft fand sich selbst bei intensivster Suche ebenfalls niemand, der für eine solche Exkursion infrage kommen würde. Denn es musste schon jemand sein, dem ich vertrauen konnte, der sehr gut Englisch sprach, selbst ein Interesse an der ganzen Sache hatte und der Zeit und Geld für zumindest eine Woche Tennessee mitbringen würde. Und diese Voraussetzungen alle unter einen Hut zu bringen, erwies sich als sehr schwierig.

Inzwischen war es Dezember geworden, und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich in diesem Jahr den Flug vergessen konnte. Auch aus finanziellen Gründen. Im Internet fand ich kein einziges Angebot unter 780 Euro nach Memphis hin und zurück. Wenn man den Leihwagen, die Übernachtungen, die Selbstversorgung und das Geld für ein paar Ausflüge auf dem Mississippi, in den Great Smoky Nationalpark oder nach Nashville (wenn man schon mal in Tennessee war) dazurechnete, war schnell klar, dass ich mich zumindest bis zum Frühjahr 2007 zügeln musste, um genügend Geld anzusparen.

Völlig überraschend fand sich Mitte Dezember doch noch ein geeigneter Begleiter für meine »Abenteuerreise«, an den ich vorher überhaupt nicht gedacht hatte. Thomas Weißenberger, der 17-jährige Sohn unseres Nachbarn, hatte, wie es auf dem Land üblich ist, um sieben Ecken herum von meinem Vorhaben erfahren. Er sprach mich vor der Garage an, als ich gerade ins Auto steigen wollte: »Hallo, Ralph. Ich habe gehört, dass du in Amerika deinen Vater suchen willst.«

Ich mochte Thomas, wir hatten immer einen guten Draht zueinander und schon mehrere Ausflüge zu Burgen oder mittelalterlichen Städten gemacht. Er konnte sich, genau wie ich, für Geschichte und die Suche nach längst versunkenen Welten begeistern, und … er hatte auf dem Gymnasium immer eine glatte Eins in Englisch, wie mir spontan einfiel, als er vor mir stand! Aber genau an diesem Tag, an dem er mich ansprach, hatte ich ein paar wichtige, unaufschiebbare Termine zu erledigen. Wir verabredeten uns darum an einem Samstagnachmittag, kurz vor Weihnachten.

Bei einer Tasse heißem Tee und vorweihnachtlichem Gebäck erklärte ich ihm nicht ohne Hintergedanken, wie ich zugeben muss, was ich vorhatte und zeigte ihm in einem gut sortierten Album die schon leicht vergilbten Schwarzweiß-Fotografien meines Vaters, meiner Mutter und mir in Oberschleißheim.

Ich musste nicht lange um den heißen Brei herumreden. Und das Beste dabei: Seine spontane Begeisterung und sein Optimismus wirkten absolut ansteckend. Meine langsam aufgekommenen Zweifel, ob es doch noch was werden würde mit meiner kurzfristig angestrebten Tennessee-Reise, waren im Handumdrehen verflogen.

Doch eine kleine »Kleinigkeit« galt es noch zu klären: Er hatte kein Geld. Außer knapp zweihundert Euro auf einem Sparbuch, das sein Vater für ihn angelegt hatte und das er inzwischen immer wieder für »dringend notwendige Ausgaben« strapazierte.

Nach kurzer Überlegung und einem kritischen Blick auf meinen Kontostand, bot ich ihm an, den Flug zu bezahlen. Den Rest und vor allem das Einverständnis, mich begleiten zu dürfen, musste sein Vater beisteuern.

Gerhard Weißenberger, der Vater von Thomas, war ein Mann, der für mich schwer einzuschätzen war. Durch den Kontakt, den wir seit vielen Jahren zu ihm und seiner Familie hatten, wusste ich nur, dass er ein Freund von schnellen und endgültigen Entscheidungen war. Ich war mir nicht sicher, was er von unserem Plan halten würde, aber eines war klar: Die Frage, ob eine solche Reise für seinen Jüngsten von Vorteil war oder nicht, stellte er sich auf jeden Fall. Und darauf richtete ich meine Strategie aus. Wenn ich ihn überzeugen wollte, musste es beim ersten Mal klappen. Eine zweite Chance würde ich nicht bekommen.

Er hörte sich meine Geschichte durchaus interessiert und bei einem guten Glas Bordeaux an. Ich schilderte ihm ausführlich, welche Ausflüge ich in Tennessee machen wollte und dass die Nachforschungen nach der Familie meines Vaters höchstens zwei, drei Tage in Anspruch nehmen würden. Außerdem wäre eine Sprachauffrischung in einem englischsprechenden Land immer ein Gewinn für Thomas.

»Und so billig wird dein Junge auch nie mehr in die USA fliegen können«, versuchte ich, ihn am Ende meiner Ausführungen auch noch mit der finanziellen Seite zu ködern.

Meine »Honigfallen« erwiesen sich als erfolgreiche Entscheidungshilfen und bescherten mir den erhofften Erfolg. Nach kurzer Überlegung meinte er, dass es wirklich nicht schaden könne, wenn Thomas etwas mehr Praxis in der englischen Sprache erhält und sich den Wind einer anderen Kultur um die Nase wehen lässt. Außerdem wusste er, dass wir uns gut verstanden und dass sein Junge bei mir gut aufgehoben war.

Und so machte ich mich schon am darauffolgenden Tag im Internet gezielt auf die Suche nach einem günstigen Flug, einem Leihwagen und einem guten und bezahlbaren Hotel. In einer kleinen Altstadt-Buchhandlung fand ich geeignete Straßenpläne und einen Reiseführer.

Zwei Tage später war das Wichtigste besorgt, damit wir uns in Tennessee gut zurechtfinden konnten. Auch ein interessantes Buch über das Heimatland meines Vaters hatte ich gekauft, in das ich mich die nächsten Wochen immer wieder vergrub. Schon nach den ersten Seiten war ich begeistert von dem, was ich sah. Die Landschaften strahlten vor allem im Herbst und Frühjahr eine geradezu majestätische Weite und Unberührtheit aus. Der Cumberland-River wand sich zumindest auf den Buchseiten durch rote Sandsteinschluchten und dichte Laubwälder, und die bizarren Felsformationen, in Jahrhunderten durch Wind, Wasser und Sonne geformt, erinnerten an Bilder aus Sagen und Märchen.

Ich fühlte mich schon zu Hause, bevor ich das Land zum ersten Mal betreten hatte.

Und doch lag alles, was ich über das ferne Tennessee wusste und sah nur hochglanzgebunden auf meinen Knien.

Wir wählten den 4. April für unseren Abflugtag. Am 12. April sollte es wieder nach Hause gehen. Der Termin lag in den Osterferien und würde daher perfekt passen.

Jetzt mussten wir nur noch zwei Flugtickets bekommen, was während der Ferienzeit nicht ganz einfach war. Nach einigen vergeblichen Anläufen hatte ich schließlich Erfolg. Ein kleines Reisebüro am Stadtrand konnte uns noch zwei freie Plätze für einen Etappenflug nach Tennessee reservieren.

Die relativ preisgünstige Verbindung ging mit der Lufthansa um 8:30 Uhr von München nach Frankfurt, wo wir erstmals umsteigen mussten. Drei Stunden später würde uns die American Airlines über den Großen Teich nach Charlotte/North Carolina bringen. Dort sollten wir nach eineinhalb Stunden Aufenthalt mit einer kleineren Maschine nach Memphis weiterfliegen. Vorausgesetzt wir kamen in der vorgesehenen Zeit in Charlotte an. Wenn nicht, konnten wir erst vier Stunden später auf den Provinzflughafen in Jackson ausweichen. Das alles war etwas umständlich, aber immerhin kamen die Buchungsbestätigungen und Tickets pünktlich und wie vorhergesagt bei mir an.

Wir trafen uns noch ein paarmal, besprachen unsere Vorgehensweise, studierten die Karten und verfolgten die Highways und andere Straßen vom Flughafen in Memphis mit dem Finger bis nach Somerville, dem Geburtsort meines Vaters.

Eine Mrs. Gladys Blacksmith vom Daisy Inn, bei der ich in Somerville per Internet gebucht hatte, schickte mir schon kurz nach der Buchung ein paar Unterlagen zu.

Das Außenfoto der Hotelanlage sah nett aus, die Lage schien idyllisch und ruhig in einem Park gelegen, unsere Zimmer waren groß und gemütlich eingerichtet. Sie waren mit einer Dusche und dem WC auf dem Flur ausgestattet, es gab jeden Morgen zwischen 6 und 10 Uhr ein angeblich reichhaltiges Westernfrühstück, und unter den beigelegten Faltblättern mit lohnenden Ausflugszielen befand sich auch ein ausführliches über Somerville.

Der Ort war recht klein, trotzdem Kreisstadt des Fayette County, hatte ein College, eine Baptist- und eine Christian Church mit dazugehörigem Friedhof und als Hauptattraktionen ein altes Fort und ein Geschichtsmuseum. Eine Luftaufnahme zeigte, dass die Häuser teilweise weit auseinanderlagen und der Ortsplan verriet, dass es eine lange schmale Straße gab, die tatsächlich Watov-Road hieß! Sie führte aus der Stadt zu einem abseits gelegenen Anwesen. Ich dachte zuerst, dass ich mich verlesen hatte, aber auch nach dem zweiten und dritten Hinschauen stand da auf dem Plan noch immer dasselbe: Watov-Road!

Eine Straße mit dem Namen meines Vaters. Zufall?

Ich empfand diese völlig unerwartete Information jedenfalls eher wie einen Wink des Schicksals.

Je näher der Tag der Abreise rückte, desto nervöser wurde ich. Aber auch Thomas hatte eine Woche vor dem 4. April ein Reise- und Abenteuervirus befallen. Die Tage dehnten und streckten sich, die Zeit tropfte nur noch langsam aus dem Kalender.

Aber dann war es endlich so weit. Ich war bereits seit 5 Uhr auf den Beinen, stand an der Terrassentür und sah der Sonne dabei zu, wie sie eine fast schlaflose Nacht allmählich verdrängte.

Gerhard Weißenberger brachte uns, selbst noch ein wenig morgenverknittert, zum Flughafen.

Um 7 Uhr waren wir da. Pünktlich um 8:30 Uhr hob unsere Maschine nach Frankfurt ab. Mit 276 Passagieren an Bord; und uns beiden. Bis an die Zähne bewaffnet mit guten Wünschen, einer gehörigen Portion Neugier und einem gesunden Optimismus.

Wir hatten eine gute Stunde Flugzeit nach Frankfurt, achteinhalb Stunden bis nach Charlotte in North Carolina und noch einmal knapp zwei bis nach Memphis.

Die Flüge verliefen relativ ruhig und ohne besondere Zwischenfälle. Nur die extreme Enge in der Business-Class und die stundenlange Sitzerei in der American Airlines-Maschine von Frankfurt nach Charlotte waren eine Qual. Ich fühlte mich wie in eine Konservendose gepresst, Thomas musste mit seinen langen Beinen noch mehr leiden.

Mit den Wartezeiten in München, Frankfurt und Charlotte waren wir gute 17 Stunden unterwegs.

Es war schon dunkel, als wir in Memphis endlich aus unserer kleinwüchsigen Boing steigen konnten. Müde und mit steifen Gliedern ging es mit einem Flughafen-Bus zur Passkontrolle und dann weiter zur Gepäckausgabe. Eine halbe Stunde später saßen wir in unserem reservierten Leihwagen und fuhren durch die nächtliche Metropole Richtung Somerville.

2. Kapitel

Somerville, Tennessee

Die bunten Lichter der Innenstadt zerflossen auf dem nassen Asphalt, der Scheibenwischer schaufelte in monotonen Intervallschüben die Regenschleier der vor uns fahrenden Autos von der Windschutzscheibe. Unser Leihwagen, ein mittelgroßer Ford Automatik, schnurrte leise über die breiten Ausfallstraßen des International Airport an den nordöstlichen Stadtrand hinaus.

Thomas hatte das Radio eingeschaltet, Sinatras trauriges »Send in the clowns« ließ mich in eine sentimentale Stimmung absacken. Der lebhafter werdende Verkehrsstrom nahm uns in einem gemächlich dahinfließenden Tempo auf; wir glitten problemlos durch den gut sortierten Schilderwald der Hauptverkehrsstraßen, die uns zum Highway nach Somerville bringen sollten.

Schon nach fünfzehn Minuten hatten wir die Außenbereiche von Memphis erreicht, das Lichtermeer der pulsierenden Großstadt zog sich langsam zurück, die Straßenbeleuchtung hörte auf, und die Nacht verschluckte uns von einer Sekunde zur anderen. Nur die breiten Lichtbalken unserer Scheinwerfer zeigten uns auf dem Highway 64 den Weg durch die hügelige Landschaft nach Somerville. Frank Sinatras Lieder kullerten wie Stimmungslawinen aus den vorbeiziehenden Hängen in unsere müden Gehirne, jeder hing seinen Gedanken nach.

Ich dachte an meinen Vater, so, wie sich mein Gedächtnis noch an ihn erinnern konnte und wie ihn die alten Schwarzweißfotos in meinem Album zeigten. Ernst und etwas melancholisch, mit braunen Augen, schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren und dem eigenwilligen, kleinen Mund, der so aussah, als wolle er mit seinem Trotz die ganze Welt aus den Angeln heben. Seine Stimme drang dunkel und fremd aus der Nacht. »Hey, my boy! How are you?«

Ich lächelte unwillkürlich. Das waren fast immer die ersten Worte, die er mir zurief, wenn er nach Hause kam und mich in die Höhe stemmte. Erzählte mir zumindest einmal meine Mutter, als sie ausnahmsweise für kurze Zeit ihr beharrliches Schweigen gebrochen hatte.

Was wäre er für ein Mensch, wenn er vor mir stünde, ohne dem prägenden »Wissen« und den Schilderungen einer bis heute tief verletzten Seele? Ich wusste nicht mehr, wie ich mit vier, fünf Jahren zu ihm stand. Hatten wir uns geliebt und vertraut, oder war ich ihm von Anfang an fremd und gleichgültig, wie meine Mutter behauptete? Wie weit zurück in seine Kindheit kann man sich überhaupt erinnern?

Jetzt, da er seit fast dreißig Jahren tot war, bewegten mich diese Fragen plötzlich weit mehr als zu seinen Lebzeiten, die ich in einer vollkommen anderen Welt als er verbrachte. Unser viel zu früh beendetes Vater-Sohn-Verhältnis zeichnete sich nur verschwommen in meinen Erinnerungen ab.

Wo war er nach seiner Rückkehr gelandet, wohin hatten ihn neue Befehle der US Airforce getrieben? Aufs nächste Schlachtfeld, nach Vietnam oder nach Korea? Würde ich mehr über ihn und seine Familie erfahren? Hier, in seiner Heimat, die er so sehr geliebt hat, wie mir meine Mutter kurz vor unserer Abreise erzählte. Somerville.

Das kleine Schild vor den Reklametafeln am Ortseingang schreckte mich aus meinen Gedanken hoch. Ich sah zu Thomas hinüber. Er war eingeschlafen.

Die viktorianischen Häuser der Stadt in ihren weitläufigen, offenen Grundstücken wirkten auf eine unaufdringliche Weise vornehm und freundlich zugleich. Straßen, Plätze und Parkanlagen waren ungewöhnlich sauber und von exotisch anmutenden Bäumen und Sträuchern umsäumt.

Ich weckte Thomas. Er sah sich verwirrt um. »Sind wir schon da?«

»Am Hotel noch nicht. Aber wir sind zumindest in Somerville angekommen. Du kannst dich bei der nächsten Gelegenheit gleich nützlich machen und dich nach dem Weg zum Daisy Inn erkundigen.«

Er gähnte mich mit offenem Mund an und rieb sich die Schläfrigkeit aus den Augen. Ich legte das als ein »selbstverständlich, lieber Ralph« aus.

An einer Tankstelle fragte er eine leicht missglückte Elviskopie hinter der Kasse nach unserem Hotel in der Red-River-Gorge-Road.

Der etwas in die Jahre gekommene Mann wusste sofort Bescheid und erklärte uns wort- und gestenreich, wie wir fahren sollten.

Fünf Minuten später bogen wir von der fast leergefegten Straße in den kleinen Wendekreis vor dem einstöckigen Hotel. Es sah unbewohnt aus, nur der rote Schriftzug Daisy Inn leuchtete mit einem unruhigen Flackern auf dem Dach zu uns herunter. Die hohen Fenster glotzten schwarz aus einer abblätternden gelben Fassade, und der durchaus imposante Holzbau mit den vier Säulen vor dem Eingangsportal hatte mit Sicherheit auch schon bessere Zeiten gesehen.

Wir luden unser Gepäck aus dem Kofferraum und stiegen die paar Stufen zum Eingang hinauf. Kein noch so schwacher Lichtschimmer verriet, ob noch jemand auf unser spätes Eintreffen warten würde.

Neben der Tür befand sich ein altmodischer Klingelzug. Ich zog vorsichtig daran, um ja nichts kaputtzumachen. Ein helles Bimmeln ertönte im Haus.

Überraschend flackerte schon nach ein paar Sekunden ein Licht hinter der verglasten Tür auf, das rasch näherkam. Eine alte Dame in einem langen, reich bestickten Kleid und aufgesteckten Haaren öffnete. Es schien, als komme sie geradewegs aus einer Zeit vor zweihundert Jahren. Sie streckte uns mit einem dünnen Arm, der aus der Dunkelheit zu wachsen schien, eine Öllampe entgegen. »Welcome in my old Daisy Inn and in Tennessee, Gentlemen.« Ihre Stimme wirkte honig-süß und relativ jugendlich, trotz ihres hohen Alters. Sie musste mindestens um die achtzig sein.

»The young man must be Mr. Tom Weißenberger and you are Mr. Ralph Ahrendt from Germany, right?« An Thomas’ Familiennamen wäre sie fast gescheitert.

Wir nickten ihr zu, sie lächelte uns an. Es wirkte eher routiniert und geschäftsmäßig als herzlich. Das flackernde Licht verlieh ihrem weißen, tief zerklüfteten Gesicht etwas Gespenstisches, der knallrot geschminkte Mund stach daraus hervor wie eine in Milch gefallene Kirsche.

»I’m Mrs. Gladys Blacksmith, Gentlemen. The owner of the hotel.« Sie reichte uns eine schmale, zerbrechliche Hand.

Thomas übernahm ganz in meinem Sinne sofort die Initiative.

Nach einigen Höflichkeitsfloskeln bat sie uns endlich ins Haus und schaltete hinter uns – oh Wunder – ein elektrisches Licht an.

Wir stellten die Koffer ab und sahen uns unauffällig um. Es war, als ob wir ins 18. Jahrhundert gestolpert wären. Die Eingangshalle, in der wir standen, hatte einen etwas verstaubten, morbiden Charme. Der mit Marmor umrahmte Kamin, in dem noch ein Feuer glomm, füllte die halbe Rückwand aus. Über dem Kaminsims hing ein großes Ölgemälde mit einer Flusslandschaft und einem berühmten Chateau, das mir irgendwie bekannt vorkam. Eine breite Treppe führte an der linken Seite in den 1. Stock, Seidentapeten schimmerten an den Wänden, während eine zierliche Rokoko-Sitzecke ein Ambiente von Luxus und Vergänglichkeit verbreitete. Nur ein recht plump aussehender Tresen für die Anmeldung und die abgenutzten Schlüsselfächer dahinter passten überhaupt nicht zur klassizistischen Leichtigkeit der Halle.

Ein Spiegel, der in Hüfthöhe in einem vergoldeten Rahmen neben mir an der Wand hing, zeigte mir gnadenlos mein müdes, ziemlich zerknautscht aussehendes Gesicht. Ich vermied es, im Vorbeigehen genauer hineinzusehen. Die Erinnerung an bessere Zeiten war mir in diesem Moment lieber.

Mrs. Blacksmith steuerte mit kurzen trippelnden Schritten die Treppe an. Auf der ersten Stufe blieb sie plötzlich stehen, drehte sich um und sprach mich lächelnd an. Sie stand dicht und in Augenhöhe vor mir.

Ich starrte wie hypnotisiert auf ihren knallroten Mund mit den rosa eingefärbten Zahnhälsen und verstand höchstens ein Drittel von dem, was sie sagte. Sie deutete mit ihrer Krallenhand nach oben und ging mit erstaunlich flotten Schritten die Treppe nach oben. Wir hatten Mühe, mit dem Gepäck hinter ihr herzukommen.

»Sie zeigt uns zuerst die Zimmer und bittet uns dann noch in den dining room. Sie hat eine Kleinigkeit für uns zubereitet«, raunte mir Thomas zu. »Ich denke, es ist auch in deinem Sinne, wenn ich ihr sage, wie toll wir die Zimmer und ihren alten Kasten finden und dass wir gleich runterkommen, sonst stehen wir noch bis übermorgen hier herum.«

»Tu das«, antwortete ich und lächelte Mrs. Blacksmith an, die stehen geblieben war und sich wieder zu uns umgedreht hatte. »Dafür habe ich dich schließlich mitgenommen. Du solltest ihr vielleicht auch noch sagen, dass du nur mein Translator bist und kein Verwandter oder so was. Sonst kommt sie noch auf irgendwelche absurde Ideen.«

»Nur ist gut«, meinte Thomas spöttisch. »Ohne mich würdest du hier wort- und verständnislos herumeiern. Und auf so einen Gedanken, dass ich mit dir verwandt sein könnte, würde sie sowieso nie kommen. Oder hast du vorhin im Spiegel eine Ähnlichkeit zwischen deiner verknitterten Alltagsvisage und meinen harmonischen Gesichtszügen gesehen?«

Mrs. Blacksmith hatte sich wieder nach vorne orientiert. Mein ausgestreckter Mittelfinger war als lautlose Antwort für sie daher unsichtbar.

Im ersten Stock schloss sie eine Tür auf, öffnete sie und ging sofort zur nächsten weiter. Die Zimmer sahen wirklich so aus wie in den Unterlagen, die ich von ihr zugeschickt bekommen hatte: groß, gemütlich und etwas altmodisch eingerichtet. Auch hier oben hatte jeder Raum einen offenen Kamin und ein großes Fenster, das auf einen Park hinausging. In der Dunkelheit war allerdings kaum etwas von ihm zu erkennen.

»Lovely rooms, Mrs. Blacksmith! And your hotel, … beautiful«, sülzte Thomas gleich los, als sie fragte, ob alles in Ordnung sei.

»It’s everything all right. We will come down in ten minutes!«

»It’s alright, Gentlemen. I’m waiting in the dining room«, kam die Antwort wie ein antrainiertes Echo zurück. Sie schien es als selbstverständlich anzusehen, dass wir die Zimmer und das Hotel bewunderten.

Und wieder fiel mir – wie schon bei unserer Begrüßung in der Eingangshalle – auf, dass sie eine Stimme wie eine junge Frau hatte.

Wir packten unsere Habseligkeiten aus und machten uns etwas frisch, bevor wir nach unten gingen.

Mrs. Blacksmith erwartete uns bereits. Wie eine Spinne saß sie nach vorne gebeugt in einer Ecke, die langen Finger krallten sich um die Stuhllehnen, die Arme hatte sie wie zum Sprung angewinkelt. Auf dem Tisch verteilte sich unter dem dürftigen Licht eines fünfarmigen Kerzenleuchters appetitlich Aussehendes auf Tellern und Schälchen.

»Roasted turkey, club sandwich and peanut brittle to dessert and Californian red wine«, klärte sie uns auf. Sie stellte die Köstlichkeiten ihrer Küche mit einer ausladenden Geste und einer angedeuteten Verbeugung vor.

Thomas beeilte sich gleich, ihr zu versichern, dass alles wonderful aussehen würde und sie sich nicht so viel Mühe hätte machen müssen zu so später Stunde.

Obwohl ich ebenfalls ziemlich beeindruckt war, sagte ich zu ihm, kaum dass wir uns gesetzt hatten: »Frag sie bitte gleich nach den Watovs. Je früher wir etwas erfahren können, desto besser.«

»Bist du dir sicher, dass wir schon heute Abend mit der Tür ins Haus fallen sollen?«

»Warum nicht, darum sind wir schließlich hier. Also, arbeite deine Unkosten ein bisschen herein, sonst kriegst du nichts zu essen.«

Er nickte zwar, aber statt sofort loszulegen, sah er sich erst einmal ungeniert um.

Ich schloss mich seiner Sightseeing-Tour an. Der dining room passte zu dem Ambiente, das wir bisher zu sehen bekommen hatten. Er hatte einen etwas angestaubten Charme wie aus einer längst vergangenen Zeit, aber trotz der barocken Schwere der Möbel und den vergilbten Tapeten wirkte er durchaus gemütlich.

Ich spürte die neugierigen Blicke der schräg vor mir sitzenden Gastgeberin.

Eigentlich mag ich es überhaupt nicht, wenn mir beim Essen jemand so aufdringlich auf den Teller schaut, aber es schmeckte auch unter ihrer Beobachtung einfach sensationell.

Mrs. Blacksmith nahm es mit einer fast kindlichen Freude zur Kenntnis. Sie sprach mich mit einem starren, bleichen Lächeln an. Ich dachte, sie sagt noch etwas zum Essen, aber es ging in eine ganz andere Richtung, wie mir Thomas übersetzte.

»Sie hat zurzeit nur drei Zimmer belegt«, sagte er. »Seit gestern wohnt noch ein junges Paar aus Kansas neben uns.«

Fast übergangslos wollte sie wissen, was wir in Somerville vorhaben. Es klang für mich nicht nur neugierig, was ich für normal empfunden hätte, sondern irgendwie lauernd, wie eine versteckte Warnung.

»Leg endlich los, Translator!«, sagte ich zu Thomas. »Sag ihr, dass wir die Familie meines Vaters suchen. Und frag sie gleich, was sie über ihn weiß. In diesem überschaubaren Nest wäre es immerhin möglich, dass sie ihn gekannt hat.«

Statt einer Antwort schob er sich den nächsten Bissen in den Mund. Sein Zögern ärgerte mich, aber es war nicht der Ort und ganz bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt für interne Geplänkel.

»Tom is my translator«, beantwortete ich ihre fragenden Blicke. »I speak only a little bit English and this very bad.«

Sie schüttelte den Kopf, dass die großen Aufstecknadeln in ihren Haaren beängstigend zu wackeln begannen, und meinte: »Oh no, Mr. Ahrendt. Your English is very good. Here are your keys. The little one is for the rooms, the large one for the front door.« Sie legte zwei Schlüsselbunde mit runden, buntbemalten Anhängern auf den Tisch.

Ich bedankte mich und stieß Thomas unter dem Tisch mit dem Fuß an. Er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. »Do you know anything about Jack Watov or something about his family members? Mister Ahrendt is Jack’s German son.«

Sie sah uns an, als hätte ihr Thomas einen unsittlichen Antrag gemacht. Es entstand eine unnatürlich lange Pause, bevor sie antwortete. Vorsichtig und auf jedes Wort bedacht.

»Sie kannte ihn tatsächlich«, übersetzte Thomas euphorisch, ohne auf ihre merkwürdige Reaktion einzugehen. »Sein Bruder Frank wohnt am Ortsrand von Somerville und die letzte, noch lebende Schwester Sandy und deren Kinder in Middleton, nur ein paar Meilen von hier.«

Mein Pulsschlag begann sich deutlich zu beschleunigen. Ich legte das Besteck beiseite und überließ Thomas großzügig den Rest des Turkey.

Er nutzte die Gelegenheit sofort.

»Frag sie bitte, ob sie weiß, warum mein Vater schon so früh gestorben ist«, schob ich nach. »Und ob sie uns die Adressen seines Bruders und der Schwester geben kann.«

Thomas übersetzte zwischen zwei Bissen.

Ich merkte sofort, dass unserer Gastgeberin das Thema unangenehm war. Ihre Mundwinkel wanderten steil nach unten, sie schüttelte schon, während sie angesprochen wurde, den Kopf, die rechte Hand ballte sich zusammen, dass die Knöchel spitz und weiß hervortraten, und ihre Augen verschwammen hinter einem feuchten Schleier. Dann stieß sie unvermittelt einen kurzen Satz heraus. Heftig und voller Emotionen. Ich verstand nicht genau, was sie sagte, aber es genügte, um aus Thomas’ Gesicht jede Farbe verschwinden zu lassen.

»Dein Vater wurde zum Tode verurteilt«, sagte er ansatzlos. »Mehr weiß sie auch nicht. Wenn du mich fragst, mehr will sie im Moment auch nicht sagen.«

Ich dachte, mich trifft der Schlag. »Was!? Er wurde hingerichtet? Bist du dir sicher, dass du das nicht falsch verstanden hast?«

Sie sah meinen entsetzten Gesichtsausdruck und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung der Hand über die Augen. Dann stand sie auf und steuerte mit einem fast unhörbar geflüsterten »Good night, Sirs« ihre privaten Räume an.

»Volltreffer«, sagte Thomas sarkastisch.

Ich hatte den Eindruck, als würde sie hinter sich eine unsichtbare Tür zuschlagen, die in eine streng verbotene Vergangenheit führte. Aber egal, was sich dahinter verbarg, ich wollte sie wieder öffnen.

Mir war der Appetit gründlich vergangen. Wir saßen da wie zwei angeschlagene Boxer und sahen uns eine Weile schweigend an.

»Dann muss er ein schweres Kapitalverbrechen begangen haben«, sagte ich in die Stille hinein. »Weswegen landet man hier sonst auf dem Stuhl? Und sie hat irgendwie was damit zu tun.«

»Vielleicht wurde er aber auch nur verurteilt«, antwortete Thomas. »Das ist hier bestimmt keine Seltenheit.«

»Was soll das wieder heißen: nur verurteilt?«

»Man muss keinen abgemurkst haben, um dafür verurteilt zu werden, das meine ich. In Amerika gab es schon immer Verurteilte, die anderswo frei herumlaufen würden. Du als Zeitungsfuzzi müsstest das wissen. Erst vor ein paar Tagen habe ich in irgendeinem Käseblatt gelesen, dass ein Schwarzer in Florida hingerichtet wurde, ohne handfeste Beweise. Ich meine solche, die bei uns eine Verurteilung rechtfertigen würden. Und schwups wird aus einem harmlosen Familiendaddy ein brutaler Doppelmörder.«

»Aha, so einfach geht das. Bei dir. Schwups, und schon mutiert ein harmloser Daddy zum gefährlichen Killer. Und wie bitte soll das funktionieren?«

»Also, sei mir bitte nicht böse, aber du bist an Naivität wirklich kaum noch zu toppen. Ein Augenzeuge wird zum Beispiel bedroht oder erpresst, ein anderer gekauft, der macht vor Gericht eine Falschaussage – und schon hast du eine heiße Zukunft als Bratapfel oder Junkie.«

»Ich glaube nicht, dass ich naiv bin. Aber du schaust dir scheinbar zu viele amerikanische Krimis an. Trotzdem, es ist nett von dir, dass du mich zu trösten versuchst. Wie auch immer, ich habe jedenfalls Blut geleckt. Wir müssen unbedingt herausfinden, was hier wirklich passiert ist. Morgen früh können wir gleich bei meinem Onkel anfangen. Bei seiner Schwester könnte es komplizierter werden. In den USA tragen die Familien den Namen des Mannes, oder? Wenn sie geheiratet hat, heißt sie jetzt wahrscheinlich anders. Wie, wird uns Mrs. Blacksmith vorerst nicht sagen, so zugeknöpft wie sie plötzlich wurde.«

»Das sehe ich genauso. Und darum würde ich vorschlagen, dass wir gleich damit anfangen, uns selbst schlau zu machen.« Er stand auf und steuerte die Eingangshalle an. »Vielleicht gibt es an der Rezeption ein Telefon- oder Adressbuch? Dann könnten wir uns auch ohne ihre Mithilfe informieren.«

»Eine sehr gute Idee«, lobte ich ihn. Aber bevor ich ihm folgte, lauschte ich vorsichtshalber erst einmal in die »Stille« des Hauses hinein. Außer den normalen Knarzgeräuschen des alten Holzbaus und dem Summen des Kühlschranks durch die angelehnte Küchentür war nichts Ungewöhnliches zu hören. Wir konnten loslegen.

Lange mussten wir nicht suchen, um auf einer Ablage unter der Rezeption ein abgegriffenes Telefonbuch für den ganzen County zu finden. Direkt daneben stapelten sich mehrere Ortspläne zum Mitnehmen. Doch die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Die Seiten mit den Buchstaben U bis W waren durch einen überdimensionalen Kaffeefleck zusammengeklebt und ziemlich unleserlich geworden, als ich sie mit sanfter Gewalt voneinander lösen wollte. Leider auch die Zeilen, auf denen sich der Name Watov befinden musste. Unser »Glück« wurde komplett, als wir auch im Verzeichnis für Middleton niemanden mit dem Namen Cassandra Watov fanden. Sie hatte also wahrscheinlich geheiratet. Nach einem Adressbuch suchten wir vergeblich.

Das Frühstück am nächsten Morgen war ein echtes Ereignis! Kaffee, Tee, Orangen- und Traubensaft, Pfannkuchen mit Blackberryjam oder Ahornsirup, Ham and Eggs mit Pilzen, gebratenen Hähnchenstreifen und zum Nachtisch Obstsalat mit Wildblütenhonig. Wenn wir das alles gegessen hätten …

An einem kleinen Tisch neben uns saß das junge Paar aus Kansas, das Mrs. Blacksmith gestern Abend erwähnt hatte. Sie hatten ihr Frühstück fast beendet, als wir Platz nahmen. Der Mann war ganz schön dick, hellblond und vielleicht vierzig. Er trug einen protzigen Goldring am kleinen Finger der rechten Hand.

Die Frau ihm gegenüber war etwas jünger, schlank und mit brünetten langen Haaren. Sie hatte ein puppenhaftes, stark geschminktes Gesicht und eine glockenhelle Stimme.

Wir sahen beide unwillkürlich hinüber, als sie den blonden Koloss mit einem »Do you want a cup of coffee?« ansprach.

Mrs. Blacksmith leistete uns Gesellschaft. Sie sorgte für einen zügigen Nachschub der einzelnen Gänge, aber der Hauptgrund ihrer »Aufmerksamkeit« war vor allem ihre Neugierde. »What are you going to do today, Gentlemen?«, wollte sie wissen, als wir uns gerade den »Ham and Eggs« zuwandten.

Thomas sah mich fragend an.

»Du kannst ihr ruhig sagen, dass wir zur Watov-Road fahren und uns dort mit den Anliegern unterhalten werden. Vielleicht macht sie das ein bisschen gesprächiger, und sie rückt doch noch mit einer Information heraus.«

Während Thomas übersetzte, wurde der feiste Hals unseres beleibten Tischnachbarn lang und länger. Plötzlich wollte er doch noch eine Tasse Kaffee, die er vor wenigen Augenblicken noch so unfreundlich abgelehnt hatte.

Das puppenhafte Wesen ihm gegenüber schenkte nach und quälte sich sogar noch ein Lächeln ab.

Ich hing noch der Frage nach, warum sie sich einen solchen Partner antun konnte, als mich Thomas’ Stimme wieder in die Gegenwart zurückholte.

»Es wird langsam interessant. Mrs. Blacksmith meint, dass dein Vater mit seiner Familie am Ende der Watov Road bis zu seiner Hinrichtung gelebt hat. Die Watovs besaßen an dieser Stelle seit vielen Generationen eine Ranch. Darum wurde die Straße bereits im 18. Jahrhundert nach ihrem Namen benannt, als der Ort gerade mal ein paar Einwohner hatte. Nach dem Tod deines Vaters brannte die Ranch vollkommen ab. Es sollen nur noch unbedeutende Reste vorhanden sein.«

Mrs. Blacksmith saß neben uns und starrte mich ungeniert an.

»Sag ihr, dass wir trotzdem hinfahren, um die Adresse meines Onkels und seiner Schwester zu erfahren.«

Sie machte ein beleidigtes Gesicht, als ihr Thomas meine Entscheidung mitteilte, und begann mechanisch damit, den Tisch abzuräumen, obwohl wir uns noch nicht an dem appetitlich aussehenden Obstsalat vergriffen hatten.

Auch unser Tischnachbar und seine Begleiterin hatten es plötzlich eilig. Sie erhoben sich, obwohl seine Kaffeetasse noch randvoll war, warfen uns im Vorbeigehen ein »Bye, bye« zu, und waren gleich darauf in der Eingangshalle verschwunden.

Es war ein sonnenklarer warmer Frühlingstag, als auch wir uns kurz nach dem Frühstück auf den Weg machten. Thomas hatte einen aufgeschlagenen Stadtplan auf den Knien und dirigierte mich problemlos durch den überschaubaren Vormittagsverkehr. Jetzt, am Tag, konnten wir genauer sehen, wo wir gestern Nacht gelandet waren. Somerville machte einen etwas schläfrigen, wohlhabenden Eindruck. Die Straßen, Parks und Grünanlagen waren sauber und gepflegt, die Häuser, vor allem in der Ortsmitte, schienen aus einer Zeit vor über zweihundert Jahren zu stammen. Sie leuchteten in bunten Farben aus ihren Grundstücken, die Eingänge waren oft mit schlanken Säulen flankiert. Es gab nur wenige Hochhäuser, ein paar teuer aussehende Restaurants und Kneipen, zwei Kinos und natürlich ein gigantisches Einkaufszentrum, das mit seinen verschiedenen Geschäftsbereichen und weitläufigen Parkplätzen fast ein Viertel der gesamten Innenstadtfläche einnahm.

Unser Ford glitt auf dem Weg zum östlichen Stadtrand an einem Soldatenfriedhof vorbei, die Bebauung wurde schlichter, die Häuser und die sie umgebenden Gärten kleiner und verwilderter. Als wir die Lexington-Drive entlangfuhren, bog plötzlich eine schmale Straße vor uns nach rechts ab. Sie führte in einem sanften Bogen in ein außerhalb der Stadt liegendes Tal. Es war die Watov-Road.

Schon nach zwei-, dreihundert Metern befanden wir uns in einer anderen Welt; die Asphaltierung hörte auf und wurde durch einen Kiesweg abgelöst. Das Tal wurde breiter und flacher, wir kamen an einigen Viehweiden vorbei, auf denen Pferde und schwarzgraue Rinder grasten. Der Weg kletterte an der rechten Talflanke hoch und verschwand zwischen den ausladenden Zweigen einer größeren Baumgruppe.

Wir hatten die Fenster weit geöffnet, aber es war merkwürdig still um uns herum. Nur das leise Knirschen des Sand-Kiesgemischs unter den Rädern unseres Ford war zu hören. Der lichte Schatten des hellgrünen Blätterdachs über uns verschwand plötzlich, als die Sonne grell auf die Windschutzscheibe knallte.

Hastig riss ich die Sonnenblende nach unten. Gerade noch rechtzeitig, um den verrosteten Schlagbaum zu erkennen, der uns den Weg versperrte.

Wir waren am Ende der Watov-Road angekommen. Links unter uns, zwischen den Stämmen eines jungen Laubwalds, versteckten sich die spärlichen Reste einer Ruine.

Ich parkte den Wagen in einer Einbuchtung neben der Straße. Durch hohes Gras und zwischen Sträuchern mit rosafarbenen Blütentrauben ging es nach unten. Ein zarter, süßlicher Geruch hing in der Luft, das Plätschern eines unsichtbaren Baches war zu hören. Idylle pur, dachte ich für einen Moment, bis mich Thomas in seiner typisch schnoddrigen Art ansprach: »Auch auf die Gefahr hin, dass du mich für dämlich erklärst: Aber nach was genau suchen wir hier eigentlich?«

»Nach irgendeinem Hinweis, dass mein Vater wirklich hier gelebt hat. Vielleicht finden wir auch ein Andenken, das ich mit nach Hause nehmen kann. Ein Stück aus seiner und meiner Vergangenheit, oder einen Gegenstand, der uns bei der Suche nach seiner Familie weiterhelfen könnte.«

»Hört sich eher nach Wunschdenken an«, meinte er und deutete auf den Schutthaufen unter uns. »In diesem Müllberg ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass wir was Brauchbares finden. Aber wir könnten ja auch irgendwo in der Stadt, in einem anderen Hotel oder einer Tankstelle nach einem Telefonbuch fragen, das noch keinen Kaffeefleck beim Buchstaben ›W‹ hat. Oder, wenn wir schon hier sind, bei einem früheren Nachbarn.«

»Stimmt, könnten wir. Wenn wir nichts finden, musst du wirklich dein Oxford-Englisch auspacken. Aber jetzt lass uns erst mal hier herumschnüffeln! Es ist ein … wie soll ich sagen? … ein Gefühl, als ob ich nach langer Zeit heimgekommen bin. An den Ort, wo er und seine Familie so lange gelebt haben. Und irgendwie, finde ich, gehöre ich auch dazu.«

»Ich wusste es: Du bist sentimental. Und wie!«

»Na und? Das ist schließlich der Hauptgrund, warum wir hierhergekommen sind.«

Wir gingen weiter; das Geräusch des Baches wurde stärker, je weiter wir nach unten kamen, der süßliche Geruch der Sträucher wurde von modriger Feuchtigkeit abgelöst, das Gelände wurde fast eben. Wir mussten uns zwischen Buschinseln, Bäumen und verkohlten Holzbalken durchzwängen, die längst von Gras, Moos und Farn überwachsen waren, und dann … dann standen wir endlich vor den Resten des Wohngebäudes.

»Hier also soll dein Vater gelebt haben? Sei mir bitte nicht böse, aber viel ist davon nicht mehr zu erkennen.« Thomas’ Stimme klang unangemessen ironisch.

»Und seine Vorfahren«, ergänzte ich unbeeindruckt. »Hier lebten die ersten Watovs seit dem 18. Jahrhundert, wie uns Mrs. Blacksmith erklärte.« Ich stand tief bewegt vor der Ruine des Hauses. Nur ein gemauerter Kamin ragte trotzig vor einer zusammengebrochenen Rückwand in die Luft, geschmolzene Teerpappe, verbrannte Balken, Holzteile, Glas- und Dachziegelscherben lagen auf dem überwachsenen Rechteck der Grundmauern. Man sah ihnen an, dass sie schon viele Jahre unter dem Mantel von Natur und Zeit lagen.

Ich schob mich zwischen einer schiefen Holzwand und einem meterhohen Schutthaufen durch. Ein großes Viereck hob sich vor mir einige Zentimeter aus dem Moos- und Grasbewuchs. Hier musste das Schlafzimmer gewesen sein. Die Reste einer geblümten Tapete mit Rosenbögen und Veilchen klebte noch an vorhandenen Teilen der Wand, ein paar verrußte Metallteile vom Kopfende eines Ehebetts lagen im Schutt.