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Was macht dein Herz?
Es schlägt noch
Bevor ich mich auf die Wette einließ, dass ich jedes Mädchen - selbst Shay Gable - dazu bringen würde, sich in mich zu verlieben, war ich mir sicher, dass ich nichts von den Dingen, die Shay mir geben könnte, jemals wollte. Doch schon bald konnte ich an nichts anderes mehr denken: Glück. Das Gefühl, zu Hause zu sein. Einen sicheren Ort zu haben, um mich fallen zu lassen. Hoffnung. Liebe. Ihre Seele. Und ihr Licht. Doch was konnte ich ihr im Gegenzug geben? Meine Narben. Meine Angst. Meine Schwere. Meinen Schmerz. Meine Dunkelheit. Das war nicht fair. Und deshalb stieß ich Shay von mir. Ich sorgte dafür, dass sie niemals zu mir zurückkehren würde - bevor ich ihr sagen konnte, dass ich sie ebenfalls liebe.
"Brittainy C. Cherry zaubert mit Worten. Nur ihre Geschichten schaffen es, einem das Herz in tausend Stücke zu brechen und es danach liebevoll wieder zusammenzusetzen." mariesliteratur
Erster Teil des zweiten Bandes der herzzerreißenden CHANCES-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry
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Seitenzahl: 503
Titel
Zu diesem Buch
Liebe Leser*innen
Widmung
Motto
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Die Autorin
Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX
Triggerwarnung
Impressum
BRITTAINY C. CHERRY
Wie die Stille vor dem Fall
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katja Bendels
Landon Harrison und Shay Gable können sich nicht ausstehen. In der Highschool gehen sie sich aus dem Weg, und wenn ihre Blicke sich treffen, wendet sich einer von beiden so schnell wie möglich ab. Bis sie sich auf einer Party auf eine Wette einlassen, die das Unmögliche von ihnen fordert – und plötzlich alles zwischen ihnen verändert: Wer sich zuerst in den anderen verliebt, hat verloren! Landon ist sich sicher, dass er Shay mit links besiegen wird, weil er sich auf sein Herz verlassen kann, das keine Liebe kennt und für immer verschlossen bleiben wird. Doch er hat nicht mit Shay gerechnet. Schon gar nicht damit, dass aus dem Spiel plötzlich Ernst wird und er sich mit einem Mal Dinge wünscht, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie bisher in seinem Leben vermisst hat: Glück. Das Gefühl, zu Hause zu sein. Einen sicheren Ort zu haben, um sich fallen zu lassen. Hoffnung. Liebe. Shay. Doch je mehr sich Landon in Shay verliebt, desto näher kommt sie seiner Dunkelheit, seinem Schmerz und den Geheimnissen, die er tief in seinem Inneren verborgen hält. Und so trifft er eine fatale Entscheidung, auch wenn jede Faser seines Körpers sich danach sehnt, Shay seine Liebe zu gestehen – in der Hoffnung, dass sie die seine erwidert …
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für alle, die sich jemals einsam gefühlt haben.
Ich liebe dich, wie man die dunklen Dinge liebt,
heimlich, zwischen Schatten und Seele.
– Pablo Neruda
Landon & Shay
11. und 12. Klasse
2003
Ich wollte kein Monster sein, aber manchmal fragte ich mich, ob manche Menschen nicht als Monster geboren werden, mit einer inneren Finsternis, die in ihr Blut sickert und ihre Seelen infiziert.
Mein Name war der Beweis dafür, dass ich ein besserer Mensch hätte sein sollen.
Ich stammte aus einer Familie außergewöhnlicher Männer. Meine Mutter hatte mich nach meinem Onkel Lance und meinem Großvater Don benannt – zwei der großartigsten Menschen, die je gelebt hatten. Der Name Don bedeutet »edel«, und Lance »Diener«, und beide, mein Onkel wie mein Großvater, hatten ihrem Namen alle Ehre gemacht. Sie kämpften im Krieg und opferten ihr Leben und ihre Seelen für andere. Sie gaben alles, mit weit geöffneten Armen, und erlaubten den Menschen, von ihnen zu nehmen, bis nichts mehr übrig war.
Die Kombination ihrer Namen hätte mich zu einem edlen Diener dieser Welt machen sollen, doch ich war alles andere als edel. Wenn man meine Klassenkameraden gefragt hätte, was mein Name bedeutete, so hätten sie vermutlich geantwortet: Arschloch. Und das zu Recht.
Ich war kein bisschen wie mein Großvater oder mein Onkel, im Gegenteil, ich war eine Schande für ihr Angedenken.
Keine Ahnung, warum so viel Finsternis auf meiner Seele lastete oder warum ich so wütend war. Ich wusste nur, dass ich es war.
Ich war ein Arschloch, auch wenn ich es gar nicht sein wollte. Die Einzigen, die es mit mir aushielten, waren meine engsten Freunde, und Monica, die ich einfach nicht mehr loswurde.
Nichts an mir war edel oder zum Dienen bereit. Ich kümmerte mich um mich selbst und um die wenigen Menschen, die mutig genug waren, mich als ihren Freund zu bezeichnen.
Und das hasste ich an mir. Ich hasste es, dass ich kein guter Mensch war. Ich hatte keinen Funken Anstand, sondern tat eine Menge unanständiger Dinge, bei denen Lance und Grandpa sich wahrscheinlich im Grab umdrehten.
Und warum war ich so?
Wenn ich das wüsste.
Mein Verstand war ein einziges großes Puzzle, und ich hatte nur eine grobe Vorstellung davon, welche Teile zusammengehörten.
Nach einem sinnlosen Vormittag voll sinnbefreiter Unterrichtsstunden ging ich in die Cafeteria und nahm mir ein Tablett. Es war mein Senior Year – noch ein Semester, bis ich endlich aus dem provinziellen Raine, Illinois, verschwinden konnte.
Ich ging zu meinem Tisch und verzog das Gesicht, als ich Monica dort sitzen sah. Doch während ich noch überlegte, ob ich warten sollte, bis Greyson, Hank oder Eric auftauchten, hatte sie mich schon entdeckt und winkte.
»Landon! Hol mir noch eine Milch – fettarm«, orderte sie schrill. Ich hasste diese Stimme. Sie klang wie eine Furie, und ich sage euch, ich hatte Albträume, in denen diese Frau meinen Namen kreischte.
Keine Ahnung, ob ihre Stimme mich früher schon so genervt hatte, aber dazu muss man sagen, dass ich während all unserer vorangegangenen Interaktionen entweder betrunken oder bekifft gewesen war. Monica und ich kannten uns seit einer Ewigkeit. Wir waren Nachbarskinder mit mehr oder weniger verkorksten Leben. Ich hatte meine Dämonen, und Monica hatte ihre.
Wenn uns alles zu viel wurde, gingen wir miteinander ins Bett, um für eine Weile den Kopf auszuschalten. Das Ganze hatte nichts mit Liebe oder Romantik zu tun – tatsächlich konnten wir uns nicht mal besonders gut leiden, weswegen die Sache für mich ganz gut funktionierte. Ich hatte kein Interesse an einer Freundin oder einer festen Beziehung. Alles, was ich brauchte, war gelegentlicher Sex, um abzuschalten.
Eine Weile lief es ganz gut, bis ich beschloss, mir in Sachen Alkohol und Drogen einen kalten Entzug zu verordnen, und seitdem laberte Monica nur noch Mist. »Wenn du drauf bist, gefällst du mir besser«, hatte sie bei unserem letzten Fick-Date erklärt.
Worauf ich geantwortet hatte: »Und du gefällst mir besser, wenn du meinen Schwanz im Mund hast.«
Was nicht mal stimmte. Der Sex mit Monica war nicht besonders gut. Er vertrieb mir einfach die Zeit. Sie war beim Sex wie die Frauen im Porno, was theoretisch echt geil hätte sein können. Aber in Wirklichkeit bedeutete es zu viel Sabber, zu viel zielloses Grapschen, und meistens musste ich es mir selbst besorgen, um zum Abschluss zu kommen.
Als ich ihr das irgendwann mal gesagt hatte, verpasste Monica mir eine Ohrfeige, und der Schmerz gefiel mir irgendwie. Meine Haut brannte und pochte an der Stelle, wo sie mich geschlagen hatte, was mir bewies, dass ich noch am Leben und noch in der Lage war, etwas zu spüren, auch wenn ich mich die meiste Zeit fühlte wie Trockeneis – hart gefroren und schmerzhaft für jeden, der es wagte, mich zu lange festzuhalten.
Monica erklärte, sie würde mich erst wieder vögeln, wenn ich high wäre.
Und seitdem war das Desaster, zu dem wir zusammengefunden hatten, offiziell beendet – jedenfalls von meiner Warte aus gesehen.
Monica hatte die Nachricht allerdings offenbar nicht bekommen. Seit Wochen versuchte ich sie loszuwerden, aber als die treue Kakerlake, die sie war, ließ sie sich einfach nicht abschütteln und tauchte immer dann auf, wenn ich sie gerade überhaupt nicht gebrauchen konnte.
»Bist du high? Hattest du einen Rückfall? Willst du an meinen Titten lutschen?«
Die Letzte, mit der ich mich in dieser Woche abgeben wollte, war Monica, aber wenn ich mich nicht zu ihr setzte, würde sie nur noch lauter werden.
Also stellte ich mein Tablett ab und nickte ihr knapp zu.
»Wo ist meine Milch?«, fragte sie.
»Hab dich nicht gehört«, antwortete ich trocken.
Sie griff rüber, nahm meine Milch, ohne sich um meinen Durst zu scheren, und öffnete sie. Sie hatte Glück, dass ich nicht die Energie hatte, mich mit ihr zu streiten. Ich hatte in der vergangenen Nacht nicht geschlafen und sparte mir meinen Ärger für Menschen und Dinge, die mir tatsächlich etwas bedeuteten. Die Liste war kurz, und ihr Name stand nicht darauf.
»Ich hab nachgedacht – du solltest am Wochenende eine Party geben«, sagte sie, während sie meine Milch austrank. Es war Vollmilch – also hatte Monica wenigstens nicht alles bekommen, was sie wollte.
»Darüber denkst du öfter nach«, erwiderte ich und konzentrierte mich auf mein Mittagessen. Es war die erste Woche nach den Winterferien, und es war gut zu wissen, dass die Cafeteria uns noch immer den gleichen Mist servierte wie letzten Monat. Wenn ich eins mochte, dann Beständigkeit.
»Ja, aber dieses Wochenende solltest du wirklich eine schmeißen. Schließlich ist es Lance’ Geburtstag. Wir sollten sein Andenken feiern.«
Ich spürte ein Feuer in mir auflodern, als sie über Lance sprach, als hätte sie ihn gekannt oder würde sich auch nur im Geringsten für ihn interessieren. Und sie hatte es auch genau aus diesem Grund gesagt – um mich zu provozieren und in das Monster zu verwandeln, das sie so vermisste, denn sie war davon überzeugt, dass sie mich erst benutzen konnte, um ihre Narben zu vergessen, wenn meine aufs Neue aufgerissen wurden.
Es war fast ein Jahr her, seit Lance gestorben war.
Und noch immer fühlte es sich an, als wäre es gestern gewesen.
Ich biss die Zähne aufeinander. »Reiz mich nicht, Monica.«
»Warum? Ich liebe es, dich zu reizen.«
»Gibt es nicht ein paar ältere Schwänze, hinter denen du her sein könntest?« Ich ließ Luft ab, und sie sah mich mit einem finsteren Lächeln an. Sie mochte es, wenn ich darauf anspielte, dass sie mit älteren Männern ins Bett ging. Auf diese Weise hatte sie sich an mir rächen wollen, weil ich nicht mehr mit ihr schlief. Sie hatte sich einen älteren Kerl geangelt und mir alles haarklein berichtet.
Schade nur, dass es mich nicht interessierte.
Wenn ich irgendwas bedauerte, dann ihr mangelndes Selbstwertgefühl.
Monica war der klassische Fall eines reichen Mädchens mit Vaterkomplex, und es half nicht wirklich, dass ihr Vater ein Riesenarschloch war. Als Monica ihm mal erzählte, dass einer seiner Geschäftspartner sie auf einer Party begrapscht hatte, behauptete er, sie würde lügen. Ich wusste, dass sie die Wahrheit sagte, denn ich hatte gesehen, wie sie an diesem Abend auf ihr Zimmer verschwunden war und geweint hatte. Niemand weinte so ohne Grund. Wie sich herausstellte, war es nicht das erste Mal, dass einer der Geschäftsfreunde ihres Vaters sich an ihr vergriffen hatte, doch jedes Mal, wenn sie es ansprach, erklärte er nur, sie sei erbärmlich und wollte bloß Aufmerksamkeit.
Und so wurde sie, was ihr Vater ihr vorgeworfen hatte: erbärmlich und süchtig nach Aufmerksamkeit.
Monica gierte nach dem Verlangen der Männer, von denen ihr Vater behauptete, sie hätten kein Interesse an ihr. Sie hatte ein Problem mit ihrem Vater, also schlief sie mit Männern in seinem Alter. Im Bett nannte sie sie sogar »Daddy«, was in mehr als einer Hinsicht echt krank war.
Einmal hatte sie sogar mich beim Sex »Daddy« genannt, und ich hatte die Nummer sofort abgebrochen. Schließlich wollte ich ihre Dämonen nicht noch weiter füttern. Ich wollte nur meine eigenen für eine Weile stumm schalten.
Ehrlich gesagt, war ich froh, dass Monica und ich nicht mehr miteinander schliefen.
Monica spielte jetzt mit der Zunge in ihrer Wange und sah mich herausfordernd an. »Bist du etwa eifersüchtig, oder was?«
Sie wünschte es, sie hoffte es, und sie betete, dass ich es war.
Ich war es nicht.
»Monica, dir ist schon bewusst, dass wir nicht zusammen sind, richtig? Du kannst treiben, was du willst, mit wem du es willst. Zwischen uns beiden läuft nichts mehr.« Ich war ziemlich gut darin, den Mädchen klarzumachen, was wir waren – oder vielmehr nicht waren. Ich tat nie so, als ob die Sache zwischen uns was Ernstes wäre, denn das war sie nie gewesen. In meinem Kopf war nicht viel Platz, und ich wusste, dass ich nicht der Typ für ernste Beziehungen war. Ich hatte nicht die Energie, ein fester Freund zu sein – nur ein Fickfreund.
Ehrlich gesagt, würde ich mich nicht mal als »Freund« bezeichnen. Ich war niemandes Freund oder Vertrauter und würde es auch niemals sein.
Monica zwinkerte mir zu, als hielte sie mich für die Katze und sich selbst für die Maus, die ich zu fangen versuchte. Es war allein meine Schuld. Das Schlimmste, was ein menschliches Wrack wie ich tun konnte, war, sich mit einem anderen menschlichen Wrack zusammenzutun. In zehn von zehn Fällen endete so was in einer Katastrophe.
Monica griff nach ihrem Handy und fing an zu tippen, während sie irgendwas vor sich hin brabbelte. Sie redete über irgendwelche Leute und wie hässlich, dämlich oder arm sie waren. So heiß Monica sein mochte, so gehörte sie doch zu den hässlichsten Menschen, denen ich je begegnet war.
Allerdings hatte ich wirklich kein Recht, sie deswegen zu verurteilen. Jedes Mal, wenn ich unter Drogen gestanden hatte, war ich ein noch größeres Arschloch gewesen als heute. Wenn man high ist, ist das Ausmaß an Mitgefühl, das man für andere Menschen empfindet, ausgesprochen gering. Ich hatte eine Menge Mist verzapft, von dem ich mir sicher war, dass er mich früher oder später wieder einholen würde.
»Hab gehört, am Samstag steigt bei dir ’ne Party«, sagte Greyson, als er mit Hank und Eric zu uns an den Tisch trat. Na endlich. Mit Monica allein hier zu sitzen war ein einziger Albtraum.
»Wie bitte?«, fragte ich.
Er hielt mir sein Handy hin und zeigte mir eine Nachricht von keiner anderen als Monica. War ja klar. Ich war mir sicher, dass die gleiche Nachricht noch an zig andere Leute gegangen war, die garantiert am Samstag vor meiner Tür stehen würden. Wie es aussah, stieg bei mir am Samstag ’ne Party.
Happy Birthday, Lance.
Ich drehte Monica ein Stück weit den Rücken zu, und meine Augen weiteten sich, als ich Greyson ansah und flüsterte: »Dude. Die Frau ist total bekloppt.«
Er lachte und fuhr sich mit der Hand durch die kohlrabenschwarzen Haare. »Ich sag’s ja nur ungern, aber ich hab dich gewarnt.« Greyson hatte mir vom ersten Tag an gesagt, dass es keine gute Idee war, mit Monica ins Bett zu gehen, aber ich hatte nicht auf ihn gehört. Ich war eher der Typ, der es jetzt mit einer Braut trieb und sich später Gedanken um die Konsequenzen machte – was sich ziemlich schnell gerächt hatte.
Monica tippte mir auf den Rücken. »Hey. Ich muss aufs Klo. Pass auf meine Sachen auf.«
Da ich keine Lust hatte, noch mehr Worte an sie zu verschwenden, zuckte ich bloß mit den Schultern. Mit Monica zu reden war in etwa so anstrengend wie Hausaufgaben zu machen. Aber wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich lieber Algebra gebüffelt, als mich mit ihr unterhalten – und ich war grottenschlecht in Mathe.
In der Sekunde, als Monica die Cafeteria verließ, betrat Shay den Raum, und ich spürte, wie sich in meinem Bauch ein Knoten bildete. Dieser Knoten bildete sich seit einem Jahr jedes Mal, wenn Shay Gable den Raum betrat. Ich konnte nicht sagen, was dieses Gefühl bedeutete und ob es überhaupt etwas bedeutete, aber, verdammt, es war da.
Wahrscheinlich bloß Luft, sagte ich mir jedes Mal.
Ich hasste Shay Gable.
Wenn es etwas gab, das ich mit Sicherheit wusste, dann das.
Wir kannten uns seit Jahren. Sie war ein Jahr jünger als ich, aber ihre Großmutter war unsere Haushälterin und hatte Shay manchmal mit zur Arbeit gebracht, wenn ihre Eltern nicht auf sie aufpassen konnten.
Wir hatten uns vom ersten Tag an nicht ausstehen können. Freundschaft auf den ersten Blick? Bei uns war es Feindschaft auf den ersten Blick. Ich hasste diese Frau mit ihrer ach so tugendhaften Art. Shay benahm sich nie daneben. Sie hatte immer gute Noten, war überall beliebt, nahm keine Drogen und trank keinen Alkohol. Wahrscheinlich gab sie ihrer Oma einen Kuss und betete vor dem Schlafengehen.
Little Miss Perfect.
Oder vielmehr: Little Miss Fake.
Ich nahm ihr die Brave-Mädchen-Masche nicht ab.
Kein Mensch konnte so brav sein. Kein Mensch konnte so wenige Monster in seinem Schrank verstecken.
Wir hingen mit denselben Leuten ab, hatten die gleichen Freunde, aber wir waren und blieben Feinde. Und ich hatte kein Problem damit. Irgendwie fühlte sich unsere gegenseitige Abneigung seltsam angenehm an. Mein Hass auf Shay war die Konstante in meinem Leben. Es fühlte sich an wie ein Kick, den ich immer gewollt hatte, und mit jedem Jahr machte Shays abweisende Art mir gegenüber mich noch ein bisschen mehr high. Der Hass, den wir füreinander empfanden, war unglaublich intensiv, und je älter wir wurden, desto mehr brauchte ich ihn.
Shay wurde älter und veränderte sich so, wie die meisten Mädchen es sich erträumen würden. Ihr Körper entwickelte sich genauso schnell wie ihr Verstand. Sie bekam Kurven an den Stellen, an denen wir Jungs sie uns wünschten, Augen, die immerzu funkelten, und ein Grübchen so tief, dass man sich wünschte, sie würde andauernd lächeln. Manchmal betrachtete ich sie und hasste mich dafür, dass mir gefiel, was ich sah. Und als Shay diesmal aus den Ferien zurückkehrte, wirkte sie erwachsener denn je. Mehr Kurven, mehr Titten, mehr Arsch. Wenn ich sie nicht so sehr gehasst hätte, hätte ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, ihr die Seele aus dem Leib zu vögeln.
Und sie war nicht nur wunderschön, sondern auch clever. Sie war die Beste ihres Jahrgangs. Verstand und Schönheit. Auch wenn ich es vor ihr niemals zugegeben hätte, schließlich war sie davon überzeugt, dass ich sie nicht ausstehen konnte, beobachtete ich sie manchmal heimlich. Dann lauschte ich ihrem Lachen, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen war. Ich beobachtete, wie sie andere Menschen beobachtete, als wären sie Kunstwerke und als würde sie herausfinden wollen, woraus sie gemacht waren. Dabei schrieb sie ständig irgendetwas in ihr Notizbuch, als hinge ihr Leben davon ab.
Ich kannte nur einen einzigen anderen Menschen, der so viel aufgeschrieben hatte wie Shay. Sie musste Hunderte von Notizbüchern gefüllt haben.
Jetzt sagte Monica etwas zu Shay, vermutlich um sie zu der Party einzuladen.
Warum sollte sie das tun? Alle wussten, dass Shay und ich uns nicht leiden konnten. Aber das hier war Monica. Ihr Kopf steckte so tief in ihrem Arsch, dass sie überhaupt nicht mitbekam, was um sie herum abging. Oder sie lud Shay nur ein, um mich zu ärgern. Das war schließlich Monicas Hobby.
Neben Shay standen ihre beiden besten Freundinnen Raine und Tracey. Wie es der Zufall wollte, waren Raine und ich ebenfalls befreundet, denn sie war mit Hank zusammen, einem meiner besten Kumpel. Wo Raine war, gab es immer was zu lachen. Sie scherzte immer, ihre Eltern hätten sie nach ihrem Geburtsort benannt, weil sie zu faul gewesen waren, sich einen besseren Namen einfallen zu lassen. »Ich bin nur froh, dass ich nicht in Accident, Maryland, geboren wurde«, sagte sie dann lachend. »Das hätte eine dicke Therapierechnung gegeben.«
Und dann gab es noch Tracey, Jackson Highs zuckersüße Prinzessin. Wenn man ein Mädchen mit Teamgeist wollte, dann war Tracey genau die Richtige. Sie fütterte dich förmlich mit Teamgeist, verbunden mit einer ordentlichen Portion Glitter und Regenbogen. Aktuell sah es so aus, als versuchte sie ihre Strahlkraft über Reggie auszugießen, doch ich war mir nicht sicher, ob er interessiert war. Reggie war neu an der Schule. Er kam aus Kentucky, und die Mädels standen total auf seinen Südstaatenakzent. Aber ganz ehrlich? Auf mich wirkte er wie der typische Lauch, der halt hin und wieder »y’all« sagte. Und ich war Profi, wenn es darum ging, Arschlöcher auszuloten.
Wie sagt man so schön? Gleich und Gleich gesellt sich gern.
Tracey war zu unschuldig für einen Typen wie ihn. Auch wenn sie einem mit ihren Regenbogen manchmal ein wenig auf den Zeiger ging, war sie im Großen und Ganzen in Ordnung. Sie konnte keiner Fliege was zuleide tun, und aus diesem Grund brauchte sie in ihrem Leben garantiert keinen Typen wie Reggie. Er würde sie lebendig schlucken und wieder ausspucken, als hätten sie sich nie gekannt.
So machten wir bösen Jungs das: Wir ernährten uns von braven Mädchen, und wenn wir satt waren, warfen wir sie einfach weg.
Was Reggie brauchte, war eine gute alte Monica. Das wäre eine wahrhaft höllische Verbindung.
Die Mädels redeten immer noch, und ich war mir sicher, dass Monica sie über diese Party vollquatschte, auf die ich überhaupt keinen Bock hatte. Shay schaute mit einem unsicheren, verächtlichen Blick zu mir herüber.
Hallo, meine Hübsche.
Wenn dieses Mädchen etwas noch mehr hasste als mich, dann waren es Partys, die ich organisiert hatte, weswegen sie sehr darauf achtete, nie auf einer davon zu erscheinen. Sobald unsere Blicke sich trafen, wandte ich mich ab. Wir begegneten uns nicht sehr oft, und wenn, dann wechselten wir höchstens ein paar knappe Worte miteinander, die meistens nicht besonders nett waren. Das war irgendwie unser Ding. Wir standen darauf, uns gegenseitig zu hassen.
Abgesehen von dem Tag vor neun Monaten.
Ihre Großmutter, Maria, war zu Lance’ Beerdigung und zur anschließenden Trauerfeier zu uns nach Hause gekommen. Shay hatte sie begleitet und mich an dem Tag in einem meiner nicht sehr männlichen Augenblicke überrascht.
Ich wünschte, sie hätte mich nicht so gesehen – überwältigt, verwirrt, schutzlos, authentisch.
Ich wünschte auch, Lance wäre nicht gestorben, aber ihr wisst ja, wie das ist: Wünsche, Träume, Hoffnungen – alles nur eingebildet und für den Arsch.
»Bist du sicher, dass du wirklich eine Party schmeißen willst?«, fragte Greyson mit gesenkter Stimme und riss mich damit aus meinen Gedanken. Die anderen am Tisch redeten über Basketball und Frauen, doch Greyson blieb davon völlig unbeeindruckt. »Ich meine, wegen Lance’ Geburtstag und so.«
Niemand sonst wusste vom Geburtstag meines Onkels, und ich war froh darüber. Greyson wusste nur deshalb Bescheid, weil er sich an die wichtigen Dinge erinnerte. Das war einfach seine Art. Er hatte ein unglaubliches Gedächtnis und nutzte es zum Guten. Monica wusste es nur, weil sie jede Art von Information sammelte, die sie als Waffe gegen ihre Opfer einsetzen konnte. Sie war das genaue Gegenteil von Greyson.
Ich zuckte mit den Schultern. »Besser unter Leuten als allein, nehme ich an.« Er wollte mir widersprechen, doch ich schüttelte den Kopf. »Schon okay. Ich kann Gesellschaft gebrauchen. Und Monica wird sich sowieso nicht mehr davon abbringen lassen.«
»Wir können es bei mir machen«, bot er an, aber ich lehnte ab.
Eine Party bei mir zu Hause war eine, eine Party bei Greyson eine ganz andere Sache. Wenn meine Eltern es herausfanden, wären sie bestimmt wütend, aber die Geschichte wäre auch bald wieder vergessen. Wenn Greysons Vater jedoch herausfände, dass sein Sohn eine Party gegeben hatte, wären die Konsequenzen sehr viel härter. Wenn ich eins über Mr East wusste, dann dass er ein gewalttätiger Mann war und nicht zimperlich, wenn es darum ging, seine Wut an seiner Frau oder seinem Sohn auszulassen.
Er hatte Glück, dass ich noch nie dabei gewesen war, wenn er Hand an meinen Freund gelegt hatte. Dann hätte er die Hand nicht mehr lange gehabt.
Ein paar Mädels kamen an unseren Tisch. Sie kicherten wie Schulmädchen, die sie ja auch waren, und winkten uns zu. Es war kein Geheimnis, dass alle Mädchen auf Greyson standen, und ein paar auch auf mich – was schon witzig war, denn Greyson und ich waren einander so ähnlich wie Tag und Nacht. In der Schule war er der engelsgleiche Vorzeigeschüler, und ich war der verdammte Teufel. Aber wie sich herausstellte, konnte eine Frau bei Tag den Engel lieben und sich nachts nach dem Teufel sehnen.
»Man erzählt sich, dass am Samstag bei dir ’ne Party steigt, Landon«, sagte eines der Mädchen und zwirbelte sich eine Haarsträhne um den Finger. »Sind wir auch eingeladen?«
»Kenn ich dich?«, fragte ich.
»Noch nicht, aber du kannst mich ja auf der Party kennenlernen«, antwortete sie mit eindeutig zweideutigem Unterton. Sie schob die Zunge in ihre Wange und stieß sie immer wieder rein und raus. Meine Fresse. Ich rechnete förmlich damit, dass sie mir in die Jeans griff, meinen Schwanz rausholte und ihn zu lutschen anfing.
Die Mädels waren ganz klar jünger als wir. Sophomores, tippte ich, zehnte Klasse. Keiner war so geil auf Sex wie Zehntklässlerinnen. Gestern hatten sie noch unschuldig mit ihren Barbies gespielt, und heute ließen sie Ken und Barbie miteinander ficken. Ich konnte verstehen, warum Väter Angst um ihre Töchter in der High School hatten. Es war wie Mädchen außer Rand und Band: Die Highschool-Edition. Als Vater hätte ich meine Tochter lieber im Keller eingeschlossen und erst mit dreißig wieder rausgelassen.
Ich beantwortete das provokante Zungenspiel mit einem Achselzucken. »Wenn ihr die Adresse rauskriegt, könnt ihr kommen.«
Ihre Augen leuchteten vor Aufregung, und sie rannten kichernd weg, um rauszufinden, wo ich wohnte. Wenn sie mich gefragt hätten, hätte ich es ihnen wahrscheinlich verraten. Ich kam mir an diesem Nachmittag ziemlich wohltätig vor.
»Diese Party findet also wirklich statt?«, fragte Greyson.
Ich biss in mein staubtrockenes Hühnchensandwich und versuchte Lance wieder aus meinem Kopf und meinem Herzen zu kriegen. Die Party würde mich zumindest ein wenig ablenken.
»Ja.« Ich nickte. Absolut. »Sie findet statt.«
Als ich aufblickte, sah ich Shay am anderen Ende der Cafeteria mit irgendeinem Band-Geek quatschen. Sie machte das immer – sie redete mit Leuten aus allen sozialen Schichten. Die Leute mochten sie nicht einfach nur, alle fuhren total auf sie ab und liebten sie dafür.
Shay gehörte zum Adel der Jackson High, aber nicht zu dem zickigen, arschigen Teil, wie Monica und ich. Die Leute mochten Monica und mich, weil wir ihnen Angst machten, aber sie liebten Shay, weil sie … eben Shay war, die Prinzessin Diana der Jackson High.
Was wiederum der Grund war, wieso ich sie nicht leiden konnte. Ich hasste es, wie glücklich sie war, ohne dass sie das Gefühl hatte, sich dafür entschuldigen zu müssen, hasste es zu sehen, wie selbstbewusst und gut gelaunt sie sich bewegte. Ihre gute Laune trieb mich noch in den Wahnsinn.
Sie sah aus wie eine Prinzessin, wie sie da kerzengerade stand, mit ihren schokoladenbraunen Rehaugen und vollen Lippen, die immer lächelten. Ihre Haut hatte einen glatten, warmen Teint, ihr Haar war tiefschwarz und leicht gewellt. Ihr Körper kurvte sich an den richtigen Stellen, und ich konnte mich nicht dagegen wehren, mich zu fragen, wie sie wohl ohne Kleider aussah. Um es auf den Punkt zu bringen, Shay war wunderschön. Viele der Jungs hielten sie für echt heiß, aber ich sah das anders. Sie heiß zu nennen, kam mir idiotisch vor, und billig, denn sie war nicht bloß heiß wie ein paar der anderen Mädchen auf unserer Schule, sie war ein strahlendes Licht. Sie war der Funke, der den Himmel erhellte. Sie war ein verdammter Stern.
So klischeehaft es auch klingen mochte, alle Jungs standen auf sie, und alle Mädchen wollten so sein wie sie.
Und sie war mit allen befreundet – mit jedem und jeder einzelnen von ihnen. Selbst wenn sie mit einem der Jungs zusammen gewesen war, gingen sie nie im Schlechten auseinander. Die Trennung schien immer friedlich zu verlaufen. Shay sah nicht nur aus wie eine Prinzessin, sie verhielt sich auch wie eine. Cool, ruhig, gefasst. Souverän. Sie vergaß nie, jemanden zu grüßen, der ihr entgegenkam. Sie schloss niemals irgendjemanden aus. Wenn sie irgendetwas organisierte, dann lud sie alle ein, die Nerds, die Band-Geeks und die Footballspieler.
Sie glaubte nicht an die Trennung nach sozialen Klassen, was sie an unserer Schule und in der Welt zu einer Anomalie machte. Es war, als wäre Shay mit einem Verstand geboren worden, der uns anderen um Lichtjahre voraus war, und als ob sie wüsste, dass der Status eines Menschen an der Highschool im großen Gefüge der Welten einen Furz bedeutete. Sie war kein Puzzleteil in einem großen Ganzen. Sie konnte sich überall gut einfügen. Es gelang ihr, scheinbar mühelos im Leben eines jeden von uns ihren Platz zu finden. Die Geeks an unserer Schule sprachen genauso über Shay wie die Goths – voller Zuneigung und Bewunderung. Sie war einfach unglaublich.
Für jeden, nur nicht für mich.
Aber damit konnte ich leben. Wenn ich ehrlich war, wurde mir schon bei dem Gedanken übel, dass Shay nett zu mir sein könnte.
Mir waren ihre hasserfüllten Blicke lieber als ihre sanften Rehaugen.
Mein Vater war der König unseres Schlosses, und ich war seine Lieblingsprinzessin.
Sicher, ich war seine einzige Tochter, was mich zwangsläufig zu seinem Liebling machte, aber meine Mutter wurde nicht müde, mir zu sagen: »Die Liebe deines Vaters ist groß, auch wenn er manchmal nicht weiß, wie er sie zeigen soll.«
Und so war es auch. Mein Vater war kein guter Mensch, aber er war meistens ein guter Vater, auch wenn er seine Liebe nie unmittelbar zeigte. Er bewies sie durch seine Taten und durch seine Kritik. Ich erinnerte mich an eine Situation, als ich noch jünger gewesen war. Mom lernte damals für ihre Prüfung zur Krankenpflegerin und bat Dad, ihr beim Lernen zu helfen. Doch der erklärte ihr kurz und bündig, dass er das nicht tun würde, schließlich würde er bei der Prüfung ja auch nicht neben ihr sitzen.
Ich fand das ziemlich gemein von ihm, und das ohne wirklichen Grund.
Mom widersprach. »Er hat ja recht, er wird bei dem Test auch nicht dabei sein, also muss ich es alleine hinkriegen.«
Sie bestand die Prüfung auch ohne seine Hilfe, und als sie ihm die frohe Botschaft verkündete, wartete im Wohnzimmer eine Diamantkette auf sie. »Ich wusste, dass du es schaffen würdest«, sagte er. »Du bist auch ohne mich klug genug.«
Sie haben sich geliebt. Von außen betrachtet, sah es vielleicht so aus, als würde Mom ihn mehr lieben als er sie, aber ich wusste es besser. Mein Vater war ein komplizierter Mensch. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann er mir zum letzten Mal gesagt hatte, dass er mich liebhatte, aber er zeigte mir seine Liebe mit seinem Blick, seinem knappen Nicken und der Andeutung eines Lächelns. Wenn er mit dir zufrieden war, dann nickte er dir zweimal zu. Wenn er wütend war, dann stachen dir seine eisblauen Augen ein Loch in die Seele. Wenn er fuchsteufelswild war, dann schlug er ein Loch durch die Wand. Und wenn er traurig war, verschwand er einfach.
Die Liebesgeschichte meiner Eltern beinhaltete eine lange Reihe schwieriger Jahre. Dad hatte früher, als er im Viertel mit Drogen gedealt hatte, einigen Ärger gemacht. Es mochte seltsam klingen, aber mein Vater war gut in dem, was er tat. Er war ein guter Verkäufer. Mom sagte immer, er könnte anderen Leuten Pferdemist verkaufen, und sie würden ihn als Shampoo benutzen. Eine Zeit lang ging es uns finanziell richtig gut. Erst als er anfing, die Drogen selbst zu nehmen, fiel alles auseinander. Das Schlimmste, was ein Dealer tun kann, ist sein eigenes Produkt zu testen. Mit den Drogen stieg sein Alkoholkonsum, und er wurde kalt. Distanziert. Hart.
Gemein.
An vielen Abenden kam er so betrunken und zugedröhnt nach Hause, dass er nur noch lallen konnte. An anderen kam er gar nicht.
Doch dann wurde ein Freund von ihm erschossen. Er selbst wurde verhaftet und musste für ein paar Jahre ins Gefängnis.
Als er wieder rauskam, machte er einen Alkohol- und Drogenentzug und hörte auf zu dealen.
Mittlerweile war er seit über einem Jahr wieder zu Hause.
Ein Jahr, zwei Monate und siebenundzwanzig Tage, um genau zu sein.
Aber wer zählte schon mit?
Mom weigerte sich, über Dads damalige Probleme zu reden. Sie tat so, als wäre das alles nie passiert. Meine Großmutter Mima jedoch hatte kein Problem damit, die Vergangenheit meines Vaters zu thematisieren. Sie war in der Zeit, als Dad im Gefängnis gesessen hatte, zu Mom und mir gezogen. Wir brauchten Hilfe im Haus, und Mima half uns, die Rechnungen zu bezahlen. Ich war ihr dankbar dafür. So kalt mein Vater auch war, meine Großmutter war das Gegenteil von ihm. Sie war warm, offenherzig und freigiebig. Mima hatte ein Herz aus Gold und tat alles, damit es den Menschen, die sie liebte, gut ging.
Mit nur uns drei Frauen im Haus hatte sich alles so leicht, so fröhlich und frei angefühlt. Ich schlief viel besser ohne die Angst vor dem Ungewissen, die meinen Vater immer umgeben hatte. Während er im Gefängnis saß, konnte er wenigstens nicht noch weiter in Schwierigkeiten geraten oder gar getötet werden, wenn ein Deal nicht so lief wie geplant.
Es war kein Geheimnis, dass meine Großmutter und mein Vater in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung waren. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, ging er davon aus, dass er die Führung im Haus einfach wieder übernehmen würde. Aber Mima sah das ein wenig anders. Die beiden gerieten regelmäßig aneinander. Mom gab sich alle Mühe, den Frieden im Haus zu wahren, und in den meisten Fällen gelang ihr das auch. Mima ging meinem Vater aus dem Weg, und mein Vater ihr.
Abgesehen von den Gelegenheiten, an denen wir alle zusammenkamen, um ein bedeutendes Ereignis zu feiern.
Wenn meine Familie nämlich etwas konnte, dann bedeutende Ereignisse feiern, und Moms Geburtstag war so ein Ereignis. Sie wurde heute zweiunddreißig, und ich sage euch, sie sah immer noch aus wie achtzehn. Oft hielten Leute Mom und mich für Schwestern – Junge, wie sie das liebte. Ich war mir sicher, dass ich meinen Genen eines Tages noch sehr dankbar sein würde.
Meist feierten wir gemeinsam mit meiner Cousine Eleanor und deren Eltern Kevin und Paige. Onkel Kevin war der ältere Bruder meines Vaters, aber er sah mindestens fünf Jahre jünger aus als Dad. Allerdings hatte er auch kein so gefährliches, abenteuerliches Leben hinter sich. Die Fältchen in Kevins Gesicht stammten nicht vom Stress und dem Kampf auf der Straße, es waren Lachfalten.
Mima stellte den Geburtstagskuchen auf den Tisch und begann »Happy Birthday« zu singen, und alle stimmten mit ein. Mom strahlte von einem Ohr zum anderen, während wir laut und unmelodisch für sie sangen. Sie saß neben Dad, und ich sah, wie seine Hand sanft ihr Knie drückte.
Manchmal beobachtete ich, wie Dad Mom mit glänzenden Augen ansah. Wenn ich ihn dann auf seinen sehnsüchtigen Blick ansprach, schüttelte er jedes Mal den Kopf und erklärte: »Ich habe sie nicht verdient. Deine Mutter ist eine Heilige, sie ist einfach zu gut für mich – zu gut für diese Welt.«
Darin waren wir uns einig. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie mit meinem Vater alles durchgemacht hatte. Und Mom würde es mir auch niemals erzählen. Ich war mir sicher, wenn ich alles wüsste, würde ich meinen Vater hassen, was vermutlich der Grund war, warum Mom es für sich behielt. Sie wollte mein Bild von dem Mann, der mich großgezogen hatte, nicht zerstören. Doch ich wusste, dass es nicht leicht war, einen Mann wie ihn zu lieben. Dafür brauchte man ein robustes Herz, und ich wusste, das Herz meiner Mutter war stark. Wenn es eine Konstante in meinem Leben gab, dann war es die Liebe meiner Mutter. Ich zweifelte niemals an ihr, und ich denke, Dad ging es genauso. Wenn sie sich auf etwas einließ, dann blieb sie dabei – sie war ein Vorbild an Loyalität. Wenn sie jemanden liebte, dann von ganzem Herzen, selbst wenn es sie ihre Seele kosten mochte.
Mima schnitt den Kuchen an, und Paige lächelte ihr zu. »Du musst mir unbedingt das Rezept geben, Maria. Der Kuchen ist einfach unglaublich.«
»Oh nein, Süße. Meine Rezepte nehme ich mit ins Grab. Ich bin fest entschlossen, mich mit meinem Kochbuch begraben zu lassen«, erwiderte Mima halb im Scherz. Aber ich zweifelte nicht daran, dass sie dieses Buch tatsächlich mit ins Grab nehmen würde. Mom wäre vermutlich verrückt genug, es wieder auszugraben, nur um noch einmal den Geschmack von Mimas Enchiladas auf der Zunge zu schmecken. Ich konnte es ihr nicht verübeln.
Wenn Mima kochte, fühlte man sich, als kostete man ein Stück vom Himmel, also würde ich neben meiner Mutter in der Erde knien, mit der Schaufel in der Hand, auf der Suche nach der geheimen Zutat in Mimas selbstgemachten Tortillas.
Als alle ein Stück Kuchen vor sich hatten, erhob Dad sich und räusperte sich. Mein Vater hielt normalerweise keine Reden. Er war eher der stille Typ. Mom sagte immer, er grübele alle Worte zu Tode, und wenn sie endlich bereit seien, seinen Mund zu verlassen, kamen sie nur noch stumm heraus.
Doch jedes Jahr an Moms Geburtstag sprach er einen Toast auf sie aus – abgesehen von den Jahren, in denen er nicht zu Hause gewesen war.
»Ich möchte ein Glas Sekt erheben«, erklärte Dad, »und Traubenschorle für die Jüngeren unter uns. Camila, du bist das strahlende Licht dieser Familie, dieser Welt, und wir können uns glücklich schätzen, mit dir eine weitere Runde um die Sonne drehen zu können. Danke, dass du immer zu dieser Familie gestanden hast – zu mir –, was auch sein mochte. Du bist mein Leben, mein Atem, meine Luft, und heute wollen wir dich feiern. Auf eine weitere Runde und noch viele mehr!«
Alle jubelten und tranken und lachten. Ich liebte diese Momente, in denen glückliche, lachende Erinnerungen geschaffen wurden.
»Oh, natürlich, dein Geschenk«, sagte Dad. Er ging aus dem Zimmer und kehrte mit einer kleinen Schachtel wieder zurück.
Mom setzte sich ein wenig auf. »Kurt, du hättest mir kein Geschenk kaufen müssen.«
»Natürlich. Mach es auf.«
Mom rutschte ein wenig auf ihrem Stuhl hin und her. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Wenn sie etwas hasste, dann Aufmerksamkeit. Als sie ihr Geschenk öffnete, schnappte sie nach Luft. »Oh, mein Gott, Kurt. Das ist zu viel.«
»Nicht für dich.«
Mom hielt ein paar funkelnde Diamantohrringe hoch.
Mima zog eine Augenbraue hoch. »Die sehen ganz schön teuer aus.«
Dad zuckte mit den Schultern. »Für meine Frau ist mir nichts zu teuer.«
»Aber wenn es tatsächlich zu teuer ist und du nur einen Teilzeitjob als Hausmeister hast und einen weiteren im Postamt?«, erwiderte sie.
»Wie wäre es, wenn du dich um deine eigenen Finanzen kümmern würdest, Maria? Ich kümmere mich um meine«, zischte Dad.
Und da war sie wieder, die Anspannung, die unser Haus erfüllte. Jedes Mal, wenn die beiden sich stritten, wurde die Luft dicker.
»Nun, ich danke dir, Liebling.« Mom stand auf und umarmte Dad. »Auch wenn sie wirklich sehr teuer aussehen.«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Ich habe ein wenig dafür gespart. Du hast es verdient, hübsche Dinge zu haben«, erklärte er.
Mom sah aus, als wollte sie etwas sagen, doch sie sprach nur selten aus, was sie dachte. »Okay. Lasst uns den Kuchen essen und den Sekt trinken und feiern.«
Das Thema Diamantohrringe war damit beendet, und ich war froh darüber. Es war vermutlich ganz gut, dass wir Gäste hatten, sonst wäre der Streit zwischen Mima und Dad noch eskaliert.
Eleanor saß mit einem Buch in der Hand am Tisch, und ihr Blick glitt ununterbrochen von links nach rechts und wieder zurück.
»Es freut mich zu sehen, dass du ein wenig mehr aus dir herausgehst, Eleanor«, scherzte Mima und schob ihr ein Stück Kuchen hin.
Eleanor klappte ihr Buch zu und wurde rot. »Entschuldigt. Ich wollte vor dem Essen nur noch das Kapitel zu Ende lesen.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du immer gerade dabei bist, ein Kapitel zu Ende zu lesen«, sagte ich und stieß ihr freundschaftlich in die Seite.
»Sagt diejenige, die immer gerade dabei ist, ein Skript zu Ende zu schreiben«, gab sie zurück.
Touché.
Das Einzige, was Eleanor und ich, abgesehen von unserer DNA, gemeinsam hatten, war unsere Liebe für Wörter und gute Geschichten, was ausreichte, um uns zu besten Freundinnen zu machen.
Eleanor in meinem Leben zu haben war so, wie jeden Tag einen frischen Strauß Blumen geschenkt zu bekommen. Sie war klug, liebenswert und erfrischend sarkastisch. Keiner konnte mich besser zum Lachen bringen als sie.
Die Stillsten hatten immer die besten Kommentare parat.
»Apropos Skript«, sagte Eleanor und drehte sich zu mir um, während sie sich eine Gabel voll Kuchen in den Mund schob. »Wann bekomme ich endlich zu lesen, woran du gerade arbeitest?«
Eleanor hatte meine sämtlichen Manuskripte gelesen – und das waren eine Menge – und war ohne Zweifel mein größter Fan. Aber sie war auch meine schärfste Kritikerin, und ihr Feedback half mir, immer besser zu werden.
Als ich Eleanor damals mein erstes Skript zu lesen gegeben hatte, hatte sie mir versprechen müssen, mit niemandem darüber zu reden.
Worauf sie geantwortet hatte: »Okay, Shay. Ich verspreche dir, weder Mr Darcy noch Elizabeth Bennet zu erzählen, worüber du schreibst. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich es nicht Ron, Harry oder Hermione erzähle.« Es war ein Scherz und spielte darauf an, dass sie außer mir keine Freunde hatte, was wirklich schade war, denn so entging vielen Leuten die Gelegenheit zu erfahren, wie großartig Eleanor Gable war.
Mein Handy meldete sich, und dann noch einmal – gefolgt von einer Million weiterer Meldungen. Mom sah mich mit einem wissenden Lächeln an. »Tracey?«
»Garantiert«, antwortete ich. Der einzige Mensch, der nonstop schrieb, ohne eine Antwort abzuwarten, war meine Freundin Tracey. Wir kannten uns schon seit einer Ewigkeit, und es war allgemein bekannt, dass Tracey gerne und viel redete. Sie war Kapitänin der Cheerleader und sprühte förmlich vor Teamgeist. Ich hatte ja selbst ein wenig davon in den Knochen, aber Tracey bewegte sich auf einem vollkommen anderen Level. Sie lebte und atmete Jackson High.
So war es auch nicht verwunderlich, dass sie eines der beliebtesten Mädchen an der Schule war. Sie war intelligent, schön und witzig. Nur schade, dass die meisten Jungs von ihrer Begeisterung für das Leben abgeschreckt wurden.
Tracey: OMG! Reggie kommt auf die Party @ Lands am SAMSTAG! SHAY, DA MÜSSEN WIR HIN
Tracey: Bevor du Nein sagst (und ich weiß, dass du es denkst) ich MUSS MUSS MUSS da hin!
Tracey: Ich brauch dich als Flügelfrau
Tracey: 3 Worte: Reggie wird da sein
Tracey: OK das waren 4, aber du weißt was ich meine!
Tracey: BIIIITTTEEE SHAY! Ich brauch dich. Reggie ist DER MANN für mich, und eine Party bei Land wird ihm helfen, das zu erkennen
Tracey: Ja?
Tracey: Ich sorg dafür, dass du Landon nicht mal siehst, geschweige denn dieselbe Luft atmest wie er
Tracey: Ich kauf dir auch ein Pony oder so. Bitte?
Ich lachte, als ich Traceys übermäßig dramatische Nachrichten las. Sie war total in den Neuen, Reggie, verknallt. Er war genau der Typ, bei dem Tracey den Verstand verlor: überzogen maskulin, arrogant, auf eine eher lachhafte Art gut aussehend und sich seines Aussehens absolut bewusst. Ich wusste nicht viel über ihn, abgesehen von dem, was Tracey mir erzählt und was ich während unserer kurzen Begegnungen in der Schule gesehen hatte, aber ich war mir sicher, dass Reggie einige ATs hatte – Arschloch-Tendenzen. Ich hatte noch nicht genügend Informationen gesammelt, um sagen zu können, ob er ein KA – ein komplettes Arschloch – war, aber ich blieb dran, in der Hoffnung, meine Freundin vor potenziellem Liebeskummer zu bewahren.
Wenn ich etwas konnte, dann andere Menschen durchschauen. Das gehörte zu meinem Talent, echte Menschen als Vorbilder für die Entwicklung meiner Figuren zu verwenden. In der Regel erkannte ich sehr schnell, ob jemand Held, Schurke oder eher eine Helferfigur war, aber manche Leute waren ein wenig schwieriger einzuschätzen. Bei Reggie brauchte ich mehr Kontakt, um ein Gefühl für ihn zu bekommen.
Tracey: Bedeutet dein Schweigen ja?
Ich: Ich will ein blondes Pony, das Marcy heißt.
Tracey: Deshalb liebe ich dich.
Eine Party in Landons Haus war eine seltsame Vorstellung. Wir hatten unsere Abneigung für einander ziemlich gut konserviert, was bedeutete, dass ich normalerweise nie auf seinen Partys auftauchte, von denen im Laufe des letzten Jahres so einige stattgefunden hatten. Seit sein Onkel gestorben war, schien es fast, als würde er jedes Wochenende eine Party geben.
Doch wenn Tracey unbedingt bei Reggie landen wollte, war es wohl meine Pflicht als ihre Freundin, sie diesmal dorthin zu begleiten. Hoffentlich waren so viele Leute da, dass ich Landon weiträumig umgehen konnte.
Wir hatten den gleichen Freundeskreis, und ich mochte alle wirklich gern, aber Landon und ich waren noch nie miteinander ausgekommen. Schon als Kind hatte er mich nicht leiden können. Einmal hatte er mich »Chicken« genannt, weil ich auf einer Party nicht mitgekifft hatte, und seitdem nannte er mich immer so. Ich nannte ihn »Satan« – aus offensichtlichen Gründen.
Nur ein einziges Mal hatte es beinahe so etwas wie eine Verbindung zwischen uns gegeben, und zwar als Mima mich mit zu Lance’ Beerdigung genommen hatte. Nach der Beerdigung waren alle zurück zum Haus von Landons Eltern gefahren, und ich hatte ihn bei meiner Suche nach der Toilette zufällig in seinem Zimmer sitzen sehen. Er hatte in Anzug und Krawatte auf seinem Bett gesessen und so geweint, dass er kaum Luft bekam.
Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte, denn wir waren schließlich keine Freunde. Man konnte uns kaum als Bekannte bezeichnen. Wenn überhaupt, dann war ich die böse Hexe in seiner Geschichte, so wie er der Schurke in meiner war. Doch in dem Augenblick wirkte er so allein, so verzweifelt. Auch wenn ich ihn nicht besonders mochte, wusste ich doch, wie sehr er Lance geliebt hatte. Es war kein Geheimnis, dass sein Onkel eine Art Vaterfigur für ihn gewesen war, während sein richtiger Vater bloß irgendein Mann war, der Geld auf sein Bankkonto überwies.
Ich tat also das Einzige, das mir einfiel. Ich ging zu ihm und setzte mich neben ihn. Ich löste seine Krawatte, und er schluchzte in meinen Armen. Er fiel vollkommen in sich zusammen, ich sah, wie er in Millionen Scherben zerbrach.
Am nächsten Morgen in der Schule trat ich zu ihm, als er seine Bücher aus dem Spind nahm, weil ich wissen wollte, ob alles in Ordnung war. Er verzog grimmig das Gesicht und knallte die Tür zu. Dabei hielt er den Kopf gesenkt und weigerte sich, mir in die Augen zu blicken, während er leise und mit kontrollierter Stimme erklärte: »Das läuft nicht, Chicken – dass wir beide miteinander reden. Du hast dich nie für mich und meine Gefühle interessiert, also fang jetzt nicht damit an, bloß weil Lance tot ist. Ich will dein Mitleid nicht. Geh und rede mit jemandem, den es interessiert, mich interessiert es jedenfalls nicht.«
Wir sprachen nie wieder über den Moment in seinem Haus. Es war beinahe so, als hätte ich es mir nur eingebildet. Aber gut, wenn er nicht vorhatte, es anzusprechen, dann würde ich es auch nicht tun. Und so kehrten wir zu unserer alten Gewohnheit zurück, und ich war froh darüber – auch wenn ich hin und wieder daran denken musste, wie traurig der beliebteste Junge der Schule war und dass es niemand zu bemerken schien.
Vielleicht war es nur eine vorübergehende Traurigkeit, die Art von Traurigkeit, die mit der Zeit wieder verging. Vielleicht fühlte Landon sich mittlerweile wieder besser. Aber wie es auch sein mochte, er hatte sehr deutlich gemacht, dass es mich nichts anging.
Ich musste mir einen Plan für seine Party zurechtlegen – ein paar unfreundliche Kommentare, ein paar Linkskurven, wenn er mir entgegenkam, jede Menge konsequente Vermeidung.
»Hey, Eleanor.« Ich stupste sie leicht gegen die Schulter. Sie hatte ihr Stück Kuchen bereits verdrückt und sich wieder ihrem Buch zugewandt. »Hast du Lust, am Samstag mit Tracey und mir auf eine Party zu gehen?«
»Ist es eine Leseparty?«
»Eine Leseparty?«
»Du weißt schon, wo ein paar Leute zusammenkommen, sich in einen Kreis setzen und einander stundenlang ignorieren, während sich jeder in sein Buch vertieft? Findet sie in einer Bücherei statt? Gibt es Gratislesezeichen?«
Ich lachte. »Ähm, nein.«
»Oh. Nun, dann: Nein, danke.« Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Buch. Ich schwor mir, eines Tages würde ich sie zu einer der albernen Highschool-Partys schleppen, und sie würde sich genauso damit abquälen müssen wie wir alle.
Und wer weiß? Vielleicht würde sie sich sogar verlieben. Oder sich vermögen. Mom sagte immer, der erste Schritt, um sich zu verlieben, war, einen anderen Menschen zu mögen. Dann erschien einem der freie Fall der Liebe nicht mehr so gefährlich. Doch Eleanor gab sich nicht einmal die Möglichkeit, einen anderen Menschen zu mögen. Meine Cousine stand nicht auf Jungs, es sei denn, sie waren erfunden, doch ich hoffte wirklich, dass eines Tages jemand kommen und ihr Herz erobern würde. Aber vielleicht war das auch nur die Drehbuchschreiberin in mir. All meine Skripte hatten ein Happy End, und das Gleiche wünschte ich mir auch für die Menschen, die ich liebte.
Davon abgesehen war ich mir fast sicher, dass Eleanor sogar ein zufriedenes Leben geführt hätte, wenn man sie mit fünf Millionen Büchern zusammen in einen Kerker gesperrt hätte.
Oh? Und wie ist Eleanor Gable gestorben?
Umgeben von einer Million Happy Ends und einer Handvoll Was-zur-Hölle-Enden.
Während Eleanor immer tiefer in ihrer Geschichte versank, versuchte ich mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich zu einer Party bei Landon gehen würde. Ich würde das Haus eines Jungen betreten, den ich nicht ausstehen konnte und dem es andersrum genauso ging.
Und ich zumindest war ganz und gar nicht bereit dafür.
Ich verbrachte den größten Teil des Samstagvormittags damit, Tracey zu beruhigen, die grandios darin war, jede Situation zehnfach zu überdenken. Meine Mutter versuchte mich zu überreden, zu Hause zu bleiben und was vom Chinesen zu bestellen, aber ich wusste, dass Tracey mich umbringen würde, wenn ich in letzter Sekunde absprang.
Auch wenn ich alles getan hätte, um zu Hause sitzen und Frühlingsrollen essen zu können, statt zu Landons Party gehen zu müssen.
»Oh, Gott, mir ist ganz schlecht vor Aufregung«, stöhnte Tracey, als wir schließlich vor Landons Haus standen.
Ich.
Vor Landons Haus.
Mist.
Eine Sekunde lang spielte ich mit dem Gedanken, wieder zu gehen. Ich stellte mir vor, wie ich mich auf den Absätzen meiner Sneakers umdrehte und auf die nächste Party bei jemand anderem am nächsten Wochenende wartete. Seit ich beschlossen hatte, heute herzukommen, hatte ich ein seltsames Gefühl im Bauch, das ich nicht wieder loswurde. Mir war bewusst, dass ich das Ganze überbewertete, aber der Gedanke, dass beim letzten Mal, als ich in diesem Haus gewesen war, meine Arme um Landon gelegen hatten, machte mich verrückt.
Der intime Moment, in dem wir unsere gegenseitige Abneigung für Minuten vergessen hatten, war mir noch immer so lebhaft in Erinnerung, als wäre es gestern gewesen. Ich sah seine blauen Augen, die in einem Meer aus Tränen schwammen, spürte das Beben seines Körpers und seinen Schmerz, so roh und ungefiltert. Er war das Gegenteil von dem Landon gewesen, als der er sich in der Schule präsentierte. Dort wirkte er immer so distanziert, als bewege er sich in der Welt, ohne ein Teil von ihr zu sein. Er war fast schon herablassend cool, so ruhig und gefasst, als könnte nichts und niemand ihm etwas anhaben. Doch an diesem Abend, als ich neben ihm auf seinem Bett gesessen und ihn in meinen Armen gehalten hatte, hatte ich sein Herz gesehen, sein sanftes, leidendes Herz, und es blutete genauso wie das aller anderen Menschen.
Vielleicht sogar ein wenig mehr.
Ich blickte zu meiner hoffnungsvollen Freundin hinüber. Seit sie von dieser Party erfahren hatte, zu der auch Reggie kommen würde, hatte sie nicht aufgehört, darüber zu reden. Tracey war fest davon überzeugt, dass sie bei solchen Hauspartys am besten flirten konnte, da in der Schule zu flirten viel zu anstrengend sei. Sie bevorzugte gedämpftes Licht und laute Musik. Und Tequila.
Vor allem Tequila.
»Ich meine es ernst, ich bin so nervös«, wiederholte sie und riss mich damit aus meinen Gedanken an Landon.
»Wieso? Du bist wundervoll, und Reggie wäre ein Idiot, wenn er das nicht sehen würde«, erklärte ich, während sie sich die Lippen nachzog und mir dann ihren Lippenstift reichte, um es ihr gleichzutun.
»Echt? Findest du, mein Outfit ist übertrieben? Ich wollte auf Schlampe machen, aber nicht zu sehr. Eher so: Ja, ich hab Titten, aber du darfst sie nicht anfassen.«
»Du könntest nackt sein, trotzdem hätte kein Typ das Recht, dich anzufassen«, erklärte ich. »Außerdem machen Klamotten dich nicht zu einer Schlampe. Das ist bloß so ein perverses Vorurteil unserer Gesellschaft.« Eines Tages würde ich werden wie meine Mutter und meine Großmutter und über die Würde der Frau predigen und genau wissen, was ich von einem Mann erwarten konnte und was nicht.
Sie kicherte und verdrehte die Augen. »Okay, Mutter Teresa, aber ich wollte eigentlich nur wissen, ob meine Titten zur Geltung kommen.«
Ich lachte. »Wenn ich Reggie wäre, würde ich hingucken.«
Tracey strich sich die Haare hinter die Ohren, nur um sie anschließend wieder hervorzuziehen, sodass sie wieder so aussah wie vorher. Wenn sie nervös war, fummelte sie ständig an irgendwas rum. »Okay. Okay. Er ist bloß ein Junior. Ist ja nicht so, als wäre er der heißeste Senior der Schule oder so. Er ist nur vier Monate älter als ich – das ist gar nichts, richtig? Es gibt also keinen Grund, sich unter Druck zu setzen, aber wenn ich keinen Druck mache, denkt er vielleicht, dass ich ihn nicht mag oder so, und das wäre das genaue Gegenteil von dem, was ich ihm mitteilen will, und, und, und …«
»Tracey«, unterbrach ich sie.
»Ja?«
»Atme.«
Sie stieß eine Wolke heißer Luft aus. »Okay.«
»Sei einfach du selbst, und wenn das nicht reicht, dann scheiß auf Reggie. Es gibt noch mehr süße Typen auf der Welt.«
Sie kicherte. »Na, wenn du das sagst, Shay. Dir werfen sich die Jungs ja auch jeden Tag zu Füßen. Nicht jeder von uns wurde so perfekt geboren.«
Ich sagte nichts, denn Tracey machte ständig solche Bemerkungen, und das gab mir immer ein komisches Gefühl. Ich wollte nicht, dass die Leute mich bloß wegen meines Aussehens kannten, aber so was zu sagen, hätte total aufgesetzt und nervig geklungen. Ich wusste, dass ich gut aussah, aber aus irgendeinem Grund schämte ich mich, es zuzugeben, auch wenn ich mir mein Aussehen nicht selbst ausgesucht hatte. Es war irgendwie das Uninteressanteste an mir.
Mir wäre es lieber gewesen, wenn die Jungs wegen meiner Kreativität, meines Humors oder meines absolut enzyklopädischen Wissens über Charmed auf mich gestanden hätten, nicht bloß, weil sie fanden, dass ich scharf aussah.
Ich hatte das Glück gehabt, die Gene meiner Mutter zu erben. Mima nannte es unser Martinez-Erbe. Sie selbst sah eher aus wie vierzig als wie sechzig. Wir waren einfach mit einer jugendlichen Haut gesegnet. Dad erklärte immer, Mom hätte mich ganz allein gemacht, in mir stecke kein Fitzelchen von ihm. »Aber das da ist definitiv mein Ohrläppchen«, scherzte er dann. »Und ich bin mir sicher, das ist mein linker Ringfinger.«
Ich hatte Moms schokoladenbraune Augen und ihre vollen Lippen. Mein Haar war gewellt und tiefschwarz, und mein Körper besaß die Kurven meiner Mutter, was den Jungs zu gefallen schien. Doch gerade diese Eigenschaften dienten mir als Alarmsignal, wenn es darum ging, einen Jungen zu mögen. Wenn eine seiner ersten Bemerkungen über mich sich auf meinen Körper bezog, wusste ich sofort, dass der garantiert niemals ihm gehören würde.
»Du bist mehr als dein Körper, und nur derjenige, der das erkennt, darf dich auf diese Weise haben«, sagte Mima mir immer wieder, und ich war mir sicher, dass sie das Gleiche auch schon Mom erklärt hatte, als sie in meinem Alter gewesen war.
Tracey und ich traten ins Haus, und ich ließ die Luft aus meinen Lungen, die ich offenbar die ganze Zeit angehalten hatte.
Ich hatte es getan. Ich hatte die Türschwelle zu Satans Gemächern überschritten und es überlebt. Und zu meiner Überraschung war ich auch nicht in Flammen aufgegangen. Engel wie ich waren nicht dazu bestimmt, im selben Ring zu tanzen wie der Teufel.
Ich ließ meinen Blick über die Partygäste gleiten und stellte fest, dass es allesamt Leute waren, die ich als meine Freunde bezeichnet hätte. Das machte es ein wenig leichter. Mit meinen Leuten um mich herum konnte ich ich selbst sein und mich gut dabei fühlen.
»Da ist er!«, zischte Tracey und stieß mich an. Sie wies mit dem Kinn auf den Kamin, wo Reggie mit ein paar Jungs aus dem Footballteam stand. Er hatte ein Bier in der Hand und lachte und redete vermutlich mit dem Südstaatenakzent, bei dem die halbe Schülerschaft schier den Verstand zu verlieren schien.
»Komm, wir gehen rüber und sagen ›Hi‹«, bot ich an, und Tracey erstarrte. »Oh, Tracey, jetzt komm schon. Ich glaube nicht, dass er beißt, und wenn, dann fühlt es sich wahrscheinlich ziemlich gut an«, scherzte ich und zog sie mit mir.
Als wir uns der Gruppe näherten, verstummte das Männergespräch, und die Jungs sahen uns grinsend entgegen.
»Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da?«, bemerkte Eric und ließ seinen Blick über mich gleiten. »Und im Doppelpack«, fügte er hinzu und pfiff leise und anerkennend.
Ich lächelte breit und stieß ihn in die Seite. »Hey, Kumpel. Ich hatte gehofft, dich hier zu sehen, damit ich heute Abend ein bisschen die Augen verdrehen kann.« Eric und ich waren ein paar Mal ausgegangen, und damit meine ich, wir hatten uns ganze dreimal geküsst, bevor er mir gesagt hatte, dass er deutlich mehr bei der Sache wäre, wenn ich einen Schwanz in der Hose hätte. Nun gut. Er hatte es bisher niemandem außer mir gestanden, und sein Geheimnis war bei mir gut aufgehoben. Das Beste, das wir aus unserer fünfmonatigen Beziehung mitgenommen hatten, war eine gute Freundschaft.
Ja, wir waren fünf Monate zusammen gewesen und hatten uns nur dreimal geküsst. Meine Alarmleuchten hätten also schon viel früher angehen sollen, aber bei seinem ersten festen Freund denkt man ja nicht gleich an so was.
»Nun, du hast Glück«, erklärte Eric und legte den Arm um meine Schulter. »Ich fühle mich heute Abend ganz besonders nervtötend.«
Tracey stand wie erstarrt, offensichtlich nervös und ein wenig verloren da. Sie ertrank in Selbstzweifeln, und als gute Freundin versuchte ich, sie wieder an Land zu ziehen.
»Hey, Reggie, spielst du Bier Pong?«, fragte ich.
»Machst du Witze? Ich bin amtierender Bier-Pong-Meister«, erwiderte er arrogant, und ich konnte förmlich sehen, wie meine Freundin bei diesen Worten weiche Knie bekam. Er war ganz und gar nicht mein Typ, aber wenn Tracey auf ihn stand …
»Nun, Tracey hier ist auch ziemlich gut. Sie hat noch nie ein Spiel verloren.«
Reggie sah Tracey an und zog eine Augenbraue hoch. Jesses, sogar seine Augenbrauen waren arrogant. »Ach ja?«
»Oh, äh, ja, sie hat recht. Ich habe noch nie ein Spiel verloren?«, stammelte Tracey. Mein armer, nervöser Schmetterling. Wenn sie doch nur ihre Flügel ein wenig ausbreiten würde, würde sie sich auch wieder daran erinnern, wie man flog.
»Es stimmt. Ihr solltet mal gegeneinander spielen. Das wird bestimmt witzig«, schlug ich vor.
Reggie zuckte mit den Schultern. »Ja, warum nicht. Lasst uns was zu trinken besorgen und ’ne Runde spielen. Dein Name ist Tracey, richtig?«
Ihr Gesicht wurde knallrot. »Ja, Tracey mit ›e‹, ist nicht weiter wichtig, weil man es eh nicht spricht, aber meine Mom dachte …«
Ich hüstelte und stupste sie leicht gegen die Schulter, um ihren Redefluss zu stoppen.
Sie wurde noch roter und verstummte. »Ja, Tracey. Lass uns was zu trinken besorgen.« Bevor sie ging, lehnte sie sich zu mir herüber und flüsterte: »Du hast dir dein Pony so was von verdient. Und da Eric heute Abend schon mal da ist, könntest du seinem Pony ja mal einen Ausritt gönnen.« Sie grinste und zwinkerte mir voller Stolz zu.
Oh Tracey. Wenn sie wüsste, dass Erics Pony eine Keine-XX-Chromosom-Reiter-Regel hatte. Reggie hätte größere Chancen, es zu reiten, als ich.
Die beiden zogen ab, und ich hörte, wie meine Freundin über Gott und die Welt plauderte, während Reggies Blick immer wieder zu ihren Brüsten glitt.
»Dir ist schon klar, dass sie mit ihm nur ihre Zeit verschwendet, oder? Er ist ein ziemlicher Lauch«, bemerkte Eric. »Ich mein, er hat die ganze Zeit nur davon geredet, wie viele Frauen er schon zu Hause hatte.«
Ich seufzte. »Ja, das hab ich befürchtet. Aber du weißt ja, was sie sagen: Das Herz will, was das Herz will.« Und Traceys Herz bestand auf ihren nächsten Fehltritt.
»Und ihr Herz will unbedingt Herpes«, bemerkte Eric trocken, und ich musste lachen.
Apropos Herz. Meins machte einen Satz, als Landon den Raum betrat.
Es wäre gelogen, wenn ich behauptet hätte, dass er nicht gut aussah. Im Laufe der Jahre war aus dem nervigen Jungen ein nervtötender Mann geworden, und ich hatte diese Entwicklung aus der Ferne beobachtet. Ich wünschte, er wäre ein wenig länger in der Zahnspangen-Phase hängengeblieben, aber da hatte er Pech gehabt. Jetzt besaß er ein perfektes Lächeln, passend zu seinen perfekten blauen Augen, den immer ein wenig zerzausten braunen Haaren und seinem durchtrainierten Körper. Irgendwie hatte er sich über Nacht von einem schlaksigen Jungen in den Unglaublichen Hulk verwandelt. Selbst seine Muskeln hatten Muskeln, und jedes Mal, wenn ich sie betrachtete, hatte ich das Gefühl, dass sie mir den Mittelfinger zeigten.