Wild wuchern - Katharina Köller - E-Book

Wild wuchern E-Book

Katharina Köller

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Beschreibung

»Katharina Köller erzählt beherzt, feinsinnig und abgründig. Ein soghaftes Alpen-Kammerspiel.« Daniela Dröscher

Marie rennt panisch einen Berg hinauf. Auf der Flucht vor einer Welt, in der vieles aus dem Lot geraten ist, sucht sie Schutz bei ihrer Cousine Johanna. Ausgerechnet bei Johanna, die seit Jahren wie eine Eremitin auf einer entlegenen Tiroler Alm lebt. Marie und Johanna, sie könnten nicht unterschiedlicher sein: die scharfzüngige Wienerin, Luxusgeschöpf aus einer Luxuswelt, zugleich verwöhnt und verachtet von Ehemann Peter – und das »wilde Tier im Körper von einem Menschen« (Marie über Johanna), das beim Erwachsenwerden scheinbar die Sprache verloren und die Gesellschaft hinter sich gelassen hat. Für die beiden Frauen beginnt ein ungewöhnliches Kräftemessen, ein Ringen um ihr Selbstverständnis, aber auch um einen gemeinsamen Weg.

In ihrem so poetischen wie politischen Roman, Märchen, Parabel und pulsierende Zivilisationskritik in einem, feiert Katharina Köller zwei Frauen und ihren eigensinnigen Aufbruch ins Leben.

»Ich war dort, wo man mich hingepflanzt hat, wie ein Ziergewächs in einem Topf. Jetzt bin ich hier und wuchere.«

»Kann man noch weiblicher, noch österreichischer, noch besser schreiben? Ich denke nicht!« Mareike Fallwickl

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Seitenzahl: 203

Veröffentlichungsjahr: 2025

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»Ein Roman wie eine Naturgewalt: stürmisch, fesselnd und dabei voller Zärtlichkeit.« Doris Knecht

Marie rennt panisch einen Berg hinauf. Auf der Flucht vor einer Welt, in der vieles aus dem Lot geraten ist, sucht sie Schutz bei ihrer Cousine Johanna. Ausgerechnet bei Johanna, die seit Jahren wie eine Eremitin auf einer entlegenen Alm lebt. Marie und Johanna, sie könnten nicht unterschiedlicher sein: die scharfzüngige Wienerin, Luxusgeschöpf aus einer Luxuswelt, zugleich verwöhnt und verachtet von Ehemann Peter – und das »wilde Tier im Körper von einem Menschen« (Marie über Johanna), das beim Erwachsenwerden scheinbar die Sprache verloren und die Gesellschaft hinter sich gelassen hat. Für die beiden Frauen beginnt ein ungewöhnliches Kräftemessen, ein Ringen um ihr Selbstverständnis, aber auch um einen gemeinsamen Weg.

In ihrem so poetischen wie politischen Roman, Märchen, Parabel und pulsierende Zivilisationskritik in einem, feiert Katharina Köller zwei Frauen und ihren eigensinnigen Aufbruch ins Leben.

»Ich war dort, wo man mich hingepflanzt hat, wie ein Ziergewächs in einem Topf. Jetzt bin ich hier und wuchere.«

»Kann man noch weiblicher, noch österreichischer, noch besser schreiben? Ich denke nicht!« Mareike Fallwickl

www.penguin-verlag.de

Dieser Roman enthält Darstellungen von körperlicher und seelischer Gewalt.

Seitdem ich da kurz stehen geblieben bin …

Seitdem ich da kurz stehen geblieben bin, zum Innehalten, zum Atmen, zum Kurz-den-Mond-Anschauen, seitdem hab ich das Gefühl, hinter mir ist wer. Einer, der mir nach ist und mich verfolgt. Ich weiß auch, wer, natürlich weiß ich es, sonst hätte ich ja nicht so Angst. Dabei ist es unmöglich, es kann nicht sein, er kann nicht im selben Zug gewesen sein, und mit dem Auto würde er wahrscheinlich immer noch irgendwo bei Rosenheim im Stau stecken. Der Zug, dem ist das Deutsche Eck ja wurscht, der brettert da durch, so schnell darf man mit dem Auto gar nicht. Niemand darf auf der Strecke zwischen Wien und Innsbruck so schnell fahren wie ein Railjet Xpress.

Und meinen Zug, den kann er nicht erwischt haben. Da hätte er ja gleich losrennen müssen und mir nach, als ich raus bin, und das ist er nicht. In seinem Zustand hat der ja gar nicht mehr rennen können. Und ich hatte Glück mit dem Zug. Soll man gar nicht glauben, dass man in so einer Situation Glück hat, aber doch! In letzter Sekunde bin ich rein.

Direkt davor hab ich entschieden. Als ich zum Bahnhof gefahren bin, war mein Plan eigentlich Italien, weil ich immer Italien denk. Italien, wo man ins Meer starren kann. Egal, was ist, die Lösung ist immer Italien. Hauptsache Meer und Hauptsache reinstarren. Und ein Eis.

Aber in Italien, hab ich im letzten Augenblick gedacht, würden sie mich finden. Immerhin hat er mich dort schon oft gefunden. Obwohl ich einmal in Venedig, einmal in Triest, einmal in Rimini war. Hier aber, hier kann er mich nicht finden. Er weiß ja gar nichts von dem Ort. Er weiß, glaub ich, nicht einmal, dass es die Johanna überhaupt gibt.

Ich brauch mich also nicht ständig umdrehen und noch schneller rennen, als ich es eh schon tu. Aber ich muss, weil Bilder in meinem Kopf auftauchen. Ich seh ihn um einen Felsen biegen. Ich seh ihn aus dem Latschenlabyrinth brechen. Manchmal so, wie er immer aussieht, manchmal – und das ist noch viel schlimmer – so, wie ich ihn zurückgelassen hab. So, dass man sich fragt, wie soll der es denn bis hierher schaffen?

Wenn einen die Angst mal hat, dann hängt sie dran an einem, als wär man in ein Spinnennetz gerannt. Spinne immer noch im Nacken, Fäden in den Haaren.

Davor: gar nichts, nicht eine Spur davon. Obwohl es dunkel ist und tiefste Nacht und ich da mutterseelenalleine bin auf weiter Flur. Nichts dabei außer das Handy mit dem zerbrochenen Bildschirm. Dem obendrein der Saft ausgeht.

Kurz hab ich an Wölfe gedacht. Das sagen sie ja, Wölfe soll es geben. Hier sogar viele, wenn man dem Bauernbund glaubt. Der setzt sich nämlich dafür ein, sie erschießen zu dürfen, die Wölfe, im großen Stil. Muss man sich mal vorstellen. Wo doch jeder findet, man muss die Arten schützen und sich freuen, dass es überhaupt wilde Tiere gibt in unserem Land. Aber hier in den Tiroler Bergen ist halt alles anders, hier gibt es ja sogar noch eine Wildnis.

Hab jedenfalls noch keinen Wolf gesehen. Aber ein Geräusch hab ich gehört, weiß nicht, ob das ein Wolf war. Woher soll ich auch wissen, wie ein Wolf klingt? Die werden sich ja nicht wirklich vor den Vollmond stellen und einsam losheulen wie in den Winnetou-Filmen. Außerdem ist gar kein Vollmond. Nur halb ist er, der Mond, und zumindest in den Winnetou-Filmen, die ich kenn, hat sich noch nie ein Wolf für einen Halbmond interessiert.

Ich muss weiter. Wenn ich stehen bleib, holt es mich ein. Also weiter. Schnell. Bergauf. Immer weiter bergauf.

Zeitgefühl hab ich keins mehr. Manchmal ist Wald um mich herum, manchmal Wiese, manchmal Felsen, manchmal Latschen. Manchmal seh ich den Mond, manchmal nicht. Unglaublich, dass ich den Weg erkenne. Hätt ich mir gar nicht zugetraut.

Wenn ich eine Situation gar nicht aushalte, fängt mein Hirn von selbst an, Störungen einzubauen. Wie wenn man die Antenne von einem alten Radio verstellt, und auf einmal rauscht es. Jetzt rauscht da so ein Lied im Loop durch meinen Kopf, und ich kenn den Text zwar nicht gut, aber die wenigen Wörter, die ich kenn, die zisch ich mit, und vielleicht dreh ich mich deswegen nicht mehr ständig um und halluziniere Menschen in die Landschaft hinein.

Als ich über den Grat drüber bin und die Hütte nicht seh, packt mich gleich ein neuer Schreck, bis mir klar wird, dass das der falsche Hang ist, auf den ich da schau. Dass es hier noch weitergeht, dass ich runter und dann noch mal rauf und um den Berg herum muss.

Wenn der Wind nur nicht so wild fauchen würde und mir die Wangen zerschneiden, dann würd ich mich hinsetzen und kurz ein bisschen weinen, aber so trotte ich einfach weiter. Bergab. Das ist viel schwerer, weil der Mond nicht mehr draufscheint auf den Hang, und außerdem ist bergab immer schwerer. Man kann viel besser stolpern.

Wie ich als kleines Kind diese vielen Stunden Berghang geschafft hab! Niemals würd ich eine Sechsjährige da runter- und dann wieder raufjagen. Auch ohne Sturm und ohne Nacht nicht.

Natürlich bin ich verwöhnt und aus Wien, was fast so schlimm ist wie Deutschland. Die Tiroler, die krabbeln da wahrscheinlich schon als Kleinkinder rauf. Ein Weg ohne Klettersteig und ohne Steilhang, das geht schon.

Die Johanna jedenfalls, die hat sich nie beschwert über den Weg. Die hat nie geweint vor Erschöpfung und ist nie getragen worden. Und sie ist ja fast genau gleich alt wie ich und auch aus Wien, nur ist sie halt kein Mensch, sondern irgendein wildes Tier im Körper von einem Menschen.

Als es ein bisschen weniger scharf um mich herum pfeift, fällt mir ein, was als Nächstes kommt. Nämlich ein Wald, durch den ich durchmuss. Schockschwerenot! Das letzte Waldstück ist schon lange her, da war es noch gar nicht richtig dunkel. Und in der Nacht sind im Wald ja bekanntlich nicht nur die Räuber.

Aber noch bin ich nicht dort, und wie hat mir meine Yogalehrerin eingetrichtert: »Immer im Moment bleiben. Nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft.« Und jetzt versteh ich auch, warum. Weil es einen nämlich auf dem Weg von der Gegenwart zur Zukunft gleich noch ein paarmal aufhaut, und damit hat man nicht gerechnet. Dass man ein Loch in der Leggings hat, wenn man da ankommt, wo man sich hingedacht hat.

Spüren tu ich gar nichts, und ob ich blute oder nicht, ist mir auch wurscht. Ganz sicher blut ich jedenfalls am Kopf unter dem Stirnband.

Ich werd ganz schnell durch den Wald rennen, ganz schnell den Weg entlang, nicht rechts schauen und nicht links, weil gegen alles, was da kommt, kann ich mich eh nicht wehren. Oder wie soll ich mich gegen ein Wildschwein wehren? Mit dem Pfefferspray?

Da ist er jetzt, der Wald. Vor mir. Schwarz wie ein Loch in der Landschaft. Und wie ein Traum kommt mir das vor, dass ich da wirklich reingeh.

Mein Handy hat nur mehr ganz wenig Akku, obwohl es, seit ich von zu Hause weg bin, auf Flugmodus geschaltet ist. Zum Glück hab ich es am Bahnhof nicht weggeworfen, wie ich es vorhatte, weil an eine Taschenlampe hab ich natürlich nicht gedacht. Wer braucht denn eine Taschenlampe im schönen Italien?

Die Finsternis ist dick und pelzig, und nur ganz langsam zeichnet sich Verschiedenes darin ab. Gestrüpp. Baumstämme. Aus dichterer Schwärze als die Luft um sie herum. Der Weg selbst ist heller, weil Geröll draufliegt. Das Licht vom Handy schneidet alles aus dem Schwarz.

Nicht rechts schauen, nicht links. Den Kopf einziehen, den Weg anleuchten und durch. Ich kann nur hoffen, dass die Johanna ihn ab und zu benützt und er nicht völlig zugewuchert ist.

Mein Herz klopft, und mein Atem ist so laut, dass ich sonst gar kein Geräusch mitkrieg. Es geht immer noch bergab. Zum Glück hab ich das Handylicht. Ohne würd es mich über jede Wurzel pracken. Sie sind manchmal wie Treppen und manchmal wie Fallen.

Den Bach hör ich, bevor ich ihn seh, weil er lauter rauscht, als ich atme. Früher sind wir darübergesprungen oder -geklettert. Die Oma hat ihre Stiefel ausgezogen und ist barfuß hindurchgewatet, damit ich von Stein zu Stein hüpfen und sie dabei meine Hand halten kann. Johanna hat sich nicht halten lassen. Vielleicht wollte sie nicht, dass der Großvater sie so verächtlich anschaut, wie er mich angeschaut hat. Mir war das damals egal, wie verächtlich er schaut. Solange die Oma dabei war, war es egal.

Ich hab sie nie gefragt, wie kalt das Wasser in dem Bach war. Jetzt, als ich stolpere, vom ersten Stein rutsche und mit einem Schuh im Wasser steh, ist es so klirrend kalt, dass meine Füße taub werden. Der Bach reißt mich fast um. So schnell ich kann, wat ich hindurch. Vielleicht ist er wegen der Schneeschmelze so voll? Früher waren wir immer erst im Hochsommer hier, nachdem das nicht ewige Eis schon längst ins Tal hinunter ist.

Nach ein paar Schritten bin ich drüben, und es geht wieder bergauf. Ich halte mich an Ästen und Baumstämmen fest, als ich nach oben klettre, vom Bach weg, den Pfad entlang.

Das Wasser quatscht bei jedem Schritt in meinen Schuhen. Auch egal. Es ist nicht mehr weit. Nur immer bergauf. Bald ist es geschafft. Aber in meinem Leben war es immer schon so, dass ich jeden Fehler mindestens zweimal gemacht hab. Und den Spruch von der Yogalehrerin, den hab ich halt nicht verinnerlicht. Deswegen denke ich jetzt: So schlimm war es ja gar nicht. Kein Wildschwein, kein Wolf, kein Räuber und nichts. Eigentlich war der Wald viel netter als der verdammte Grat und die Geröllhalde. Da fällt plötzlich mein Handy aus. Einfach so, ohne Vorwarnung steh ich im Finstern.

Im ersten Moment kann ich mich gar nicht bewegen vor Schreck. Stockdunkel. Kein Mond und nichts. Sterne sowieso nicht. Über mir nur das dichte Blattwerk von dem Frühsommerwald. Kein Licht. Und natürlich keine Ahnung, welche Richtung jetzt weiter. Könnte alles sein. Bergauf halt, aber welches Bergauf? Immerhin muss ich um den Berg herum. Der Weg auch nicht mehr voll Geröll, sondern genauso Wurzeln, Blätter, Erde wie der Rest vom Waldboden, und farblich gar kein Unterschied in dem Totalschwarz. Ich seh auch die Bäume nicht mehr. Die Sträucher. Das Gestrüpp.

Aber jetzt, wo ich innehalte, hör ich ihn plötzlich, den Wald. Das Knacken und Pochen und Plappern und Klopfen. Das Rascheln im Laub und das Schmatzen und Schnaufen von Viechern. Das Gurren und Zirpen und Pfeifen. Und außerdem – Scheiße, verdammte – so Schritte! Echt so Schritte. Ich weiß ja, dass die Tiere in der Nacht viel besser sehen können als wir, fast alle Tiere können besser sehen, und ich hab das natürlich nicht geübt, das Sehen bei ganz wenig Licht, ich bin ja nicht die Johanna.

Und wenn das gar keine Tiere sind, sondern er? Was mach ich dann? Was mach ich? Die Angst überfällt mich so heftig, dass ich einfach losstürze. Irgendwohin. Bergauf halt. Und ich renn und fall und stolpere, und das Gestrüpp hält mich fest, aber ich reiß mich los und brech hindurch, und mir doch wurscht, ob da irgendwelche Dornen stecken, in meinen Armen oder meinen Haaren, und ob es mir das Gesicht zerkratzt.

Was auch immer mich da jagt, ob er es ist oder ein Wolf oder einfach nur meine Angst, das ist jetzt auch egal, denn immerhin treibt mich das weiter.

Und langsam wird es lichter zwischen den Bäumen, ganz deutlich, da schimmert es. Das Schwarz ist schon weniger dicht, und bald bin ich draußen. Da macht es nichts, dass ich schon wieder hängen bleib im Gestrüpp, weil was kann eine Dornenhecke schon ausrichten gegen meine blanke Verzweiflung? Nichts, gar nichts!

Als sie mich freigibt, fall ich Knie gegen Stein und zische den Schmerz weg, rapple mich hoch und humple weiter, raus aus dem Wald und rauf auf den Hang. Und plötzlich seh ich es. Ein kleines, sehr schwaches Licht. Hüpfend wie ein ferner Stern. Da ist die Hütte, da ist sie, ich hab sie gefunden. Es gibt sie wirklich, und es gibt auch die Johanna darin, genau wie ihre Mutter es mir seit Jahr und Tag erzählt, da lebt sie. Einsam und alleine auf dem Berg.

Hätt ich noch Luft, würd ich jubeln, aber so spar ich mir das, denn jetzt wird es wirklich steil. Und mit den nassen Schuhen rutsch ich aus in der sumpfigen Wiese und auf den glitschigen Felsen, während ich da schräg den Hang raufrenne. Schließlich merk ich, dass es leichter ist auf allen vieren. Und ich krabble wie ein Käfer dem Licht entgegen und bleib, als ich endlich die Ebene erreiche, kurz einfach liegen.

Seit ich diesen Aufstieg begonnen hab, das heißt, eigentlich schon seit ich aus Wien weg bin, seit ich in Meidling mich und meinen DuDu-Rucksack im letzten Moment in den Zug Richtung Bregenz geworfen hab, seitdem frag ich mich:

ob die Johanna da wirklich noch wohnt oder ob sie mittlerweile gestorben ist;was sie sagen wird;wie sie wohl ausschaut.

Absurderweise hab ich mir am Anfang ausgemalt, dass sie sich freuen wird, mich zu sehen. Ich hab sie mir so vorgestellt, wie damals mit achtzehn, als ich sie das letzte Mal getroffen hab. Nicht groß, aber größer als ich. Nicht dunkel, aber dunkler als ich. Mit Haaren, die schwer und dick sind. Die ich frisiert hab und zu einem französischen Zopf geflochten. Den Zopf, den hat sie so lange getragen, bis er von selbst auseinandergefallen ist, manchmal eine ganze Woche. Bis ihr das Gummiringerl von den Spitzen gerutscht ist. Sie hatte eigentlich schöne Haare, aber sie hat sich halt nicht gekümmert. Frisiert haben sie nur ich und Anna-die-Putzfrau.

Anna-die-Putzfrau hat ihr irgendwann eingeredet, sie soll ihren dicken Zopf an krebskranke Kinder spenden, damit die davon Perücken kriegen.

»So ein dicker Zopf, da haben drei Kinder genug Haare«, hat sie gesagt, und Johanna hat ohne zu zögern die Schere gezückt, und weg war der Zopf.

Ihre Mutter hat Anna-die-Putzfrau deswegen davongejagt, und danach ist Johannas Mutter bei meiner Mutter, die ihre Schwester ist, die ganze Nacht in der Küche gesessen, und sie haben sich selbst leidgetan.

Das lieben die beiden bis zum heutigen Tag mehr als alles andere. Sich selbst leidtun, nicht sich gegenseitig. Das geht in etwa so:

»Du hast die Marie, dieses Goldkind! Und meines lasst sich von der Putzfrau die Haare stehlen!«

»Die Marie! Mein lieber Schwan! So dumm, die rennt los und haut sich die Zukunft zusammen, kaum dass man einmal kurz was anderes macht! Da lob ich mir die Johanna.«

»Die schaut ja keiner an, der ihr die Zukunft zusammenhauen könnt!«

»Jetzt red nicht! Zumindest geht dein Mann dir nicht fremd.«

»So ist das halt, wenn man mit einem Halbgott verheiratet ist.«

»Halbgott oder nicht, du bist die mit der Bikinifigur!«

»Aber mich sieht ja keiner, weil ich da in dem Niederösterreich versumpf!«

Nicht dass die beiden nicht arm dran wären, immerhin war der Mensch, der mein Großvater war, ihr Vater. Und Johannas Mutter hat es wirklich nicht leicht gehabt.

Aber dass Anna-die-Putzfrau den Zopf an die krebskranken Kinder gespendet und nicht irgendwo auf dem Schwarzmarkt vercheckt hat, das weiß ich ganz sicher, weil die war eine Seele von einem Menschen. Nur hat das keiner geglaubt, weil sie aus Rumänien war.

Das Haus ist eine schwarze Silhouette gegen den Nachthimmel. Der Ziegenstall dahinter auch. Alles ist still, keine Ziege meckert im Schlaf, kein Glöckchen bimmelt, kein Hauch bewegt die kleinen Pflänzchen im Gemüsegarten.

Die Fenster sind dunkel. Keine Ahnung, was ich da vorhin für ein Licht gesehen hab, hier brennt jedenfalls keines. Vielleicht war es der Mond, der sich im Fensterglas gespiegelt hat.

Die Hütte liegt in einer kleinen Ebene auf einem Bergrücken. Dahinter und zu allen Seiten geht es steil weiter. Bäume gibt es hier nicht. Trotzdem ist es relativ windgeschützt.

Ich rapple mich auf und stolpere über die gestampfte Erde, am Brunnen vorbei auf das Haus zu. Alles still. Geisterhaft fast. Eine Stufe zur überdachten Terrasse hoch, noch eine Stufe zur Tür. Keiner öffnet auf mein Klopfen. Also drück ich die Klinke nieder. Die Tür kratzt auf dem Boden und quietscht in den Scharnieren. Ich schieb sie auf.

Drinnen ist es so dunkel wie im Wald. Das Mondlicht wirft ein Türviereck auf die Bodenbretter. Ich flüstere: »Johanna«, und mach einen Schritt hinein. »Johanna?«

Niemand da. Aber ich hab es inzwischen ja schon geübt, das Sehen-bei-ganz-wenig-Licht. Ein bisschen sind wir wie Katzen, deren Pupillen im Dunkeln größer werden. Ich blinzle, damit es schneller geht.

Langsam erkenne ich einzelne Gegenstände. Den Ofen und die Eckbank. Die schmale Treppe auf den Dachboden. Neben der Eingangstür ist etwas großes Schwarzes, vielleicht ein Kleiderständer. Ich mach einen Schritt Richtung Ofen und flüstere noch mal: »Johanna.«

Dahinter ist das Bett. Es ist leer. Wo ist Johanna? Lebt sie am Ende gar nicht mehr hier?

Ein wenig Licht scheint durch das kleine Fenster hinter dem Bett. Alle Fenster in dieser Hütte sind winzig, das hat mich immer ganz nervös gemacht, früher, als sie uns wochenlang hier heraufgeschickt haben, um uns loszuwerden. In dem wenigen Licht ist keine Johanna.

Es gibt diesen Raum, daneben einen Waschraum, mit einem Plumpsklo dahinter. Außerdem erinnere ich mich an einen Zeugraum draußen und an eine Speisekammer neben der Eingangstür.

Der Dachboden ist ein Lager, in dem sich die Mäuse tummeln. Ganz ohne Fenster. Da ist es so stockfinster, dass es schon wurscht ist, ob man die Augen geöffnet oder geschlossen hat.

Dort oben haben wir auf Matratzen geschlafen, die Mäuse um uns herum. Für mich war das schlimm, vor allem als die Oma nicht mehr da war. Wenn ich schon längst wieder zurück in Wien war, bin ich immer noch manchmal aus dem Schlaf geschreckt, aus Angst, die Mäuse wären über mich drüber und auf mir drauf und würden Nester in meinen Haaren bauen. Jahre nachdem ich das letzte Mal hier war, hab ich diesen Traum noch geträumt.

Die Johanna hat natürlich nie ein Problem damit gehabt, wahrscheinlich hat es ihr sogar getaugt, die vielen kleinen Tritte auf den Bodenbrettern und über ihr und neben ihr und so viel Knacken und Zirpen und Grillen und Mäusezähnchen, die Holz zernagen, und Mäusefüßchen, die über Balken rennen.

Später in der Schule hat sie dann Ratten gehabt, riesige Ratten, die in ihrem Pullover gewohnt haben. Wegen denen war ihre Mutter im Wer-ist-die-Ärmste-Spiel eine Zeit lang auch immer die Siegerin, weil da waren sich alle einig, Ratten sind echt das Allerekligste von der Welt.

Alles sieht aus wie früher. Nur der Kleiderständer neben der Tür ist neu. Dass Johanna so umsichtig war, einen Kleiderständer anzuschleppen, hätt ich ihr gar nicht zugetraut.

War sie auch nicht, wie mir einen Moment später klar wird, als der Kleiderstände sich langsam in meine Richtung dreht und »Marie« sagt. Mehr nicht.

Und weil dieses »Marie« so unerwartet aus der Ecke klingt, erschreck ich ganz heftig, und schnapp nach Luft.

Wieso kann die ohne zu atmen irgendwo rumstehen, als wär sie ein Tier auf der Lauer und kein überraschter Mensch, der nach Langem die Cousine wiedersieht? Hat sie mich bemerkt, als ich den Hang raufgekrochen bin? Hat sie sich hier positioniert, um mich abzufangen? Um mich lautlos im Dunkeln erschlagen zu können, wenn es notwendig gewesen wäre?

»Hast mich erkannt?«, pruste ich die Luft wieder heraus, die ich geschnappt hab. Es hätte auch ein erleichtertes Lachen werden können, dieses Prusten, aber es hat sich dann doch nicht getraut.

Johanna dreht kein Licht auf, deswegen weiß ich nicht, ob sie meine Frage einfach ignoriert oder vielleicht doch mit dem Kopf genickt hat. Wahrscheinlich hat sie nicht genickt, war eh nur rhetorisch gefragt, weil so Kommunikationsformen wie Nicken waren nie ihr Ding. Es dem Gegenüber leichter zu machen auch nicht, deswegen lässt sie mich im Dunkeln stehen, bietet mir keinen Tee an, tut nicht so, als würd sie sich freuen, und fragt mich nicht mal, was ich will, mitten in der Nacht da auf dem Berg.

Schon interessant. Ich hab sie ewig nicht gesehen, bin groß geworden, hab in Florenz studiert, Praktika gemacht, in New York, in Paris, in Wo-nicht, hab unzählige Modeschauen besucht, und ein paarmal haben die Models meine Schuhe über den Laufsteg getragen, hatte bei einer berühmten Designerin einen Vertrag, hab in London gewohnt, den Peter wiedergesehn, bin nach Wien zurück, hab den Peter geheiratet, über ein Jahr lang Hochzeits-Weltreise gemacht, meinen Job geschmissen, immer wieder versucht, einen neuen zu kriegen, depressiv und in Behandlung gewesen, alles das.

Johanna war, wenn ihre Mutter die Wahrheit sagt, in all den Jahren hier oben, hat nichts studiert und mit keiner Menschenseele geredet.

Man kann nicht sagen, dass wir uns ansehen, dafür ist es zu dunkel. Oder zumindest ich kann sie nicht ansehen, sie hat ja vielleicht Katzenaugen.

Man kann aber sagen, dass wir uns anspüren, also ohne Sehen, aber mit Fühlen. Dafür reicht das wenige Licht, das durch die kleinen Fenster fällt. Es ist genau wie früher, so diese Mischung aus Überlegenheit und Minderwertigkeitskomplex, die ich fühle. Irgendwie war sie besser als ich, das hab ich tief drinnen gewusst, und gleichzeitig war ich halt auch irgendwie besser als sie, so aus der Sicht unserer Eltern. Auf alle Fälle war da immer ein unsichtbarer Schiedsrichter dabei, der uns beobachtet und Punkte verteilt hat. Weiß nicht, was der zu der Finsternis gesagt hätte.

»Kannst bitte ein Licht aufdrehen. Man sieht ja nichts.«

Johanna zögert, keine Ahnung, warum.

Schließlich entscheidet sie sich, öffnet das Ofentor, wirft ein paar Holzscheite hinein, pustet auf die Glut und zündet mit einem dünnen Stöckchen eine Kerze an. Und als sie die Kerze hochhält, schält sich endlich ihr Gesicht aus dem Schwarz.

Es ist Johannas Gesicht. Es ist sie. Sie, mit dem langen Zopf, den Anna-die-Putzfrau mitgenommen hat. Sie, mit den Ratten im Pullover, mit dem Insektenhotel im Garten, die stundenlang bewegungslos im seichten Wasser der Dechantlacke gestanden ist und sich von den Gelsen auffressen hat lassen, bis die Fische keine Angst mehr vor ihr gehabt haben. Für die es ein Erfolgserlebnis war, wenn sich eine der hässlichen, zerrupften Tauben vom Schwedenplatz auf ihre Schulter gesetzt hat. Sie, die plötzlich von einem Tag auf den anderen aufgehört hat zu sprechen und es danach nie wieder richtig gelernt hat.

Aber ein paar Dinge kann sie doch sagen, zum Beispiel: »Warum bist du hier?«

Johannas Augen liegen sehr weit auseinander und haben eine Farbe, als hätten der Regen sie ausgewaschen und die Sonne sie ausgebrannt. Grau trifft es wohl am ehesten. Als Kind dachte ich, so was heißt Schwarz-Weiß, wie die alten Filme, wo die Farbe fehlt. Obwohl die Leute damals genauso bunt waren wie wir jetzt, sehen wir sie nur schwarz-weiß. Und stumm.

Johannas Blick ist nicht unhöflich, auch nicht höflich, streng genommen ist er neutral, aber weil einen kaum jemals irgendwer neutral anschaut, deswegen wirkt es fast grob bei ihr. Die meisten Leute lächeln ja ein bisschen, wenn sie schauen. Zumindest ist die Idee von einem Lächeln auf ihren Gesichtern. Bei Johanna ist da keine Idee.

Außerdem muss ich ziemlich verprügelt aussehen, und da würde man ja eigentlich Mitleid erwarten. Aber Mitleid ist natürlich nicht bei Johanna, auch wenn einem das Blut durchs Stirnband auf die Schulter tropft.

»Warum bist du hier?« ist schon das höchste der Gefühle.