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Er gibt ihr Halt. Er bricht ihr Herz. Kann er trotzdem der Richtige sein? Bittersüße Rescue-Romance über Trauer und Verlust, Ängste und Freundschaft und die Heilung zweier gebrochener Herzen von Spiegel-Bestseller-Autorin Saskia Hirschberg. Seit ihre Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen sind, klafft ein riesiges Loch in Siennas Herz. Trotzdem drängen ihre Großeltern darauf, dass sie in den Zug nach Glasgow steigt, wo ein Uni-Stipendium auf sie wartet – und Alick. Sportlich, eigensinnig, sozial engagiert. In seiner Nähe traut Sienna sich endlich wieder, an eine Zukunft zu glauben. Denn seine Umarmung ist stärker als jedes Gefühl der Traurigkeit. Doch wieso ist ihre beste Freundin dann alles andere als begeistert, dass Sienna ausgerechnet einem der heißbegehrten Forbes-Brüder in die Arme gelaufen ist? Als Alick eines Tages ohne Erklärung die Stadt verlässt, droht Siennas Welt erneut zusammenzubrechen und sie muss sich fragen: Sollten zwei Menschen so viel Macht übereinander haben, dass sie einander gleichermaßen heilen und zerstören können? Die Geschichte von Sienna und Alick ist perfekt für dich, wenn du diese Tropes liebst: - Rescue Romance - Second Chance - Love Triangle
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Seitenzahl: 522
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© eBook: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
© Printausgabe: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Nikola Teusianu
Lektorat: Ulrike Maria Berlik
Bildredaktion: Simone Hoffmann, Petra Ender
Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Anika Neudert
eBook-Herstellung: Liliana Hahn
ISBN 978-3-8338-9523-4
1. Auflage 2024
Bildnachweis
Coverabbildung: Creative Market
Illustrationen: GU/Kombinatrotweiss/Izabe.La; Adobe Stock; iStockphoto
Syndication: www.seasons.agency
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Du hast mich gerettet. Und ich dich.Doch wie lange wird das unsere Rettung sein?Was, wenn einander zu verlieren schlimmer wirdals alles, was wir bisher kannten?
Liebe Leser:innen,
ich freue mich von ganzem Herzen, dass ihr mein Buch in den Händen haltet. Bevor ihr in die Geschichte über Sienna und Alick eintaucht und die Reise euch an die University of Glasgow und in die malerischen Highlands führt, ein wichtiger Hinweis:
Es ist möglich, dass mein Buch Aspekte enthält, die euch belasten. Deshalb findet ihr auf > eine Info zu sensiblen Themen. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.
Die psychologischen Ratschläge in meinem Buch, die dazu dienen, meinen Charakteren das Leben zu erleichtern, wurden von meiner lieben Kollegin Pia Kabitzsch sorgfältig geprüft. Pia ist Psychologin, Speakerin und Bestsellerautorin. Danke für deine Unterstützung, liebe Pia!
Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen – passt gut auf euch auf!
Eure Saskia & euer GU-Team
Playlist
My Honest Face – Inhaler
Just To Keep You Satisfied – Inhaler
IfYou’re Gonna Break My Heart – Inhaler
These Are The Days – Inhaler
Where Do Broken Hearts Go – One Direction
Love Story (Taylor’s Version) – Taylor Swift
The Moments I’m Missing – Nina Nesbitt (Ranji & WHITENO1SE Remix)
There She Goes – The La’s
Fallin’ All In You – Shawn Mendes
Like To Be You –Shawn Mendes
Perfectly Wrong – Shawn Mendes
Midnight Butterflies – Sea Girls
I Want You To Know Me – Sea Girls
Young Strangers – Sea Girls
Honey (Are You Coming?) – Måneskin
Prolog
Ich hab den Regen immer gemocht. Früher. Seine Nostalgie und seine Fähigkeit, Neuanfänge zu bringen. Tausende an einem Tag. In Fort Augustus können es auch mal Tausende und einer sein.
An den meisten Tagen sogar.
Nein, mir ist der Regen nie zu viel gewesen. Auch nicht das Grau, das mit ihm kommt, wenn die Wolken den Himmel verhängen, als hätten sie sich gemeinsam gegen die Welt verschworen. Eigentlich fand ich den Regen immer beruhigend. Als Kind habe ich geliebt, wie er auf die Kapuze meines Regencapes prasselte und fröhlich eine eigene Melodie trommelte. Mit meinen Gummistiefeln sprang ich in seinem Takt durch die Pfützen, glückselig. Wann hört es eigentlich auf, dass wir durch Pfützen hüpfen? Unsere Nasen dem Himmel zuwenden und mit der Zunge die Regentropfen auffangen?
Ich weiß, wann es bei mir aufgehört hat.
Aber das erzähle ich euch ein anderes Mal.
Ich muss jetzt umsteigen.
Liebe für euch,
Sienna
Ich klappe mein Notebook zu und packe es in meinen Rucksack. Der Busbahnhof in Inverness begrüßt mich in seinem dunkelsten Grau. Es nieselt und ich ziehe meine Kapuze ins Gesicht. Um mich herum springen Schirme auf, und alles, was jetzt noch von den Menschen übrig bleibt, sind Beinpaare, die in die Bahnhofshalle und zu ihren Anschlusszügen eilen. So hastig, man könnte meinen, das Wasser, das vom Himmel fällt, sei giftig. Dabei verdanken wir doch nur ihm die saftigen Moosteppiche, die die Hügel und Täler vom schottischen Hochland bis hinab in den Süden in ewiges Grün kleiden.
Mein Anschlusszug fährt von Gleis zwei. Ich setze mich ans Fenster und stecke mir meine AirPods in die Ohren, ohne Musik oder Podcasts anzuschalten, einfach nur, um den Krach der Welt abzudämpfen. Der Sitz neben mir bleibt zum Glück frei. Und so stelle ich meinen Rucksack dort ab und nehme mein Handy heraus.
Ich öffne Instagram und mache ein Video von den Regentropfen an meiner Fensterscheibe, die der Fahrtwind unermüdlich zu einem Wettrennen antreibt. Wer gewinnt?, schreibe ich dazu. Anschließend verlinke ich noch den Blogbeitrag, den ich vorhin geschrieben habe, in meiner Story. Mein Blog ist ein bisschen wie ein Tagebuch, nur dass andere mitlesen. Ziemlich viele andere, weshalb ich ihn nie aufgegeben habe, ganz gleich, welche Social-Media-Plattform in den letzten Jahren mal mehr und mal weniger angesagt war. Siennas Journal ist nicht nur für mich, sondern auch für meine Leser eine Art Kummerkasten geworden.
Manchmal ist eine anonyme Kommentarbox eben der einzige Raum für Schamgefühle. Für Frust und Schmerz. Für Gespräche mit Gleichgesinnten und das Gefühl, nicht alleine dazustehen. Der einzige Trost, der einem zuteilwird, wenn die Tage so schwarz sind, dass sie an Nächte erinnern. Nächte, in denen man glaubt, es wäre egal, wenn kein Morgen mehr käme.
Im vergangenen Jahr hatte ich viele dieser Tage, die sich wie endlose dunkle Nächte angefühlt haben und an denen ich mich nur noch in meinem Bett verkrochen habe. Die Dunkelheit unter meiner Steppdecke hatte sich mit der Dunkelheit meiner Gedanken vermischt und gegenseitig aufgehoben. So wie Minus und Minus Plus ergibt.
Zumindest stundenweise funktionierte das mit dem Verstecken vor den bedrückenden Gedanken. Denn wenn sie zu laut geworden waren und ihr Radau mich derart erschöpft hatte, dass ich tatsächlich mal einschlief, hatte ich wenigstens im Schlaf für ein paar Stunden Erlösung gefunden. Im Schlaf spürt man keine Traurigkeit, keine Schuldgefühle und nicht diese endlose Leere. Und die Grübelei pausiert. Außer natürlich, all diese Gefühle schleichen sich in Albträume hinein, das ist dann ganz besonders fies, weil man im Traum ja nicht mal weglaufen kann. Für diese Fälle bräuchte ich ein Bett im Bett, wenn das irgendwie Sinn ergibt. Eine rettende Insel auf meiner rettenden Insel.
Ich seufze und murmle gedankenverloren: „Wahrscheinlich werde ich langsam wirklich verrückt.“
„Spielt nicht die ganze Welt verrückt?“, fragt mich der Schaffner, der plötzlich neben mir aufgetaucht ist.
Ich blicke zu ihm auf. Seine Wangen sind rot und seine Augen freundlich. Aber ich fühle mich nicht danach, mich in eine Diskussion über die globale Weltuntergangsstimmung verwickeln zu lassen. Ich habe genug damit zu tun, in meiner eigenen kleinen Welt zu überleben. Darum murmle ich bloß irgendwas Unverfängliches und zeige ihm meine digitale Fahrkarte, damit er den Code auf meinem Handydisplay scannen kann.
„Glasgow“, stellt er fest und betrachtet mein Gepäck. Zwei Koffer, ein Rucksack und eine übergroße Handtasche. Dann mustert er mich. „Du siehst nicht aus wie Glasgow, Love.“ Seine Stimme klingt rau und kratzig. „Ein Mädchen wie du gehört doch nach Edinburgh. Das ist die Liebliche, die Schöne, von der Natur und der Architektur bevorzugte der beiden konkurrierenden Schwestern.“ Er hustet, ehe er fortfährt. „Glasgow hingegen ist die Unansehnliche. Rau. Kantig. Auf eine Weise wild und ungebändigt, ja, beinahe selbstzerstörerisch, dass sie einem Angst machen kann, wenn man die Stadt nicht kennt.“
Meine Brust zieht sich zusammen. Meine beste Freundin hat schon letztes Jahr mit dem Studium angefangen, und sie bezeichnet Glasgow als cool und kreativ. Pulsierend und spannend. Aber wenn ich ehrlich bin, dann brauche ich nichts von dem, was alle über diese Stadt sagen. Ich brauche weder wild und ungestüm noch spannend und pulsierend.
Mag sein, dass ich das vor einem Jahr gesucht habe, als ich es kaum erwarten konnte, das verschlafene Sechshundertseelenkaff zu verlassen, in dem ich aufgewachsen bin. Aber dann ist eben diese Sache passiert, die alles verändert hat. Die Sache mit dem Regen, und warum er mich plötzlich traurig macht.
„Alles okay mit dir, junge Lady?“, fragt mich der Schaffner und holt meine Aufmerksamkeit wieder in den Zug, der unaufhaltsam dem entgegenfährt, was meine Großeltern „meinen Neuanfang“ nennen.
Nach zwölf Monaten im Bett waren sie der Meinung, es sei an der Zeit für mich, zurück ins Leben zu finden. Und weil ich mein Stipendium nicht noch um ein weiteres Jahr aufschieben kann, sitze ich nun also hier und nicke stumm. Ja, alles okay mit mir.
„Na, dann ist ja gut. Angenehme Fahrt noch.“ Er lupft seine Uniformmütze und geht weiter, während ich über meine ungesagten Worte nachdenke. Was sonst soll ich auch tun, außer mir einzureden, dass alles gut ist? Oder gut werden wird. Mir bleibt nichts anderes übrig, als weiterzumachen, wie alle immer so schön sagen. Dabei fühle ich mich an den meisten Tagen wie gelähmt. Zu schwach. Zu kraftlos. Zu ausgelaugt. Ich habe wahnsinnige Angst vor all dem Unbekannten: die Uni, meine neue Wohnung. Ach, eigentlich habe ich Angst vor tausend Dingen. Mein einziger Anker ist Hailey, die mich später am Bahnhof abholt.
Du und ich in einer WG, das wird spitze!, hat sie mir heute Morgen geschrieben. Ich liebe es hier, und ich bin mir sicher, du wirst dich auch verlieben …
Obwohl ich mir das gerade nicht mal annähernd vorstellen kann, habe ich ihr ein Herz-Emoji zurückgeschickt. Meine Zweifel daran, dass ich zu all diesen hellen, schönen und extremen Gefühlen wie Begeisterung oder gar Liebe je wieder einen Zugang finden werde, behalte ich für mich. Ständiges Jammern kann man niemandem zumuten. Das hält nicht mal die allerbeste Freundin der Welt aus. Ehrlich gesagt, ertrage ich es selbst kaum noch. Für einen Moment überlege ich, mir zur Ablenkung einen Film oder eine Serie auf meinem Handy anzuschauen, aber dann blicke ich einfach wieder aus dem Fenster.
Die Wiesen und Wälder, die sich hier unten entlang des Schienennetzes durch die Central Lowlands erstrecken, sind jetzt, wo der Sommer schon vorüber ist, nicht mehr ganz so satt und auch nicht mehr ganz so hübsch anzuschauen. Aber für die Schafe reicht es allemal. Wie weiße Wattebausche stehen sie in der Landschaft, die über Meilen hinweg ihren Anblick kaum verändert. Die Tiere scheinen sich nicht an dem leichten Regen zu stören. Dabei habe ich mal gehört, dass Schafe Wasser nicht mögen. Vielleicht ertragen sie ihr Schicksal demnach still. So wie ich.
Ich schließe die Augen. Will jetzt keinen Regen mehr sehen und auch nicht mehr daran denken, was er mir angetan hat. Wenn ich erst mal in Glasgow bin, wird mich der Tapetenwechsel ablenken. Zumindest versprechen mir das alle immer. Ich hingegen bin mir nicht so sicher, wie das gehen soll, an einem Ort, an dem an zwei von drei Tagen riesige Wolkenberge vom Nordatlantik über die Stadt rollen …
Sienna
„Ich hab extra den Regen für dich abbestellt!“, verkündet Hailey strahlend. Und tatsächlich schieben sich hoch oben über den Dächern des Bahnhofs Queen Street leuchtend weiße Zuckerwattewolken über den blauen Himmel. Das orange Licht der Septembersonne, das durch die Lücken fällt, wärmt mein Gesicht und bringt sämtliche Sorgenfältchen zum Schmelzen. Zumindest spüre ich, wie meine Poren das Vitamin D aufsaugen, während wir uns in den Armen liegen.
„Endlich bist du da! Ich hab die Tage gezählt“, sagt sie vergnügt und drückt mich noch ein bisschen fester an sich. Ich vergrabe den Anflug eines Lächelns in ihrer Umarmung und inhaliere ihren vertrauten Geruch. Dann löst sie sich von mir und schaut mich an. „Du siehst gut aus, Süße! Wieder viel besser.“
Wahrscheinlich kommen mir gerade die Sommersprossen zugute, die das helle Licht herauskitzelt. Alle finden dann immer, dass ich so gesundausschaue.
„Danke.“ Ich räuspere mich. „Du siehst auch gut aus. Richtig toll sogar“, schiebe ich noch hinterher und meine jedes Wort. Sie trägt jetzt einen dieser unfrisierten Bobs mit Curtain Bangs und wirkt erwachsener.
„Bist du gewachsen?“, frage ich und kneife ihr in die Wange, wie nervige alte Tanten es tun würden.
Sie lacht. „Nur mental, Babe!“ Dann schnappt sie sich zielstrebig meine beiden Koffer und blickt mich erwartungsvoll an. „Bereit für dein neues Leben?“
„Nicht wirklich.“ Ich schnaufe leise, aber Hailey hört mich schon nicht mehr.
„Wir müssen zur Subway“, ruft sie mir über ihre Schulter zu. „Du hättest den Ausgang zur Dundas Street nehmen können, das wäre schneller gewesen.“
Sie redet schon wie ein richtiges Großstadtmädchen und bewegt sich auch genauso durch die Straßen. Kreuzungen überquert sie dann, wenn keine Autos kommen, und wartet nicht darauf, dass die Ampeln grün werden. Ein vorbeifahrender Doppeldeckerbus hupt. City Sightseeing Glasgow steht in großen Lettern darauf und meine Blicke fliegen ihm hinterher, scannen Gebäudekomplexe, die er passiert. Mir erscheinen sie, als wären sie über die Jahrhunderte und Jahrzehnte hinweg wahllos zusammengewürfelt worden. Rötlicher Sandstein, reich verziert mit Skulpturen und Säulen, wechselt sich völlig ohne Konzept mit klaren, geraden Glasfassaden moderner Architektur ab. In jeder Himmelsrichtung erheben sich hohe Gewölbe und Spitzbögen zu Türmen, deren einziges Ziel es zu sein scheint, die Wolken aufzuspießen. Und dann gleich daneben wiederum die Schaufenster von H&M und die Ladentheken von Zeitungskiosken und Dönerbuden.
In der Buchanan Street nehmen wir die Rolltreppe hinab zur U-Bahn. Tiefer und tiefer befördern uns die fahrenden Stufen in den Keller der Stadt.
Großstädte und ihr Leben unter der Erde. Irgendwie poetisch. Wie eine eigene Welt, in der sich die Metropolen vor sich selbst verstecken. So ein bisschen wie der Effekt, den meine Bettdecke hat, legt sich der Asphalt über die Stadt.
„Du schuldest mir übrigens für den Rest unseres Studentenlebens Drinks“, unterbricht Hailey meine Gedanken, als wir durch die Schiebetüren in ein überfülltes Bahnabteil steigen. Ähnlich wie ich wuchten unzählige andere Freshers ihre Koffer und Taschen durch die Gänge. Hailey lässt sich erschöpft auf einen Vierersitz plumpsen, auf dem schon zwei andere Fahrgäste sitzen.
„Kannst du dir vorstellen, wie oft ich mit Dylan von der Hausverwaltung ausgehen musste, damit wir in der South Woodside Road eine Wohnung bekommen?“ Sie klopft sich stolz auf die Schulter. „Aber dank mir musst du nun keines der abgeranzten Erstsemesterquartiere mit Toilette und Dusche auf dem Gang beziehen. Wir wohnen schön im Grünen, und das mitten in der Stadt. Aus unserer Wohnung kann man über den Kelvingrove Park bis rüber ans andere Flussufer schauen. Das West End ist super! Du wirst schon sehen! Zur Uni laufen wir nur zehn Minuten, und es gibt tolle Cafés, eines davon direkt neben uns, alles veggie und organic. Gleich um die Ecke tummeln sich supersüße Boutiquen und Vintage Stores. Mindy findet da immer die coolsten Teile! Du erinnerst dich an Mindy, oder? Meine Freundin von der School of Art?! Sie war schon öfter dabei, als wir gefacetimt haben und …“
„Ja, ich weiß, wer Mindy ist“, unterbreche ich Hailey, weil ich plötzlich das dringende Bedürfnis verspüre, für sie Luft zu holen.
Cafés, Boutiquen, Vintage Stores – ich sehe meinen Studienkredit schon explodieren und mein Gehirn ebenfalls. Reize über Reize, die auf mich einströmen. Die U-Bahn rauscht durch den Untergrund, grauer Beton fliegt an den Fenstern vorbei, hell, dunkel, hell, dunkel. Leute strömen rein und raus, und ich fühle mich plötzlich wie überrollt von einer Sturmflut.
„Oh, entschuldige, Süße, ich überrenn dich total. Und so eine will Therapeutin werden! Unsensiiibel“, flötet Hailey albern, aber entlockt mir damit kein Schmunzeln, nicht mal ein winziges. Es tut mir schrecklich leid, dass ich ihr gerade nicht die Art von bester Freundin sein kann, die ihre Euphorie teilt. Die mit schrillen Freudenschreien hier ankommt und nach Party und flirten lechzt – so, wie wir es uns immer ausgemalt haben.
„Sorry, dass ich momentan so ätzend bin.“
„Na, na, na, wie reden wir über uns selbst?“, fragt Hailey.
Ich zitiere wie ein konditionierter Papagei, was sie mir eingebläut hat: „Wohlwollend und liebevoll.“
„So ist es. Und? War das eben wohlwollend und liebevoll?“
„Nein.“
„Dann sprich mir nach: Ich mache gerade eine schwere Phase durch und das ist in Ordnung.“ Abwartend sieht sie mich an und ich verdrehe die Augen.
„Wir sind in der Bahn“, murmle ich peinlich berührt.
„Glaub mir, die sind alle mit sich selbst beschäftigt.“ Hailey winkt ab, und wenn ich mich so umsehe, hat sie offensichtlich recht. Jeder steckt mit der Nase in seinem Smartphone.
Ich atme durch. Dann wiederhole ich leise ihre Worte: „Ich mache gerade eine schwere Phase durch und das ist in Ordnung.“
Hailey lächelt zufrieden, dann sagt sie mit liebevoller Stimme: „Ich bin genau richtig, wie ich bin.“
Wieder fliegen meine Blicke quer durch die U-Bahn, bevor ich ihr nachspreche: „Ich bin genau richtig, wie ich bin.“
„Ich darf jedes Gefühl annehmen. Es gibt keine richtigen und keine falschen Emotionen.“ Ihr Ton wird mit jedem Satz ruhiger und gleichmäßiger. „Ich erlaube mir, hier anzukommen.“
Brav wiederhole ich, was sie sagt, und gebe mir Mühe, alles, was mich ablenkt, auszublenden. Eine Herausforderung für einen Menschen wie mich, der sich immerzu das Gehirn zermartert. Ich glaube, mein Kopf ist zu keiner Sekunde völlig leer. Irgendwas passiert immer da oben drin. Ich denke und denke, bis ich alles zerdacht habe. Stolpere so oft über meine eigenen Gedankenstränge, bis ich nicht mehr aufstehe.
Bevor ich mich jetzt allerdings in einem Negativstrudel verlieren kann, dringt Hailey wieder zu mir durch. „Ich werde hier eine gute Zeit haben und erlaube mir, fröhlich zu sein. Und am allerwichtigsten: Meine beste Freundin ist supersüß und megaheiß!“
Ich höre das Lachen in ihrer Stimme. Immerhin schafft sie es nun mit ihrem Humor, meine Mundwinkel, die schon fast chronisch herunterhängen, ein klitzekleines bisschen zu kitzeln.
„Na, geht doch“, sagt sie happy und sieht mich dann noch einmal nachdrücklich an. „Ich bin bei dir, Sienna! Du musst das nicht allein durchmachen, okay?“
Sie hält mir ihren kleinen Finger für den Beste-Freundinnen-kleiner-Finger-Schwur unter die Nase, und ich hake meinen ein. Hand in Hand verlassen wir die U-Bahn und finden zurück ans Tageslicht, wo uns nur drei Stationen vom Zentrum entfernt das wilde Rauschen von Wasser begrüßt. Überrascht sehe ich mich um. Hinter mir liegt der Eingang zu einem Park und vor mir ein Parkplatz. Ich gehe ein paar Schritte um den Ausgang der Subway herum, um den Kelvin zu finden, der ungestüm durch das Flussbett strömt. Unter einer Brücke hindurch macht das Ufer einen Knick. Eine wunderschöne Brücke übrigens. Beinahe majestätisch erhebt sie sich über den Park und den Fluss, abgefangen von massiven Sandsteinpfeilern. Grün, gusseisern, verschnörkelte Brüstung. Eine Treppe mit elegant geschwungenen Geländern und mächtigen Steinstufen führt an einer Hauswand entlang, zur Brücke hinauf. Nur wenige Meter neben dem Treppenaufgang erblicke ich das kleine Café, das Hailey erwähnt hat. Kelvin Pocket lese ich über dem Eingang.
„Da oben wohnen wir!“ Hailey deutet auf die Hauswand, an der die Treppe zur Brücke verläuft. „Siehst du das Fenster mit den hellen Vorhängen und der Lichterkette? Das ist dein Zimmer.“ Ich zähle die Stockwerke und komme bei fünf an, das letzte unterm Dach. Naht an Naht, wie die Objekte eines Scherenschnitts, grenzt hier eine gleichaussehende Hauswand an die nächste, der gelbe Sandstein verwittert. Die Farbe an den Gartenzäunen ist abgesplittert. Wildblumen und Sträucher ragen wie Unkraut auf die Straße und in die Nachbargrundstücke.
Hailey kramt unterdessen heftig in ihrer Jackentasche. „Oh ne! Ich hab meine Schlüssel vergessen!“
„Dein Ernst?“ Unmittelbar steigt Gereiztheit in mir auf, und Hailey kennt mich gut genug, um das zu wissen.
„Pass auf“, sagt sie. „Alles halb so wild. Ich habe Ersatzschlüssel bei Mindy deponiert, sie wohnt nicht weit von hier.“ Sie zeigt auf die Straße, die oben auf der Brücke verläuft. „Ich muss nur hoch auf die Great Western Road. Dann eine halbe Meile geradeaus und schließlich …“ Hailey unterbricht sich selbst, als sie erkennt, dass ich ihr kein bisschen folgen kann. „Weißt du was, setz du dich doch ins Café, bestell dir was Leckeres, und ich bin gleich wieder da, okay?“
Ohne mein Einverständnis abzuwarten, schiebt Hailey mich durch die Ladentür und parkt meine Koffer neben dem Verkaufstresen.
„Hey, Paul“, grüßt sie den Mann hinter der Theke. „Ich vertrau dir mal meine Bestie an, ja?“ Sie schenkt ihm ihr breitestes Grinsen und erklärt mir: „Paul ist der Inhaber.“ Dann tätschelt sie versöhnlich meinen Arm und verschwindet rückwärts durch die Tür.
„Hey, Bestie“, heißt Paul mich willkommen. „Ich wette, du kannst einen Kaffee gebrauchen.“
Er lacht und ich frage mich, wie gut er Hailey kennt, wenn ihm das klar ist.
„Bitte den stärksten, den ihr habt“, sage ich resigniert.
„Und ich empfehle noch eine hiervon.“ Eine junge Bedienung, schätzungsweise so alt wie ich, verweist auf eine Zimtschnecke in der Auslage.
Obwohl ich keinen Appetit habe, kann ich ihr Angebot nicht ausschlagen, denn ihr Gesicht sieht so hoffnungsvoll aus. Es sagt: Diese Zimtschnecke hat Superkräfte und ist genau das, was du jetzt brauchst. Und vielleicht hat sie recht. Ein klitzekleiner Zuckerrausch wirkt schon mal temporäre Wunder, und wie mir scheint, versteht man sich hier auf diese.
Ich lasse meinen Blick durch das Café streifen. Kelvin Pocket ist wirklich nicht viel größer als eine Hosentasche, vollgestopft mit Seelenstreichlern. Pasteten und Buns, Quiches und Toasts. Ich rieche Zimt und Orange, Lemon und Ginger, Goat Cheese und Pumpkin Seeds. Die Wände sind rosa und mintgrün gestrichen, bunte Glühbirnen hängen an einer Kette hinter der Theke. In einem Holzregal neben der Kasse stehen frische Eier und Milch, Kaffeebohnen und Tee, hausgemachte Marmeladen und Limonaden zum Kauf bereit. Es gibt gerade mal sieben Tische, und auf den Stühlen und der Sitzbank, die einmal komplett über die Länge einer Wand verläuft, liegen farbige Kissen. Ein Gefühl von Wärme überkommt mich, das ich nur von zu Hause kenne. Von meinem früheren Zuhause, verbessert mein inneres Korrektiv sofort, und in meinem Kopf wollen sich sogleich wieder die nächsten Regenwolken zusammenbrauen, da unterbricht Paul meine Gedanken.
„Setz dich ruhig schon, Tara bringt dir gleich alles.“
Dankbar schnappe ich mir den letzten freien Tisch in der Ecke, und ganz plötzlich bin ich froh, einen Moment für mich zu haben. Ich fühle mich total erschöpft und muss gedanklich ordnen, was in den letzten Stunden auf mich eingeströmt ist. Ich krame mein Notebook aus meiner Tasche und beginne einen Blogbeitrag.
Hey Leute!
Ich bin jetzt angekommen. Glasgow ist … na ja, nicht so hässlich, wie ich dachte. Eigentlich ist es sogar ganz hübsch hier. Trotzdem fühle ich mich aktuell noch ziemlich lost. Andererseits, wo fühle ich mich derzeit nicht lost? Mein Gefühl von Verlorensein ist praktisch nicht ortsgebunden. Und das wiederum ist ziemlich unpraktisch, denn sonst könnte ich es einfach zurücklassen.
Wäre das nicht ein krasser Gamechanger? Oder denkt ihr, wir würden uns damit nur selbst betrügen, weil man Heilen nicht abkürzen kann? Apropos Heilen: Wisst ihr, was mir wieder mal begegnet ist, als ich hier ankam? Our all-time favourite: „Du siehst gut aus!“ Genau genommen sagte meine beste Freundin (No offense, Hailey, you know, I love you!): „Du siehst wieder viel besser aus.“
Hört dieser Satz jemals auf zu triggern? Ich weiß, dass sie es nicht böse meint. Menschen benutzen diese Phrasen einfach. Doch sollten wir nicht von unseren engsten Vertrauten erwarten können, dass sie hinter die Fassade blicken?
An manchen Tagen lächle ich nur, um nicht zu weinen. Ich funktioniere, wenn ich es muss. Ich atme, weil ich keine Kraft habe, diesen Automatismus abzustellen, und ich schreibe, weil all die Gedanken sonst in mir zerbersten und mein Herz in noch kleinere Teile zersprengen würden. Dabei liegt es doch schon in so winzigen Stücken, dass es wohl zu Staub zerfällt, sobald auch nur noch die kleinste Verletzung dazukommt.
Wann verstehen die Leute endlich, dass man gebrochene Herzen nicht sehen kann? Seelisches Leid ist unsichtbar. Das ist das Tückische daran. Es ist nicht wie bei gebrochenen Armen oder Beinen, die eingegipst ganz deutlich sagen: Hier ist was kaputtgegangen. Gebrochene Herzen sieht man nicht.
Vielleicht sollten wir ein Pflaster erfinden, das sich jeder aufkleben kann, der eine verwundete Seele hat?! Wie fändet ihr die Idee? Ich glaube, wir würden feststellen, dass wir alle weniger allein sind, als wir immer denken.
Ganz viel Liebe für euch,
Sienna
Ich atme auf. Es fühlt sich gut an, wenn diese Dinge ausgesprochen sind. Für einen kleinen Moment ist es, als hätte ich mir einen riesigen Stein vom Herzen geschrieben. Auf einmal verspüre ich sogar einen Anflug von Appetit auf die herrlich duftende Zimtschnecke, die Tara mir gerade bringt. Sie hat sie frisch für mich aufgewärmt, und der Zuckerguss verklebt instant meine Fingerspitzen. Beherzt vergrabe ich meine Zähne in dem weichen Teig und auf meiner Zunge bitzelt warmer Zimt. Süß und würzig. „Oh mein Gott!“ Ich schließe die Augen. Die Zuckerglasur schmilzt zart in meinem Mund und hinterlässt einen Hauch von Vanille. Ein kehliges „Mmmhhh“ rollt durch meinen Hals. Meine Geschmacksnerven sind überwältigt, und für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl von heiler Welt. Alles ist gut. Alles ist warm. Ich möchte hier und jetzt die Zeit anhalten, für immer in diesem Rausch aus Zimt verloren gehen.
Doch vom süßen Geschmack ist schon bald nichts mehr übrig und ich komme zurück in die Realität, in der mich ein halbes Dutzend Gesichter anstarren, kaum dass ich meine Augen wieder öffne. Die Leute an den Nachbartischen grinsen. Bis auf einen Vater und seinen schätzungsweise zehnjährigen Sohn. Meine Wangen werden schlagartig heiß, und ich spüre, wie mir die Röte in den Kopf steigt.
„Klassischer Fall von Foodgasm. Das haben wir hier öfter“, sagt die junge Bedienung amüsiert, und ein Typ, der ihr gegenüber an der Ladentheke steht, mustert mich unverblümt. Um seine Mundwinkel zuckt ein Schmunzeln. Lacht er mich an? Lacht er mich aus? Gott, ist das peinlich! Ein Reflex in mir will wegsehen, aber ich kann nicht. Meine Augen sind wie gefesselt an seine, die auffällig unter der Kapuze seines dunklen Pullovers hervorstechen. Ein verwaschenes Blau, eher Grau, das mich an einen wolkenverhangenen Himmel erinnert. Und an die Farben meiner Welt.
„Lass dich von dem bloß nicht ärgern“, sagt Tara laut genug, dass ich sie hören kann. Sie grinst ihn frech an. Aber seine Blicke ruhen auf mir, und das macht mich langsam nervös.
U of G steht auf seinem Kapuzenpulli. Sport. Das gleiche Emblem finde ich auch auf seiner Trainingsjacke. Dunkle Tattoos wandern seinen Hals hinauf, und erst als der Cafébesitzer zwei Becher über die Ladentheke schiebt, wendet der Typ seinen Blick von mir ab.
„Dank dir, Kumpel“, sagt er zu Paul und seine Stimme klingt ein wenig rau, aber warm. So wie Zimt süß und würzig zugleich ist. Dann legt er sein Handy zum Bezahlen auf das Kartenlesegerät, und ich entdecke eine weitere Tätowierung auf seinem Handrücken. Ich kann nichts Genaues erkennen von meinem Platz aus, nur schwarz, viel schwarz.
Während ich ihn mustere, beugt er sich über die Ladentheke, um irgendetwas mit Paul zu besprechen, das ich nicht verstehen kann. Denn er redet jetzt deutlich leiser als eben. Die beiden wispern sich ein paar Sätze zu, auf seinem Gesicht breitet sich ein zufriedener Gesichtsausdruck aus, und er sagt laut und deutlich: „Weißt du was, Paul? Pack mir doch noch eine Zimtschnecke ein.“
Mit diesen Worten fliegt sein Blick wieder zu mir, und das Schmunzeln von eben wächst zu einem Lächeln heran. Dann greift er seine Bestellung.
„Bye, Cinna-Bun!“ Er zwinkert mir noch zu, bevor er verschwindet.
Während die Tür hinter ihm zufällt und ich darüber rätsle, ob ich es nun übergriffig finde, dass mir ein Fremder einen Kosenamen gibt, oder aus unerklärlichen Gründen niedlich, steckt Hailey ihren Kopf herein. Fröhlich rasselt sie mit dem Schlüssel in ihrer Hand. „Hey ya! Zeit, dein neues Zuhause kennenzulernen!“
Alick
„Fuck, Mann!“
Ich ziehe meine Kapuze tief ins Gesicht und die Ärmel meiner Jacke über meine Hände. Der Wind hier unten am Flussufer ist heftig. Obwohl die Sonne sich heute Vormittag endlich mal wieder blicken lässt, sitzt die Kälte der vergangenen Nacht in jedem einzelnen meiner Knochen. Es ist deutlich zu spüren, dass die Temperaturen langsam fallen. Der Herbst lauert schon an jeder Ecke, und mit ihm kommt noch mehr Regen. In der dunklen Jahreszeit verändert die Welt ihr Gesicht. Ganz besonders auf der Straße. Die Tage und Nächte werden noch hässlicher.
Ich schaue hinüber zum alten Everett. Er sitzt wie ein Sack, der in sich zusammengefallen ist, mit dem Rücken gegen die Brücke gelehnt. Die Augen fest zusammengekniffen. Sogar im Schlaf. Sein schwacher Körper ist in eine graue Filzdecke eingepackt, und sein Hund liegt neben ihm.
Die Whiskeyflasche in seiner Hand ist fast leer, und in einem aufgeweichten Pappbecher sammelt sich ein wenig Kleingeld, das die Leute im Vorbeilaufen hineingeworfen haben. Er bewegt sich nicht. Nicht mal dann, als Hunter ihn winselnd mit seiner Schnauze anstupst.
Für einen Moment denke ich, er ist tot. Abwegig wäre es nicht. Eigentlich rechne ich sogar jede Minute damit. Jeder hier weiß, dass der Tod in Glasgow früher kommt. Genau genommen mit dreiundfünfzig. Das erheben zumindest diverse Statistiken aus den Armenvierteln der Stadt. Everett ist irgendetwas um die Fünfzig. Mir ist klar, dass ihn nicht diese Zahl dahinraffen wird, sondern der Alkohol, die Zigaretten, und akut vermutlich die unbehandelte Lungenentzündung. Aber er will sich partout nicht von mir ins Krankenhaus bringen lassen. Ein heftiges Keuchen schüttelt den abgemagerten Kerl.
„Bloody shite“, flucht er. „Mein Hals ist scheißtrocken. Ich könnte ein Bier vertragen.“ Er hustet. „Gibt’s noch Bier?“
Ich sehe mich um, die Dosen sind leer.
„Bloody hell! Nichts ist einem rechtschaffenen Mann vergönnt“, nuschelt er undeutlich und ich kann sehen, dass er im Delirium ist. Seine Stirn ist schweißnass vom Fieber, und durch seine Adern fließt ein Vollrausch.
„Vielleicht sollte ich wieder in irgendein Männerwohnheim gehen“, grummelt er. „Damals, drüben im Bellgrove …“ Mit drüben meint er am östlichen Rand der Stadt, er hat mir schon öfter davon erzählt. „… da sind wir morgens um zehn in die Kneipe und haben mit unseren beschissenen Ärschen im Warmen gesessen. Und jetzt? Was machen wir hier?“ Er sieht den Hund an. „Wir sitzen in diesem gottverdammten Tunnel unter dieser Schickimickibrücke, in einem Stadtteil, in dem wir nichts zu suchen haben, und verrotten. Erschrecken mit unserem Anblick die Mädchen und Jungs, die brav mit ihren Rucksäcken zur Uni marschieren, und die hübschen Mamis, die mit ihren Kinderwagen in den Park kommen. Bloß weil sie uns hier drüben mehr Pence in unsere Tasse werfen.“ Er hustet wieder. „Verdammte Technologie, verdammte Globalisierung, verdammte Politik! Margaret Thatcher was a bloody witch, ye know?“ Er beäugt mich. „Ach, was weißt du schon! Du warst nicht mal geboren in den Achtzigern, als hier alles den Bach runterging. Alles haben sie uns genommen! Die Arbeit! Echte, harte Arbeit. Und was haben sie uns gebracht? Alkohol und Drogen! Kriminalität! Armut! An den Stadtrand haben sie uns gedrängt, weil wir nicht in ihre neue, vornehme Welt gepasst haben. Wir haben alles verloren. Sieh mich doch an!“ Schlagartig verstummt er und sackt wieder in sich zusammen. Er wirkt schwächer als sonst, noch verwirrter. Und auch Hunter verhält sich anders. Everett kann einem leidtun. Er mag recht damit haben, dass ich noch nicht geboren war, als in den Siebzigern und Achtzigern die Werften, Stahlwerke und Kohleminen dichtmachten und Tausende Menschen ihre Jobs und ihre Perspektiven verloren. Das hat mir allerdings nicht erspart, mit dem Trauma einer ganzen Gesellschaftsschicht aufzuwachsen …
Ich muss durchatmen, meine eigenen Gedanken bremsen. Denn ich spüre, wie sie Gefühle an die Oberfläche bringen, die ich nicht dort haben will.
„Ich hol Tee“, sage ich, weil ich plötzlich dringend wegwill. Schon seit halb fünf in der Früh bin ich hier. War zuerst joggen, weil ich nicht mehr schlafen konnte, und dann hat mir Everetts Zustand so große Sorgen gemacht, dass ich ihn nicht allein lassen wollte.
„Bring Rum mit“, brummt Everett, und der Versuch zu sprechen lässt ihn erneut heftig husten.
„Du solltest endlich zum Arzt gehen. Du brauchst bestimmt Antibiotika.“
Aber Everett keucht bloß: „Bloody doctor can’t do a thing ’bout my bloody lung!“
Mit dem Fuß kickt er den leeren Hustensaft weg, sodass die kleine Flasche, die ich ihm mitgebracht habe, gegen eine andere kullert. Der helle Klang von Glas gegen Glas lässt Hunter wieder aufhorchen. Er legt den Kopf schief, und ich sage zu ihm: „Deinem Herrchen ist nicht zu helfen – aber dir. Dich kann ich retten.“
Ich streichle über sein hellbraunes Fell, das dringend mal wieder eine Wäsche nötig hätte, dann verlasse ich die Unterführung am Flussufer entlang.
In diesem Teil des Parks ist nie viel los. Die Leute, die hier vorbeikommen, nutzen den Weg bloß als Zubringer zur Uni und um von einem Ufer ans andere zu gelangen. Sie nutzen ihn zum Gassigehen mit ihren Hunden oder zum Joggen. Hier gibt es keine angelegten Blumenbeete, sondern nur Sträucher und Bäume, Mauern und Brückenpfeiler, besprüht mit Graffitis, die augenscheinlich keine Kunstwerke sind. Ich mag es, dass die Pflanzen ganz natürlich wachsen und nicht zurechtgestutzt werden, damit sie Stadtplanern und Touristen gefallen. Hier ist alles, wie es ist. Das unangefochtene Monopol auf Schönheit hat seit Jahrhunderten die Kelvinbridge inne, die ihre Rundbögen aus grünem Stahl über den Fluss und die Gehwege spannt.
Ich gehe weiter, bis der Fluss einen Knick macht und ich mein Stammcafé erreiche.
* * *
Schon beim Öffnen der Ladentür sieht Paul zu mir auf und ich halte zwei Finger hoch. „Machst du mir zwei Schwarztees zum Mitnehmen, bitte?“
Sein Gesicht formt sich zu einer Mischung aus Lachen und Stirnrunzeln. „Alter, wie siehst du denn aus?“, fragt er.
Wahrscheinlich denkt er, ich bin irgendwo nach dem Feiern abgestürzt, und auch Tara grinst mich allessagend an.
„Viel Schlaf scheinst du auf jeden Fall nicht bekommen zu haben.“ Dann beugt sie sich über die Ladentheke und flüstert: „Bist trotzdem noch der heißeste Motherfucker in der Stadt!“
Paul schüttelt den Kopf, während er sich daranmacht, meine Bestellung zu bearbeiten. „Kannst du bitte damit aufhören, unsere Stammgäste anzugraben, Tara?“
„Ich grabe so lange, bis er endlich mit mir ausgeht“, sagt sie verschmitzt.
Dabei wissen wir beide, dass das nie passieren wird. Aber wie es scheint, gehört sie nicht zu den Frauen, die tatsächlich auch meinen, „Ich komme damit klar“, wenn sie sagen, „Ich komme damit klar“. Das habe ich direkt gemerkt, nachdem sie neulich nach ihrer Schicht mit mir nach Hause gekommen ist. Dabei war ich sehr deutlich: Sex ja, Dates nein. Zwar habe ich nach unserem One-Night-Stand sofort die Notbremse gezogen, aber offenbar war es schon zu spät. Seither versuche ich, ihr aus dem Weg zu gehen, was gar nicht so leicht ist, solange sie hier arbeitet. Entweder muss ich mir bald ein anderes Stammcafé suchen, hoffen, dass sie kündigt, oder …
„Oh mein Gott!“
Eine helle Frauenstimme reißt mich aus meinen Gedanken. In der hintersten Ecke des Cafés erblicke ich ein Mädchen, das voller Verzückung ihren Kopf in den Nacken wirft. Ihr rotblondes, langes Haar fällt ihr in Wellen über die Schultern. Sie beißt genüsslich in eine Zimtschnecke, als wäre sie gerade ganz allein auf dieser Welt und als würde niemand sie beobachten. Dabei tun es alle. Bloß merkt sie es nicht. Die anderen schmunzeln und können nicht wegsehen, weil das Mädchen beim Genießen dieser Zimtschnecke tatsächlich aufstöhnt, als hätte sie gerade einen Orgasmus. Ich kann nicht wegsehen, weil sie so hübsch aussieht. Aus ihrer Kehle vibriert ein genüssliches „Mmmhhh“.
Der Schock in ihrem Blick ist zu süß, kaum dass sie die Augen öffnet und bemerkt, dass jeder sie hier anstarrt. Inklusive mir. Die Art, wie sie zurückstarrt, amüsiert mich. Ich kann sehen, dass sie total nervös ist. Es ist ihr peinlich. Sie weiß gar nicht, wo sie hingucken soll, darum schaut sie mich einfach an, tief in meine Augen, und ich ergründe ihre. Ihre Augenfarbe erinnert mich an Olivenkerne. Oder an Regenwasser, das sich in Pfützen sammelt. Nicht richtig grün. Nicht richtig braun. Darüber spannen sich ihre Brauen so anmutig wie die Rundbögen der Kelvinbridge, die soeben ihre Monopolstellung abgegeben hat.
„Klassischer Fall von Foodgasm, das haben wir hier öfter“, höre ich Tara sagen, aber ich wende meinen Blick nicht von dem Mädchen, das ich hier noch nie vorher gesehen habe. Sie muss eine von den Neuen sein. Oder zu Besuch. Eine Touristin vielleicht. So intensiv, wie ihre Blicke in mich kriechen, befürchte ich allmählich, dass sie gleich die Bilder von sich in meinem Kopf finden könnte. Nackt. Alter! Verdammt! Reiß dich zusammen!
„Lass dich von dem nicht ärgern“, dringt erneut Taras Stimme zu mir durch.
Aber ich kann ihr keine Beachtung schenken, weil die schöne Unbekannte sich gerade mit den Fingern durch die Haare fährt, als wolle sie irgendetwas richten. Dabei fallen sie perfekt. Alter! Spinnst du jetzt völlig? Die Stimme in mir verwirrt mich. Der Schlafentzug fordert seinen Tribut. Ich bin nicht sonderlich widerstandsfähig heute, fühle alles intensiver. Beinahe würde ich denken, ich bin schockverliebt, aber dazu müsste ich wissen, wie sich Verliebtsein anfühlt, und wenn ich so darüber nachdenke, muss ich fast lachen. Die Situation kommt mir mit jeder Sekunde befremdlicher vor. Fast surreal, je länger ich sie anstarre und je mehr Kleinigkeiten ich an ihr wahrnehme: wie die zarte Röte auf ihren Wangen oder diese unergründliche Menge an Tüll, die unter dem Tisch hervorquillt und dem Rock einer Ballerina ähnelt, bloß in Schwarz. Auch ihr Kapuzenpulli und die Lederjacke, die sie darüber anhat, sind tiefschwarz. Bei diesem Anblick vermischen sich in meinem Kopf Szenen aus einem Ballettstück, in das mich Isobel und Colin mal geschleppt haben, als ich ungefähr dreizehn war, Schwanensee, in London, mit Sequenzen aus dem Film Black Swan mit Natalie Portman. Das Mädchen mit den rotblonden Haaren würde einen fantastischen schwarzen Schwan abgeben. Mit zwölf war ich so verknallt in Natalie Portman und Mila Kunis gleichzeitig, dass ich den Film locker zwanzigmal geschaut habe. Irgendwo zwischen Fanpages und YouTube-Ausschnitten, die ich zugegebenermaßen als Wichsvorlage benutzte, habe ich in einem Online-Lexikon gelesen, dass Schwarzschwäne oder Trauerschwäne, wie sie auch genannt werden, ihr Leben lang zusammenbleiben. Das fand ich in meiner jugendlichen Naivität faszinierend. Heute kann ich mit Naivität nichts mehr anfangen.
„Sag mal, Paul …“ Ich beuge mich zu ihm über die Ladentheke, sodass nur er mich hören kann. „Kennst du das Mädchen am Tisch in der Ecke?“
Sein Blick fliegt zu ihr rüber. „Ich weiß bloß, dass ihre Freundin nebenan wohnt.“ Dann verweisen seine Augen auf ein paar Koffer neben der Theke. „Und dass sie einen Haufen Gepäck dabeihat.“
„Ach, ja“, sage ich höchst zufrieden und lasse meinen Blick wieder ungeniert zu der schönen Unbekannten schweifen.
Auf ihren Lippen zeichnet sich ein zaghaftes Lächeln ab, das es mir fast unmöglich macht, den Laden zu verlassen. Doch ich wüsste nicht, womit ich in diesem Augenblick noch Zeit schinden könnte, außer vielleicht damit, mich in eine Unterhaltung mit Tara verstricken zu lassen. Für einen Moment ziehe ich diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung. Aber dann verrät mir ihr Gesichtsausdruck, dass sie nicht happy über mein Interesse an dem neuen Mädchen ist, und ich entscheide mich dagegen, ihr auch noch unnötig Hoffnungen zu machen.
Kurz und schmerzlos greife ich meine Bestellung, und auf dem Weg zur Tür treffen sich unsere Blicke noch einmal.
„Bye, Cinna-Bun“, kommt mir schneller über die Lippen, als ich diese Worte gedacht habe, und ich spüre, dass sie mir nachsieht, bis die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Fast renne ich dabei eine Passantin über den Haufen. Es ist nur meinen guten Reflexen zu verdanken, dass ich gerade noch so meine Teebecher vorm Absturz und die junge Frau vor einer Verbrühung bewahre.
„Pass doch auf!“, schnauzt sie mich an und schaut erst flüchtig, dann genauer auf. Ihr Blick verengt sich und sie mustert mich jetzt ganz seltsam, irgendwie sogar feindselig.
„Sorry! War keine Absicht“, sage ich schnell. „Ist ja zum Glück nichts passiert.“
„So wie immer, oder? Es ist ja nie irgendwas passiert!“
Ich bin verwirrt. „Wie bitte?“, frage ich. „Entschuldigung, kennen wir uns?“
Zwar bin ich in den letzten Jahren kein Kind von Traurigkeit gewesen, aber an meine One-Night-Stands erinnere ich mich eigentlich schon.
„Vergiss es!“, schnaubt sie und drängelt sich jetzt so ungestüm an mir vorbei in den Laden, dass mir die Becher beinahe ein zweites Mal aus der Hand gefallen wären. Durch den Spalt der Tür höre ich sie noch wie ausgewechselt flöten: „Hey ya!“
Sienna
An den Seiten der Vorhänge fällt Tageslicht in mein Zimmer und verrät mir, dass es draußen schon hell ist. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Aus der Küche höre ich klapperndes Porzellan und das Pfeifen des Teekessels. Hailey hat sich doch echt so ein oldschool Ding mit Pfeifmechanismus angeschafft. Mich erinnert dieses Geräusch an meine Kindheit. Zu Hause bei meinen Eltern ersetzte der Teekessel praktisch meinen Wecker. Er holte mich aus dem Schlaf, bevor Mum in mein Zimmer kam, um mich mit einem Stirnkuss zu wecken. Dabei streichelte sie immer über mein Haar und beugte sich so nah über mich, dass sich ihr Parfüm wie ein Schleier über mich legte. Ich rieche noch immer den warmen, pudrigen Geruch, der mir am frühen Morgen auf nüchternen Magen manchmal viel zu süß erschien.
Eine unvorhergesehene Welle der Wehmut überrollt mich. Bis eben dachte ich noch, heute würde es mir leichter fallen, meine Füße vors Bett zu setzen. Doch nun zieht mich dieses bleierne Gefühl wie der Anker eines Schiffs tief in meine Matratze. Ich kann nicht aufstehen, und so starre ich eine Weile an die Decke, an der meine Gedanken ihre Kreise ziehen. Die Lampe wirkt lieblos ausgesucht, zweckmäßig. Wahrscheinlich die günstigste, die der Vermieter gefunden hat. Die Wände sind noch kahl, bis auf ein gerahmtes Bild, das Hailey schon aufgehängt hat. Sie und ich an unserem ersten Schultag, in Schuluniform und mit Zahnlücken. Bloß ein einziger monströser Schneidezahn drückt sich bei jeder von uns durchs Zahnfleisch wie ein Riese, der dort nicht hingehört. Ein niedlicher Anblick und doch fühle ich diesen Moment nicht. Als wäre er aus meinen emotionalen Erinnerungen gelöscht und ich würde zwei fremde Mädchen angucken. Ich frage mich, ob es normal ist, dass man solche Augenblicke vergisst, oder ob es an mir liegt und daran, wie ich eben gerade bin.
„Psst! Bist du schon wach?“ Zaghaft klopft es an meiner Tür und für eine Sekunde überlege ich, ob ich mich schlafend stellen soll, aber da steckt Hailey auch schon ihren Kopf herein. „Guten Morgen, Süße! Gut geschlafen?“, fragt sie mit ihrem typischen „Jeder neue Tag ist dein Freund“-Gesichtsausdruck. „Hast du was geträumt?“ Sie setzt sich zu mir ans Bett. „Du weißt ja, wie es heißt: Der erste Traum in einem neuen Zuhause wird wahr.“
„Hmm“, brumme ich. Bisher fühlt sich hier zwar noch nichts nach Zuhause an, aber ich tue ihr den Gefallen und denke nach. Die ganze Nacht war ein Halb-halb-Zustand. Eine Art Wachschlaf mit luziden Träumen. Zählen die dann überhaupt?
„Einmal war ich die Besitzerin eines mobilen Bäckerwagens“, erinnere ich mich jetzt. „Ich habe tonnenweise Zimtschnecken zwischen Fort Augustus und Glasgow hin- und hergefahren.“
Hailey schaut skeptisch. „Okay … Wenn es das ist, was dein Herz begehrt …“, sagt sie scherzhaft, „I’m in!“
Dann rutscht sie von meinem Bett und geht rüber zum Fenster. Sie beugt sich über meinen Schreibtisch und zieht voller Elan die Vorhänge zur Seite. „Und was sagst du zu dem Ausblick? Der Park, der Fluss, die Kelvinbridge und drüben Caledonian Crescent.“
Sie macht eine Tadaaa-Geste, lässt die Arme jedoch gleich wieder entgeistert sacken, als sie sieht, dass ich mich nicht aus dem Bett bewege. „Jetzt komm schon!“ Sie schlägt meine Decke zurück und schnappt sich meine Hand. Ungeduldig zieht sie mich aus den Kissen und ich gebe ihr missmutig nach.
Mein Blick fliegt über die Bäume und das Wasser hinweg, zum anderen Ende der Brücke, wo ein Gebäude aus rotem Sandstein steht. Wie ein kleines Schloss mit Erkern und zierlichen Türmen thront es auf einer Anhöhe über dem Flussufer mitten in der Stadt. Ein bezaubernder Anblick, der sofort meine Laune hebt, und wenn es möglich wäre, würde ich das kleine Sandsteinschloss in eine Schmuckschatulle packen, zusammen mit den zarten Klängen einer antiken Spieluhr.
„Wow, ist das hübsch!“, staune ich.
„Ja, nicht wahr? Ich hab extra das schönere Zimmer für dich ausgesucht.“ Hailey strahlt über beide Wangen.
Schon als wir Kinder waren, gab es nie Streit darum, wer mit der besseren Barbie spielen durfte und wer die abbekam, der wir zuvor die Haare krumm und schief abgeschnitten hatten. Früher dachte ich, es würde ihr leichtfallen, zu teilen oder auf etwas zu verzichten, weil sie immer genug von allem gehabt hat: wohlhabende Eltern, beide Psychotherapeuten mit eigener Praxis, ein großes Haus, stets die neuesten Spielsachen oder Markenklamotten – Dinge, die sich meine Eltern nie im Überfluss leisten konnten. Heute weiß ich, Großzügigkeit ist ihre Sprache der Liebe.
„Danke“, sage ich zu ihr. „Für alles!“
„Ach, was! Das mach ich gern.“ Für einen Moment drückt sie zärtlich meine Hände. „So, und jetzt lass uns rübergehen, Frühstück ist fertig!“
Sie macht einen freudigen Hüpfer auf dem Weg durch den Flur und ich folge ihr.
* * *
Im Wohnzimmer steht das Fenster sperrangelweit offen und ein frischer Wind zieht herein. Ich kann den Herbst schon riechen, und während ich mir eine Decke vom Sofa hole, um mich darin am Esstisch einzukuscheln, gießt Hailey uns dampfenden Tee ein.
„Alle Zutaten sind frisch“, erwähnt sie. „Sencha mit getrockneten Orangenscheiben und Cranberrystücken.“
„Mhhh! Duftet toll!“
„Und ist super für deine Zellen! Diese beiden Köstlichkeiten hier habe ich allerdings unten bei Paul geholt“, gibt sie zu und ich betrachte die Pasteten auf unseren Tellern. In einem Nest aus Blätterteig sitzt eine Füllung aus Spinat und Fetakäse, garniert mit Kresse und einem Salat aus Roter Bete.
„Praktisch, einen Paul zu haben“, sage ich mit vollem Mund und Hailey nickt eifrig.
„Und, wirst du später zur der Infoveranstaltung für die Literaturis gehen?“, fragt sie schmatzend.
„Literaturis?“, wiederhole ich undeutlich. „Sag mir bitte, dass das bloß eine Eigenkreation von dir ist, sonst wechsle ich das Studienfach!“
„Lenk nicht ab!“, ermahnt sie mich streng. „Hast du dich überhaupt im Forum angemeldet? Ich hab dir extra den Link geschickt! Da stehen alle Termine für die Erstsemester drin.“
Die Vorstellung, mit irgendwelchen fremden, zukünftigen Kommilitonen Small Talk machen zu müssen, fühlt sich an, als sollte ich einen Vortrag in Quantenphysik halten. Unmöglich.
Da ich Haileys Geduld jedoch nicht überstrapazieren will, frage ich: „Wieso bitte legt man eine Infoveranstaltung auf einen Samstag? Die Uni geht doch erst am Montag los!“
„Heißt das, du gehst hin?“
So hoffnungsvoll, wie sie mich anschaut, ist mir klar, dass sie nicht den blassesten Schimmer hat, womit ich innerlich kämpfe. Was, wenn ich mich in der Stadt verlaufe? Oder nur blödes Zeug quatsche und mich alle doof finden? Tausende irrationale Ängste schleichen sich an. Ich kann sie sogar benennen, so wie ich es in den Gesprächen mit Haileys Mum gelernt habe, aber in solchen Momenten hat jegliche Logik keine Wirkung auf meine Emotionen.
Im vergangenen Jahr hat Haileys Mum darauf bestanden, dass ich mindestens einmal pro Woche zu ihr in die Praxis komme. Eine Luxussituation, wenn man bedenkt, dass die Wartezeit auf einen Therapieplatz in Großbritannien im Schnitt mehrere Monate beträgt. Die meisten Therapeuten praktizieren in England, vor allem in London. In anderen Regionen wie Wales, Nordirland und auch hier in Schottland gibt es nur sehr wenige Kliniken und niedergelassene Psychotherapeuten. Die meisten Patienten müssen deshalb entweder weit zur Behandlung fahren oder werden nicht ausreichend versorgt.
Seit der Pandemie ist das noch schlimmer geworden. Somit konnte ich mir jegliche Überlegungen, ob es mir nun angenehm war oder nicht, der Mutter meiner besten Freundin Einblick in mein Seelenleben zu gewähren, praktisch gar nicht leisten. Sie hat wahrscheinlich gemerkt, dass es mir oft schwergefallen ist, mich ihr so richtig zu öffnen. Trotzdem hat sie mir vor meiner Abreise angeboten, sie jederzeit anrufen zu können, wenn ich mich überfordert fühle.
Jetzt wäre so eine Situation. Denn ich weiß gerade wirklich nicht, wie ich es fertigbringen soll, dieses Haus zu verlassen.
* * *
Anziehen. Zähneputzen. Ich erledige zunächst Kleinigkeiten, die sich noch gut bewältigen lassen. Und als ich schließlich wirklich in meiner Jacke an der Wohnungstür stehe und mich von Hailey verabschiede, verkneife ich mir, wie ein Baby zu heulen: Kannst du bitte mitkommen? Denn ich weiß bereits, dass sie keine Zeit hat. Stattdessen sage ich mir: Du wirst jetzt die Treppe hinuntergehen, vielleicht einen Nachbarn im Hausflur treffen. Du wünschst einen guten Morgen und gehst weiter …
Auf diese Weise komme ich irgendwann tatsächlich am Gartenzaun an, mit weichen Knien, aber auch ein bisschen stolz, dass ich es aus eigener Kraft bis hierhin geschafft habe.
Die South Woodside Road liegt beschaulich vor mir. Der gegenüberliegende Parkplatz ist nur spärlich belegt und der Straßenrand ist von parkenden Autos gesäumt. Die Gehwege sind nicht sehr geschäftig. Sogar die zwei kleinen Tische vorm Kelvin Pocket sind nicht besetzt.
Ich überquere die Straße und den angrenzenden Parkplatz. Im gläsernen Tunnel der U-Bahnstation kommen und gehen vereinzelt Menschen über die Rolltreppen. Niemand von ihnen macht den Anschein, meinen Weg zu kreuzen.
So wie die Passanten weiterziehen, lasse ich jetzt auch meine Gedanken ziehen. Ich stelle mir vor, sie wären kleine Passagiere, die in den Waggons der Subway verschwinden. Irgendwo habe ich mal gelesen, man solle sie ziehen lassen wie Wolken am Himmel. Da der Himmel über Glasgow jedoch mal wieder ein durchgängiger Grauschleier ist, ohne Anfang und Ende, würden meine Gedanken hier eher wie unter einer Kuppel gefangen bleiben.
Gleich hinter der U-Bahn geht es hinein in den Park.
Über Google Maps rufe ich mir die Navigation zur Uni auf. Der kleine blaue Pfeil auf meinem Display schickt mich gerade zum Eingang des Kelvingrove Parks, als eine Push-Nachricht aufpoppt und mich über neue Kommentare auf meinem Blog informiert. Ich klicke sie an und lese beim Laufen.
Liebe Sienna,
ich habe deinen Beitrag zum Thema „psychisches Leid sieht man nicht“ geradezu aufgesogen und wollte mich bei dir für deine ehrlichen Worte bedanken. Du sprichst mir aus der Seele und hast mir schon oft Mut gemacht, wenn ich das Gefühl hatte, niemand versteht mich. Die Leute denken immer, es geht einem gut, wenn man funktioniert. Dabei kann man im Außen funktionieren und innerlich trotzdem das reinste Chaos sein, große Schmerzen haben, Selbstzweifel, Ängste. Vielleicht hat man gerade eine schlechte Nachricht bekommen oder eine schreckliche Diagnose. Vielleicht durchlebt man eine schwierige Trennung oder hat einen geliebten Menschen verloren. Wir wissen oft nicht, was in unserem Gegenüber wirklich vor sich geht. So ein Pflaster fände ich eine tolle Idee. Es würde so etwas sagen wie: Achtung, heute brauche ich besonders viel Verständnis, oder Nachsicht, oder Liebe!
Ich lese noch von der Umarmung, die sie mir schickt, und will ihr antworten. Aber beim Laufen zu tippen ist deutlich schwerer, als Zeilen zu überfliegen. So muss ich kurz stehen bleiben und stelle fest, dass ich während des Lesens einfach entlang der Flussbiegung gelaufen bin. Das wilde Rauschen des Wassers hat mich gelotst. Soweit ich es auf Google Maps erkennen kann, befinde ich mich noch auf dem richtigen Weg.
Zum ersten Mal, seit ich losgegangen bin, sehe ich mich bewusst im Park um. Nicht gerade ein botanischer Garten! Auf Zierbeete scheint hier niemand Wert zu legen und es ist nur den herbstlich verfärbten Blättern zu verdanken, dass dieser Anblick nicht trostlos wirkt. Die Jahreszeit, in der sich die Menschen auf Parkbänken niederlassen, neigt sich dem Ende zu, und so stehen sie größtenteils verwaist am Wegesrand. Weit und breit findet sich weder ein Spielplatz noch eine Skaterbahn. Nur eine asphaltierte freie Fläche erspähe ich in einigen Metern Entfernung, wo sich eine Gruppe junger Männer tummelt. Zigarettenrauch verteilt sich in der Luft, Kippenstummel verschmutzen den Boden und schlecht gemachte Graffitis die Außenmauern des Parks.
Als ich der Gruppe näher komme, blickt einer von ihnen zu mir auf, dann ein zweiter. So geht es reihum und in mir brauen sich plötzlich wieder ungute Gefühle zusammen. Vorbeigehen oder umdrehen?, rattert es in meinem Kopf und ich schäme mich schlagartig vor mir selbst. Was bitte stimmt nicht mit mir? Haben andere Frauen auch solche Gedanken? Hailey, die jeden Tag hier langläuft?
Ich spüre, wie mein Puls gehörig an Tempo zulegt. Meine Füße wollen es ihm gleichtun und ich muss mich tierisch beherrschen, mir nichts anmerken zu lassen. Nachher bringe ich die Typen damit erst recht auf Ideen. Gott, Sienna, du bist so gestört! Lauf einfach weiter!, sage ich mir. Alles wird gut!
Aber die Unterführung, die vor mir liegt, sieht ehrlicherweise nicht viel vertrauenerweckender aus. Modriger Sandstein, der Geruch von Urin und die Spuren eines Obdachlosenlagers füttern das Gefühl der Unruhe in mir. Kaum, dass ich mitten im Durchgangstunnel stehe, vernehme ich auch noch ein leises Fiepsen. Oder ein Winseln? Mäuse? Ratten?
Da erblicke ich in einer dunklen Ecke einen Hund, der ruhelos auf einer Art Unterlage im Kreis läuft. Er schnüffelt. Winselt erneut. Er ist ziemlich groß. Momentan beachtet er mich nicht, aber ich habe keine Ahnung, ob das auch so bleibt, wenn ich ihm näher komme. Mit Hunden kenne ich mich nicht gut aus. Mit Tieren im Allgemeinen nicht. Können Hunde Tollwut haben? Funktioniert das dann wie bei Füchsen?
„Jo, Hunter!“, schallt plötzlich von weit her eine Stimme, die meinen Kopfterror unterbricht. „Komm schon, mein Alter!“
Ein durchdringender Pfiff tönt hinterher und lässt den Hund jetzt aufhorchen. Er blickt in die Richtung, aus der das Pfeifen kam und aus der nun deutlich Schritte zu vernehmen sind, die über Schotter rennen. Völlig außer Puste stolpert jemand in die Unterführung.
„Cinna-Bun?“, fragt dieser Jemand überrascht und stützt sich heftig schnaufend auf seinen Oberschenkeln ab. „Was machst du denn hier?“
Ich erkenne den Typen aus dem Café, aber bin noch gefangen in meiner Schockstarre. Wie, was mach ich hier? „Laufen?!“
Er schmunzelt und seine Atmung beruhigt sich langsam. Dann geht er neben dem Hund in die Hocke und flüstert ihm etwas zu. Dabei sieht er zu mir hoch. In der Finsternis des Tunnels schimmern seine Augen heute in einem dunkleren Grau, dennoch haben sie etwas Stechendes. Wie zwei Pfeile, die mich treffen.
„Ich hoffe, du hast dich nicht erschreckt. Hunter ist völlig harmlos, Ehrenwort!“
„Deswegen heißt er auch Hunter“, rutscht mir jetzt raus und seine Lippen verziehen sich erneut zu einem Lächeln. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob es mir oder dieses Mal dem Hund gilt, dem er nun liebevoll über sein hellbraunes Fell streichelt.
„Er trägt diesen Namen, weil er immer die Eichhörnchen im Park jagt“, verrät er mir. „Aber er will nur mit ihnen spielen. Stimmt’s, mein Guter? Du bist das freundlichste Wesen auf der Welt.“
Als er Hunters Kopf herzlich mit seinen beiden Händen streichelt, fallen mir wie schon gestern im Café die schwarzen Tattoos auf seinen Handrücken auf. Dunkle Linien, Dreiecke und Spiralen verschwinden im Ärmel seines Pullovers, nur um am Halsausschnitt wieder herauszukriechen. Dort setzen sie sich fort, ranken sich über seine leicht gebräunte Haut bis über seinen Kehlkopf. Ich erkenne so etwas wie Zacken und Verflechtungen, endlose, sich wiederholende geometrische Formen, die ich zwar schon mal gesehen habe, aber nicht zuordnen kann, wann und wo.
Alick
Mit gleichmäßigen Zügen gleite ich durchs Becken. Samstagmorgens ist die beste Zeit zum Trainieren. Die Schwimmhalle habe ich dann meistens komplett für mich allein. Während die anderen noch verkatert in ihren Betten liegen, ziehe ich schon meine Bahnen, tauche ab ins kühle Nass, unter dessen Oberfläche die Welt verschwindet. Im Wasser gibt es nur mich und meine Leistung. Alles, was zählt, ist die Zeit. Besser werden – ein Hundertstel schneller als beim letzten Mal. Meine Arme und Beine arbeiten eingespielt. Der immerzu gleiche Bewegungsablauf verursacht ein rhythmisches Plätschern, das längst zu meiner ganz persönlichen Meditationsmusik geworden ist.
In einer Art Trancezustand kraule ich durchs Wasser. Ich spüre nur meinen Körper, meine Muskeln und wie sich die Kacheln anfühlen, wenn meine Hände und Füße am Ende einer jeden Bahn zur Wendung ansetzen. Mein Bewusstsein ist ausgeschaltet, bis meine Fitnessuhr vibriert und mir signalisiert, dass ich mein heutiges Trainingsziel erreicht habe.
Erschöpft sinke ich schließlich in eine ruhige Rückenlage. Erst jetzt spüre ich die Ermüdung in meinen Gliedern, die mein Ehrgeiz zuvor ausgeblendet hat. Meine Muskeln pulsieren von der Anstrengung und meine Lungen japsen geradezu nach Sauerstoff. Einen Moment nehme ich mir zur Entspannung und atme tief in den Brustkorb hinein, sodass sich mein Oberkörper wie ein Luftkissen aufbläht. Dann kehre ich in die Welt außerhalb des Wassers zurück, ausgepowert, aber auch wie neugeboren, und checke meine Zeit.
Meine Uhr trackt alles: Tempo, Distanz, Schlagzahl. Sie erkennt sogar Wendungen und errechnet die Schwimmeffizienz. Ein richtiges Hightech-Spielzeug. Jes hat sie mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt. Erst wollte ich das teure Teil gar nicht annehmen, aber dann ist meine alte kaputtgegangen und na ja, so what …
Meine Leistung heute Morgen kann sich auf jeden Fall sehen lassen, was mich ehrlicherweise überrascht nach der vergangenen Nacht. Viel Schlaf habe ich nicht bekommen. Bis weit nach Mitternacht bin ich noch im Park gewesen und habe erst auf den Rettungsdienst, dann auf die Polizei gewartet. Da ich während meiner Joggingrunde am späten Abend den alten Everett regungslos unter der Brücke gefunden habe, war ich es auch, der befragt wurde.
Nein, er hatte schon keinen Puls mehr, als ich eintraf, höre ich mich meine Aussage wiederholen. Nein, der Hund gehört zu mir, Sie brauchen den Tierschutz nicht verständigen. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, zuzulassen, dass sie Hunter in einen Zwinger in irgendein Tierheim sperren. Also habe ich ihn mitgenommen.
Die ganze Nacht war er unruhig, hat durchgehend gewinselt und an der Haustür gekratzt. Wahrscheinlich hat er Jes während meiner Abwesenheit in den letzten Stunden bereits in den Wahnsinn getrieben. Bei dem Gedanken beeile ich mich, unter die Dusche zu kommen.
Mit einem Handgriff entferne ich den Pulsmessgurt von meinen Brustkorb, mit einem zweiten seife ich mich ein, und als ich keine fünf Minuten später angezogen bin und meine Sachen aus dem Spind hole, finde ich auch schon eine Nachricht von Jes auf meinem Handy: Hunter ist weggelaufen!
Fuck! Wie konnte das passieren? Ich klicke auf Jes’ Nummer, und während die Verbindung aufgebaut wird, stürze ich bereits aus der Schwimmhalle in der Oakfield Avenue. Meine größte Sorge ist nicht, dass Hunter nicht allein klarkäme, sondern vielmehr, wie die Menschen auf freilaufende, herrenlose Hunde reagieren, noch dazu, wenn sie so groß sind wie er. Ich muss ihn dringend finden!
Jes nimmt nicht ab. Egal! Ich hab ohnehin schon so eine Vermutung, wo ich nach Hunter suchen muss. Von hier ist es ungefähr eine halbe Meile bis zur Unterführung im Kelvinpark.
* * *
Ich jogge los, dann renne ich – je näher ich meinem Ziel komme, desto schneller werde ich. In Höchstgeschwindigkeit erreiche ich so nur wenige Minuten später den Park. Kurz vorm Tunnel, in dem der alte Everett sein Lager hatte, werde ich langsamer.
„Jo, Hunter!“, rufe ich. „Komm schon, mein Alter!“ Ich stecke die Finger zwischen die Lippen und pfeife.
In der Dunkelheit der Unterführung mache ich die Umrisse einer Person aus. Es dauert einen Moment, bis meine Augen die veränderten Lichtverhältnisse kompensieren und das leuchtende Rotblond eines Haarschopfes für mich erkennbar wird.
„Cinna-Bun?“ Völlig außer Puste stütze ich mich auf meinen Oberschenkeln ab. „Was machst du denn hier?“
„Laufen?!“, antwortet sie einsilbig und ich spüre, wie mich ein Schmunzeln in den Mundwinkeln kitzelt. Laufen.Nach was sieht es denn aus?
Abwechselnd schaut sie zwischen mir und Hunter hin und her.