Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Bisher glaubte William, sein Vater sei bis zu seinem Tod ein ganz normaler Matrose gewesen. Doch dann taucht ein Mann auf, der sich als dessen ehemaliger Käpt'n vorstellt und William auf eine geheime Insel mitnehmen will - auf eine Pirateninsel! Dort erfährt er, dass das Verschwinden seines Vaters keineswegs ein Unfall war und er vor seinem Tod die Bruchstücke einer sagenumwobenen Schatzkarte versteckte: die Karte der Ewigen Wanderer. Und so beginnt für William ein Abenteuer, das ihn tief in die Geheimnisse der seltsamen Insel verstrickt und ihn mit magischen Kreaturen, grausamen Mitschülern und alten Widersachern seines Vaters konfrontiert. Da ist es gut, dass er schon Freunde gefunden hat, die ihm im Kampf gegen diese Mächte zur Seite stehen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 424
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alte Freunde
Fat Man
Ein sonderbarer Unfall
Die Pirateninsel
Zu Hause
Legenden
Die Ungeheuer der See und andere Seltsamkeiten
Der Piratenunterricht
Black Eye
Magische Wissenschaften
Der Piratenkodex
Die Geheimtür
In der Unterwelt
Liphistakula
Ratten und Glückspilze
Die Karte der Ewigen Wanderer
Glossar
Galerie
William saß im Schneidersitz auf abgewetzten Holzdielen und sah gedankenverloren durch die schmutzigen Scheiben eines bodentiefen Fensters in die Nacht hinaus. Draußen regnete es in Strömen. Dazu wehte ein rauer Wind, der Laub und Unrat durch die nur spärlich beleuchteten Straßen trieb. Kein Geländer verstellte die Sicht, denn die Tür, die einst Teil eines französischen Balkons gewesen sein mochte, führte schon lange ins Nichts. Zum Schutz der Bewohner vor einem Absturz in den gähnenden Abgrund war lediglich der Türgriff entfernt worden. So verhielt es sich mit vielen Dingen in diesem Haus: Was beschädigt war, wurde beseitigt. Jedenfalls wenn es nach dem Willen der Ordensschwestern ging. Dies war vielleicht auch der Grund dafür, warum er wieder einmal weggesperrt worden war. Seine undankbare Einstellung zu diesem Ort war, wie so oft, allzu offen zu Tage getreten. Das sah man hier nicht gerne – also hatte man auch ihn entfernt. Für eine Weile zumindest.
Als weiterer Teil seiner Bestrafung spendete die einzige Lampe in dem kleinen Raum kein Licht. Doch das störte William nicht. Eingehüllt in samtene Finsternis, konnte er durch die schmutzigen Scheiben besser erkennen, was draußen vor sich ging. Nicht dass es dort viel Interessantes gegeben hätte – das Saint-Cross-Waisenhaus für Jungen stand nicht eben im besten Teil von Gravesend. Trotzdem sah er gerne hinaus, vor allem in Momenten wie diesen, in denen er ganz für sich sein konnte. Denn davon gab es in diesem Haus nicht viele. Egal ob im Schlafraum, den er sich mit elf weiteren Jungen teilen musste, oder im riesigen Speisesaal, der immer völlig überfüllt war, oder auf dem Innenhof – nirgends war man hier unbeobachtet.
Die Schwestern glaubten, sie würden ihn bestrafen, indem sie ihn alleine in ein dunkles Zimmer sperrten – doch hier fühlte er sich wohler als sonst irgendwo in diesem Gemäuer. Hier war auch einer der wenigen Orte, wo Jake Brown ihn nicht ärgern konnte.
Einen Ort gab es jedoch, an dem er noch lieber gewesen wäre: zu Hause.
Genau daran dachte er gerade, während er dem Trommeln des Regens und dem entfernten Grollen eines Gewitters lauschte.
Es war schon eine ganze Weile her, dass er ein richtiges Zuhause gehabt hatte. Seine Mutter war an Typhus gestorben, da war er gerade sieben Jahre alt gewesen. Sein Vater hatte weiter als Matrose arbeiten müssen, auch wenn das bedeutete, dass er seinen Sohn oft für mehrere Monate alleine lassen musste.
Einzig eine Freundin seiner verstorbenen Mutter sah hin und wieder nach William, und so hatte er sich mit den Jahren daran gewöhnt, auf sich selbst gestellt zu sein. Deshalb war es ihm auch erst gar nicht aufgefallen, wie lange sein Vater schon nicht mehr nach Hause gekommen war – bis dann eines Tages die beiden Männer und diese kleine rundliche Frau bei ihm aufgetaucht waren.
»Bist du William Smallwood?«, hatte die Frau ihn gefragt, ohne sich oder ihre Begleiter vorzustellen. Und als er stumm genickt hatte, hatte sie ihm erklärt: »Wir sind hier, um dich in unsere Obhut zu nehmen. Uns wurde zugetragen, dass dein Vater bei einem Unfall auf See verstorben ist, und alleine kannst du hier nicht bleiben.«
Die Nachricht hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen.
»Ihr lügt! Mein Vater kommt zurück!«, hatte er geschrien, aber sie hatten ihn einfach mitgenommen – hinaus aus dem Haus, in dem er geboren und aufgewachsen war, hinein in eine kleine, schmucklose Kutsche, die ihn ins Waisenhaus nach Gravesend gebracht hatte.
Bis heute klammerte er sich an die Hoffnung, dass sein Vater eines Tages an die Tür dieses Waisenhauses klopfen und ihn abholen würde. Er hätte ihm bestimmt eine unglaubliche Geschichte zu erzählen, weshalb er solange fort gewesen war, und sie würden gemeinsam darüber lachen. Doch bis dahin saß William hier fest, und das mittlerweile seit fast zwei Jahren.
Ein Poltern löste ihn aus seiner Erinnerung. Er schloss die Augen und lauschte. Wieder ein Poltern. Dann – war das ein Schrei? Jagte Jake vielleicht wieder einmal irgendeinem armen Teufel hinterher? Aber es war mitten in der Nacht!
Plötzlich musste er an Gwendolyn denken. Ob sie das auch hörte? Sie war, als einziges Mädchen, in einem entfernten Teil des Waisenhauses untergebracht, wo sich die Quartiere der Bediensteten befanden. Ein ungutes Gefühl kroch in seinen Magen. Es klang jetzt, als würden eine Menge Leute durch das Haus rennen.
Das Poltern kam näher, so nah, als wäre es im Flur, direkt vor –
Die Tür flog krachend auf und William riss instinktiv die Arme schützend vors Gesicht.
Im Türrahmen zeichnete sich im schwachen Gegenlicht der Flurbeleuchtung eine riesige Gestalt ab. Sie umklammerte den Arm einer Ordensschwester, die mit gesenktem Kopf und krummem Rücken um Gnade flehte.
»Ist er das?«, fragte die Gestalt mit tiefer Stimme.
Der Schwester kam nur ein lautes Schluchzen über die Lippen, aber sie nickte bebend, worauf der Fremde seinen Griff löste. Eilig huschte die Frau ohne einen weiteren Blick auf William davon. Der Mann trat einen Schritt in den Raum hinein, in dem William noch immer auf dem Boden saß. Er zitterte am ganzen Körper, doch seltsamerweise spürte er auch Neugier in sich aufsteigen. Wer war diese unheimliche Erscheinung, die hier mitten in der Nacht im Waisenhaus aufgetaucht war?
»Du bist also William«, stellte der Eindringling fest.
Ein Blitz vor dem Fenster erhellte für einen Augenblick sein Gesicht. William erstarrte. Obgleich die Dunkelheit den Fremden längst wieder verbarg, zeichnete sich vor Williams Augen noch immer dessen Antlitz ab. Ein schwarzer Dreispitz bedeckte einen Kopf, der nur aus Haaren zu bestehen schien. Schwarz und buschig quollen sie über die breiten Schultern. Das Gesicht war fast vollständig von einem ebenso schwarzen Bart verborgen, der zu langen Zöpfen geflochten war. Er sah aus wie ein –
»Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen«, sagte der Mann plötzlich.
»Mitnehmen?«, keuchte William. Sein Herz schlug ihm so wild in der Brust, dass er das Pochen bis in seine Kehle spüren konnte. »W-wohin?«
»Auf mein Schiff.« Der Fremde machte einen weiteren Schritt auf William zu, der seinerseits weiter zurück kroch, bis er die kalte Wand in seinem Rücken spürte.
»W-wollt Ihr mich – entführen?«
Der Mann lachte belustigt. »Entführen? Nein, mein Junge. Ich will dich befreien.«
Befreien?, dachte William verwirrt. Was redete der Kerl da?
»Mein Name ist Benjamin Barebone«, erklärte der Fremde. »Ich war der Käpt’n deines Vaters, bis –« Er hielt kurz inne. »Bis zu diesem Unglück, das ihn das Leben kostete …«
»Mein Vater war Matrose auf einem Handels–«, begann William, doch der Fremde unterbrach ihn.
»Jaja, ich weiß, was er dir erzählt hat, Junge. Aber die Wahrheit ist: Er war ein Pirat, ebenso wie ich einer bin.«
Ein Pirat! William schwirrte der Kopf. Das ergab alles keinen Sinn. Vor Verblüffung vergaß er sogar seine Angst.
»Mein Vater war ein Pirat?«, fragte er und sah ungläubig zu dem fremden Kapitän auf.
»Ganz recht, mein Junge. Und noch dazu ein verdammt guter«, bestätigte Barebone.
»Das – nein«, widersprach William und spürte Zorn in sich aufsteigen. Das konnte nicht wahr sein, denn das würde bedeuten – nein, sein Vater hätte ihn niemals belogen!
»Komm mit mir und du wirst die ganze Wahrheit erfahren«, bot Barebone ihm an.
Plötzlich steckte ein zweiter Mann seinen Kopf durch die Tür. »Käpt’n?« Sein Blick wanderte zu dem Jungen. »Ist er das?«
Barebone nickte. »Aye. Geh und sag den anderen, dass wir gleich abrücken. Bevor noch das ganze Haus auf den Beinen ist.«
Der Mann verschwand und Barebone beugte sich zu William hinab. »Wir müssen von hier weg, William. Du musst mir vertrauen, oder möchtest du lieber hierbleiben und vielleicht niemals die Wahrheit über deinen Vater erfahren?«
William zögerte. Was, wenn dieser Mann log und ihn nur verschleppen wollte? Andererseits – falls es doch stimmte, was dieser Barebone behauptete und er aus Angst die vielleicht einzige Möglichkeit vertat, dem Waisenhaus zu entfliehen?
»Ich … ich weiß nicht«, stammelte er, hin- und her gerissen. »Könnt Ihr mir beweisen, was Ihr über meinen Vater sagt?«
Der Pirat lachte. »Du bist genauso misstrauisch wie er. Aber wenn du einen Beweis willst, Junge, musst du mir zuerst vertrauen und mich auf mein Schiff begleiten. Oder hält dich irgendetwas an diesem trostlosen Ort?«
»Nein«, hauchte William. »Gar nichts, bis auf –« Er brach ab und atmete tief ein.
»Also gut«, stieß er dann in einem Anflug von Tollkühnheit aus. »Ich komme mit Euch. Aber nur unter einer Bedingung.«
»Du stellst eine Bedingung dafür, dass ich dich aus diesem Loch befreie?«
»Ja«, sagte William schnell, bevor ihn sein Mut womöglich wieder verließ. »Ich komme nur mit, wenn Ihr noch jemanden mitnehmt.«
»Einen Freund?«, fragte Barebone.
»Nun ja, so ähnlich.«
»So ähnlich?« Der Pirat schien ungeduldig zu werden.
»Eine Freundin«, erklärte William.
Jetzt stieß Barebone ein raues Lachen aus. »Eine Freundin!« Er schüttelte ungläubig den Kopf und streckte William die Hand entgegen. »Wenn es weiter nichts ist. Geh sie holen.«
Ohne die Hand zu ergreifen, sprang William auf und rannte an dem großen Mann vorbei aus dem Zimmer. Barebone folgte ihm.
»Wir müssen auf die andere Seite des Hauses«, rief William über die Schulter und stürmte durch den schwach beleuchteten Flur voraus.
Die meisten Türen, die sonst nachts abgesperrt waren und die verschiedenen Bereiche des Hauses voneinander trennten, standen offen. So gelangten sie im Nu in den Schlafbereich der Bediensteten, wo er Gwendolyn zu dieser späten Stunde vermutete.
William blieb schlitternd stehen. »Gwendolyn!«, schrie er, so laut er konnte.
Einer der Hilfsköche und zwei Ordensschwestern hetzten an ihnen vorbei, ohne William zu beachten.
»Gwendolyn, bist du hier?«
William lauschte auf irgendein Zeichen, hörte aber nichts als die Schreie und das Getrampel der fliehenden Hausbewohner. Er wollte schon weiterlaufen, als er endlich Gwendolyns Stimme vernahm.
»Will, bist du das?«, drang es gedämpft in den Flur.
»Ja«, bestätigte er und sah sich um. »Wo bist du?«
»Hier«, erklang es aus einem Raum rechts von ihm.
William stürmte hinein und sah, dass sich hinter einem umgestürzten Tisch etwas regte.
»Gwen?«, fragte er abermals.
Ein schwarzer Haarschopf tauchte auf, gefolgt von einem dunkelhäutigen, angespannten Gesicht. Gwendolyn wollte gerade etwas sagen, doch dann trat Barebone in den Raum und ihr Kopf verschwand sogleich wieder hinter dem Tisch.
»Keine Angst, Gwen«, versuchte William sie zu beruhigen. »Er gehört zu mir.« Er warf Barebone einen Blick zu, während Gwendolyns Kopf langsam wieder zum Vorschein kam.
»Er ist hier, um mich … ich meine, um uns hier rauszuholen«, erklärte er eilig.
»Hier rausholen?«, fragte Gwendolyn argwöhnisch und ließ Barebone nicht aus den Augen.
»Erklär ich dir später«, vertröstete William sie. »Wir müssen jetzt schnell hier weg. Nimm, was du brauchst und komm.«
Bei diesen Worten fiel ihm ein, dass er selbst gar keine Möglichkeit gehabt hatte, irgendetwas einzupacken. Doch das scherte ihn nicht weiter, denn der einzige Gegenstand, der für ihn von Wert war, hing um seinen Hals: eine goldene Kette mit einem Medaillon, das ein Porträt seiner Mutter enthielt.
Gwendolyn sprang auf, raffte ihr Nachthemd zusammen und stolperte durch das dunkle Zimmer auf eine ramponierte Holztruhe zu. Sie riss den Deckel auf, entnahm ihr ein Buch und ein schlichtes Leinenkleid und stopfte beides hastig in eine Tasche. Zuletzt schlüpfte sie in ihr einziges Paar Stiefel und griff nach einem roten Kopftuch, mit dem sie sich ihre Mähne zu einem dicken Zopf zusammenband.
»Fertig«, sagte sie knapp.
William konnte nicht anders, als über Gwendolyns Furchtlosigkeit zu staunen. Ihm schlotterten noch immer die Knie vor Aufregung.
»Dann los«, wies Barebone die beiden an. »Bevor jemand hier auftaucht, der uns Ärger macht.«
Sie liefen den Flur entlang, bis sie zur Eingangshalle des Waisenhauses kamen. Dort waren eine Handvoll Männer versammelt, die sich ungeduldig umsahen.
»Wer ist das Mädchen?«, fragte einer der Männer. Trotz des ungemütlichen Wetters trug er lediglich eine offene Lederweste und eine löchrige blaue Pluderhose, deren Beine in speckigen Lederstiefeln steckten.
»Sie gehört zu William«, brummte Barebone, während er schon die Eingangstür aufstieß und in die regnerische Nacht hinaustrat.
Gemeinsam eilten sie die Queen Street entlang in Richtung Hafen. Außer ihnen war zu dieser Zeit – und bei diesem Wetter – niemand unterwegs. Der Regen peitschte ihnen ins Gesicht, die Lichter der Straßenlaternen waren nicht mehr als verschwommene Flecken auf dem nassen Boden.
Die Männer schienen die herumwirbelnden Regentropfen kaum wahrzunehmen, doch William und Gwendolyn hatten Mühe, nicht den Anschluss zu verlieren. Bereits nach wenigen Schritten waren sie nass bis auf die Knochen.
William zitterte vor Kälte, und er war sich sicher, dass es Gwendolyn, die nur ihr Nachthemd trug, nicht anders erging. Dennoch stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hatte sich schon so oft ausgemalt, wie es wäre, einfach aus dem Waisenhaus zu fliehen, davonzulaufen und irgendwo weit weg sein Glück zu suchen. Vielleicht als Schiffsjunge auf einem Fischerboot oder, noch besser, auf einem der Frachtschiffe, die weit in den Süden fuhren, um dort Handel zu treiben, in Ländern, die er nur dem Namen nach kannte. Von Piraten befreit zu werden, deren Kapitän behauptete, ein alter Freund seines Vaters zu sein, das war ihm allerdings bisher nicht einmal im Traum eingefallen.
»Wir sind da«, rief plötzlich jemand weiter vorne und William spähte mit zusammengekniffenen Augen aufs dunkle Hafenbecken der Themse. Alles, was er im spärlichen Licht der Laternen erkennen konnte, waren kleine Fischerboote und die schlanken Fleuten der Händler, denen er oft auf der Kaimauer sitzend hinterhergeschaut hatte. Ein Piratenschiff konnte er nirgends entdecken. Er hatte einen prächtigen, kanonenstarrenden Dreimaster erwartet, auf dessen Großmast eine schwarze Flagge mit einem Totenschädel flatterte.
Während William darüber nachdachte, näherten sie sich zwei kleinen Booten, die noch wilder im schwarzen Wasser tanzten als die größeren Schiffe. Ihn schüttelte es bei der Vorstellung, bei solch einem Sturm in eine so mickrige Nussschale zu steigen! Doch genau in diesem Moment sprang einer der Männer vom Pier in das vordere der vertäuten Boote. William sog keuchend die kalte Luft ein, als er begriff, dass seine Suche nach dem Dreimaster mit der unheilverkündenden Flagge vergebens war.
»Kommt schon«, schrie jemand hinter ihm und schob ihn und Gwendolyn, deren Hand er immer noch festhielt, auf die Kaikante zu. »Rein ins Boot und Köpfe runner, wenn ihr nich fortgespült werden wollt.«
Gwendolyn stemmte sich gegen den Mann und klammerte sich an William, der ebenso wie sie einfach über das vom Regen rutschige Kopfsteinpflaster geschubst wurde.
Barebone beugte sich tief zu ihnen hinunter. An seinem eingefetteten Bart hingen unzählige Wassertropfen, wie Glasperlen.
»Was ist los?«, knurrte er. »Warum sträubt ihr euch?«
Ein dünnes Rinnsal, das einer Quelle gleich der vorderen Spitze seines Hutes entsprang, teilte sein Gesicht in zwei Hälften.
Gwendolyn schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. »Ich … k-kann n-nicht schwimmen!«
»Das musst du auch nicht«, behauptete Barebone. »Mach einfach die Augen zu und lass dich fallen. Die Männer fangen dich auf.«
Das zweite Boot war mittlerweile auch voll besetzt. Nur William, Gwendolyn und Barebone standen noch auf dem Kai.
»William«, sagte Barebone scharf und packte ihn an der Schulter, »letzte Chance.«
William starrte den Käpt’n vor Kälte schlotternd an, dann sah er zu Gwendolyn. Diese rührte sich noch immer nicht. Er hatte Angst, furchtbare Angst. Aber dieses Mal war es an ihm, stark zu sein.
Für Gwen, dachte er. Für uns beide.
Er biss die Zähne zusammen, umklammerte seine Freundin und ließ sich mit ihr über den Rand fallen. Gwendolyn stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus, dann lagen sie auch schon in den Armen der im Boot wartenden Männer.
Ohne zu zögern, sprang Barebone hinterher.
William kauerte sich mit Gwendolyn zwischen zwei Sitzbänken auf den Planken des Bootes. Über ihnen hantierte einer der Piraten an dem Seil herum, mit dem es am Kai festgemacht war. Jedoch verlor er jedes Mal den Boden unter den Füßen, wenn ein Wellental das kleine Boot absacken ließ. Nach drei erfolglosen Versuchen gab er fluchend auf und schnitt das Seil stattdessen mit einem langen Messer durch.
Augenblicklich machte das Boot einen gewaltigen Satz von der Kaimauer weg. William spürte, wie er nach oben katapultiert wurde, um kurz darauf hart auf die Planken zurückzuprallen. Der Aufschlag presste ihm die Luft aus den Lungen, und weiße Funken tanzten vor seinen Augen. Und als wäre das nicht schon genug, stürzte von oben ein Schwall kalten Wassers auf ihn und Gwendolyn herab. Während er verzweifelt versuchte zu atmen, brüllte Barebone Befehle. Riemen wurden zu Wasser gelassen und die Ruderer keuchten jedes Mal vor Anstrengung, wenn sie sich mit aller Kraft gegen den tobenden Fluss stemmten.
Nach ein paar Minuten wurde die Fahrt etwas ruhiger. Zwar schaukelte das Boot weiterhin wild vom Sturm getrieben auf dem Fluss, doch die Männer hatten es geschafft, es so in den Wind zu legen, dass es nicht mehr nur ein Spielball der Elemente war.
William löste seinen Griff um Gwendolyn und stemmte sich so weit hoch, dass er einen Blick über den Rand wagen konnte. Irgendwo musste doch ein Schiff sein. Barebone konnte unmöglich vorhaben, mit dem kleinen Boot in diesem Sturm den ganzen Weg bis zum Meer zurückzulegen.
Sofort peitschte ihm wieder Wasser ins Gesicht und er zuckte prustend zurück. Mit einer Hand wischte er sich über die Augen und strich eine nasse Strähne beiseite. Er schielte zu Gwendolyn hinab, die mit bis unters Kinn gezogenen Knien zu ihm aufblickte.
»Ist da was?«, fragte sie, wobei William ihr ansehen konnte, wie sehr sie sich gegen ihre Angst stemmte.
»Nein«, brüllte er durch den Sturm zurück. Hier draußen auf dem Fluss war die Nacht noch dunkler.
Doch plötzlich lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. Er krallte sich am Dollbord fest und starrte mit zusammengekniffenen Augen zur Mitte des Flusses. Etwas hatte sich verändert. Da war eine Unregelmäßigkeit in der Dunkelheit. Zuerst mehr zu erahnen als zu sehen. Dann erkannte er mit einem Mal, was da nur als grober Schemen vor ihnen in der Mitte des Flusses aufgetaucht war: ein gewaltiges Schiff.
Mit jedem Ruderschlag war das riesige Schiff im vom Regen aufgepeitschten Wasser deutlicher zu erkennen.
Vor lauter Aufregung vergaß William, dass er sich in einem kleinen Boot inmitten eines heftigen Sturms auf der Themse befand, und stellte sich staunend aufrecht hin – was er sofort bereute. Kaum war er auf den Beinen, versetzte eine Welle dem Boot einen derartigen Stoß, dass es ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Er prallte heftig gegen einen der Piraten – den das nicht zu kümmern schien – und fiel auf Gwendolyn, die noch immer zwischen den Bänken kauerte. Sie schrie vor Schmerz auf und verpasste ihm einen wütenden Tritt.
»Pass doch auf!«, schimpfte sie.
»Das musst du dir ansehen«, entgegnete William aufgeregt ohne Gwendolyns vorwurfsvollen Ton überhaupt wahrgenommen zu haben.
Sie drückte ihn ächzend von sich weg und schüttelte den Kopf.
»Komm schon, ich halte dich«, sagte William und bot ihr seine Hand an.
Einen Augenblick lang geschah nichts, dann krallte sich Gwendolyn in Williams Arm und kämpfte sich auf die Knie. William zeigte ihr schwankend mit ausgestrecktem Finger die Richtung an. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was er meinte, dann erkannte sie es auch. Sie steuerten genau auf die Steuerbordseite eines Schiffes zu, das majestätisch im schwarzen Wasser lag wie eine von hohen Wellen umspülte Festung. Selbst durch den dichten Regenschleier war inzwischen das burgenähnliche Achterkastell auszumachen, und mit jedem Stück, das sie näher kamen, wurden die Konturen schärfer. Bald schon traten deutlich drei Masten hervor, die sich hoch über sie erhoben und, ganz zu ihrer Rechten, am Bug –
William stockte. Er kniff die Augen noch fester zusammen und starrte angestrengt auf die vordere Spitze des Schiffs, wo sich – seiner Erwartung nach – eine Galionsfigur befinden sollte. Was auch der Fall war, allerdings konnte er mit dem, was er sah, nichts Rechtes anfangen. Dort war weder eine Meerjungfrau oder Nixe oder sonst eine Frauengestalt noch ein Krieger oder Fürst, auf deren Rücken der Bugspriet ruhte. Stattdessen wölbte sich ein fetter Wanst gen Wasseroberfläche. Er gehörte einem kahlköpfigen Mann, der mit grimmiger Miene geradeaus blickte und dessen abgewinkelte wulstige Arme den Bug stützten.
Ein Stoß in die Rippen riss William von der grotesken Galionsfigur los, und er schaute zu Gwendolyn, die zur Mitte des Schiffes deutete.
Das zweite Boot war vor ihnen am seitlichen Rumpf angekommen. Die ersten Männer kletterten bereits eine an der Seite herabhängende Strickleiter empor. Am Ruderboot waren vorne und hinten Taue befestigt, die erst nach oben, dann über Umlenkrollen an langen Auslegern und schließlich hinein in das Schiff verliefen und das Boot einigermaßen an Ort und Stelle hielten. Die Männer, im Umgang mit der schaukelnden Leiter geübt, hatten die Bordwand schnell erklommen, und sobald der letzte oben angekommen war, zogen sie das kleine Boot an den Tauen ebenfalls hinauf.
Dann waren sie selbst an der Reihe. Die beiden Piraten an den Rudern manövrierten das Boot seitlich heran und abermals wurden Taue herabgelassen und festgemacht. Bevor der Erste sich auf den Weg in die Galeone machte, besprach Barebone etwas mit ihnen, das William durch den pfeifenden Wind nicht verstehen konnte. Sobald der Käpt’n seine Anweisungen beendet hatte, entschwanden die Männer himmelwärts und Barebone wandte sich an die beiden Kinder.
»Wir bleiben hier!«, schrie er. »Wenn die Männer oben sind, ziehen sie uns mitsamt dem Boot hinauf!« Er wurde durch eine hereinschwappende Welle unterbrochen. Sie klatschte ihm ins Gesicht und er drehte den Kopf zur Seite, spuckte aus und fuhr dann fort: »Das ist sicherer. Ich bezweifle, dass ihr die Kraft habt –«, wieder traf eine Woge das Ruderboot und drückte es auf die Seite, »– das Fallreep hochzuklettern!«
William atmete erleichtert auf, denn er hatte genau die gleiche Befürchtung gehabt.
Es dauerte nur einen Moment, dann schwankte das Boot erneut gefährlich hin und her. Diesmal jedoch nicht durch eine Welle, sondern weil es ruckartig angehoben wurde. Der Fluss griff noch einmal zornig nach dem Rumpf, dann waren sie dem tobenden Wasser entkommen. Das hieß jedoch nicht, dass es nun ruhiger zuging. Nur noch an Seilen hängend, war das kleine Boot jetzt ein Spielball des nach wie vor heftigen Windes. Ein Stoß nach dem anderen schmetterte sie gegen die Seite des Schiffes. Jedes Mal, wenn Holz auf Holz prallte, wurden William und Gwendolyn herumgeworfen und schlugen hart gegen irgendwelche Kanten. William begann sich zu fragen, ob blaue Flecke selbst auch blaue Flecke bekommen konnten.
Ein sich in das Rauschen des Windes vermischendes Geräusch lenkte ihn von seinen Gedanken prächtig erblühender Blutergüsse ab. Es war der rhythmische Klang keuchender Männerstimmen.
Wir müssen fast oben sein, dachte er und konnte es kaum erwarten. Schon sah er mehrere sich um den oberen Rand des Bootes krümmende Finger, und drei Köpfe tauchten über ihnen auf.
Ohne ein Wort packte Barebone William und übergab ihn an einen der bereitstehenden Piraten, der ihn, ohne besondere Vorsicht, über die Reling ins Schiff hinüberzog (was William eine zusätzliche Schürfwunde am Rücken bescherte). Mit Gwendolyn verfuhr der Käpt’n ebenso. Sie wurde jedoch von gleich zwei Männern in Empfang genommen und weitaus sachter ins Schiff gehievt, was William nicht verborgen blieb. Typisch, dachte er beleidigt, während er sich seinen schmerzenden Rücken rieb. Als Letztes wurde Barebone eine Hand gereicht, und er schwang sich in einer geschmeidigen Bewegung über das hölzerne Geländer. Immer noch auf den nassen Planken sitzend, wo sie ihn abgeladen hatten, folgte Williams Blick Barebone. Der Käpt’n richtete sich an einen Mann, der mit dem Rücken zu William stand. Er hatte sein langes Haar, das ebenso schwarz war wie das des Käpt’ns, unter einem vor Feuchtigkeit schlaffen Dreispitz auf seinem Hinterkopf zusammengebunden. William konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber Barebone deutete auf ihn, während er sprach. Der Mann, der in einem dunkelbraunen Ledermantel steckte, nickte ein paarmal, drehte sich dann um und ging auf William zu. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, war in dem spärlichen Licht einiger schaukelnder Öllampen kaum mehr als ein schwarzer Kinnbart von dem Gesicht des Unbekannten zu erkennen.
»Smallwood, mitkommen!«, sagte der Fremde in scharfem Ton.
William sah fragend zu Gwendolyn, die ihrerseits ebenso fragend zurückblickte.
Bevor William sich wieder an den Mann wenden konnte, war dieser an ihnen vorbei und entfernte sich bereits.
»Komm schon«, forderte William Gwendolyn auf und erhob sich stöhnend. Er hatte das Gefühl, jedes einzelne Gelenk in seinem Körper sträube sich.
Er half Gwendolyn auf die Beine. Sie zitterte am ganzen Leib. In ihrem Gesicht war eine Leere, die William erschreckte. Ohne weitere Worte zog er sie deshalb eilig mit sich, dem Fremden hinterher.
Ihr Weg führte sie zwischen hastig auf dem Deck herumlaufenden Männern hindurch, auf den hinteren Teil des Schiffes zu. William musste immer wieder kurz stehen bleiben, um auf dem schwankenden Boden sein Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Der Mann wartete auf einem höher liegenden Deck auf sie. Eine Hand ruhte auf dem Knauf einer massiv wirkenden Tür. William und Gwendolyn kämpften sich die rutschige Treppe hoch, und kurz bevor sie unter dem Vordach anlangten, drückte der Mann die Tür auf und hieß sie mit einer schroffen Geste einzutreten. William aber tat keinen Schritt, denn er musste die Augen zusammenkneifen. Im Gegensatz zur vorherrschenden Dunkelheit draußen erstrahlte der Raum in einem so unnatürlich grellen Licht, dass es im ersten Moment kaum zu ertragen war. Blinzelnd zwang William seinen Blick dennoch in die Kajüte.
»Rein da!«, keifte der Mann, dessen Anwesenheit William kurz vergessen hatte, und schubste sie unsanft vorwärts.
Er stolperte mit einem überraschten Laut, Gwendolyn noch immer fest umklammert, über die Türschwelle.
Der Rüpel schloss die Tür und sperrte den Sturm damit aus.
William drückte die schlotternde Gwendolyn an sich und betrachtete voller Staunen das geräumige Zimmer. Dabei fielen ihm zuerst die am mittleren Deckenbalken baumelnden Lampen auf, die der Quell dieses lupenreinen Lichts waren. In ihrer Form glichen sie ganz gewöhnlichen Öllampen. Äußerst ungewöhnlich dagegen war die Farbe der darin lodernden Flamme. Anstatt im üblichen Orangerot strahlte diese in einem makellosen Weiß, und dies so heiß, dass William die Wärme sogar auf die Entfernung deutlich auf seiner Haut spüren konnte. Auch war es kein Docht, der da im Inneren brannte. Es glich eher – einem Stein? Nein. Einem Kristall.
William schmerzten die Augen. Er konnte nicht länger hinsehen und wandte den Blick von der Decke ab, presste stöhnend die Lider zusammen. Es dauerte einen Moment, bis die hellen Kreise vor seinen Augen verschwanden, dann erst nahm er den schmucklosen runden Tisch rechts neben sich wahr. Auf ihm lagen einige Bücher, verschiedene Messinstrumente und mehrere Rollen fleckigen Papiers verstreut – möglicherweise Schatzkarten, dachte William in freudiger Erregung. Bevor er jedoch Genaueres erhaschen konnte, ließ ihn das Zuschlagen einer Schranktür zusammenfahren.
Der Mann, dessen Gesicht nach wie vor sein Hut verdeckte, trat auf sie zu.
»Zieht eure nassen Fetzen aus und die hier an«, blaffte er und hielt ihnen einen Stapel Kleider vor die Nasen. »Der Käpt’n kommt zu euch, sobald er ein paar Dinge erledigt hat.«
Die beiden nahmen die trockenen Sachen stumm entgegen.
»Und fasst hier drin ja nichts an, sonst passiert was«, drohte er.
William nickte, Gwendolyn starrte ihn einfach nur ausdrucksleer an. Ihr Zittern war jetzt nur noch ein leichtes Bibbern.
»Seltsamer Kerl«, sagte William, als der Mann verschwunden war.
Da Gwendolyn weiterhin nur bewegungslos herumstand, forderte William sie auf, endlich die nassen Kleider auszuziehen. Zuerst sah sie ihn an, als verstünde sie kein Wort, doch dann begann sie, ihr tropfendes Nachthemd über den Kopf zu streifen. Verlegen schaute William weg und betrachtete angestrengt das gewaltige Bett, das an der linken Wand der Kajüte stand. Er ließ seinen Blick über einen der vier spiralförmig gedrehten Eckpfeiler gleiten, die einen roten Baldachin aufspannten und zwei schwere Samtvorhänge gleicher Farbe hielten. Da dies alles jedoch nur mäßig interessant war, schlenderte er zum hinteren Teil der Kajüte. Dort stieg er zwei Stufen auf ein leicht erhöhtes Halbrund hinauf, das wie eine kleine Theaterbühne wirkte. Vorbei an einem imposanten Schreibtisch nebst throngleichem Stuhl mit übertrieben hoher Lehne erreichte er eine Reihe großer Fenster, die bei gutem Wetter sicher einen großartigen Blick aus dem Heck des Schiffes geboten hätten. Jetzt waren sie nur spiegelnde Rechtecke, weshalb William die Stirn gegen die Scheibe drückte und gleichzeitig versuchte, mit den Händen das Licht um sich herum abzuschirmen. Viel konnte er durch das beschlagene Fenster trotzdem nicht erkennen. Doch das kalte Glas kühlte zumindest sein erhitztes Gesicht.
Als Gwendolyn sich umgezogen hatte, kroch sie ins Bett, zog die dicke Decke bis unters Kinn und rollte sich darunter zusammen. Vor Erschöpfung schlief sie fast augenblicklich ein. William zog die Vorhänge zu, schälte sich danach ebenfalls aus seinen nassen Kleidern und schlüpfte in die muffig riechenden Sachen, die er vorhin bekommen hatte.
In dem viel zu großen Leinenhemd und der nicht minder großzügig bemessenen Hose wurde ihm schnell wieder einigermaßen warm und er beschloss, einstweilen auf einem der Stühle am Kartentisch Platz zu nehmen. Sich auf den Herrschersitz auf dem Podest zu setzen traute er sich nicht.
Während er auf den Käpt’n wartete, musterte er immer wieder die zusammengerollten Papiere, die lockend vor ihm auf dem Tisch lagen. Er entschied, dass wohl kaum jemand etwas dagegen haben konnte, wenn er sich eine der Rollen einmal genauer anschauen würde. Nur einen flüchtigen Blick, dachte er und versuchte, etwas zu erkennen, ohne das Papier zu berühren, was natürlich nicht funktionierte. Er hing immer noch der Vorstellung nach, es könne sich ja womöglich um echte Schatzkarten handeln. Und eine solche hatte er schließlich bisher nie gesehen.
Gerade als er sich nicht mehr beherrschen konnte und er einen Arm nach einer der Rollen ausstreckte, öffnete sich die Tür und Käpt’n Barebone betrat, begleitet von einem kräftigen Windstoß, die Kajüte. William zuckte ertappt zusammen und strengte sich an, möglichst unschuldig auszusehen.
Barebone drückte die Tür hinter sich zu, zog den Dreispitz vom Kopf und schüttelte das Wasser davon ab. Nach einem kurzen Blick durch den Raum fragte er: »Wo ist das Mädchen?«
»Ich … Sie liegt im Bett«, antwortete William, in der Hoffnung, dass dies in Ordnung sei.
»Gut«, meinte Barebone nur und zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. »Es war ohnehin meine Absicht, euch beide einstweilen hier einzuquartieren.«
Bevor er sich setzte, holte er eine kleine Flasche aus seiner linken und ein ledernes Säckchen aus seiner rechten Rocktasche hervor.
»Du hast sicher Hunger«, sagte er und stellte beides vor William auf den Tisch. »Bedien dich.«
Während William sich sogleich über das mitgebrachte Essen hermachte, griff Barebone nach einer zwischen den Büchern stehenden Flasche, löste den Korken und nahm einen kräftigen Schluck. Sofort breitete sich ein scharfer Geruch nach unverdünntem Rum aus.
»Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte William mit vollem Mund.
»Erst mal die Themse runter zum Meer«, entgegnete Barebone. »Danach lassen wir England so schnell wie möglich hinter uns.«
»Und dann?«
»Und dann, mein Junge, geht’s nach Hause. Und damit meine ich den Ort, den dein Vater für euch beide dazu machen wollte.«
»Wo ist das?«, fragte William mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugierde.
»Du wirst schon sehen«, antwortete Barebone vage. »Dort wird es dir gefallen, da bin ich mir sicher. Dein Vater hat eine Menge Geld und Arbeit reingesteckt.«
Für William wurde es immer rätselhafter.
»Er hat nie etwas dergleichen gesagt.«
»Natürlich nicht.« Barebone lachte rasselnd. »Wie konnte er auch. Du solltest von seiner wahren Tätigkeit schließlich nichts wissen. Glaubst du nicht, es hätte so einige Fragen aufgeworfen, wenn er dir davon erzählt hätte?«
»Vielleicht«, musste William zugeben. »Sogar wahrscheinlich.«
»Und eben deshalb wollte er es vor dir geheim halten, bis alles fertig ist. Er hätte sich dir offenbart und dich geholt, wenn –« Barebone brach ab.
»… er nicht gestorben wäre«, vollendete William den Satz mit dünner Stimme und sah zu Boden. Es tat immer noch weh, es laut auszusprechen.
»Ja«, sagte Barebone voller Anteilnahme, »wenn er nicht gestorben wäre.«
»Wie ist es passiert?«, fragte William, den Blick weiterhin nach unten gerichtet. Er spürte ein Brennen in den Augen und wollte nicht, dass der Käpt’n es bemerkte.
»Alles zu seiner Zeit«, wehrte Barebone ab. »Jetzt iss und trink erst mal und schlaf dich aus. Du erfährst das alles noch früh genug, glaub mir.«
Damit erhob er sich. Er tat einen Schritt zur Tür hin, machte aber dann auf dem Absatz kehrt und trat unter die am Balken über ihnen schaukelnden Lampen.
»Wenn du die Lichter löschen willst, musst du einfach nur hieran ziehen«, erklärte er und griff dabei nach einer mit der Laterne verbundenen Kette. Mit einem leisen Klicken fiel ein zylindrischer Deckel über die Flamme.
Ob der seltsame Kristall nun erloschen war oder darunter einfach weiter brannte, konnte William nicht sagen. Jedenfalls drang kein Licht mehr aus der Lampe.
»Verstanden soweit?«, fragte der Käpt’n.
William nickte.
Barebone betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich. Dann war William, als könne er ein Lächeln erkennen. Nicht um dessen Mund, der hinter dem dichten Bart verborgen war, sondern in den Augen. Irgendetwas störte William an diesem Anblick. Bevor er jedoch darauf kam, verschwand der Ausdruck aus Barebones Gesicht.
»Jetzt wird sich alles fügen.« Und mit diesen Worten verließ er die Kapitänskajüte.
Traurig blieb William zurück. Was sein Vater für sie beide geplant hatte, würden sie niemals gemeinsam erleben können.
Er aß einige weitere Bissen und packte den Rest für Gwendolyn beiseite. Die kleine Mahlzeit hatte ihm äußerst gutgetan. Jetzt spürte er allerdings deutlich die Erschöpfung und die wunden Stellen überall auf seinem Körper. Der Tag hatte ihm einiges abverlangt.
Ächzend stemmte er sich vom Stuhl hoch, löschte die restlichen Lampen, wie Barebone es ihm gezeigt hatte, und tastete sich im Dunkeln zurück zu seinem Platz. Seinen Kopf auf die verschränkten Arme vor sich auf dem Tisch gebettet, schlief er ein und versank in einen Schlaf, so tief und fest wie schon lange nicht mehr.
William erwachte erst, als grelles Sonnenlicht sein Gesicht streifte. Mit geschlossenen Lidern blieb er liegen und besann sich seines Traumes. Er hatte vom Meer geträumt und von einem Schiff – einem Piratenschiff, um genau zu sein –, das ihn mit auf eine Reise nahm, weit weg vom Waisenhaus, von den Schwestern und dem Heimleiter und vor allem von Jake Brown. Gwendolyn war mit ihm entkommen. Sie beide waren dieser Welt aus Regeln und Vorschriften, Verboten und Strafen entflohen und fuhren jetzt gemeinsam einer goldenen Zukunft entgegen. Aber es war doch mehr als nur ein Traum, dachte er. Er wagte nicht, die Lider zu heben, aus Angst, er würde die eisernen Betten des Schlafsaals im Waisenhaus dahinter erblicken.
»Will?«, fragte jemand. Es war Gwendolyn.
Wenn sie hier war, musste es wahr sein. Er hob den Kopf und schlug die Augen auf. Und tatsächlich – Gwendolyn stand, in einem viel zu weiten Hemd und zu langer Hose, vor ihm inmitten von Käpt’n Barebones Kajüte und rieb sich verschlafen die Augen. Ihn überkam eine Woge der Erleichterung.
»Gwendolyn«, wollte er sagen, doch dann überkam ihn noch etwas anderes.
Er sprang würgend auf, hastete stolpernd zur Tür, riss sie auf und stürmte ins Freie. Mit fünf weiteren Schritten erreichte er die Reling, beugte sich darüber und übergab sich ins Meer.
Hinter ihm brach schallendes Gelächter aus. Mit einem Gefühl, als würde etwas sein Inneres durchwühlen, drehte er sich um und erkannte eine Schar bunt gekleideter Männer mit äußerst heiteren Gesichtern. Ihm selbst war nicht zum Lachen zumute. Er wollte gerade etwas erwidern, da durchfuhr ihn erneut eine Welle der Übelkeit und er schnellte ein weiteres Mal herum – was das Johlen von Neuem anfachte. Über der Reling hängend, verharrte er, im Kampf mit seinem rebellierenden Magen.
»Was ist hier los?«, wollte jemand wissen, der überhaupt nicht fröhlich klang.
»Da hast du uns aber ’ne ganz schöne Landratte aufs Schiff geholt, Käpt’n«, rief einer der Männer lachend.
»Es freut mich, euch so leicht begeistern zu können«, entgegnete Barebone ruhig. Dann änderte sich sein Tonfall. »Und jetzt zurück an die Arbeit, ihr Taugenichtse, oder soll ich euch auf halbe Rationen setzen?«
Augenblicklich brach das Gelächter ab und die Männer wandten sich wieder ihren Beschäftigungen zu.
»Alles in Ordnung mit dir, Junge?«, fragte er William.
Dieser setzte zu einer Antwort an, doch ein erneutes Magengrummeln verschloss ihm sofort den Mund und so nickte er nur angespannt.
Barebone kam näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das wird schon, keine Sorge. In dir fließt schließlich Piratenblut.«
William atmete tief durch, bevor er ein »Hoffentlich« herauspresste.
»Zumindest hast du jetzt ein paar Wochen, um dich daran zu gewöhnen«, meinte Barebone.
Seufzend richtete William sich auf, blieb aber vorsichtshalber an die Reling gelehnt stehen.
»Komm in meine Kajüte, sobald du dich besser fühlst«, sagte Barebone. »Wir haben einiges zu besprechen.«
William nickte. Als der Käpt’n gegangen war, schloss er die Augen und nahm einen tiefen Atemzug der frischen, salzgeschwängerten Luft. Dabei bemerkte er, wie kalt das Holz der Reling war. Fast wie Metall. Er hob die Lider und strich mit den Fingerspitzen über das schwarze Geländer, doch abgesehen von der unnatürlichen Kälte fühlte es sich ganz normal an – wie Holz eben.
Die Reflexion eines Lichtstrahls an einem der blankpolierten Beschläge der Reling lenkte William ab und er richtete seinen Blick auf die See. Erst jetzt fiel ihm auf, wie schön es hier draußen war. Der Sturm hatte die schweren Gewitterwolken fortgeweht, und an ihrer Stelle hingen nur noch ein paar bauschige weiße Wolken hoch oben am ansonsten strahlend blauen Himmel. Ein ruhiger, steter Wind blähte die eierschalenfarbenen Segel und schob das Schiff schnell durch die nur leicht bewegte Wasseroberfläche. Obwohl sein Vater zur See gefahren war, war er selbst vorher nie an Bord eines Schiffes gewesen. Sicher, hin und wieder war er mit Fischern aus Gravesend in einem ihrer Boote mitgefahren, um ihnen für geringen Lohn zur Hand zu gehen, doch hatten die sich stets nur auf der Themse aufgehalten. Wenn er sich jetzt umsah, war da nichts als Wasser. In alle Richtungen breitete sich nur diese sich immerzu bewegende Fläche aus türkisblauen Wellen aus. In ihm erwuchs ein Gefühl, das er zuerst gar nicht richtig deuten konnte. Erst als ihn ein wohliger Schauder erfasste und er staunend feststellte, vielleicht noch nie in seinem Leben etwas Schöneres gesehen zu haben, hatte er eine vage Ahnung. So, dachte er, musste sich grenzenlose Freiheit anfühlen, und mit einem Mal wusste er, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, dem Käpt’n zu folgen. Nicht nur, um die Wahrheit über seinen Vater zu erfahren, sondern weil er genau hierhergehörte.
Obwohl sein Magen noch immer rumorte, breitete sich ein Gefühl tiefster Zufriedenheit ihn ihm aus. Er fixierte den Horizont voll freudiger Erwartung auf das, was folgen sollte, verweilte einen letzten Moment und ging dann zurück in Käpt’n Barebones Kajüte.
Drinnen saßen Gwendolyn und der Käpt’n an dem runden Tisch. Die Papierrollen waren drei Tassen, einer dampfenden Kupferkanne, Teller mit bereitgelegtem Besteck, einer Pfanne und einem angeschnittenen Laib Brot gewichen.
»Setz dich«, forderte Barebone William auf. »Carbray hat eigens für euch ein spätes Frühstück gemacht.«
William runzelte dir Stirn. »Carbray?«
»Unser Bordkoch«, erklärte Barebone kauend. »Den wirst du später noch kennenlernen. Nun iss, bevor es kalt wird.« Er wies auf einen Stuhl. »Platz sollte ja jetzt genug sein«, fügte er grinsend an.
Mit einem verdrießlichen Gesicht setzte William sich schnell auf den leeren Stuhl, der Barebone gegenüberstand. Dabei nahm er zur Kenntnis, dass Gwendolyn offenbar keinerlei Probleme mit dem Geschaukel des Schiffes hatte. Auf ihrem Teller türmte sich ein ganzer Berg Rührei, den sie hastig in sich hinein schaufelte. In der zweiten Hand hielt sie einen Keil Brot, von dem sie hin und wieder herzhaft große Stücke abbiss.
Unter Barebones spöttisch abwartendem Blick tat er sich auch etwas von den Eiern auf und probierte zaghaft davon.
»Also«, begann Barebone, als nichts darauf hindeutete, dass William sein Essen nicht bei sich behalten konnte. »Wie ich dir eben draußen schon gesagt habe, werden wir die nächsten Wochen auf See zubringen. Unser Ziel ist eine, zumindest für die meisten, unbekannte Insel in der Karibik.«
Beim letzten Wort sah William erstaunt auf, und Gwendolyn murmelte etwas mit vollem Mund, das nach Überraschung klang, aber nicht zu verstehen war.
»Ganz recht«, bestätigte Barebone stolz. »Wisst ihr, wo Nassau liegt?«
Beide schüttelten den Kopf. William hatte natürlich schon von dieser Stadt gehört, schließlich war sie ein weltberühmtes Piratennest. Trotzdem hatte er keinen blassen Schimmer, wo genau sie sich befand.
»Nun, dann wird es euch auch nichts nützen, wenn ich euch sage, dass die besagte Insel südöstlich davon liegt. Weit südöstlich davon. Und«, er machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr mit gedämpfter Stimme fort, »sie befindet sich vollständig in unserem Besitz.«
Die Augen der beiden wurden immer größer. Gwendolyn kaute zwar noch, hatte aber Gabel und Brot beiseitegelegt und wartete gespannt darauf, dass Barebone weitersprach.
»Heißt das«, begann William zögerlich, »es leben nur Piraten dort?«
Barebone schüttelte den Kopf. »Das nicht. Sie wird auch von, na, sagen wir, normalen Leuten bewohnt.«
William und Gwendolyn warfen sich begeisterte Blicke zu.
»Wir fanden die Insel damals durch reinen Zufall«, fuhr Barebone fort. »Auf der Flucht vor einem englischen Kriegsschiff, das unseren Weg während eines Beutezuges kreuzte. Der sture Bock von Kapitän wollte nicht von uns ablassen und scheuchte uns tagelang vor sich her, immer weiter auf den Ozean hinaus. Ohne diese Treibjagd wären wir niemals diesen Kurs gesegelt, weit ab von allen offiziellen Handelsrouten. Und wäre dann nicht auch noch ein gewaltiger Sturm aufgezogen, vielleicht wäre uns dieser Narr noch heute auf den Fersen.« Barebone schüttelte missbilligend den Kopf. »Jedenfalls drehte er schließlich ab, um nicht in das Unwetter zu geraten. Für uns jedoch war es bereits zu spät. Vielleicht wusste der Kapitän das auch und hat deshalb von uns abgelassen. Doch wie auch immer, wir waren schon mitten drin. So etwas hatte bis dahin noch keiner von uns erlebt. Wir haben an diesem Tag viele gute Männer verloren und ohne deinen Vater wäre es sicherlich noch viel übler für uns ausgegangen.« Barebone nickte William zu. »Jawohl, mein Junge, du kannst wirklich stolz auf deinen Vater sein.«
William lächelte wehmütig und versuchte, sich vorzustellen, wie sein Vater inmitten des Sturms auf dem Deck stand und den Naturgewalten trotzte.
»Es war nichts weniger als ein Hurrikan, das könnt ihr mir glauben«, erzählte Barebone weiter. »Wir büßten unseren Großmast ein, und auch vom Rest der Takelage blieb nicht viel übrig. Ich vermag heute nicht mehr genau zu sagen wie, aber wir haben überlebt.« Barebone trank einen Schluck dampfenden Kaffee aus seinem Becher und nickte gedankenverloren. »Als das ganze Chaos vorüber war, war uns kaum mehr als ein Wrack und knapp die Hälfte der Mannschaft geblieben. Ohne die geringste Ahnung, wo wir waren, trieben wir tagelang völlig manövrierunfähig auf dem offenen Meer. Als wir das Schiff wieder soweit instand gesetzt hatten, einen Kurs anzulegen, waren unsere Vorräte schon so gut wie aufgebraucht. Allen an Bord war klar, dass nur noch ein Wunder unser Schicksal zum Guten wenden konnte. Also beteten die Männer zu allem und jedem, der ihnen einfiel – und dann tauchte sie plötzlich vor uns auf, die Insel. So ausgehungert und durstig, wie wir waren, hielten wir sie zuerst für reine Einbildung. An diese letzte Hoffnung geklammert, steuerten wir auf dieses vermeintliche Trugbild zu. Mit jeder Stunde, die wir näherkamen, wurde sie größer und deutlicher. Irgendwann wurde uns bewusst, dass diese Insel kein Hirngespinst war – sie war wirklich und wahrhaftig da. Ohne uns irgendwelche Gedanken über den Kurs zu machen, hielten wir geradewegs auf einen breiten Strand zu, bis passierte, was passieren muss, wenn man achtlos in unbekanntem Gewässer kreuzt: Wir liefen auf Grund. Das scherte allerdings in diesem Moment niemanden, war die White Maiden, so hieß unser damaliges Schiff, ohnehin nur noch ein mit zerrissenen Segeln bespanntes Stück Treibholz. Statt also der alten Jungfer nachzutrauern, ließen wir unser einzig verbliebenes Beiboot zu Wasser und setzten über. Wir konnten unser Glück kaum fassen.« Barebone schüttelte bei dieser Erinnerung leicht den Kopf. »Es hätte ein Vulkan, bloß ein karges Stück Fels sein können – aber es war nichts von alledem. Vor uns tat sich ein wahrer Urwald auf, aus dem es raschelte und zwitscherte. Er war voller Leben, und wo Leben ist, gibt es Wasser und Nahrung. Ich kann mich noch genau an meinen ersten Gedanken erinnern, als mir das klar wurde: Hier können wir bleiben.« Er starrte verträumt ins Leere. »Das ist nunmehr fast zehn Jahre her.«
In Williams Kopf schwirrten tausend Fragen umher. Diese Geschichte klang unglaublich. Bevor er jedoch auch nur eine davon stellen konnte, kam ihm Gwendolyn zuvor.
»Wart ihr alleine auf dieser Insel?«, wollte sie wissen.
»Das dachten wir zuerst«, antwortete Barebone. »Ich glaube, wir waren schon drei oder vier Monate dort, als wir zum ersten Mal Anzeichen fanden, die auf andere Bewohner hindeuteten. Nachdem wir diese Entdeckung gemacht hatten und deshalb verstärkt nach weiteren Hinweisen Ausschau hielten, sollten aber nochmals mehrere Wochen vergehen, bis wir endlich fündig wurden. Wir stießen auf eine Gruppe ehemaliger Sklaven einer englischen Kolonie. Das Schiff, das sie transportiert hatte, hatte Schiffbruch erlitten und war gesunken. Einige von ihnen überlebten das Unglück und noch weniger wurden auf der Insel angeschwemmt. Sie waren also unter ähnlichen Umständen angekommen wie wir.«
»Und wie schaffte mein Vater es zurück nach England?«, fragte William.
»Glaubst du, wir saßen einfach nur den ganzen Tag faul herum?« Barebone lachte fröhlich. »Wir haben uns natürlich ein neues Schiff gebaut. Zugegeben, ein schäbiges, kleines Ding. Gerade gut genug, um wieder in See stechen zu können. Einige der ehemaligen Sklaven schlossen sich mir und meinen Männern an. Manche von ihnen gehören sogar heute noch zur Mannschaft. Wir zogen los, um ein neues Schiff zu erbeuten. Eine Enterfahrt auf hoher See war mit unserer Nussschale ausgeschlossen, soviel war klar, hatten wir doch so gut wie keine Waffen, und unserem Schiff wären ohnehin alle anderen einfach davon gesegelt. Nein, wir mussten etwas listiger sein, um an ein neues Schiff zu kommen.« Barebone grinste verschlagen. »Nachdem wir eine Route zurück zu den Bahamas gefunden hatten, beobachteten wir eine Zeitlang den Schiffsverkehr, bis wir eines Tages eine Brigg entdeckten, die uns passend erschien. Einen Kampf konnten wir nicht riskieren, also folgten wir ihr stattdessen, um sie erst einmal auszukundschaften. Zu seinem Pech entschied ihr Käpt’n, in Cockburn Town anzulegen, einer kleinen Stadt auf San Salvador Island. Ich weiß bis heute nicht warum, doch war dies unser Glück. Im Schutz der Dunkelheit stahlen wir uns auf das Schiff. Sie hatten lediglich zwei Matrosen als Wachen zurückgelassen, die wir schnell davon überzeugen konnten, besser ihr eigenes Leben zu retten, als das Schiff zu verteidigen. Dann machten wir uns unter den Augen der englischen Soldaten einfach mit dem Schiff davon. Später stellten wir fest, dass die Ladung aus einer gewaltigen Menge an Gewürzen und Stoffen bestand. Diese Prise brachte uns in Nassau genug ein, um mit reichlich Werkzeug und Material auf unsere Insel zurückzukehren. Und während die einen fortan auf der Insel blieben, um einen festen Stützpunkt zu errichten, ging der Rest von uns, jetzt wieder mit einem richtigen Schiff ausgestattet, von Neuem der alten Beschäftigung nach. Zu dieser Zeit hatte dein Vater die Entscheidung getroffen, dich und deine Mutter auf die Insel zu holen, sobald er ein Haus für euch gebaut hatte.« Er hielt kurz inne und musterte William eindringlich. »Wie wir wissen, hatte das Schicksal andere Pläne.«
William senkte den Blick auf seinen fast unberührten Teller.
»Aber glaub mir, Junge, ab jetzt wird alles anders. Ich weiß, ich kann dir weder deine Mutter noch deinen Vater ersetzen. Doch ich kann dir das geben, was dein Vater dir hinterlassen hat: ein Zuhause inmitten von Menschen, die du vielleicht irgendwann Familie nennen wirst.«
Während William über das nachdachte, was Barebone eben erzählt hatte, fiel ihm etwas auf.
»Ihr sagtet, Ihr habt euch eine Brigg geschnappt«, meinte er. »Dieses Schiff hier ist aber keine Brigg, soviel weiß ich.«
»Dieses Schiff?«, wiederholte Barebone und lachte rau. »Das hast du ganz richtig erkannt. Die Fat Man ist ein ausgemachtes Kriegsschiff. Eine Galeone, gebaut nach meinen eigenen Plänen.«
»Fat Man?« William erinnerte sich, was er in der vergangenen Nacht am Bug entdeckt hatte. »Dann habe ich mich also nicht getäuscht. Ich war mir nicht sicher, was dieses … Ungetüm vorne am Schiff darstellen sollte.«
»Wenn du unsere Galionsfigur meinst«, bemerkte Barebone, »hast du richtig gesehen.«
Gwendolyn sah fragend zwischen William und dem Käpt’n hin und her. Sie hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon die zwei sprachen.
»Hat das Schiff von ihr seinen Namen?«, fragte William.
»Ganz recht«, bestätigte Barebone. »Auf diese Idee hat mein Vater mich gebracht«, erklärte er. »Wenn auch etwas unfreiwillig. Er war ein ewig grantiger Nichtsnutz von einem Fleischergehilfen. Mehr hat er in seinem ganzen Leben nicht zustande gebracht, obwohl er immer von sich sprach, als wäre er zu Höherem berufen. Für mich hatte er die gleichen Pläne – den Nichtsnutz betreffend. Ausgelacht hat er mich, wenn ich ihm von meinen Träumen erzählt habe, eines Tages ein berüchtigter Pirat zu sein, auf allen Meeren herumzusegeln, immer auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Es waren nichts weiter als die Phantasien eines in Armut lebenden kleinen Jungen, der sich nach etwas mehr sehnte, als Tierabfälle wegzufahren und darauf zu warten, dass der Tag verging, um sich endlich wieder in eine Kneipe hocken zu können. Doch selbst dafür hatte er nur Spott und Hohn übrig.«
Er machte eine abfällige Geste und trank einen Schluck aus der Flasche, deren scharfer Geruch William jedes Mal Tränen in die Augen trieb. Es war ihm vollkommen unerklärlich, wie Barebone es fertig brachte, das Zeug zu trinken.
»Meine einzige Chance, jemals zur See zu fahren, so sagte er, bestünde darin, so fett zu werden, dass ich von alleine auf dem Wasser schwämme. Kein Käpt’n mit Verstand würde mich auch nur in die Nähe seines Schiffes lassen.« Barebone unterstrich die letzte Bemerkung mit einem höhnischen Schnauben. »Leider konnte ich ihn nicht mehr vom Gegenteil überzeugen. Ich war sechzehn, als ich türmte, und es brauchte dreizehn weitere Jahre, bis ich das war, was ich sein wollte, bevor ich ihm wieder gegenüberzutreten gedachte. Ich wollte ihm zeigen, wie falsch er lag, wie sehr er sich in mir geirrt hatte, dieser alte Narr. Er sollte sehen, dass ich seinen Rat in der ganzen Zeit nicht vergessen hatte. Sollte sehen, dass es entgegen seiner Überzeugung gar nicht nötig gewesen war, selbst zu einem Fettwanst zu werden, weil ich mittlerweile genügend Macht und Geld besaß, mir einen zu erschaffen. Und dass es keines Käpt’n bedurfte, der mich auf sein Schiff ließ, weil ich selbst eines hatte. Ein Schiff, wie er zuvor noch keines gesehen hatte. Ein Schiff, dessen Name, genau wie mein eigener, schon lange weithin bekannt war, und alle, die ihn hören, vor Angst erzittern lässt.« Barebone drosch mit der Faust auf den Tisch, dass die Teller klapperten und William und Gwendolyn erschrocken zusammenfuhren. Die letzten Worte hatte der Käpt’n fast geschrien. Er hatte sich so in Rage geredet, dass er einen Moment brauchte, um sich wieder zu beruhigen.