Wintermeer und Bernsteinherzen - Tanja Janz - E-Book
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Wintermeer und Bernsteinherzen E-Book

Tanja Janz

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Beschreibung

Ein nordfriesischer Winter voll Herz und Hoffnung Als Finja vor dem alten Barnsteenhus in St. Peter-Ording steht und tief einatmet, spürt sie es deutlich: Über diesem Ort liegt ein besonderer Zauber. Zu gern möchte Finja mehr über das schneebedeckte Reetdachhaus herausfinden. Denn es ist die perfekte Immobilie für ihren Auftraggeber. Doch während sie in die Geschichten und Legenden des Hauses eintaucht, lernt sie den geheimnisvollen Jesper kennen. Und schon bald wünscht Finja sich, dieser nordfriesische Winter möge niemals enden. Aber sie muss zurück nach Hamburg und ihren Maklervertrag erfüllen. »Ein wunderschöner Wohlfühlschmöker, der in der Winterzeit das Herz erwärmt« Neue Freizeit über »Friesenherzen und Winterzauber«

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Seitenzahl: 307

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Zum Buch:

Wann warst Du das letzte Mal bedingungslos glücklich? Die Frage in dem kleinen Briefchen aus dem MeerGlück in St. Peter-Ording trifft Finja unvorbereitet. Als Heilprakterin hat sie zwar den Beruf, von dem sie immer geträumt hatte. Doch um alle Kosten zu bestreiten, muss sie den lukrativen Auftrag von ihrer alten Chefin erfüllen: Sie soll in St. Peter-Ording ein geschichtsträchtiges Haus mit eigener Düne finden – ein schier unmögliches Unterfangen. Bis Finja das alte Barnsteenhus sieht und vom besonderen Charme des Hauses gefangen genommen wird. Und nicht nur das, der Blick auf die verschneiten Salzwiesen, die Meeresluft und die Weite der Nordsee lassen Finja aufatmen. Schon bald fühlt sie sich freier, leichter … glücklich? Aber kann sie dieses Gefühl auch festhalten?

Zur Autorin:

Tanja Janz wollte schon als Kind Bücher schreiben und malte ihre ersten Geschichten auf ein Blatt Papier. Heute ist sie Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen im Ruhrgebiet. Neben der Schreiberei und der Liebe zum heimischen Fußballverein schwärmt sie für St. Peter-Ording, den einzigartigen Ort an der Nordseeküste.

Lieferbare Titel:

Strandperlen

Krabbe mit Rettungsring

Friesenherzen und Winterzauber

Mit dir auf Düne sieben

Strandrosensommer

Dünenwinter und Lichterglanz

Das Muschelhaus am Deich

Dünentraumsommer

Wintermeer und Dünenzauber

Leuchtturmträume

Friesenwinterzauber

Dünenleuchten

Originalausgabe © 2022 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von bürosüd, München Coverabbildung außen von mauritius images / Rainer Mirau; SNEHIT PHOTO, Ievgenii Meyer, Sean Pavone, Oliver Hoffmann, Mumemories, dugdax, Kai Grim,TakaH, Julia Zavalishina / Shutterstock Coverabbildung innen von Alexander Ludwig / Alamy Stock Foto E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749904969www.harpercollins.de

Widmung

Für meine Leserinnen und Leser! Möge der Roman eure Herzen wärmen und euch kuschelige Lesestunden bescheren.

Prolog

Prolog

11. November1985

Kräftiger Wind peitschte eisigen Schneeregen durch die Straßen Husums. An diesem späten Nachmittag wirkte der Küstenort genauso grau wie in dem berühmten Gedicht Die Stadt von Theodor Storm. Nur wenige Fußgänger waren bei der ungemütlichen Witterung unterwegs, die meisten hatten sich unter Vordächer gestellt und warteten darauf, dass der Niederschlag abebbte. Ein Mann blickte zu einem der hell erleuchteten Fenster der Häuser und freute sich vermutlich auf die behagliche Wärme, die ihn zu Hause erwartete.

Susanne trug ihre zweijährige Tochter auf dem Arm. Sie versuchte, so gut es ging, das kleine Mädchen vor dem Schneeregen zu schützen. Notdürftig bedeckte sie den Kopf des Kindes mit einem Schal und hob es ein bisschen höher, damit das kleine Gesicht an ihrem Hals lag. Das Laufen bereitete ihr Mühe, doch sie kämpfte sich tapfer weiter.

An einer Straße musste sie haltmachen, als ein St.-Martins-Zug an ihr vorbeizog. Dem verkleideten Reiter auf dem Pferd folgten mehrere Kinder mit ihren Eltern, die fürsorglich Regenschirme über die Köpfe hielten. Der Schein der Laternen fiel auf ihre fröhlichen Gesichter. Susanne seufzte bei dem Anblick. Ihnen schien der Schneeregen nichts auszumachen. Wahrscheinlich wurden sie von ungetrübter kindlicher Glückseligkeit getragen und dem unerschütterlichen Vertrauen, dass ihnen nie etwas Schlimmes zustoßen konnte. So sollte es sein.

Als das letzte Kind mit seiner Laterne an ihr vorbeigegangen war, überquerte Susanne im Laufschritt die Straße.

Vor ihr lag das Bahnhofsgebäude. Sie sah auf die Uhr, die an der Vorderseite des Empfangsgebäudes angebracht war. Es war fast halb sechs.

Mit eiligen Schritten lief sie auf das Bauwerk aus rotem Backstein zu, wo sie sich kurz darauf im Wartebereich mit ihrer Tochter auf einer Bank niederließ. Mit einem Taschentuch putzte sie ihr Gesicht ab, das durch den Schneeregen nass geworden war. Das Mädchen blinzelte sie müde an. »Schlaf ruhig weiter, meine kleine Janina. Die Mama ist da.« Sie lächelte und strich dem Kind sanft über die von Kälte geröteten Bäckchen.

Sie ließ sich die Verzweiflung nicht anmerken, die sie überfiel. Was sollte nun aus ihnen werden? Es war alles so plötzlich gekommen, noch vor wenigen Stunden hatte ihre Welt völlig anders ausgesehen. Doch nach dem Streit mit ihrem Mann gab es für sie kein Zurück mehr.

»Andreas, unsere Tochter braucht dringend warme Winterstiefel und einen dicken Anorak.« Susanne hielt Janinas Paar Schuhe und eine leichte Jacke hoch, die schon seit Herbstbeginn nicht vor kühleren Temperaturen schützten. »In der luftigen Kleidung holt sie sich draußen bei den Temperaturen noch den Tod. Sie liegt jetzt schon im Bett und brütet was aus.«

»Dann muss sie eben drinbleiben und sich auskurieren«, erwiderte er stur und nahm demonstrativ eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank.

Wieder einmal verschlug es Susanne die Sprache angesichts seiner Gleichgültigkeit. Das konnte er doch unmöglich ernst meinen!

Er setzte sich mit dem Bier an den Küchentisch. »Und jetzt lass mich mit deinem Gejammer in Ruhe. Ich habe Feierabend.«

Als er einen Schluck aus der Flasche nahm, fand Susanne die Sprache wieder. »Feierabend hin oder her! Unsere Tochter braucht warme Kleidung, damit sie nicht ständig krank ist«, beharrte sie und trat an den Tisch. »Das musst du doch einsehen.«

Es knallte, und Susanne zuckte zusammen und fasste sich vor Schreck ans Herz. Andreas’ Faust war mit voller Wucht auf der Tischplatte gelandet.

»Du sollst mich in Ruhe lassen! Hörst du? Wir waren als Kinder auch öfter krank und haben es überlebt. Meinst du denn, mir macht es Spaß, jeden Tag bei Wind und Wetter auf dem Bau zu schuften für die paar Mark? Sei froh, dass die Miete bezahlt ist und der Strom funktioniert. Der Kühlschrank ist auch nicht leer. Was willst du also?«

Sie atmete tief durch und fuhr leiser fort: »Aber Andreas, unsere Tochter kann doch deswegen nicht frieren und krank werden.« Sie hörte den eisigen Schneeregen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, und seufzte tief. »Außerdem ist sie aus den Sachen schon fast wieder rausgewachsen. Die Ärmel der Jacke sind für sie viel zu kurz.« Sie deutete auf das Kleidungsstück.

»So?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Dann musst du eben arbeiten gehen. Dann friert das Kind nicht und hat Sachen, die passen.«

»Ist dir eigentlich klar, was du da sagst?« Susanne konnte ihren Mann nur fassungslos ansehen und legte instinktiv schützend eine Hand auf ihren Bauch. In sechs Wochen erwartete sie ihr zweites Kind.

Als Antwort zuckte er bloß mit den Schultern und warf ihr einen müden Blick zu.

»Janina ist auch dein Kind«, fügte Susanne in eindringlichem Ton hinzu. »Soll deine Tochter etwa bis zum nächsten Frühjahr ständig frieren und verschnupft sein? Das kannst du unmöglich wollen!«

»Es reicht! Das muss ich mir nicht länger anhören.« Plötzlich außer sich sprang er vom Tisch auf und packte sie grob an den Oberarmen. Wütend presste er hervor: »Willst du damit etwa sagen, dass ich ein schlechter Vater bin?« Seine Worte klangen bedrohlich.

»Au! Du tust mir weh!« Susanne versuchte, sich aus seinem groben Griff zu befreien, doch je stärker sie zog, desto fester drückte er zu.

»Dann hör gefälligst auf mit der Heulerei.« Mit voller Wucht stieß er sie von sich.

Wegen des plötzlichen Stoßes verlor sie das Gleichgewicht und taumelte durch die Küche. Als sie versuchte, sich abzufangen, schlug sie mit dem Kopf gegen eine scharfe Kante des Küchenschranks. Schmerz fuhr ihr durch die Glieder und trieb ihr die Tränen in die Augen. Mit zitternden Händen fasste sie sich an die Stirn, wo sie aufgekommen war.

Anstatt sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, setzte Andreas sich an den Tisch und las in der Tageszeitung. Er hielt das bedruckte Papier so vor sich, dass Susanne nur seine Hände sehen konnte. Schockiert starrte sie darauf. War das wirklich noch der Mann, den sie einst geheiratet und dem sie ewige Liebe geschworen hatte? Der Mann, der ihr versprochen hatte, sie stets zu beschützen? Bis der Tod sie schied?

Sie berührte nun die Stelle an ihren Armen, an denen Andreas sie gepackt hatte. Zum Glück hatte sie sich nicht den Bauch gestoßen. Es hätte noch schlimmer ausgehen können, wurde ihr schlagartig klar.

Und mit einem Mal sah sie alles ganz deutlich. Sie hatte die Pflicht, ihre Tochter und ihr ungeborenes Baby zu beschützen. Vor ihm.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ sie die Küche und warf ein paar Sachen in eine Tasche. Den Kinderhustensaft, den sie in einer Apotheke gekauft hatte, steckte sie griffbereit in eine Seitentasche. Dann zog sie ihren warmen Wintermantel an und band sich ihren dicken Schal um.

Behutsam hob sie Janina aus ihrem Bettchen, zog sie an und verließ leise die Wohnung. Das Klicken hörte sich im dunklen Flur so laut an, als hätte sie die Wohnungstür mit voller Wucht zugeworfen.

Susanne zog ihren Mantel ein Stück tiefer, damit er über ihrem runden Bauch lag. Das Baby sollte es warm haben, es sollte ihm an nichts mangeln.

Doch was sollte sie nur tun? Schließlich konnte sie nicht ewig mit Janina auf der Bank im zugigen Wartebereich des Bahnhofs sitzen bleiben. Zu ihren Eltern konnte sie nicht. Sie lebten weit entfernt in Braunschweig, und Geschwister hatte sie keine. In ihrem Portemonnaie brauchte sie gar nicht nachzusehen. Bloß ein Fünf-Mark-Stück und eine Monatskarte für den Bus und die Bahn besaß sie.

Allmählich spürte sie die klamme Kälte von ihren durchnässten Schuhen aufsteigen, mit denen sie durch Pfützen gehastet war. Das Regenwasser war an ihren Beinen hochgespritzt und hatte den Stoff ihrer Hose bis zu den Waden ebenfalls durchfeuchtet. Sie sehnte sich nach Wärme, doch zurück zu Andreas konnte sie mit Janina nicht gehen. Das war ausgeschlossen! Normalerweise trank er mehr als eine Flasche Bier am Abend, was meist dazu führte, dass seine Laune noch schlechter wurde. Sie musste mit den bescheidenen Mitteln zurechtkommen, die ihr zur Verfügung standen.

Vorsichtig richtete sie sich auf, um das schlafende Mädchen auf ihrem Arm nicht zu wecken. Sie griff nach der Tasche und ging mit langsamen Schritten weiter in das Bahnhofsgebäude hinein.

Auf dem Bahnsteig pfiff der Wind noch eisiger als zuvor in den Straßen. Susanne drückte ihr Kind fest an sich und blickte den Scheinwerfern des sich nähernden Zugs sehnsüchtig entgegen. Gleich hatten sie es geschafft.

Im Abteil war es warm. Die Fensterscheiben waren beschlagen, und es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Doch das war allemal besser, als sich draußen in der Kälte den Tod zu holen. Janina wurde wach, als sie sich setzte, und hustete kräftig an ihr Ohr. Mit einer kleinen Faust rieb sie ihre müden Augen und begann zu weinen. Ihre Wangen glühten fiebrig.

Beruhigend streichelte Susanne ihr über den Kopf. »Nicht weinen, Janina. Alles ist gut.« Sie strich ihr über den Rücken und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. »Jetzt hör mal zu, was die Mami dir erzählt.«

Mit einem unbenutzten Taschentuch, das sie in ihrer Manteltasche fand, wischte sie Janina die Tränen vom Gesicht. »Wir machen einen schönen Ausflug mit der Bimmelbahn. Und gleich gibt es leckeren Kakao. Den magst du doch so gerne«, sagte sie und versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Tatsächlich hatte sie mit ihrer Tochter den erstbesten Zug bestiegen, ohne zu wissen, wohin die Reise eigentlich ging. Doch das spielte jetzt keine Rolle.

Ihre Worte wirkten. Janina schaute sich aufmerksam im Abteil um, in dem außer ihnen bloß noch zwei Frauen und ein älterer Herr saßen. Es dauerte nicht lange, bis dem Mädchen wieder die Augen zufielen. Zärtlich bettete Susanne Janinas Kopf auf ihren Schoß. Ihr war klar, dass sie mit ihrer kranken Tochter nicht stundenlang Zug fahren konnte. Zudem schien das Mädchen Fieber zu haben und gehörte mit Wadenwickeln ins Bett. Doch sie brauchte Zeit, um einen klaren Gedanken zu fassen – und vor allem brauchte sie eine Idee, wie es weitergehen sollte.

Zurück zu Andreas konnte sie nicht gehen. Seine Ausfälle hatten sich in der letzten Zeit gehäuft, und seine Tätlichkeit ihr gegenüber war der traurige Höhepunkt bisher. In so einer angespannten Umgebung konnte kein Kind glücklich sein. Das war unmöglich.

Wehmütig dachte sie an ihre Eltern, denen sie eine unbeschwerte Kindheit zu verdanken hatte, in der kaum ein böses Wort gefallen war. Ihre Eltern hatten sie mit Liebe und Einfühlungsvermögen erzogen. Natürlich hätten sie Verständnis für ihre jetzige Situation, das wusste Susanne. Wahrscheinlich würden sie sagen, dass sie sofort »nach Hause« kommen solle, und würden ihr ehemaliges Kinderzimmer, das inzwischen das Handarbeitszimmer ihrer Mutter war, in Windeseile für sie und Janina herrichten. Aber wollte sie ihre Eltern wirklich mit ihren Problemen belasten und am Ende recht mit ihrer Prognose geben? Vor der Hochzeit hatten sie sie mehr als einmal beschworen, Andreas nicht zu heiraten. In ihren Augen war es nicht der richtige Mann für Susanne gewesen. Doch sie hatte ihre Ohren auf Durchzug gestellt. Aus lauter Verliebtheit hatte sie über erste Warnhinweise hinweggesehen. Stattdessen hatte ihre Vorfreude überwogen, endlich die Enge des behüteten Elternhauses zu verlassen und in das Abenteuer Leben zu starten.

Susanne wischte mit dem Taschentuch über die Scheibe und versuchte, draußen etwas zu sehen. Außer gelegentlichen Lichtern, die die Straßen erhellten oder hinter Fenstern warm leuchteten, war nicht viel in der Dunkelheit zu erkennen. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Glasscheibe. Auf ihrer Stirn hatten sich Falten gebildet, ihre Miene wirkte angespannt. Sie presste fest die Lippen aufeinander. Sorgen und Verzweiflung standen ihr ins Gesicht geschrieben.

Langsam glitt ihr Blick zu ihrem Bauch und zu Janina, die tief und fest auf ihrem Schoß schlief. Für ihre Kinder wollte sie stark sein. Und wenn alle Stricke rissen, würde sie doch für eine gewisse Zeit bei ihren Eltern unterschlüpfen. Wenigstens bis nach der Geburt und höchstens so lange, bis sie einen Plan hatte, wie sie ihren Kindern und sich ein gutes Leben ermöglichen konnte. Immerhin hatte sie eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin absolviert und bis kurz vor Janinas Geburt in dem Beruf gearbeitet. Arbeit und Kinder, das bewältigten andere Frauen doch auch. Ich werde es ebenfalls meistern, machte sie sich Mut.

Aus dem Zuglautsprecher drangen knisternde Geräusche. »Nächster Halt Bad St. Peter-Ording. Endstation auf dieser Strecke«, gab eine weibliche Tonbandstimme durch.

Susannes frisch gefasster Mut verpuffte augenblicklich. Endstation – auch das noch! Von da aus ging es mit der Bahn nicht weiter, der Ort lag direkt an der Nordsee. Susanne schüttelte es innerlich. Zwangsläufig musste sie mit Janina wieder raus in die Kälte – doch wohin? Ob an diesem Abend überhaupt noch ein anderer Zug fuhr? Höchstens einer, der zurück nach Husum fuhr. Doch dorthin wollte sie unter keinen Umständen. Ihr musste etwas anderes einfallen.

Sanft weckte sie Janina. »Wir sind da, mein Liebling. Gleich gibt es Kakao«, sagte sie voller Zuversicht und hoffte gleichzeitig, dass sie irgendwo eine warme Schokolade für ihre Tochter auftreiben konnte.

Als sich die Waggontür öffnete, schlug ihnen eine eisige Böe entgegen. Am liebsten wäre Susanne zurück zu ihrem Sitzplatz gegangen. Tapfer stieg sie aus und betrat den nahezu verlassenen Bahnsteig. Es gab nur ein Gleis, auf dem die Bahn irgendwann in entgegengesetzter Richtung wieder abfahren würde.

Hier pustete der Wind sogar noch stärker als in Husum, und der Schneeregen schien von allen Seiten auf sie einzuprasseln. Mit ihrer Tochter auf dem Arm und der Tasche in der Hand lief Susanne auf das kleine Backsteingebäude zu. Erst einmal unterstellen und dann in Ruhe schauen, ob es eine Möglichkeit gab, für Janina ein Getränk zu kaufen.

Außer dem älteren Mann, der sich seine Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, war niemand mit ihnen aus dem Zug gestiegen. Die beiden Frauen hatten schon eine Haltestelle vorher die Bahn verlassen. Kein Wunder, die meisten Leute waren bei dem ungemütlichen Wetter lieber in ihrem warmen Zuhause, tranken heißen Tee und hatten womöglich eine dicke Wolldecke auf ihren Beinen, während sie gemütlich auf dem Sofa saßen und sorglos vielleicht eine neue Folge von Ein Colt für alle Fälle im Fernsehen anschauten. Susanne sprach sich stumm Mut zu. Sie würde es schaffen, sie musste. Irgendwie.

An der Seite des Gebäudes entdeckte sie einen Bahnhofskiosk, der jedoch schon geschlossen hatte. Unschlüssig blieb sie unter dem Vordach in der Kälte stehen. Ihre Tochter hustete laut und gab ein leises Wimmern von sich. Susanne fühlte sich immer verlorener. Angst stieg in ihr hoch. Für fünf Mark würde sie wohl kaum ein Zimmer für Janina und sich in einer Pension mieten können.

Hätte sie nicht doch noch eine Nacht mit Andreas ausgehalten? War ihr überstürzter Aufbruch womöglich ein großer Fehler gewesen? Am nächsten Tag hätte sie ihre Eltern anrufen und dann mit ihrer Tochter nach Braunschweig fahren können. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einfach Hals über Kopf die Wohnung zu verlassen? Mit einem kranken Kind, bei dem Wetter! War sie am Ende eine Rabenmutter?

In einer Hinsicht hatte Andreas recht. Sie hätte dankbar sein können, dass die Miete bezahlt und die Wohnung warm war. Jetzt fehlte ihrer kranken Tochter und ihr ein sicheres Dach über dem Kopf.

Mit einem Mal überkam Susanne ein ungutes Gefühl. Es kam ihr vor, als würde sie von jemandem beobachtet. Sie blickte nach links, wo sich ein Taxistand befand. Dort stand der Mann aus dem Zug und schaute in ihre Richtung. Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Verschämt wandte sie den Kopf in die andere Richtung. Was er wohl über sie denken musste? Eine Mutter mit ihrem hustenden Kind steht abends in der Kälte vor einem Bahnhofsgebäude. Aber vielleicht dachte er auch gar nichts, sondern wartete bloß auf ein Taxi.

Der Zug stand immer noch auf dem Gleis vor dem Bahnhof. Einen Moment lang war Susanne versucht, zurück zu den Waggons zu gehen und wieder nach Husum zu fahren. Andreas könnte sie einfach sagen, sie wäre mit Janina bei Karin gewesen. Ihre Freundin hatte eine Tochter, die ein gutes Jahr älter war als Janina. Schon des Öfteren hatte Karin ihr Kleidung und Schuhe für Janina geschenkt, aus denen ihr Mädchen herausgewachsen war.

Diese Geschichte würde Andreas ihr vorbehaltlos abkaufen und es vermutlich sogar gutheißen, dass sie einen Weg gefunden hatte, um Janina kostengünstig einzukleiden. Vielleicht hatte Karin wirklich eine Jacke und ein Paar Schuhe übrig. Meistens dachte sie zuerst an Janina, bevor sie die Kleidungsstücke an jemand anderen weitergab.

Susanne hörte Schritte, die sich von der anderen Seite näherten. Als sie wieder Richtung Taxistand blickte, erschrak sie. Der Mann mit der Mütze kam direkt auf sie zu.

Zwei Meter von ihr entfernt blieb er stehen. Er schaute sie aus freundlichen Augen an. »Guten Abend. Brauchen Sie Hilfe?«

Susanne schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, danke! Ich … komme schon klar.« Wie um ihre Worte zu widerlegen, hustete Janina in diesem Moment. Besorgt schob sie das Mädchen ein Stück höher auf den Arm, lächelte jedoch höflich. Dabei fühlte sie sich hundeelend und war gleichzeitig zutiefst von dem Angebot des fremden Mannes berührt. Er schien sich wirklich zu sorgen.

»Sind Sie sicher? Sie sehen aus, als könnten Sie und Ihre Tochter ein warmes Plätzchen brauchen. Der Husten der Kleinen hört sich wie eine Bronchitis an.«

Abermals nach Fassung ringend, presste Susanne die Lippen aufeinander. Dieses Mal aber vergeblich. Sie konnte nicht länger verhindern, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Ihre Verzweiflung platzte aus ihr heraus. »Ein warmer Platz wäre schön«, brachte sie schluchzend hervor. »Aber ich habe kein Geld für ein Zimmer.«

»Na, kommen Sie. Meine Frau erwartet mich zu Hause und hat bestimmt heißen Tee gekocht. Für das Mädchen macht sie sicher eine warme Milch mit Honig.«

Susanne zögerte. Konnte sie diesem freundlichen Mann trauen? Immerhin war er fremd. Was, wenn sich seine Hilfsbereitschaft als Falle entpuppte?

Als hätte er ihr Zögern gespürt, stellte er sich vor: »Ich bin übrigens Pastor Probst von der St. Peter-Kirche im Ortsteil Dorf.« Er streckte ihr eine Hand entgegen.

Susanne atmete innerlich auf. Einem Pastor konnte sie vertrauen. »Mein Name ist Susanne, und meine Tochter heißt Janina.« Sie schüttelte seine Hand.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Susanne.« Er zog die Nase kraus. »Nun lassen Sie uns aber besser gehen. Die Witterung ist wirklich scheußlich.«

Sie nickte ihn dankbar an. »Vielen Dank.«

»Da nicht für.«

Hilfsbereit nahm er ihr die Tasche ab, und Susanne folgte ihm zu dem Taxi, das inzwischen wartete.

»Bitte sehr.« Galant öffnete der Pastor für sie und Janina eine der hinteren Türen, bevor er ihre Tasche im Kofferraum verstaute.

Angespannt sah Susanne aus dem Fenster. Das Taxi fuhr zunächst auf einer Landstraße, dann durch kleinere Straßen an gemütlichen Friesenhäusern vorbei. Aus einigen Kaminen stieg Rauch empor, und hinter manchen Fenstern sah sie das flackernde Licht von Kerzen. Niemand war bei diesem Graupelwetter unterwegs, noch nicht einmal Hunde wurden Gassi geführt.

Die Fahrt dauerte nur ein paar Minuten. Bald hielt das Taxi vor einem alten reetgedeckten Haus mit einem weißen Zaun, hinter dem ein von dichten Buchsbaumhecken gesäumter Vorgarten lag. Hinter den Fensterscheiben brannte Licht.

Nachdem Pastor Probst die Fahrt bezahlt hatte, half er ihr mit dem schlafenden Mädchen beim Aussteigen. Der Fahrer holte ihre Tasche aus dem Kofferraum, die der Pastor übernahm.

Aufmunternd nickte er ihr zu. Dann öffnete er mit seiner freien Hand das Holztor und ließ sie eintreten. »Bitte sehr.«

»Danke.« Zögernd ging sie durch das Tor, blieb stehen und wartete, bis der Pastor die Pforte geschlossen hatte.

»Kommen Sie.« Er eilte an ihr vorbei zur Eingangstür und klingelte. Er wandte sich zu ihr um. »Den Schlüssel vergesse ich ständig. Das ist eine Spezialität von mir«, fügte er entschuldigend mit verschmitztem Lächeln hinzu. Die Tür wurde geöffnet, eine kleine rundliche Frau erschien im Eingangsbereich. Ihr kinnlanges braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Sie trug einen grob gestrickten Pullover über einer dunklen Wollhose, auf ihrer Nasenspitze saß eine Hornbrille mit großen Gläsern.

Liebevoll lächelte sie den Pastor an. »Hast du etwa wieder deinen Schlüssel vergessen, Peter?«

Er nickte schuldbewusst und zog sich die Mütze vom Kopf, sodass sein schütteres graues Haar zum Vorschein kam. »Du kennst mich doch.«

»Eben.« Sie öffnete die Tür ein Stück weiter und trat zur Seite. »Ein Glück, dass wenigstens dein Kopf angewachsen ist, den würdest du sonst auch vergessen.«

»Wie recht du hast.« Er erwiderte kurz das Lächeln seiner Frau und wies dann auf Susanne und Janina. »Ich habe Gäste mitgebracht.«

»So?« Frau Probst zog überrascht die Augenbrauen hoch und versuchte zu erkennen, wer hinter ihrem Mann stand.

Mit einer Handbewegung forderte der Pastor sie auf, näher zu treten.

»Guten Abend.« Susanne lächelte Frau Probst unsicher an. Ob sie über den unangekündigten Besuch erfreut war? Ein Anflug von schlechtem Gewissen überfiel sie. Immerhin war sie eine Fremde und wollte niemandem zur Last fallen. Als in diesem Moment Janina laut hustete, besann sie sich jedoch eines Besseren. Sie hatte keine Wahl, sie brauchte Hilfe.

»Ja, guten Abend.« Frau Probsts erstaunter Gesichtsausdruck wich einem warmherzigen Lächeln. »Was für eine Überraschung!«

»Das sind Susanne und ihre Tochter. Ich habe die beiden am Bahnhof getroffen«, erklärte der Pastor. »Susanne, das ist meine Ehefrau Jördis. Und ich bin Peter.«

»Kommen Sie mal schnell mit Ihrem Kind rein«, forderte Jördis Probst sie auf. »Der Husten hört sich nicht gut an.«

»Danke.« Erleichtert betrat Susanne die gemütliche Diele, von der mehrere Räume und eine wuchtige Holztreppe abgingen. Der Holzboden knarrte unter ihren Schritten. Neben einer Tür thronte eine alte Standuhr, deren goldenes Pendel von einer Seite zur anderen schwang.

»Herzlich willkommen bei uns im Barnsteenhus.« Jördis Probst drückte ihre Hand. Sie schien wirklich erfreut über ihren Besuch zu sein. »Meine Güte, Ihre Finger sind ja ganz kalt! Am besten Sie wärmen sich im Wohnzimmer vor dem Ofen auf.«

»Das ist eine hervorragende Idee.« Der Pastor warf seiner Frau einen wohlwollenden Blick zu und stellte die Tasche auf der ersten Treppenstufe ab.

»Vielen Dank. Das wäre wunderbar.« Susanne streichelte die geröteten Wangen ihrer Tochter. Janina warf ihr einen müden Blick zu.

»Eine Tasse Tee für Sie und eine heiße Milch mit Honig für Ihr Kind mache ich gleich in der Küche fertig. Wie heißt die Kleine denn?«, erkundigte Jördis sich fürsorglich.

»Janina.«

Das Mädchen hustete wieder.

»Auf dem Herd steht sicherlich noch der große Topf mit Friesensuppe, die du heute gekocht hast«, vermutete der Pastor. »Mach sie doch für uns warm. Ich bringe Susanne und Janina derweil ins Wohnzimmer.«

»Ja, natürlich! Dass ich da nicht gleich dran gedacht habe. Sie und Ihre Tochter mögen doch Suppe?«, vergewisserte Jördis sich.

»Liebend gern. Das ist wirklich äußerst nett von Ihnen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Susanne war von der Herzlichkeit des Pastoren-Ehepaars überwältigt.

Jördis Probst drückte ihr im Vorbeigehen mit einer Hand aufmunternd den Arm. »Sie brauchen gar nichts zu sagen. Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit – eine schöne noch dazu.« Sie klatschte beschwingt in die Hände. »Jetzt wärmen Sie und Janina sich erst mal in Ruhe vor dem Ofen auf. Ich bringe dann gleich die Getränke und die Suppe.«

Das Wohnzimmer des Ehepaars war gemütlich und heimelig eingerichtet. An den Wänden hingen unzählige gerahmte Fotos, einige schienen neu zu sein, andere wiederum waren Aufnahmen in schwarz-weiß, die zweifellos älter waren. Der schwere Eichenschrank, in dem zahllose Bücher standen, und ein Vitrinenregal, in dem das gute Porzellan aufbewahrt wurde, erinnerten Susanne an die Einrichtung ihrer Eltern. Der Pastor rückte einen bequemen Ohrensessel in die Nähe des bollernden Ofens, in dem das Holz knisterte, und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.

Innerlich seufzend ließ Susanne sich mit Janina auf das Polster sinken. Das Feuer spendete eine wohlige Wärme.

Eine Weile ruhte sie sich aus, bis Jördis Probst sie an den großen Esstisch in der Küche bat. Der Tisch stand vor einer bodentiefen Fensterfront, durch die man auf beleuchtete Koniferen und eine großzügig angelegte Rasenfläche im Garten blickte. Im Sommer war es hier bestimmt herrlich, wenn alles grünte und blühte.

In den Tellern dampfte die heiße Suppe, aus den Tassen stieg das feine und markante Aroma von Assam-Tee auf.

Jördis und Peter Probst fragten nicht, warum es sie und Janina in die Novemberkälte verschlagen hatte. Vielmehr erzählten sie vergnügt von einem Adventsbasar, den sie mit der Kirchengemeinde planten, und dass sie zu Weihnachten Besuch von einigen Verwandten erwarteten. Sie unterhielten sich mit ihr, als wäre sie eine alte Bekannte, die mit ihrer Tochter zu Besuch gekommen war – nicht jemand, von dem sie noch nicht mal den Nachnamen oder den Wohnort kannten.

Nachdem Janina etwas Suppe gegessen und Milch getrunken hatte, war die Kleine wohlig auf ihrem Arm eingeschlafen. Susanne lehnte sich entspannt zurück und begann ebenfalls zu erzählen. Die Geschehnisse sprudelten nur so aus ihr heraus. Von ihrer schwierigen finanziellen Lage berichtete sie, der baldigen Geburt ihres zweiten Kindes, dem Streit mit Andreas und davon, wie es eigentlich dazu gekommen war, dass sie und ihre Tochter am Bahnhof von St. Peter-Ording gestrandet waren. »Und jetzt sitzen Janina und ich hier bei Ihnen am Tisch. Das ist wie ein Wunder«, endete sie tief bewegt und blinzelte die Tränen fort, die ihr in den Augen standen.

Das Ehepaar hatte aufmerksam ihrem Bericht gelauscht und sie kein einziges Mal unterbrochen.

»Gott sorgt dafür, dass die richtigen Menschen einander begegnen. Das tut er immer«, sagte der Pastor schließlich voller Überzeugung. Jördis Probst bedachte Susanne und Janina mit einem gütigen Lächeln.

Susanne wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, deshalb nickte sie bloß. Sie war nicht besonders gläubig, jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Das letzte Mal, dass sie ein Gotteshaus betreten hatte, musste bei ihrer kirchlichen Trauung gewesen sein. Seitdem waren vier Jahre ins Land gegangen, in denen sie nicht viel über ihren Glauben nachgedacht hatte. Aber vielleicht musste sie das auch gar nicht. Sie erwiderte schlicht den offenen Blick des Pastors und fühlte sich von Dankbarkeit erfüllt.

Lächelnd erhob Jördis Probst sich vom Tisch. »Ich werde dann mal die Betten vorbereiten.«

»Die Betten?«, rutschte es Susanne halb entsetzt heraus.

Sie schenkte ihr ein amüsiertes Lachen. »Sicher. Oder wollen Sie etwa mit Ihrer Tochter auf dem Boden schlafen? In Ihrem Zustand? Wann genau soll das Baby denn kommen?«

Unwillkürlich strich Susanne über ihren Bauch. »In sechs Wochen.«

»Sehen Sie.« Jördis Probst zwinkerte ihr zu.

»Aber ich habe doch gar kein Geld für ein Zimmer«, entgegnete Susanne besorgt.

Pastor Probst winkte ab. »Das brauchen Sie auch nicht. Für unsere Gäste haben wir immer eine Schlafmöglichkeit. Gesetz der Nächstenliebe.«

»Außerdem wird es höchste Zeit, dass die Kleine ins Bett kommt. Mit der Erkältung gehört sie in dicke Federn«, fügte seine Frau hinzu.

Susanne wusste natürlich, dass Jördis Propst recht hatte. »Es war ein anstrengender Tag für sie … und dann noch ihr Husten …«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Susanne. Es wird alles wieder gut werden«, sprach der Pastor ihr Mut zu. »Sie können so lange mit Janina bei uns bleiben, wie Sie möchten.«

1. Kapitel

1. Kapitel

Dezember2022

In der Luft lag der Duft von getrockneten Lavendelzweigen, auf dem Tisch plätscherte leise ein Zimmerbrunnen. Die tannengrünen Vorhänge vor den Fenstern harmonierten perfekt mit den apfelgrünen Sesseln. Finja hatte sie ausgewählt, weil allein der Anblick sie entspannte.

»Ich bin irgendwie ständig müde und gestresst«, klagte ihre Patientin Frau Kaufmann und seufzte heftig. »Mein Mann hat mir sogar schon mit der Scheidung gedroht, weil ich in letzter Zeit angeblich so launisch sein soll. Stellen Sie sich das mal vor, nach über zwanzig Jahren fällt ihm plötzlich auf, dass ich launisch bin! Aber ist das denn ein Wunder, wenn ich gereizt reagiere bei diesen Unterstellungen? Nein, ist es nicht.« Sie lehnte sich in dem weichen Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Finja nickte verständnisvoll und warf einen Blick auf den Laborbericht in ihrer Hand. »Bei den Werten wundert es mich nicht, dass Sie sich müde und gestresst fühlen. Die Mineralstoffanalyse hat ergeben, dass es da einige Mängel gibt, und auch Ihr Mikrobiom ist etwas aus dem Ruder geraten.«

»Mein Mikro… was?«

»Die Bakterienvielfalt Ihres Darms«, erklärte Finja. Sie legte den Laborbericht auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen ab. »Aber machen Sie sich mal keine Sorgen, das kriegen wir in den Griff. Ihr Mann will sich bestimmt nicht mehr scheiden lassen, wenn die Werte wieder im Lot sind und Sie vor Energie und Lebensfreude nur so sprühen.« Sie lächelte aufmunternd.

Aus großen Augen sah Frau Kaufmann sie an. »Das ist ja allerhand. Sie meinen tatsächlich, mein Darm ist schuld daran, dass mein Mann Scheidungsgedanken hegt?« Ganz geheuer schien ihr Finjas Analyse nicht zu sein.

Finja lächelte. »Nicht schuld, aber möglicherweise hängt ja das eine mit dem anderen zusammen.« Langsam erhob sie sich von ihrem Sessel.

»Na, so was.« Frau Kaufmann stand ebenfalls von ihrem Platz auf, zog sich ihre dicke Winterjacke an und setzte eine graue Wollmütze auf.

Zuversichtlich drückte Finja ihr die Hand. »Ich arbeite einen Therapieplan für Sie aus und schicke Ihnen den per E-Mail. Wir können dann gerne noch einmal telefonieren und alle Schritte zusammen durchgehen.«

Sie begleitete sie den kleinen Flur entlang und bis zur Praxistür.

»Vielen Dank. Ich hoffe, Sie haben recht und es liegt wirklich an den Bakterien.«

»Und Mikronährstoffen«, erinnerte Finja sie und öffnete die Tür. Eisige Luft schlug ihnen entgegen. »Sollte sich während der Behandlung keine Verbesserung einstellen, bekommen Sie selbstverständlich Ihr Geld zurück.«

Frau Kaufmanns Miene hellte sich sogleich auf. »Da bin ich aber mal gespannt«, sagte sie und straffte die Schultern. »Sie scheinen ja von der Therapie überzeugt zu sein.«

»Das bin ich.« Finja musste innerlich schmunzeln. Mit dem Angebot der Geldrückerstattung hatte sie bisher selbst die skeptischsten Patienten überzeugt.

Nachdem Frau Kaufmann sich verabschiedet hatte, sah Finja ihr gedankenverloren nach. Frischer Schnee bedeckte den Gehweg, und die Laternen trugen weiße Mützchen. Als sie den Blick dem grauen Himmel zuwandte, sah sie aus dichten Wolken Schneeflocken auf die Erde herabsegeln.

Genau so ein Wetter hatte im letzten Januar geherrscht, als sie ihre Naturheilpraxis in einer ruhigen Seitenstraße in Hamburg-Eimsbüttel eröffnet hatte. Als Heilpraktikerin zu arbeiten, war ihr lang ersehnter Traum gewesen. Und fast eine Art Mission, die ihre Oma Grete an sie weitergegeben hatte.

Schon als kleines Kind hatte Finja der alten Dame am liebsten in ihrer »Hexenküche« assistiert, wenn sie Galgant-Himbeer-Wasser gegen Grippe oder Bittertropfen hergestellt hatte. Ihre Großmutter war im Ort bekannt gewesen für ihre »Gabe«. Viele Nachbarn waren mit ihren Wehwehchen lieber zuerst zu ihr als zum Hausarzt gegangen. Weit über den Stadtteil Eimsbüttel hinaus war Grete Martens guter Ruf gedrungen. Es waren sogar Leute extra aus Quickborn zu ihr gefahren, wie sie oft stolz erzählt hatte. Finja erinnerte sich noch gut an eine Frau, die begeistert berichtet hatte, dass ihre Großmutter sie durch bloßes Handauflegen von einem Hexenschuss befreit hatte. Die Erleichterung und Dankbarkeit der Frau hatten sie damals sehr beeindruckt.

Jahrzehnte später musste Finja erkennen, wie schwierig es war, einer Legende wie ihrer Großmutter nachzueifern. Wunderheilerin war schließlich kein anerkannter Beruf, den man erlernen konnte – obwohl sie durchaus über dasselbe Wissen verfügte und die alten Rezeptbücher ihrer Großmutter wie einen kostbaren Schatz hütete.

Nach der Schule hatte Finja den geraden Weg eingeschlagen und zunächst eine Ausbildung zur Immobilienkauffrau absolviert, um ihren Klienten zu helfen, sich den Traum vom neuen Zuhause zu erfüllen. Das war gewissermaßen auch eine Mission, hatte sie sich oft gesagt, wenngleich nicht die Art, die ihr ursprünglich vorgeschwebt hatte.

Außerdem hatte sie ihren ursprünglichen Traum weiterverfolgt, sobald sie die nötigen Mittel dazu erwirtschaftet hatte, und neben der Arbeit eine Ausbildung zur Heilpraktikerin absolviert, die sie erfolgreich mit einer Prüfung vor dem Gesundheitsamt bestanden hatte. Die ganzen Jahre hatte sie eisern weitergespart, bis schließlich genug auf ihrem Konto war, um eine schöne Praxis eröffnen zu können. Und die hatte sie nun.

Ihr war bewusst gewesen, dass gerade in der ersten Zeit nach Praxiseröffnung nicht mit Reichtümern zu rechnen war. Mittlerweile war es fast ein Jahr her, seit sie den Maklerjob an den Nagel gehängt hatte, um sich hauptberuflich um ihre Patienten zu kümmern.

Seufzend rieb Finja sich die Arme, wandte sich um. Sie holte ihre Jacke und schloss die Praxistür hinter sich ab.

Der große Ansturm war bisher ausgeblieben. Das Geld war knapp und reichte gerade, um irgendwie über die Runden zu kommen. Trotzdem war sie dankbar für das Leben, das sie führte, und es erfüllte sie mit einem gewissen Stolz, die Familientradition auf moderne Weise fortzuführen. Eigentlich brauchte sie auch nicht viel, um glücklich zu sein.

Ihre kleine Wohnung war ihr persönliches Schloss.

Amüsiert erinnerte sie sich daran, dass sie sich früher oft gefragt hatte, wieso ihre Klienten so erpicht darauf waren, zu zweit auf zweihundertfünfzig Quadratmetern oder mehr zu wohnen. Irgendwann hatte sie dann die Theorie entwickelt, dass diese Paare möglichst viel Platz brauchten, um sich aus dem Weg gehen zu können. Und manches Mal hatte ihr die Bemerkung auf der Zunge gelegen, dass eine Trennung womöglich kostengünstiger wäre als der Kauf einer teuren Immobilie.

In solchen Momenten war sie fast froh gewesen, wieder ungebunden zu sein. Auch wenn sie im Grunde ihres Herzens ihr kleines Schloss gern mit jemandem geteilt hätte.

Der Fußweg zu ihrer Wohnung war nicht weit. Dort angekommen, ging sie zu den Postkästen, die im Flur an der Wand hingen. Aus dem oberen Schlitz zog sie einen Werbeprospekt heraus und nahm dann vier Briefe aus dem Kasten, die sie in ihrer Handtasche verstaute.

Auf ihrer Fußmatte lag noch ein großer Umschlag, der selbst mit viel gutem Willen nicht in den Briefkasten hineingepasst hatte. Wie gut, dass Herr Winkler schon seit einigen Jahren in ihrer Straße die Post austrug und wusste, dass er größere Sendungen getrost bei ihr vor die Wohnungstür legen konnte. In dem Mehrfamilienhaus ging höchst selten etwas verloren, und unter den Nachbarn war es selbstverständlich, Paketsendungen anzunehmen.

Finja hob den Umschlag auf und betrat ihre kleine Wohnung. Ihre Handtasche und den Umschlag legte sie auf einem Rattanstuhl in der Küche ab, erst danach streifte sie sich die gefütterten Winterstiefel von den Füßen und ging ins Bad.

Der Spaziergang hatte ihr gutgetan, aber sie plante, sich mit einem heißen Tee und Anisplätzchen aufzuwärmen, die sie am Vortag selbst gebacken hatte. Zuerst wollte sie nur noch schnell eine Maschine Wäsche anstellen, da ein Wäscheberg aus dem Behälter quoll. Routiniert und gut gelaunt fischte sie Bettwäsche aus dem Korb, packte die Bezüge in die Trommel, füllte Waschpulver in das Hauptwäschefach, wählte das Waschprogramm aus und drückte auf Start.

Finja hatte sich schon umgedreht, um das Bad zu verlassen, da ertönte hinter ihr ein eindringliches Piepen.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zur Waschmaschine. »Mist«, fluchte sie leise. Das Display zeigte die Fehlermeldung E26 an. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was das bedeutete.

Seufzend zog sie die Bedienungsanleitung aus dem Badezimmerschrank und begann zu suchen.

Die Fehlfunktion E26kann nicht selbst behoben werden. Bitte wenden Sie sich an unseren Werkskundendienst.

Finja verdrehte die Augen und stellte die Waschmaschine wieder aus. Wie praktisch! Eine kostspielige Reparatur hatte ihr jetzt noch gefehlt. Dabei war die Maschine noch gar nicht so alt. Gerade mal knapp drei Jahre. Trotzdem war die Garantie natürlich längst abgelaufen. Machten die Hersteller das eigentlich mit Absicht? Bestimmt gab es im Betriebssystem der Maschinen eine geheime Funktion, die nach Ablauf der Garantie dafür sorgte, dass bald eine Reparatur fällig wurde.

Finja ließ die Bedienungsanleitung sinken und ging in die Küche. Nach dem Schrecken hatte sie sich wirklich einen Tee verdient. Sie legte das Heftchen auf die Arbeitsplatte, um später vielleicht noch einmal weiterzulesen, und setzte Wasser in einem Kessel auf. Auf der Fensterbank stand eine Honigkerze, die zündete sie an, nahm ihre Tasche und den Umschlag vom Stuhl und setzte sich an den Küchentisch.

Aus dem großen Umschlag zog sie die neue Ausgabe der natur & heilen