Winterstrandtage - Tanja Janz - E-Book
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Winterstrandtage E-Book

Tanja Janz

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Beschreibung

Winterwunder in St. Peter-Ording Eine vergessene Kerze auf dem Adventskranz bedeutet für Leni die Katastrophe: Keine 24 Stunden später steht sie ohne Bleibe da und wird von ihrem Partner verlassen. Dabei hatte Leni sich für das kommende Jahr den nächsten Schritt in ihrer Beziehung gewünscht. Um sich zu sammeln, reist sie zu Oma Elga nach St. Peter-Ording und zieht in ihr hübsches Friesenhäuschen. In der Stille der Zeit zwischen den Jahren lässt sie die winterliche Landschaft auf sich wirken und genießt Oma Elgas warmen Apfelstrudel. Tag für Tag schöpft Leni allmählich wieder Hoffnung. Es scheint, dass die Rauhnächte an der friesischen Küste ihr den Weg in eine Zukunft weisen – mit einem neuen Beruf und einem Mann an ihrer Seite, den sie schon fast vergessen hatte.

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Seitenzahl: 315

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Zum Buch:

Lindenblüte, Birke, Tonkabohne, Linaloeholz und Styrax – es sind noch mehr Zutaten, die den duftenden Rauch ausmachen, der Leni in eine besondere Stimmung hüllt. Wie früher geht sie gemeinsam mit ihrer Großmutter, die das kleine Räucherstövchen trägt, durch alle Räume und kostet den feierlichen Moment aus. Die alten Rituale, aber auch die langen Strandspaziergänge, bei denen sie die salzige Meeresluft genießt, helfen Leni, sich zu erden. Dann begegnet sie ihrer Jugendliebe Kristan wieder und beginnt, von einer Zukunft in St. Peter-Ording zu träumen. Kann Leni es wagen und dem großen Glück eine zweite Chance geben?

Zur Autorin:

Tanja Janz wollte schon als Kind Bücher schreiben und malte ihre ersten Geschichten auf ein Blatt Papier. Heute ist sie Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen im Ruhrgebiet. Neben der Schreiberei und der Liebe zum heimischen Fußballverein schwärmt sie für St. Peter-Ording, den einzigartigen Ort an der Nordseeküste.

Lieferbare Titel:

Winterstrandtage

Wintermeer und Bernsteinherzen

Dünenleuchten

Friesenwinterzauber

Leuchtturmträume

Wintermeer und Dünenzauber

Dünentraumsommer

Das Muschelhaus am Deich

Dünenwinter und Lichterglanz

Strandrosensommer

Mit dir auf Düne sieben

Friesenherzen und Winterzauber

Krabbe mit Rettungsring

Strandperlen

St.-Peter-Ording-Saga:

Wo der Seewind flüstert

Originalausgabe

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung von Stefan Wille / Alamy Stock,

Lemonsoup14, Charunee Yodbun / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749905874

www.harpercollins.de

Widmung

Für alleSPO-Winterroman-Fans, die es sich mit einer heißen Tasse Tee, selbst gestrickten Socken und einer Kuscheldecke auf ihrem Sofa gemütlich gemacht haben!

Prolog

Zwei Wochen zuvor

Die Abenddämmerung hatte bereits früh eingesetzt, und vom Nachbargrundstück fiel der Lichtschein der Terrassenlampe in ihren Garten. Fluffige Schneeflocken segelten nahezu schwerelos vom Himmel herab. Gelegentlich trieb eine Windböe sie von ihrer Schwebebahn ab, und sie landeten an einer anderen Stelle, sanft auf den Blättern der Büsche, den abgedeckten Gartenmöbeln vor dem Holzschuppen oder auf der Wiese, deren Grashalme bereits fast gänzlich von der weißen Pracht verdeckt waren.

Leni blickte verträumt aus einem der hohen Sprossenfenster und seufzte innerlich. Ein Schluck von dem dampfenden Tee in ihrer Tasse wärmte sie angenehm, und sogleich durchströmte sie ein Gefühl von Behaglichkeit. Sie liebte die kalte Jahreszeit, wenn sie gemütliche Abende unter einer Kuscheldecke verbringen und dabei alte Spielfilme aus ihrer DVD-Sammlung ansehen oder sich mit einem Buch im heißen Badewasser entspannen konnte. Besonders die Wochen im Dezember hatten es ihr angetan. Dann waren die Wohnungen und Häuser festlich geschmückt, Holzbüdchen auf den Weihnachtsmärkten luden zum Flanieren ein, und in den Kaufhäusern wurden Weihnachtsklassiker gespielt. Überall schien eine leise Vorfreude in der Luft zu liegen auf das Fest der Feste, das nicht mehr fern war.

Beim ausgiebigen Plätzchenbacken war Leni jedes Jahr ganz in ihrem Element – und wenn sie ihre Liebsten mit eigens kreierten Adventskalendern überraschen konnte. Es waren liebgewonnene Rituale, auf die sie sich schon im Februar freute. Und wenn sie ehrlich war, freute sie sich sogar auf die Vorweihnachtszeit weitaus mehr als andere auf den Sommerurlaub.

Langsam wandte sie sich von der winterlichen Idylle ab und ging zu dem massiven Holzesstisch, den sie vor der Durchreiche zur Küche platziert hatte. Leni stellte die Trinkschale auf der Tischplatte ab und griff nach einem Gasfeuerzeug. Sie zündete nur eine der vier Adventskerzen auf dem Kranz an, den sie bereits Mitte November gebunden und liebevoll dekoriert hatte. Der Flammenschimmer spiegelte sich in den golden glänzenden Schleifen, mit denen sie den Kranz verziert hatte. Eine Weile blieb sie vor dem Tisch stehen und genoss es einfach, nur das gleichmäßige Flackern der Kerze zu betrachten und die Duftmischung aus warmem Wachs und Tanne wahrzunehmen, die ihr in die Nase stieg. Ja, so roch Weihnachten, und am nächsten Tag war bereits der zweite Advent.

Wieder einmal konnte sie es kaum fassen, wie schnell das letzte Jahr vergangen war, in dem sich ihre berufliche und Wohnsituation unverhofft verändert hatte.

Leni wandte den Kopf Richtung Diele, nahm ihren Tee mit und blieb kurz darauf gedankenverloren an der Tür stehen. Das leise Prasseln der Dusche drang aus dem Bad im ersten Stock an ihre Ohren. Das herbe Aroma eines Duschgels vermischte sich mit dem süßen ihres Tees.

Welch Glück sie doch hatte! Ihr Leben hatte sich so entwickelt, wie sie es sich immer erträumt hatte. Dankbarkeit stieg in ihr auf. Manchmal musste Leni sich in den Arm zwicken, um sich zu vergewissern, dass alles nicht bloß Einbildung war.

Vor zehn Monaten hatte sich ihre berufliche Situation komplett verändert. Einem Impuls folgend, hatte sie sich auf eine Stellenausschreibung der Stadt beworben, weil ihr die alte Arbeitsstelle als Medienpädagogin bei einem Weiterbildungsinstitut schon lange zu eintönig geworden war. Leni hatte die Bewerbungsunterlagen per E-Mail an die Personalabteilung geschickt und sich nicht wirklich große Chancen ausgerechnet, zu einem Gespräch eingeladen zu werden, geschweige denn darauf, am Ende für die Stelle ausgewählt zu werden. Sie kannte niemanden bei der Stadt, der ein gutes Wort für sie hätte einlegen können, und hatte einmal aufgeschnappt, dass häufig Bewerber genommen wurden, die hausinterne Fürsprecher hatten. Trotzdem hatte Leni die Einladung erhalten und zwei Wochen nach dem Vorstellungsgespräch die schriftliche Zusage. Nach Ablauf der Kündigungsfrist hatte sie schließlich den alten Job beendet und den neuen in der städtischen Zentralbibliothek angetreten – ihr absoluter Traumjob, wie sich kurz darauf herausstellte.

Als Nächstes hatte Armins Tante Irmtraud der Familie an Ostern jäh eröffnet, sich aus Altersgründen verkleinern zu wollen, und ihrem Neffen ihr Haus mit großzügigem Grundstück zu Lebzeiten überschrieben. Es war schnell klar gewesen, dass sie und Armin die in die Jahre gekommene Immobilie sanieren und endlich zusammenziehen würden. Immerhin waren sie schon seit über zwei Jahren ein Paar. Die unverhoffte Gelegenheit war ihnen wie ein Wink des Schicksals erschienen, und Leni hatte sich sehr darauf gefreut, den nächsten gemeinsamen Schritt zu gehen.

Dank der tatkräftigen Unterstützung ihres Freundeskreises hatten sie nicht nur an vielen Stellen Geld gespart, sondern waren auch mit der Renovierung zügiger vorangekommen, weil sie auf keine freien Termine von Handwerksfirmen hatten warten müssen. Bereits ein halbes Jahr später waren sie in ihr gemeinsames Heim eingezogen.

Zimmer für Zimmer hatte Leni liebevoll eingerichtet und dabei auf viele kleine Details geachtet. Das Bad hatte sie mit Muscheln und maritimer Deko verschönert. Auf der Fensterbank in der Küche wuchsen Kräuter in einem kleinen Gewächshaus, und auf der ersten Stufe des Treppenaufgangs hatte sie eine Holzlaterne im Landhausstil gestellt, die abends von einer Lichterkette erhellt wurde. Besonders liebte sie den Raum mit dem kleinen Balkon und Blick in den Garten, der gleich neben ihrem Schlafzimmer lag. Als Armin gesagt hatte, dass er dort sein Home-Office einrichten wolle, hatte sie zwar genickt, jedoch in einem Nebensatz eingeworfen, dass es in ihren Augen auch ein ideales Kinderzimmer sei. Den gemeinsamen Wunsch nach einer eigenen Familie hatten sie längst besprochen und waren sich glücklicherweise einig gewesen. Mit fast vierzig Jahren fühlten sie sich beide bereit. Besonders Leni wünschte sich schon sehr bald ein Baby, weil sie wusste, dass es umso schwieriger werden könnte, schwanger zu werden, je länger sie wartete.

Das Zimmer war letztlich für ihren gemeinsamen Wunsch frei geblieben. Armin hatte sein Arbeitszimmer im Erdgeschoss in einem kleinen Raum zwischen Diele und Küche eingerichtet. »Ist ohnehin praktischer. Da ist der Weg zur Kaffeemaschine nicht so weit«, hatte er die Entscheidung mit einem Augenzwinkern kommentiert.

Als das gleichmäßige Plätschern der Dusche verklang, ging Leni in die Küche, spülte ihre inzwischen leere Teetasse aus und stellte sie in die Spülmaschine.

»Leni?«, hörte sie Armin aus dem ersten Geschoss rufen.

Sie schaute aus der Küche und blickte die Treppe hoch. »Ja?«

Er erschien vor der obersten Stufe. Sein Haar war nass, um seine schlanke Taille hatte er ein Handtuch geschlungen. Lenis Blick blieb an seinem durchtrainierten Oberkörper hängen. Wie gut er doch aussah! Sie bewunderte ihn für seine Disziplin. Er achtete auf eine ausgewogene Ernährung, genügend Schlaf und ging konsequent jeden zweiten Tag zum Training ins Fitnessstudio. Sie hingegen konnte oftmals ein interessantes Buch nicht aus der Hand legen und schmökerte darin die halbe Nacht, statt zu schlafen. Ihre sportlichen Ambitionen hielten sich auch in überschaubaren Grenzen, und bei süßen Versuchungen konnte sie einfach nicht widerstehen. Mehrmals hatte sie sich vorgenommen, Armins gutem Beispiel zu folgen. Doch nach ein paar Tagen verwarf sie ihre Pläne meistens wieder. Entweder hielt ein spannendes Buch sie vom Sport ab, oder ein unverzichtbarer Mädelsabend mit Karla, Angi und Diana machte die guten Vorsätze zunichte.

»Hast du eigentlich gestern die Flasche Bordeaux besorgt?«, erkundigte sich Armin.

Leni zog die Nase kraus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mist! Hab ich ganz vergessen.«

»Als hätte ich es geahnt.« Er seufzte und verdrehte die Augen.

Leni schüttelte entschuldigend den Kopf. »Ich war gestern nach der Arbeit doch bei Diana, weil ihre Katze vor ein paar Tagen Babys bekommen hat. Da habe ich es völlig verschwitzt. Tut mir leid. Die Kätzchen waren einfach zu süß.«

»Mit leeren Händen können wir unmöglich bei Karla und Severin ankommen. Immerhin haben sie uns zum Essen eingeladen«, wandte er ein. »Eine gute Flasche Wein ist das Mindeste, was wir mitbringen sollten.«

»Natürlich.« Sie nickte schuldbewusst. »Alles andere wäre auch höchst unhöflich.«

»Eben.« Er kratzte sich unschlüssig am Hinterkopf. »Was machen wir nun?«

Sie blickte zur Digitalanzeige des Herds. Gleich Viertel nach sieben. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch zum Weinkontor, bevor der Laden schließt«, überlegte sie laut.

Armin zog die Augenbrauen hoch. »An mir soll es nicht scheitern. Ich bin in spätestens zehn Minuten fertig«, sagte er herausfordernd und spielte dabei auf die Tatsache an, dass Leni meistens Stunden brauchte, bis sie ausgehfertig war.

»Das schaffe ich. Ich muss ja keine Schönheitskonkurrenz gewinnen.« Leni lief die Treppenstufen hoch.

Als sie auf seiner Höhe war, knuffte er sie neckend in die Seite. »Dann mal los. Die Zeit läuft.«

»Das Bad gehört jetzt mir«, erklärte sie bestimmt und schob sich entschlossen an ihm vorbei. Bevor sie die Tür schwungvoll hinter sich schloss, sah sie, wie er lächelnd einen Finger hob.

»Zehn Minuten. Ich gehe dann schon vor, wenn ich fertig bin, und hole das Auto aus der Garage.«

Leni öffnete die Wagentür und ließ sich auf den bequemen Beifahrersitz fallen. Armin befreite noch mithilfe eines Handfegers, den er zuvor aus dem Kofferraum genommen hatte, die Windschutzscheibe von einer Schicht frischen Pulverschnees. Obwohl sie nicht länger als eine Viertelstunde in dem Weingeschäft gewesen waren, bedeckte eine dünne Schicht Neuschnee die Scheibe. Leni schrieb auf ihrem Smartphone eine Nachricht an ihre Freunde, in der sie ihnen mitteilte, dass sie sich etwas verspäteten.

Das war nicht mehr zu ändern. Beim Weinkauf war Armin aufgefallen, dass er seinen Führerschein und die Fahrzeugpapiere in der Küche liegen gelassen hatte. Die wollte er noch holen, bevor sie zu Karla und Severin fuhren.

Leni schickte die Nachricht ab und hob den Blick. Sie winkte Armin lachend zu, als er die weiße Pracht auch auf der Beifahrerseite entfernt hatte. Wenig später saß er neben ihr.

»Das wird bestimmt ein schöner Abend«, sagte Leni.

Armin schnallte sich an. »Jetzt kommen wir wegen meiner Schusseligkeit zu spät.«

»Das kann doch mal passieren.« Beschwichtigend zeigte sie ihm den Bildschirm ihres Handys, auf dem Karlas Antwort aufgepoppt war: Nicht schlimm! Der Braten braucht sowieso noch eine gute halbe Stunde. Wir haben uns auch etwas mit der Zeit verkalkuliert. Lasst euch Zeit und fahrt vorsichtig. Bis gleich! Karla

»Trotzdem komme ich lieber pünktlich zu Verabredungen«, entgegnete Armin und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Ich bin jetzt schon müde.«

»Ist doch noch früh am Abend. Also ich bin topfit.« Herausfordernd zwinkerte sie ihm zu.

Armin startete den Motor und setzte den Blinker. »Du bist ja auch eine Nachteule. Dein Tag fängt später an als meiner. Ich habe heute früh um fünf schon auf dem Laufband geschwitzt und möchte morgen auch zeitig im Fitnessstudio sein.«

»Findest du das nicht ziemlich ungemütlich für einen Sonntagmorgen?« Leni schaute im Vorbeifahren in einen Garten, an dessen eingeschneiten Bäumen und Sträuchern hübsche Weihnachtslichter leuchteten.

»Je früher ich mein Sportpensum absolviert habe, umso mehr habe ich vom Tag. Außerdem bin ich mit Andi verabredet. Zu zweit macht es mehr Spaß.«

Leni blickte ihn von der Seite an. »Deine Disziplin möchte ich haben.«

Er grinste schief und bog auf eine Hauptstraße ab. »Deine Qualitäten liegen woanders.«

»Aha? Nenn mir welche«, forderte sie ihn auf.

»Nun ja … Manchmal wächst du über dich hinaus. Du warst vorhin zum Beispiel nach zwölf Minuten fertig.«

Leni lachte. »Stimmt.« Sie lehnte den Kopf gegen die lederne Stütze und schloss kurz die Augen. »Eigentlich können wir auch zu Fuß gehen, dann bräuchtest du gar keine Papiere.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Bei der Kälte?«

»Sind doch höchstens zehn Minuten. Wenn wir uns beeilen, vielleicht acht.«

»Im Sommer gerne, aber bei Temperaturen um den …« Er brach mitten im Satz ab und fuhr rechts ran, um dem Feuerwehrauto Platz zu machen, das sich in hohem Tempo und mit Blaulicht und Sirene genähert hatte. Sobald der Löschzug an ihnen vorbeigefahren war, fuhr Armin zurück auf die Hauptstraße. »Die Feuerwehr ist heute mal wieder rasant unterwegs.«

Leni lächelte. »Ja, wenn es brennt, zählt jede Minute.«

Beunruhigt schaute er in den Rückspiegel. »Meine Güte! Da kommt schon der nächste Löschzug.«

Wieder hielten sie am Straßenrand. Dort blieben sie eine Weile stehen, denn weiter hinten flackerte erneut blaues Licht auf, und laute Martinshörner ertönten. Wenig später brauste sogar ein dritter und vierter Feuerwehrwagen an ihnen vorbei.

»Oje! Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert«, meinte Leni.

»Die Hauptstraße führt bis ins Industriegebiet an der Schillerstraße. Vielleicht ist in der Großbäckerei ein Feuer ausgebrochen«, mutmaßte Armin. »Bei den hohen Temperaturen in den Öfen kann das durchaus passieren.«

»Meinst du? Ich tippe eher auf einen Wohnungsbrand. In einer Bäckerei wird die Technik doch bestimmt regelmäßig gewartet, und zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen sind doch bestimmt auch Standard? Da passiert doch so schnell nichts.«

Armin zuckte die Schultern. »Nichts ist absolut sicher. Schon gar nicht Technik. Und menschliches Versagen kommt auch immer wieder vor.«

Leni schnupperte. »Riechst du das auch?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich rieche nichts.«

Stirnrunzelnd ließ sie kurz die Scheibe herunter. »Eindeutig verbrannt. Sogar ziemlich stark, als käme es aus dieser Gegend.«

»Jetzt rieche ich es auch.« Er setzte den Blinker, um in die kleine Seitenstraße einzubiegen, die zu ihrer Straße führte. Weil die Fahrbahn der ruhigen Seitenstraße von mehreren Zentimetern Schnee bedeckt war, konnte Armin nur Schritttempo fahren. »Das muss ein größerer Brand sein, wenn man es bis hierhin riechen kann.«

»Hoffentlich passiert niemanden etwas.«

»Immer positiv denken.« Er lächelte ihr aufmunternd zu, dann änderte sich abrupt seine Miene. »Hey! Was ist denn da vorne los?«

Leni schaute wieder nach vorne. Sie waren fast angekommen. »Oh nein! Das Feuer ist ja in unserer Straße!«

In den Fensterscheiben der umliegenden Häuser spiegelte sich das Blaulicht. Auf dem Bürgersteig hatte sich eine Menschentraube gebildet, die mit dem Rücken zu ihnen stand. Ein Feuerwehrauto befand sich mitten auf der schmalen Straße, daneben parkte ein Krankenwagen halb auf dem Gehweg. Leni und Armin parkten an der Seite und stiegen aus, da es für sie kein Weiterkommen gab. Beißender Brandgeruch lag über der Straße.

Leni hustete und zog sich den Schal über die Nase, um ihre Atemwege zu schützen. Erst jetzt sah sie, dass überall Feuerwehrleute herumliefen. Weiter entfernt vor ihnen erkannte sie eine Drehleiter, auf der jemand mit einem Schlauch stand. Die Luft war nebelig und die Sicht begrenzt.

In der Menschenansammlung drehte sich plötzlich eine Frau zu ihnen um und stürzte sogleich auf sie zu. »Meine Güte! Da sind Sie ja. Wir dachten schon, Ihnen wäre etwas zugestoßen!«, rief ihre Nachbarin Frau Schneider aufgeregt.

»Uns geht es gut«, erwiderte Armin beschwichtigend. Leni konnte jedoch in seinen Augen sehen, dass er in Wirklichkeit alles andere als beruhigt war.

»Aber was ist denn eigentlich passiert?« Leni verspürte ebenfalls wachsende Unruhe, verbot sich jedoch jeden weiteren Gedanken, bevor sie keine Gewissheit hatte.

»Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll.« Frau Schneider rang sichtlich nach Worten. Da trat Herr Schneider an ihre Seite und legte einen Arm auf die Schultern seiner Frau. Er sah sie bekümmert an. »Wissen Sie schon Bescheid?«

Frau Schneider schüttelte bloß den Kopf und sah ihren Mann bittend an.

Bevor Herr Schneider das Wort ergreifen konnte, tauchte eine weitere Nachbarin mit einem Polizisten im Schlepptau auf. Er kam im Laufschritt auf sie zu.

»Sind Sie die Bewohner der Gartenstraße 10?«

»Ja, das sind wir.« Armins sonst so gefasste Stimme klang völlig fremd. Sie schien mit einem Mal um eine Oktave höhergerutscht zu sein.

Sie griff intuitiv nach Armins Hand und fasste sich mit der anderen an den Hals. Sie konnte nicht verhindern, dass sie zitterte.

Der Polizeibeamte hob beschwichtigend seine Hände. »Bitte bleiben Sie ruhig. In Ihrem Haus ist ein Feuer ausgebrochen. Sechs Löschzüge sind dabei, den Brand zu löschen.«

»Nein!«, rief Armin und sah Leni entsetzt an. Er löste sich aus ihrem Griff und wollte an dem Polizisten und Herrn Schneider vorbeistürmen. Doch die beiden Männer hielten ihn zurück.

Leni schlug entsetzt beide Hände vors Gesicht. »Unser schönes Haus!«

»Beruhigen Sie sich! Sie können im Moment nichts tun«, versuchte der Polizist ihn zu beschwichtigen. »Die Kollegen von der Feuerwehr bekämpfen den Brand.«

»Es tut mir so leid.« Frau Schneider legte Leni eine Hand auf die Schulter, auch ihr standen Tränen in den Augen. Die anderen Nachbarn hielten sich im Hintergrund, schauten nur manchmal zu ihnen rüber.

»Meine ganzen Papiere sind im Haus!«, rief Armin verzweifelt und deutete zu der Feuerwehrleiter weiter vor ihm.

»Ihre Papiere können ersetzt werden. Wir sind froh, dass Ihnen nichts passiert ist«, startete der Polizist einen weiteren Versuch, beruhigend auf ihn einzuwirken.

»Wir waren doch gerade erst fertig mit der Renovierung«, brachte Leni fassungslos hervor. Wegen des Nebels konnte sie nicht viel davon erkennen, was sich in ungefähr zwanzig Metern Entfernung von ihnen abspielte. Und trotzdem nahm sie vereinzelte helle Flammen wahr, die hin und wieder durch das Abenddunkel brachen. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Ihr Haus stand lichterloh in Flammen.

Armin kam zu ihr und nahm sie verzweifelt in den Arm. »Das kann doch nicht wahr sein!«, brachte er mit brüchiger Stimme hervor. »Bitte sag mir, dass das bloß ein schlechter Traum ist. Wie konnte das nur passieren?«

»Haben Sie vielleicht vergessen, eine Herdplatte abzuschalten?«, fragte Frau Schneider und winkte sofort ab. »Wie oft ich schon zurückgelaufen bin, um mich zu vergewissern, dass der Herd auch wirklich aus ist … Manchmal ist man so in Gedanken.«

Armin rang um Fassung. »Nein, ausgeschlossen. Bei uns wurde heute nicht gekocht. Wir waren bei Freunden zum Essen eingeladen. Wir sind nur zurückgekommen, weil ich meine Papiere holen wollte. Und dann …« Er brach mitten im Satz ab und fuhr sich mit einer Hand über die Augen.

Leni zitterte wie Espenlaub. Ihr Herz raste, harte Pulsschläge hämmerten gegen ihre Schläfen. Frau Schneiders Worte hallten in ihr nach wie in einer großen Empfangshalle.

Sie wusste, dass einzig und allein sie die Verantwortung für das Unglück trug. Es sollte ein schöner Abend bei ihren Freunden werden. Doch sie hatte vergessen, den Wein zu kaufen. Um den Fehler wiedergutzumachen, hatte sie sich so beeilt. In Rekordzeit hatte sie sich für ihre Verabredung fertiggemacht. Bevor sie das Haus verlassen hatte, hatte sie das Licht gelöscht und darauf geachtet, die Haustür zweimal abzuschließen. Doch im Eifer des Gefechts hatte sie es vergessen. Das eine kleine Licht im Wohnzimmer: die Kerze auf dem Adventskranz.

Kapitel 1

Draußen herrschte Usselwetter. Schneeregen vermischt mit Hagel prasselte auf die Terrassendielen. Leni hob den Blick von der Fernsehzeitung und sah, wie die kleinen weißen Eisklumpen vom Holz abprallten und einige Zentimeter weit flogen. Das Geräusch erinnerte sie an das Ploppen von Popcorn.

Im Wohnzimmer war es mollig warm. Im Ofen knisterte ein Feuer, und am Adventskranz brannten endlich alle vier Kerzen. Ihre Mutter lag auf dem Sofa vor ihr und hielt das Fieberthermometer einige Zentimeter von sich weg. Dabei verengte sie die Augen zu Schlitzen, um besser sehen zu können. Konzentriert auf die schmale Digitalanzeige, schüttelte sie den Kopf. »Also, ich schätze, mindestens 42 Grad, so wie mir die Knochen wehtun. Vielleicht auch 42,5.«

»Gib mal her.« Leni ließ die Fernsehzeitung auf den Wohnzimmertisch fallen und erhob sich aus dem gemütlichen Ohrensessel. »37,8 Grad, Mutti«, gab sie mit einem Blick auf die Anzeige Entwarnung. »Bloß erhöhte Temperatur. Du berappelst dich langsam. Vielleicht bist du morgen schon wieder fit.«

»Wollen wir es hoffen.« Ihre Mutter nickte und zog die Wolldecke etwas höher. »Ich fühle mich aber noch viel kränker. Da hätten es gut 42 Grad sein können. Ohne mein Nasenfahrrad bin ich ja fast blind.« Sie richtete sich halb auf. »Wenn ich nur wüsste, wo …«

»Moment.« Leni nahm das Brillenetui vom Tisch und reichte es ihr. »Bitte schön.«

»Ah, ja … Danke dir, mein Schatz.« Sie setzte die Sehhilfe auf und drehte ihren Kopf zur Seite. »Wie viel ist es denn bei dir, Kurt?«

Leni betrachtete ihren Vater, der sich auf der gegenüberliegenden Couch ausgestreckt hatte. Ihre Eltern bestanden auf eigene Sofas, weil sie regelmäßig vor dem Fernseher einschliefen.

»38,1«, brummelte ihr Vater und schob das Messgerät zurück in die Plastikhülle. »Ich habe einen Schädel wie nach einer durchzechten Nacht.«

»Es wird ja auch bei dir langsam besser.« Leni lächelte ihm aufmunternd zu. »Mit etwas Glück können wir morgen wie geplant zu Oma Elga fahren.«

»Bist du verrückt geworden?«, fragte ihr Vater entsetzt. »Das sind 360 Kilometer bis St. Peter-Ording! Im Moment bin ich froh, dass ich überhaupt lebe.«

»Ich fürchte, wir werden noch ein paar Tage länger brauchen, um uns zu kurieren«, stimmte ihre Mutter zu.

»Na schön.« Leni zuckte mit den Schultern. »Ich könnte für euch eine Kanne von dem neuen Erkältungstee kochen, den ich gestern aus der Apotheke mitgebracht habe. Wie sieht es aus?«

Ihr Vater verzog angewidert das Gesicht. »Tee! Damit kannst du mich nun wirklich jagen. Die ganze letzte Woche habe ich diese Brühe runtergewürgt. Inzwischen fließt bestimmt Kräutertee statt Blut durch meine Adern. Und trockenen Zwieback kann ich auch nicht mehr sehen. Ein anständiges Frühstück mit einem ordentlichen Kaffee, das wäre was. Ich muss schon sagen, Heiligabend habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.«

»Das haben wir doch alle, Kurt«, meinte ihre Mutter besänftigend und nieste dann in ein Taschentuch.

Und ich erst, dachte Leni und spürte wieder die lähmende Kälte, die sie seit der Katastrophe überkommen hatte. Aber sie war fest entschlossen, sich auf ihre Eltern zu konzentrieren.

Ihr Vater rieb sich die Augen. »Hoffentlich macht mir die Grippe keinen Strich durch meine Pläne. Das Wohn- und das Schlafzimmer deiner Mutter müssen bis Jahresbeginn renoviert sein. Spätestens Mitte Januar kommen die neuen Polster und das Bett, und vorher ist noch Sperrmüll angesagt. Eigentlich wollte ich am 27. Dezember damit anfangen.«

»Pläne hin oder her. Noch bist du für Renovierungen viel zu angeschlagen, Kurt«, sprach ihre Mutter ein Machtwort. »Man soll nichts erzwingen.«

»Ich bin ja auch noch da«, meldete sich Leni zu Wort. »Früher habe ich dir doch auch beim Tapezieren und Streichen geholfen«, erinnerte sie ihren Vater.

Ihr Vater gab einen Grunzton von sich. »Das Ungetüm von Wohnzimmerschrank muss erst mal von der Wand abgerückt werden, bevor man überhaupt an irgendwelche Tapeten drankommt.«

»Das wird schon werden, Kurt«, meinte ihre Mutter optimistisch. »Beim letzten Mal haben wir es ja auch mit vereinten Kräften geschafft.«

»Nur dass das fünfzehn Jahre her ist und uns am Ende der Nachbar helfen musste«, wandte Lenis Vater ein.

»Mal was anderes, habt ihr denn Appetit auf Frühstück?«, fragte Leni, um von dem leidigen Thema abzulenken.

»Zu Rührei mit Speck und einer Scheibe Brot mit guter Butter sage ich nicht Nein«, antwortete ihr Vater prompt. »So krank kann ich gar nicht sein.«

Leni stand auf.

»Für mich auch eine Tasse Kaffee, aber nicht so stark. Und Toast mit Marmelade, bitte. Aber nicht zu dunkel rösten, lieber schön hell«, bat ihre Mutter.

Ihr Vater hob einen Zeigefinger. »Den Speck bitte kross. Das muss krachen beim Beißen.«

»Sonst noch irgendwelche Wünsche?« Sie lächelte ihre Eltern belustigt an.

»Man muss es ja nicht gleich übertreiben.« Ihre Mutter nahm die Brille wieder ab und legte sie zurück ins Etui.

»Also gut, dann kümmere ich mich mal ums Frühstück.«

Leni verließ das Wohnzimmer und bereitete in der Küche zunächst den Kaffee vor. Es war schon fast Mittag, deshalb hatte sie selbst längst ihren Morgenkaffee getrunken. Rührei mit Speck war jedoch keine schlechte Idee um die Uhrzeit. Während sie die Eier in die Pfanne schlug, hatte sie wieder die Worte ihres Vaters im Ohr. Den Heiligabend habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.

Seufzend ging sie zum Kühlschrank, aus dem sie Speck und Butter nahm. Es hätte sogar ein überaus wunderbarer Heiligabend werden sollen, dachte sie bedrückt, während sie den Speck in Streifen schnitt. Ein großes Familienfest mit Armins und ihren Eltern in ihrem schönen renovierten Haus, mit allem, was dazugehörte. Mit traditionell geschmücktem Tannenbaum, einer weihnachtlich dekorierten Tafel und einem festlichen Vier-Gänge-Menü. Im November hatte Leni eine Playlist mit den schönsten Weihnachtsliedern als stimmungsvolle Hintergrundmusik erstellt, das Festessen war ebenfalls geplant gewesen, und sie hatte das Hauptgericht einmal probeweise gekocht, damit am 24. Dezember bloß nichts schiefgehen würde. Lachsfilet mit Spekulatiuskruste, dazu Püree und Wurzelgemüse – so wie sie es bei dem Koch in der Fernsehsendung gesehen hatte. Nichts hatte sie dem Zufall überlassen wollen. Alles hätte möglichst perfekt werden sollen.

In ihrer Vorstellung hätte sich jeder noch Jahre später gerne an diesen Heiligabend erinnert. Doch dann … Wegen eines einzigen unachtsamen Moments waren die Rezepte, wie alles andere auch, lichterloh in Flammen aufgegangen. Und mit ihnen ihre Hoffnung und ihr Glück.

Von der Zukunft, die sie sich in den schönsten Farben ausgemalt hatte, war bloß graue Asche übrig.

Den Augenblick, als sie Armin von der vergessenen Kerze am Adventskranz erzählt hatte, würde sie nie wieder vergessen. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen. Sie wollte nicht unehrlich sein und schweigen.

Zuerst hatte er sie bloß ungläubig angesehen, dann hatte sich Fassungslosigkeit auf seine Züge gelegt. Seine Augen hatten nicht mehr wie sonst freundlich geblickt, sondern waren mit einem Mal ausdruckslos gewesen, als wäre jedes Leben aus ihnen gewichen. Armin hatte sie eine gefühlte Ewigkeit bloß angestarrt. Dann hatte er Luft geholt, um etwas zu sagen, doch er schien keine Worte gefunden zu haben. Stattdessen hatte er den Mund wieder geschlossen und nur langsam den Kopf geschüttelt.

Dann war er mit dem Polizisten mitgegangen, der nochmals zu ihnen gekommen war und ihm einige Fragen als Eigentümer gestellt.

An jenem Abend hatte er sie einfach wortlos zurückgelassen. Wenn er sie wenigstens angeschrien und so seinen Emotionen freien Lauf gelassen hätte. Mit der Reaktion hätte sie umgehen können, aber gar nichts zu sagen, das war schlimmer gewesen.

Leni war außerstande gewesen, sich von der Stelle zu rühren. Sie hatte sich an das letzte Fünkchen Hoffnung geklammert. Vielleicht müsste sie nur eine Weile abwarten, ihm Zeit geben. Armin würde wieder zu ihr zurückkommen und mit ihr reden.

Er war nicht zurückgekommen.

Leni hatte auf ihr Handy gestarrt und gewartet. Irgendwann las sie die Nachricht von Karla, die sich amüsiert erkundigt hatte, ob sie sich mit dem Auto verfahren hätten. Der Braten sei längst fertig und drohe im Ofen zu verbrutzeln. Erst in dem Moment hatte Leni wieder an die Verabredung gedacht. Um sich zu entschuldigen, hatte sie ein Foto eines Feuerwehrwagens gemacht und kurz dazu geschrieben, was sich zugetragen hatte. Zum Schluss hatte sie sich bei Karla aufrichtig dafür entschuldigt, dass sie nicht wie geplant kommen konnten.

Schließlich hatte sie sich ein Taxi gerufen, als ihr klar geworden war, dass sie vergeblich auf Armin wartete. Sie hatte sich an ihrem Elternhaus absetzen lassen, weil sie nicht gewusst hatte, wohin sie sonst hätte gehen können. Ihr Portemonnaie hatte sie im Haus liegen gelassen, und so musste sie bei ihrer Ankunft ihre Mutter bitten, die Taxifahrt zu bezahlen. Ihre Eltern hatten sie überrascht hineingebeten.

Nachdem Leni ihnen unter Tränen berichtet hatte, was der Grund für ihr plötzliches Auftauchen war, waren sie schockiert gewesen. Lenis Mutter hatte gleich zwei Päckchen eingefrorene Hühnersuppe warmgemacht.

»Hühnersuppe ist gut für die Seele, und morgen ist ein neuer Tag«, hatte sie gesagt und einen Teller dampfender Suppe vor Leni hingestellt. Dabei hatte sie sie so aufmunternd angelächelt, wie es nur eine Mutter konnte, sodass Leni tatsächlich etwas Zuversicht geschöpft hatte.

Diese wurde jedoch am nächsten Tag im Keim erstickt, als sie es nicht länger aushielt und Armin auf dem Handy anrief. Er war sehr kurz angebunden.

»Ich kann im Moment keine tiefgreifenden Gespräche führen. In meinem Kopf herrscht Chaos. In ein paar Tagen vielleicht, wenn ich mich sortiert habe. Es ist ein unfassbarer Albtraum.«

»Das verstehe ich«, hatte sie gefasst erwidert, wenngleich sie sich mehr erhofft hatte. »Melde dich dann einfach bei mir, ja?«

Nach dem Gespräch hatte sie einen dicken Kloß im Hals verspürt. Ihre innere Stimme meldete sich, und Leni überkam ein Gefühl, dass da noch etwas im Busch war. Sie hätte nicht sagen können, was genau sie erwartete, aber sie hatte eine vage Ahnung, dass der eigentliche Paukenschlag ihr noch bevorstand. Die darauffolgenden Tage hatten sich wie Wochen gezogen. Und als Armin sich endlich gemeldet hatte, war es nicht der ersehnte Anruf, sondern lediglich eine WhatsApp-Nachricht.

Leni, die Untersuchungen zur möglichen Brandursache haben ergeben, dass das Feuer tatsächlich durch die Kerze entstanden ist. Es besteht kein Zweifel. Mein gesamtes Hab und Gut ist verbrannt, und die Versicherung weigert sich wegen grober Fahrlässigkeit, den Schaden zu ersetzen. Ich stehe nun mit völlig leeren Händen da und muss noch einmal bei null anfangen. Wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Ich fahre morgen zu meinem Bruder nach Zürich, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich brauche eine Pause. Von allem. Sei mir nicht böse. Armin

Leni wendete den Speck in der Pfanne und blickte dann zur Decke, um die Tränen fortzublinzeln. Sie hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und Armin wiederholt ihr volles Verständnis versichert. Wenngleich sie sich dazu zwingen musste, ihm keine Nachrichten zu schreiben und nicht hysterisch zu werden. Der Gedanke, dass sie nicht nur ihr gemeinsames Zuhause, sondern womöglich auch ihn für immer verloren hatte, trieb sie nervlich an ihre Grenzen. Die Ungewissheit machte sie mürbe.

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Wie wäre es gewesen, wenn umgekehrt ihm das passiert wäre? Wenn ihr Haus abgebrannt wäre, weil er die Kerze am Adventskranz vergessen hätte? Wahrscheinlich hätte sie nicht so ruhig reagiert, nein, das hätte sie wohl nicht. Wahrscheinlich hatte sie nichts anderes verdient, als dieses Jahr ein völlig verkorkstes Weihnachten zu verbringen.

Hastig riss sie ein Blatt Küchenpapier von der Rolle und schnäuzte sich. Es gab Dinge, die einfach unverzeihlich waren. Und das Haus seines Freundes aus reiner Schusseligkeit abzufackeln, das gehörte definitiv in diese Kategorie.

Da war es auch nur gerecht, dass sie sich um ihre kranken Eltern kümmerte, damit ihr grippaler Infekt bald der Vergangenheit angehörte. Ihr Karma-Konto musste nämlich dringend ausgeglichen werden.

Sie goss Kaffee in zwei Tassen und toastete zwei Stück Weißbrot. Dann nahm sie die Pfanne vom Herd und verteilte das Rührei mit Speck auf zwei Tellern.

Ich würde alles geben, wenn ich nur diesen einen Fehler ungeschehen machen könnte.

An diesem Heiligabend schliefen ihre Eltern früh ein. Wenigstens hatten beide vorher noch einen Teller von der Suppe gegessen, die Leni am Nachmittag gekocht hatte. Eine kleine Bescherung hatte es auch gegeben. Wie jedes Jahr hatte ihre Mutter schon frühzeitig Geschenke besorgt. Leni war vor zwei Wochen notgedrungen ein zweites Mal losgezogen, nachdem sie eine neue Bankkarte erhalten hatte.

Ihr Vater hatte es nicht so mit Weihnachtsgeschenken, wie er auch in diesem Jahr nicht müde wurde zu betonen. Er überließ die Auswahl allzu gern seiner Frau, weil er laut eigener Aussage nicht viel davon verstand. Stattdessen kümmerte er sich gewöhnlich mit Vorliebe um das Besorgen und Aufstellen des Tannenbaums. Aber das war dieses Jahr ebenfalls ausgefallen.

Damit wenigstens ein bisschen Weihnachtsstimmung aufkam, hatte Leni den Adventskranz und einen Christstern auf den Wohnzimmertisch gestellt. Die Kerzen zündete sie nicht an.

Ihrem Vater schenkte sie einen dicken Pullover und ihrer Mutter warme Lammfellhausschuhe.

Ihre Eltern bedachten sie zweifellos aufgrund der besonderen Umstände noch großzügiger als sonst. Da auch Leni durch den Hausbrand alles verloren hatte bis auf die Kleidung am Leib, hatte ihre Mutter für sie eine Grundausstattung besorgt: Unterwäsche, Socken, ein paar T-Shirts, drei Pullover, zwei Hosen und den obligatorischen Flanell-Schlafanzug, den es jedes Jahr zu Weihnachten in verschiedenen Ausführungen gab, seit sie denken konnte. Den Pyjama hatte ihre Mutter wohlweislich einmal durchgewaschen, bevor sie ihn eingepackt hatte, damit Leni ihn gleich anziehen konnte und nicht länger im T-Shirt schlafen musste.

Nachdem ihre Eltern auf ihren Sofas eingeschlafen waren, schaltete Leni den Fernseher aus und löschte das große Licht im Wohnzimmer. Bloß die kleine Stehlampe neben dem Sideboard ließ sie an. Dann legte sie sich den Schlafanzug über den Arm und stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf, wo sich das Gästezimmer befand, das als Jugendliche ihr Reich gewesen war.

Sie schaltete den kleinen Fernseher auf dem Schränkchen gegenüber dem Bett an. Es lief noch der Weihnachtsgottesdienst, dessen Anfang sie mit ihren Eltern angesehen hatte. Gerade sang ein Kinderchor Vom Himmel hoch, da komm ich her. Leni lauschte ergriffen den glockenklaren Kinderstimmen, bei deren Klang ihr wohlige Schauer über die Arme liefen. Früher hatte sie Chorgesängen nichts abgewinnen können, doch das hatte sich inzwischen geändert.

Während die Kinder ein weiteres Lied anstimmten, dachte Leni an die Weihnachtsabende ihrer Kindheit zurück, an denen auch sie oft mit Cousinen und Cousins Weihnachtslieder gesungen hatte. Es waren damals richtig große Feste mit der ganzen Familie gewesen, meistens mit traditionellem Gänsebraten mit Klößen und Rotkohl. Im Laufe der Zeit waren neben ihrem Opa auch weitere Familienmitglieder verstorben oder aus der Stadt fortgezogen. Die Feste waren kleiner geworden. Dennoch verging auch in ihrer Jugend kein Weihnachten, ohne dass über die Ahnen und die familiären Wurzeln gesprochen wurde. In Lenis Familie lagen diese in ganz Deutschland verteilt und teilweise auch im dänischen Grenzgebiet.

Dieses Jahr hätte es wieder ein größeres Familienfest werden können. Es wäre das erste in einer langen Reihe gewesen, dachte sie niedergeschlagen und wandte den Blick vom Fernseher ab. Was Armin wohl gerade machte?

Nachdem sie sich den Flanell-Schlafanzug angezogen hatte, griff sie nach ihrem Handy, das auf dem Bett lag. Zwei Freundinnen und eine ihrer Cousinen wünschten ihr und ihrer Familie ein fröhliches Fest. Keine von ihnen ahnte, was sich zuletzt in ihrem Leben zugetragen hatte. Leni hatte es bisher niemandem außer Karla erzählt.

Sie setzte sich auf das Bett und antwortete ebenso herzlich auf die Festtagswünsche, erwähnte den Brand aber mit keinem Wort. Weihnachten war dafür nicht der passende Anlass, das konnte sie auch im neuen Jahr noch tun.

Seufzend legte Leni das Handy schließlich neben sich und lehnte den Kopf nach hinten, gegen die Wand. Auf einen Weihnachtsgruß von Armin wartete sie zweifellos vergeblich. Sie warf wieder einen Blick auf das dunkle Display. Ob sie ihm einfach schreiben sollte? Natürlich hatte er um eine Pause gebeten, und die Zukunft ihrer Beziehung stand in den Sternen – aber es war doch Weihnachten! Das Fest der Liebe, der Vergebung und auch der Versöhnung.

Vielleicht wartete er sogar auf eine Nachricht von ihr. Schließlich hatte sie einiges gutzumachen. Da war ein Weihnachtsgruß doch sicherlich das Mindeste.

Sie überlegte kurz, wie sie ihre Worte formulieren sollte, dann tippte sie los.

Lieber Armin!

Ich wünsche dir und deinen Lieben fröhliche Weihnachten.

Bestimmt bist du noch bei deinem Bruder, und ihr feiert zusammen. Hoffentlich hast du eine schöne Zeit und kannst dich gut über die Feiertage erholen. Wahrscheinlich hast du eine weiße Weihnacht in der Schweiz. Wir fahren bald zu meiner Oma an die Küste, da schneit es nicht so oft.

Merry Christmas!

Leni

Ob sie die Nachricht so abschicken konnte? Wenn sie ehrlich war, wusste sie nichts von den aktuellen Umständen in Armins Leben. Sie konnte nur darüber spekulieren, wo er sich gerade befand und mit wem.

Was war, wenn er sich schon längst mit einer anderen tröstete? Leni schnappte nach Luft und rief sich ein paar Augenblicke später wieder zur Ordnung. Nein, so war Armin nicht. Sie kannte ihn doch. Er war nicht der Typ, der von einer zur nächsten wanderte. Oder?

Grübelnd ließ sie ihr Kennenlernen Revue passieren. Sie waren sich immer wieder im Fitnessstudio über den Weg gelaufen, bis Armin sie irgendwann zu einem Eiweiß-Shake eingeladen hatte. Zu dem Zeitpunkt war er über einen Monat von seiner letzten Freundin getrennt gewesen. Erst sechs Wochen später, nach der Shake-Einladung, hatten sie sich das erste Mal außerhalb des Fitnessstudios getroffen. Dann hatte es noch gute zwei Wochen bis zum ersten Kuss gedauert. Für Leni war es eine lange Zeit gewesen, in der sie sich oft gefragt hatte, ob Armin bloß mit ihr befreundet sein wollte oder er doch Interesse an einer Beziehung hatte.

Nein, nein. Ein Frauenheld war er gewiss nicht und auch niemand, der sein Herz leicht verschenkte. Nach dem, was sie ihm ungewollt angetan hatte, war es an ihr, ihm trotz aller Zurückhaltung zu zeigen, dass sie an ihn dachte und er ihr viel bedeutete.

Als sie auf senden tippte, spürte sie gleich, wie eine gewisse Zufriedenheit in ihr aufkam. Ihr Gefühl verstärkte sich, als einige Augenblicke später das zweite Häkchen hinter der Nachricht sichtbar wurde. Armin hatte ihren Weihnachtsgruß gelesen und … er schrieb! Leni triumphierte innerlich. Sie hatte es doch gewusst, es war eine gute Idee, aktiv zu werden.

Sie zog ihre Beine zu einem Schneidersitz heran. Irgendwann wechselte Armins Aktivität von schreibt zu online. Leni blickte gespannt auf die helle Anzeige ihres Handys. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis seine Nachricht bei ihr eintraf.

Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als ihr Handy plötzlich vibrierte und sein Name auf dem Display erschien. Ihr Herz stolperte zweimal, bevor es anfing schneller zu schlagen. Auf einen Anruf war sie nicht vorbereitet.

Ihre Hand zitterte leicht, als sie über das Display wischte und das Gespräch annahm. »Hallo, Armin. Schön, dass du anrufst, dann kann ich dir sogar persönlich noch frohe Weihnachten wünschen.« Ihre Stimme klang fröhlich und geradezu energiegeladen, wie sie zufrieden feststellte.