9,99 €
Thyra züchtet Rentiere in dem Dorf Tjarojakk. Sie ist seit langem mit Ragnar verlobt, und die beiden führen eine Beziehung mit viel Zuneigung, aber ohne Leidenschaft. Einem Hochzeitstermin weichen sie immer irgendwie aus. Nachdem die Dorfgemeinschaft beschließt, dass es bald soweit sein soll, lenken zwei Besucher von den Vorbereitungen ab. Der Schauspieler Krister ist in den USA berühmt, aber in den Weiten Lapplands kennt niemand seine Filme. Er begleitet seinen Großvater, der aus dem Dorf stammt und es noch ein Mal sehen will. Krister ist mit dem winterlichen Landleben völlig überfordert. Und obwohl Thyra ihn unmöglich findet, knistert es zwischen ihnen heftig ...
Ein zauberhafter Skandinavien-Roman mit romantischer Liebesgeschichte im tiefverschneiten Lappland
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 333
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Motto
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Oves Lussekatter
Annbritts Kanelbullar
Über das Buch
Thyra züchtet Rentiere in dem Dorf Tjarojakk. Sie ist seit langem mit Ragnar verlobt, und die beiden führen eine Beziehung mit viel Zuneigung, aber ohne Leidenschaft. Einem Hochzeitstermin weichen sie immer irgendwie aus. Nachdem die Dorfgemeinschaft beschließt, dass es bald soweit sein soll, lenken zwei Besucher von den Vorbereitungen ab. Der Schauspieler Krister ist in den USA berühmt, aber in den Weiten Lapplands kennt niemand seine Filme. Er begleitet seinen Großvater, der aus dem Dorf stammt und es noch ein Mal sehen will. Krister ist mit dem winterlichen Landleben völlig überfordert. Und obwohl Thyra ihn unmöglich findet, knistert es zwischen ihnen heftig … Ein zauberhafter Skandinavien-Roman mit romantischer Liebesgeschichte im tiefverschneiten Lappland
Über die Autorin
Ruth Bennett liebt lange Spaziergänge durch den Schnee, heißen Kakao am Kamin und das Funkeln der Sterne in kalten Winternächten. Sie entstammt einer Familie, in der die Tradition des Geschichtenerzählens stets hochgeachtet wurde. Eine Berufung, die sie zum Beruf machte. Wenn sie nicht gerade irgendwo in der Welt unterwegs ist, um sich für neue Bücher inspirieren zu lassen, lebt sie mit ihrer Familie in einer beschaulichen Kleinstadt.
Weitere Titel der Autorin:
Wintertraum in Kanada
RUTH BENNETT
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Beate De Salve Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de Covermotiv: © SanderStock / iStock / Getty Images Plus; Sjo / iStock / Getty Images Plus; Biletskiy_Evgeniy / iStock / Getty Images Plus; mmac72 / iStock / Getty Images Plus Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, PößneckISBN978-3-7517-7392-8
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
»Glaub nicht alles, was man über Lappland erzählt. Es ist vielleicht kälter als anderswo, aber die Wärme der Menschen dort ist unvergleichlich.«
(Verfasser unbekannt)
In der vergangenen Nacht hatte es zum ersten Mal geschneit.
»Tjakttjadálvvie«, flüsterte Thyra.
Sie gehörte zum indigenen Volk der Sámi. Auch wenn die meisten von ihnen inzwischen sesshaft geworden waren, pflegten sie weiterhin ihre Kultur und ihre Traditionen. Dazu gehörte vor allem ein Leben im Einklang mit der Natur, deren steten Wandel sie so genau beobachteten, dass sie das Jahr nicht in vier, sondern in acht Jahreszeiten unterteilten. Tjakttjadálvvie war der Frühwinter, die Zeit der Stille und des Wartens, während das Erdreich unter der Schneedecke schlief.
Thyra stand auf einer bewaldeten Anhöhe und beobachtete ihre Rentiere auf der Winterweide. Elegant und anmutig bewegten sich die Tiere durch den schimmernden Schnee. Ihre Geweihe trugen die Erinnerungen an unzählige Winter in dieser rauen Umgebung. Es waren überwiegend weibliche Tiere, die ihr Geweih noch bis ins Frühjahr trugen. Die meisten Bullen warfen es bereits im Herbst ab.
Mit jedem Schritt hinterließen die Tiere Spuren im frisch gefallenen Schnee, die wie kunstvolle Muster aussahen. Die Herde bewegte sich in einer synchronen, beinahe tänzerisch anmutenden Bewegung, als ob sie die Schönheit der Natur um sich herum feierte. Die Sonne brach durch die Wolkendecke und ließ den Schnee auf den Bäumen glitzern, sodass es aussah, als ob Tausende von Diamanten in der Luft schwebten.
Diese Magie des Nordens nahm Thyra gefangen, so wie jedes Jahr. Alles war so vertraut und doch immer wieder neu. Hier, im beginnenden Winter, spürte sie die uralte Beziehung zwischen ihrem Volk und der Natur besonders stark.
Erschrocken schrie sie auf, als ein Stoß in den Rücken sie unsanft zu Boden beförderte.
»Gillis!« Lachend rappelte sie sich auf und klopfte sich den Schnee von der Jacke.
Das Rentier schnaubte ungeduldig.
»Du solltest zu ihnen gehen.« Thyra wies auf die Herde. »Da unten ist deine Familie.«
Gillis starrte sie an. Die Farbe seiner Augen, die im Sommer bernsteinfarben schimmerten, hatte sich in den letzten Tagen in ein winterliches Graublau verwandelt.
Diese Veränderung der Augenfarbe war eine Anpassung an die extremen Lichtverhältnisse in den arktischen Regionen, in denen Rentiere lebten. In der warmen Jahreszeit, wenn die Tage kein Ende nahmen, leuchteten Gillis’ Augen wie warmer Bernstein und bildeten einen harmonischen Kontrast zu dem satten Grün der umgebenden Landschaft. Doch mit dem nahenden Winter, wenn die Sonne ihren Bogen am Himmel verkürzte und die langen Nächte einsetzten, veränderte sich die Magie in seinen Augen. Das goldgelbe Funkeln wurde zu einem sanften Graublau, das im Winterdunkel die zarte Spiegelung des Nordlichts zu reflektieren schien. Thyra war überzeugt, dass sich in den Augen eines Rentiers die Seele Lapplands widerspiegelte.
Gillis war nicht das erste Rentier, das Thyra von Hand aufgezogen hatte. Aber es war das erste, das sich als erwachsenes Tier standhaft weigerte, in die Herde zurückzukehren. Auch heute beobachtete er die Herde nur aus der Ferne und folgte Thyra, als sie sich auf den Heimweg machte.
Der frisch gefallene Schnee knirschte unter ihren Füßen und ließ die Landschaft ringsum endlos erscheinen. Die Bäume waren mit einer Puderschicht bedeckt und standen dichter beieinander, je näher sie ihrem Dorf kam.
Hinter der nächsten Biegung konnte sie die roten Holzhäuser erkennen, die sich unter hohen Kiefern duckten und aussahen, als wären sie dick mit Watte zugedeckt. Aus den Schornsteinen quoll Rauch.
»Wir sind wieder zu Hause, Gillis«, sagte Thyra lächelnd.
Das Dorf Tjarojakk lag vor ihr wie eine vertraute Oase im winterlichen Schneeglanz. Für Thyra war dieses kleine Dorf in Lappland nicht nur irgendein Ort, sondern die ganze Welt – ihre Welt.
Krister stand auf der Terrasse seines Hauses und ließ den Blick über die endlosen Weiten des Pazifiks gleiten. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in ein Kaleidoskop aus warmen Farben – Gold, Orange und sanftes Rosa verschmolzen miteinander und warfen ein magisches Leuchten auf das ruhige Wasser. Eine leichte Brise strich ihm durch die Haare und trug den salzigen Duft des Meeres zu ihm herüber.
Der Klang der Wellen, die ans Ufer rollten, war wie ein Willkommensgruß. Das spürte er immer besonders stark, wenn er nach den Dreharbeiten hierher zurückkehrte. Dies war der Ort, an dem er zur Ruhe kam, hier konnte er seine Gedanken ordnen. Malibu war in den vergangenen acht Jahren zu seinem Zuhause geworden, lediglich sein Großvater Ove erinnerte Krister regelmäßig daran, dass er eigentlich aus Schweden stammte.
Das Klingeln an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken, und er eilte durch den großen Wohnraum zur Haustür. Dort hielt er inne und sammelte sich einen Moment, bevor er ihr öffnete.
Sie war so unglaublich sexy. Nicht sehr groß, aber wohlproportioniert. Das eng anliegende Kleid schmiegte sich in changierenden Grüntönen an ihren Körper, und das blonde Haar war zu einem glatten Bob geschnitten. Aus ihren blauen Augen blitzte sie ihn übermütig an, als sie die Hände in die Hüften stemmte und sich leicht nach rechts und links drehte.
»Mit diesem Outfit bin ich zweifellos der Star des Abends, findest du nicht?«
»Zweifellos«, konterte er trocken. »Zumal wir nur zu zweit sind und mein Outfit mit deinem in keiner Weise mithalten kann.«
Ihr Blick glitt an ihm hinab. Wie so oft trug er Jeans und ein T-Shirt.
»Stimmt. Aber das macht nichts, ich bin schön genug für uns beide.«
»Du bist vor allem ziemlich frech. Du solltest dir Josie nicht zu sehr zum Vorbild nehmen.«
Sie spielten beide eine der Hauptrollen in der Krimiserie Glimmer of Guilt. Nach dem großen Erfolg der beiden ersten Staffeln hatte die Produktionsfirma beschlossen, dass es eine Fortsetzung geben würde. Ein Großteil der Dreharbeiten war bereits abgeschlossen.
Anouk spielte die Gerichtsmedizinerin Josie, während Krister die Rolle des Polizisten Mike Sullivans übernommen hatte.
Die beiden kamen in der Serie scheinbar nicht besonders gut miteinander zurecht, und doch war das Knistern zwischen ihnen deutlich zu spüren. Es gab immer wieder kurze Szenen, in denen sie sich sehr nahe kamen, auch wenn es nie in einem Happy End gipfelte.
»Warum nicht? Ich finde es ganz spannend, was da zwischen Josie und Mike passiert.« Lächelnd ging sie an ihm vorbei ins Haus und schaute sich um. Natürlich fiel ihr Blick zuerst auf die gläserne Verandatür und den tiefblauen Pazifik dahinter. »Wow!«
»Das dachte ich auch, als ich das erste Mal hier reinkam.« Krister schloss die Tür.
Ohne zu fragen oder auf eine Aufforderung zu warten, begann Anouk ihre Besichtigungstour durch das Haus. Der große Wohnraum, in den man direkt durch die Eingangstür kam, wirkte durch sein luxuriöses, aber leicht abgenutztes Ambiente. Das Zimmer war ausgestattet mit bequemen Ledersofas und einem imposanten Kamin, der oft als Mittelpunkt gesellschaftlicher Zusammenkünfte diente.
Die Wände waren mit exzentrischen Kunstwerken und unkonventionellen Deko-Elementen geschmückt, die Kristers eigenwilligen Lebensstil widerspiegelten. Auf dem Boden lag ein edler, wenn auch etwas ramponierter Teppich, der Geschichten von vergangenen Eskapaden zu erzählen schien. Die großen Fenster ließen viel Tageslicht herein und boten über die Terrasse hinweg einen traumhaften Blick auf den Pazifik.
Gleich neben dem Wohnzimmer war die Küche.
»Hier brutzelt ja nichts«, stellte Anouk verwundert fest. »Wolltest du nicht für mich kochen?«
Krister verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Je nachdem, wie der Abend so läuft, will ich vielleicht, dass du wiederkommst. Deshalb unterlasse ich lieber eigene Kochversuche. Ich habe Essen bestellt.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Es wird in einer halben Stunde geliefert.«
Anouk ging zurück in den Wohnraum und schaute zur Treppe, die bis zu einem Podest führte. Auch hier bot ein riesiges Fenster eine spektakuläre Aussicht auf den Pazifik. Linksherum führten die Stufen dann weiter ins Obergeschoss.
»Da oben ist dein Schlafzimmer?«
»Unter anderem.« Krister grinste. »Soll ich es dir zeigen? Wir haben genug Zeit, bis das Essen kommt.«
Anouk schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich genieße lieber noch ein bisschen die Aussicht aufs Meer. Das Schlafzimmer kann warten.«
»Wie du meinst«, entgegnete er achselzuckend. »Wir haben es ja nicht eilig.«
Anouk stieß leicht mit der Faust gegen seinen Arm. »Soll das heute Abend eigentlich so etwas wie ein Date sein?«
»Das frage ich mich selbst.« Krister musterte sie von Kopf bis Fuß. »Also, ich finde dich sexy …« Er brach ab.
»Da schwingt so ein unausgesprochenes Aber mit«, stellte Anouk fest.
Krister nickte. »Es knistert nicht wirklich zwischen uns.« Fragend schaute er sie an. »Oder?«
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie den Kopf schüttelte. »Nein, absolut nicht. Ich mag dich wirklich gern …«
Krister musste lachen. »Da klingt bei dir aber auch ein sehr lautes Aber mit.«
»Wir sind eben nicht Josie und Mike. Zwischen den beiden besteht eine intensive Spannung. Wir sind einfach nur Krister und Anouk. Schade eigentlich.« Sie betrachtete ihn auf dieselbe Art und Weise, wie er es eben bei ihr gemacht hatte. »Ich finde dich nämlich auch ziemlich scharf, also rein optisch. Und eigentlich würde alles passen. Wir sind Schauspieler, ziemlich erfolgreich und kommen beide aus Schweden. Wir mögen uns, finden einander attraktiv, aber … Warum ist da nicht mehr?«
»Vielleicht sollten wir uns einfach erst mal etwas besser kennenlernen«, schlug Krister nach kurzem Nachdenken vor. »Ich würde mich gerne darauf einlassen.«
»Ja, vielleicht …« Anouk brach ab, als Kristers Handy klingelte.
Er warf einen Blick auf das Display und erkannte die Nummer des Seniorenheims in Stockholm, in dem sein Großvater seit knapp einem Jahr lebte.
»Tut mir leid, aber das ist wichtig«, stieß er hastig hervor, bevor er das Gespräch annahm.
»Hej, här är Krister«, meldete er sich.
Seine Gesprächspartnerin antwortete ebenfalls auf Schwedisch.
»Hier ist Inga. Gut, dass ich dich sofort erreiche. Krister, wir haben ein Problem. Dein Großvater ist verschwunden.«
Die Anschnallzeichen leuchteten auf, und das Ruckeln des Fahrwerks, das in diesem Moment ausgefahren wurde, war deutlich zu spüren. Durch das Fenster konnte Krister den Flughafen Arlanda erkennen.
Seit nunmehr fast fünfzehn Stunden war er unterwegs, von Los Angeles nach Stockholm, mit einer Zwischenlandung in London. Nach Ingas Anruf hatte er die nächste Maschine nach Schweden gebucht, während Anouk sich über die Köstlichkeiten hergemacht hatte, die er für ihr Date bestellt hatte. Sie war noch im Haus gewesen, als sein Taxi gekommen war, um ihn zum Flughafen zu fahren.
Als die Maschine zur Landung ansetzte und allmählich ausrollte, schaltete Krister den Flugmodus auf seinem Handy aus. Prompt bekam er die Meldung, dass eine SMS eingegangen war. In der Hoffnung, dass es sich um eine Nachricht von Inga handelte, öffnete er sie. Die SMS war jedoch von Anouk.
Vielen Dank für die Einladung, schrieb sie. Das Essen hat ausgezeichnet geschmeckt, und dein Haus ist toll, nur du hast gefehlt. Vielleicht versuchen wir es noch einmal zu zweit, wenn du wieder zu Hause bist. Dahinter war ein lachendes Smiley mit Herzen.
Das machen wir, schrieb er zurück. Ich freue mich jetzt schon darauf. Dann steckte er das Handy wieder ein.
»Wir bitten alle Gäste, sitzen zu bleiben, bis die endgültige Position erreicht ist, und wünschen einen angenehmen Aufenthalt in Stockholm.«
Noch während die Stewardess sprach, erhoben sich die ersten Passagiere und öffneten die Gepäckfächer über ihren Sitzen. Kaum stand die Maschine still, kam es zu dem üblichen Gedränge.
Krister verspürte keine Lust, sich da einzureihen. Er blieb ruhig auf seinem Platz sitzen und schaute aus dem Fenster.
Etwas mehr als ein Jahr war seit seinem letzten Besuch in Stockholm vergangen …
Er verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln, als er daran dachte. Auch damals hatte er die Reise wegen seines Großvaters angetreten. Allerdings war es kein erfreuliches Wiedersehen gewesen, sondern für beide sehr schmerzlich.
»Großer Vater!« Seine Lippen bildeten diese Worte nur, ohne sie auszusprechen.
Ove war für ihn immer Großvater und Vater zugleich gewesen. Daraus hatte sich dann diese ganz besondere Anrede gebildet.
Als Kristers Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, hatte Ove sein geliebtes Tjarojakk verlassen, war nach Stockholm gezogen – und geblieben. Er hatte sich des anfangs verstockten kleinen Jungen angenommen, der einfach nicht einsehen wollte, dass die Eltern nie mehr zurückkommen würden. Dabei hatte Ove selbst um seinen einzigen Sohn und seine Schwiegertochter getrauert.
»Fliegst du mit uns zurück?«, riss ihn die Stimme der Stewardess aus seinen Gedanken.
Das offensichtliche Interesse in ihren Augen entlockte ihm ein Lächeln.
»Leider nicht.« Er seufzte tief. »Obwohl ich nichts lieber tun würde.«
»Du bist Krister Åkerman.« Es war nicht klar erkennbar, ob es sich um eine Frage oder eine Feststellung handelte.
»Ich wusste nicht, dass man mich in Schweden kennt«, entgegnete er erstaunt, und das stimmte. Sein Großvater schaute keine Krimis, und andere Verwandte hatte er nicht. Auch der Kontakt zu Freunden aus seiner Schul- und Studentenzeit war in den Jahren, die er in Kalifornien verbracht hatte, allmählich eingeschlafen.
»Natürlich!« Die Stewardess strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Glimmer of Guilt wird auch hier gezeigt. Aber bisher sind bei uns in Schweden erst zwei Folgen gelaufen. Ich kenne die Serie vor allem aus den Staaten. Ich habe gelesen, dass gerade eine neue Staffel gedreht wird.«
Krister nickte zustimmend.
Die Stewardess beugte sich ein wenig vor und flüsterte: »Kommen Josie und Mike dann endlich zusammen?«
»Wenn ich dir das verrate, ist doch die ganze Spannung weg.«
Sie schaute ihn enttäuscht an. »Nicht einmal eine kleine Andeutung?« Ihr Blick bekam etwas Lockendes. »Ich hätte heute Abend Zeit, dann könnten wir uns in Ruhe darüber unterhalten.«
Sie war hübsch, und zweifellos hätte er unter anderen Umständen sofort die Gelegenheit ergriffen, sich mit ihr zu verabreden. Aber er vergaß keine Sekunde, weshalb er in Schweden war.
Storfar!
»Ich kann nicht.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Leider.«
»Schade.« Sie richtete sich auf. Ihr Lächeln wirkte mit einem Mal unverbindlich, als sie sich verabschiedete.
»Ja, schade«, sagte er leise und nur für sich.
Inzwischen hatte sich das Flugzeug fast vollständig geleert. Zwei Männer gingen an seinem Platz vorbei. Einer der beiden kam offensichtlich aus Deutschland, wie am Akzent zu erkennen war. Der andere, ein Schwede, erklärte ihm gerade, dass sich in Schweden alle duzen. »Nur Mitglieder des Königshauses werden gesiezt!« Dann waren die beiden auch schon vorbei.
Krister erhob sich nun ebenfalls, nahm seine Reisetasche aus dem Fach über dem Sitz und verließ die Maschine. Mehr Gepäck hatte er nicht dabei, weil er hoffte, dass er schon in ein paar Tagen zurückfliegen konnte.
Die Straßen waren mit einer dünnen Schicht aus Matsch bedeckt, und am Straßenrand waren nur noch grauweiße Schneereste zu sehen. Stockholm begrüßte ihn genau so, wie es sich vor einem Jahr von ihm verabschiedet hatte: trist und schmuddelig.
Er war mit dem Arlanda Express vom sechsunddreißig Kilometer entfernten Flughafen bis zum Hauptbahnhof gefahren. Hier stieg er in ein Taxi.
»Söder Mälarstrand, Seniorenzentrum, bitte.«
Der Taxifahrer, ein älterer Mann mit freudloser Miene, nickte wortlos und fuhr los.
Es waren vertraute Viertel, die Krister durchs Fenster sah. Die Wohnung, in der er zuerst mit seinen Eltern und später mit seinem Großvater gelebt hatte, war hier auf Södermalm – in einer der kleinen Gassen, in der die Häuser so nahe beieinander standen, dass sie sich gegenseitig das Sonnenlicht nahmen. Oves luxuriöses Zimmer im Seniorenzentrum war größer, als es das gesamte Apartment gewesen war. Und doch hatte er sich da offensichtlich nie richtig wohlgefühlt …
Plötzlich bemerkte Krister, dass der Taxifahrer ihn immer wieder von der Seite anschaute. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte der Mann plötzlich.
»Ich kenne dich«, sagte er.
»Ach ja?« Krister lächelte zurück.
»Ich habe dich in einem Film gesehen.«
Krister fühlte sich geschmeichelt, weil er neuerdings auch in seiner Heimat erkannt wurde.
»Du bist Chris Hemsworth«, stellte der Taxifahrer fest. »Meine Frau und meine Tochter schwärmen so sehr für dich, dass ich dich eigentlich auf der Stelle aus dem Auto werfen müsste.«
Krister war unschlüssig, ob die Bemerkung tatsächlich nur ein Scherz sein sollte. Vielleicht schimmerte doch ein kleiner Anflug von Ernst hindurch?
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Chris Hemsworth ist Australier und spricht, soviel ich weiß, kein Wort Schwedisch. Mir wurde aber schon oft eine gewisse Ähnlichkeit nachgesagt.«
Eine amerikanische Boulevardzeitung hatte ihn unlängst als den schwedischen Chris Hemsworth bezeichnet. Ein Vergleich, der Krister nicht besonders behagte, weil er lieber als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen werden wollte.
Ebenso wie der australische Schauspieler imponierte er durch eine athletische Erscheinung. Sein Haar war allerdings etwas dunkler und kurz gestylt, ebenso wie der Bart. Doch seine Augen waren ebenso strahlend blau, und sein Gesicht zeichnete sich durch markante Züge aus. Seine beeindruckende physische Präsenz wurde durch seine Größe von fast einem Meter neunzig unterstrichen.
»Schade. Ich hätte meiner Frau und meiner Tochter gerne ein Autogramm von Chris Hemsworth präsentiert.« Das Lächeln auf dem Gesicht des Taxifahrers erlosch, und für den Rest der Fahrt versank er wieder in tiefem Schweigen.
Fünf Minuten später hatten sie das Seniorenzentrum erreicht. Krister bezahlte und gab ein großzügiges Trinkgeld, was den Fahrer aber nicht zu einem erneuten Lächeln animierte. Wahrscheinlich nahm er es ihm immer noch übel, dass er nicht Chris Hemsworth war.
Krister stieg aus. Er bekam kaum mit, dass das Taxi weiterfuhr, weil sich die Aufregung und die Sorge um seinen Großvater mit einem Schlag ins schier Unermessliche steigerten.
Vielleicht ist er inzwischen zurückgekehrt!
Krister schaute auf sein Handy. Keine Nachricht von Inga. Sie hätte ihn sicher informiert, wenn sein Großvater inzwischen gefunden worden wäre.
Nachdenklich betrachtete er das Seniorenzentrum, das er für seinen Großvater ausgesucht hatte. Es war ein elegantes Gebäude, das sich majestätisch entlang des Söder Mälarstrand erstreckte. Die sorgfältig restaurierte Fassade schien von der jahrhundertealten Geschichte Stockholms zu erzählen.
Das Seniorenstift strahlte eine Mischung aus Tradition und Moderne aus. Große Fensterfronten ermöglichten den Bewohnern einen atemberaubenden Blick auf den Riddarfjärden und die auf den Wellen schaukelnden Boote.
Mit einem tiefen Seufzer löste sich Krister von dem Anblick und betrat das Haus durch die gläsernen Türen, die sich automatisch öffneten, als er herantrat. Ein freundlicher Empfangsbereich, verziert mit Gemälden und frischen Blumen, lud die Bewohner und Besucher ein. Warme Farben und gemütliches Mobiliar prägten bereits diesen Teil des Hauses, und dieses Konzept setzte sich in allen Gemeinschaftsräumen und Privatzimmern fort.
Der halbrunde Empfangstresen befand sich gleich neben dem Eingang. Geradeaus ging es zu einer geschwungenen Treppe, die ins Obergeschoss führte. Es gab aber auch einen Aufzug für die Bewohner, denen das Treppensteigen inzwischen zu beschwerlich war.
Ein prasselndes Kaminfeuer verbreitete wohlige Wärme. Zwei ältere Damen saßen in tiefen Sesseln davor und unterhielten sich leise. Kurz nur streiften ihre Blicke Krister, bevor sie ihre Unterhaltung fortsetzten.
Ein dezenter Ton kündigte den Halt des Aufzuges an. Krister erwartete Inga, doch es war ein älterer Mann, der sich an seinem Rollator festhielt und zum Ausgang strebte.
Inga erschien wenige Sekunden später. Während sie auf ihn zueilte, ordnete sie die dunklen Locken, die ihr bis über die Schultern fielen. Als sie vor ihm stand, nestelte sie noch schnell am Kragen ihres Kostüms. Sie war eine attraktive Erscheinung und wahrscheinlich viel älter, als sie auf den ersten Blick wirkte. Das verrieten ihm der Ausdruck ihrer Augen und die Fältchen über der Oberlippe, die sich nicht mehr völlig kaschieren ließen.
»Da bist du ja.« Sie lächelte und wirkte ganz so, wie er sich die Leiterin eines teuren Seniorenheims vorstellte. Scheinbar alterslos, freundlich und adrett.
Krister nickte. »Wie verabredet.«
»Entschuldige bitte, dass ich mich verspätet habe. Wir hatten da einen Notfall …« Der Satz blieb unvollendet.
Krister zog eine Augenbraue in die Höhe. »Noch einen Notfall?«
Ihr schien erst jetzt bewusst zu werden, dass ihre Worte angesichts der Situation um seinen Großvater nicht gerade vertrauenerweckend wirkten.
»Das ist … Ich meine …« Sie hielt inne, holte tief Luft und sammelte sich. »Es ging um das gesundheitliche Problem eines Bewohners«, erklärte sie dann. »Das kommt bei alten Menschen leider hin und wieder vor.« Sie lächelte maliziös. »Wir haben es allerdings noch nie erlebt, dass einer unserer Gäste einfach weggelaufen ist.«
»Hast du inzwischen etwas von ihm gehört?«
»Dann hätte ich mich längst bei dir gemeldet.« Inga schüttelte den Kopf. »Auch die Polizei hat keinerlei Anhaltspunkte, wo er sein könnte.«
»Was ist mit unserer alten Wohnung?«
Wieder schüttelte Inga den Kopf. »Ich habe sogar einen meiner Pfleger abgestellt, damit er das Haus beobachtet. Ove hat sich dort nicht blicken lassen.«
»Wo kann er nur sein?«, fragte Krister leise.
Verzweifelt überlegte er, welche Freunde seines Großvaters noch lebten und bei wem er Unterschlupf gefunden haben könnte. Sten fiel ihm ein, ebenso wie Bror. Mit den beiden hatte Ove sich früher oft zum Skatspielen getroffen, aber beide lebten längst nicht mehr.
»Er ist hier nicht sehr glücklich«, sagte Inga ohne jeden Vorwurf, es war lediglich eine Feststellung.
»Ich weiß.« Krister schaute sie verzweifelt an. »Aber es gab keine andere Möglichkeit, nachdem er nicht mehr allein in der Wohnung bleiben konnte.«
Gleich zweimal hatte Ove vergessen, den Herd auszuschalten. Beim ersten Mal war ihm nur das Essen angebrannt, doch beim zweiten Mal wäre fast die Küche in Brand geraten, weil er eine Pfanne mit Öl aufgestellt und dann nicht mehr daran gedacht hatte. Ein anderes Mal hatte er seine Wohnungsschlüssel vergessen und eine ganze Nacht auf der Treppe vor der Wohnung verbracht, bis ihm am nächsten Morgen ein Nachbar zu Hilfe kam.
Genau dieser Nachbar hatte Ove am nächsten Tag erneut auf der Treppe gefunden. Diesmal war er zusammengebrochen, weil er aus Versehen zu viel seines Herzmittels eingenommen hatte.
Ove war ins Krankenhaus eingeliefert worden, und der behandelnde Arzt hatte Krister informiert.
»Wir können aber nicht länger die Verantwortung für Ove übernehmen, wenn auch weiterhin die Gefahr besteht, dass er einfach verschwindet«, sagte Inga in seine Gedanken hinein.
»Ja, das verstehe ich«, murmelte Krister hilflos.
Er hatte keine Ahnung, wie er die Betreuung seines Großvaters zukünftig regeln sollte. Am liebsten hätte er ihn nach Malibu mitgenommen, aber das hatte sein Großvater bereits vor einem Jahr strikt abgelehnt.
»Ich bin zu alt, um meine Heimat zu verlassen«, hatte er damals gesagt. »Hier ist alles, was mein Leben ausgemacht hat. Und hier ist das Grab deiner Eltern …«
»Ich weiß, wo ich nach ihm suchen muss«, stieß Krister hervor.
Auf dem Weg nach draußen zückte er bereits sein Handy, um erneut ein Taxi zu rufen.
Erinnerungen prasselten auf ihn ein, als er eine halbe Stunde später den Skogskyrkogården betrat. Der Tod seiner Eltern, die Beerdigung …
Kälte begleitete ihn auf den Wegen. Krister steckte die Hände in die Manteltaschen, während er eilig weiterging. Doch er war lange nicht mehr hier gewesen und musste immer wieder innehalten, um sich zu orientieren.
Kein Mensch begegnete ihm, nur das Krächzen eines Raben war zu hören. Die Grabsteine zwischen den Kiefern ragten wie stille Wächter empor, ihre verwitterten Inschriften Zeugen vergangener Leben.
Endlich erreichte er das Grab seiner Eltern, doch sein Blick galt der Bank auf der gegenüberliegenden Seite. Sie war leer. Auch sonst war weit und breit niemand zu sehen.
Tiefe Enttäuschung erfasste ihn.
Was habe ich denn erwartet?, schoss es ihm durch den Kopf.
Sein Großvater war seit fast zwei Tagen verschwunden, und er hatte sicher nicht die ganze Zeit auf der Bank neben dem Grab verbracht. Schon gar nicht bei dieser Kälte.
War er überhaupt hier gewesen?
Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass er sich besser zunächst einmal gründlich im Zimmer seines Großvaters umgesehen hätte, um da einen Hinweis auf dessen Aufenthaltsort zu finden.
»Wo bist du nur, Großer Vater?«, flüsterte er verzweifelt.
Krister setzte sich auf die Bank, fest entschlossen, so lange wie möglich zu warten.
Die Zeit verging unendlich langsam. Immer wieder schaute er auf seine Uhr. Es waren erst zehn Minuten vergangen, aber ihm kam es so vor, als säße er bereits seit einer halben Stunde auf der Bank. Mindestens …
»Ich wusste, dass du kommst«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Krister sprang auf und fuhr herum. »Großer Vater!«
Ove sah blass aus und schien im vergangenen Jahr besonders stark gealtert zu sein.
»Wo warst du?«
Ove lächelte matt. »Ich wusste, dass du hierherkommen würdest«, wiederholte er und wich damit einer direkten Antwort aus.
Krister hob beide Hände und ließ sie schließlich wieder fallen.
»Warum?«, stieß er hilflos hervor.
Sein Großvater schaute ihn an. Lange. Schweigend.
»Ich will nach Hause«, kam es dann plötzlich leise über seine Lippen.
Krister nickte erleichtert. Was immer Ove dazu getrieben hatte, einfach zu verschwinden, jetzt schien er endlich wieder vernünftig zu sein.
»Gut«, stimmte er zu und zückte sein Handy. »Ich bringe dich nach Hause. Inga wird auch froh sein, dass dir nichts passiert ist.«
Oves Miene verfinsterte sich. »Das Altersheim ist nicht mein Zuhause. Ich will nach Tjarojakk!«
»Du verlässt uns also wirklich schon morgen?«, stellte Thyra bedrückt fest. Ihr Blick ruhte auf den halb gepackten Koffern.
»Schon?« Greta, die hektisch ihre Habseligkeiten sortierte, hielt inne und wandte sich ihrer Freundin zu. Ein Ausdruck von Wehmut lag in ihren Augen, als sie sich auf das Bett neben Thyra setzte. »Du weißt, meine Mutter braucht mich in Malmö. Sie kann nicht mehr allein leben. Eigentlich müsste ich längst bei ihr sein«, sagte sie leise. »Ich wollte ja bleiben, bis die Gemeinde einen Ersatz für mich gefunden hat, aber jetzt geht es einfach nicht mehr anders.«
Thyra nickte verständnisvoll. Gretas Mutter war gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen, deshalb konnte sie nicht länger warten.
Thyra hatte keine Ahnung, wie sie sich ein Leben ohne ihre beste Freundin vorstellen sollte. Ihre engste Vertraute, mit der sie über alles reden konnte, verließ Tjarojakk. Für immer.
Gleichzeitig schämte sie sich, weil sie in diesen Minuten nur an sich dachte, denn mit Greta verlor Tjarojakk die einzige Lehrerin der Dorfschule. Der Gemeinde war es bisher nicht gelungen, eine neue Lehrkraft für die fünf Kinder zwischen sechs und sieben Jahren zu finden, die die Grundskola in Tjarojakk besuchten. Weder die geringe Klassengröße noch das mietfreie Haus, in dem Greta zurzeit wohnte, lockten eine neue Lehrkraft an.
»Warum kann deine Mutter nicht zu dir ziehen?« Thyra machte eine ausholende Handbewegung. »Platz ist hier doch genug.«
»Ich habe lange darüber nachgedacht, aber mir ist das einfach zu gefährlich. Du weißt selbst, wie heftig die Winter hier sind. Die Vorstellung, dass meine Mutter dringend einen Arzt braucht und wir nicht schnell genug nach Jokkmokk kommen …« Greta brach ab und schüttelte den Kopf.
»Ja.« Mehr sagte Thyra nicht.
Die Freundinnen hatten schon so oft über diese Befürchtung gesprochen, aber Thyra hatte Greta die Angst nicht nehmen können. Auch nicht mit dem Hinweis darauf, dass es schließlich einige alte Menschen in Tjarojakk gab, nicht zuletzt ihren Großvater Gösta, mit dem sie zusammenlebte.
Allerdings erfreute sich Gösta trotz seiner fünfundachtzig Jahre bester Gesundheit. Wenn er so krank gewesen wäre wie Gretas Mutter, hätte sie wahrscheinlich auch anders darüber gedacht.
Traurig schaute sie Greta an. »Ich werde dich so sehr vermissen.«
Greta griff nach ihrer Hand. »Du wirst mir auch fehlen. Aber wir telefonieren oft miteinander.« Ihr Gesicht verzog sich allmählich zu einem breiten Grinsen. »Und ich komme auf jeden Fall im nächsten Sommer zu deiner Hochzeit.«
»Das erwarte ich auch«, murmelte Thyra und wich den prüfenden Blicken ihrer Freundin aus.
»Ihr heiratet doch im nächsten Jahr?«, hakte Greta nach.
Thyra ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ja … Vielleicht …«
Sie kannte Ragnar bereits ihr ganzes Leben. Sie waren miteinander aufgewachsen, hatten zusammen die Schule besucht und waren immer schon beste Freunde gewesen. Sie schienen füreinander bestimmt zu sein, auch wenn Thyra sich nicht daran erinnern konnte, wann sie zu dieser Erkenntnis gekommen war. Nach dem ersten Kuss? Oder …
»Das ganze Dorf wartet darauf«, durchbrach Greta ihre Gedanken und ließ ihre Hand los.
»Ragnar und ich … Die Sommer sind einfach zu kurz. Wir hatten noch keine Zeit für die Planung.«
»Vier lange Winter dürften eigentlich reichen, um eine Sommerhochzeit zu planen.« Greta schmunzelte. »Das denken übrigens alle hier. Ich glaube, die Leute fühlen sich um eine Hochzeit betrogen, auf die sie sich alle freuen.«
Thyra seufzte. »Manchmal ist es komplizierter, als es scheint.«
»Das behauptet Ragnar auch ständig. Ich bin nicht sicher, ob die Nachbarn euch das noch glauben, aber sie haben beschlossen, die ganze Sache ein wenig zu beschleunigen.«
»Wie bitte?« Thyra starrte sie entgeistert an.
Greta begann laut zu lachen. »Die Dorfbewohner haben entschieden, dass die Hochzeit im nächsten Sommer stattfinden wird.«
Für einen Moment verschlug es Thyra die Sprache.
»Aber … aber sie können uns doch nicht vor den Altar zwingen«, stammelte sie dann.
Gretas Miene wurde ernst und prüfend. »Müssten sie das denn?«
»Nein, natürlich nicht!«, versicherte Thyra hastig. »Aber es ist immer noch Ragnars und meine Angelegenheit, unsere Hochzeit zu organisieren.«
»Das stimmt.« Greta griff erneut nach ihrer Hand, um sie kurz und fest zu drücken. »Ich verrate es dir ja auch, damit die geplante Überraschung für dich keine unangenehme wird.« Greta schaute sie an, schien ihre nächsten Worte sorgfältig zu überlegen. »Wenn ihr euch nicht sicher seid, dass ihr euer restliches Leben miteinander verbringen wollt, wäre eine klare Ansage an alle eure Nachbarn und Freunde vorteilhaft.«
»Natürlich sind wir uns sicher. Danke, dass du mich vorgewarnt hast. Auf keinen Fall werden andere darüber bestimmen, wann und wie wir heiraten.«
»Du sagst mir aber rechtzeitig Bescheid, wenn es so weit ist«, bat Greta. »Ich will auf jeden Fall dabei sein.«
»Natürlich.« Thyra erhob sich. »Ich möchte doch, dass du meine Trauzeugin wirst.«
Greta stand ebenfalls auf.
»Es wird mir eine Ehre sein«, verkündete sie feierlich, bevor sie wieder in lautes Lachen ausbrach. »Übrigens ganz egal, wen du heiratest …«
Hundegebell war zu hören, als Thyra sich den beiden Häusern am anderen Ende des Dorfes näherte. Ragnar hatte seine Schneemobile aus dem Schuppen geholt und bereitete sie für die kommende Wintersaison vor. Noch hatte er Thyra nicht bemerkt.
Sie blieb stehen, beobachtete ihn und versuchte dabei zu ergründen, was sein Anblick in ihr auslöste.
Ihr Herz klopfte nicht schneller, und sie bekam auch keine weichen Knie. Doch da war ein so inniges, wärmendes Gefühl, wie sie es bei keinem anderen Menschen je empfunden hatte. Das musste Liebe sein, auch wenn die in den Büchern, die sie abends las, oft anders beschrieben wurde.
Husky Sam, der sich die ganze Zeit über einen frechen Raben ärgerte, schaute plötzlich in ihre Richtung. Seine hektisch hin- und herschlagende Rute verriet, wie sehr er sich freute.
Unwillkürlich lächelte Thyra. Thor, Sams Bruder, lebte bei ihr und Gösta. Ragnar hatte ihr den Hund zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Damals war er noch ein Welpe gewesen.
In seinen jungen Jahren war Thor viel bei Ragnar gewesen, um mit seinem Bruder herumzutollen. Doch jetzt, im fortgeschrittenen Alter, zog er geruhsame Spaziergänge mit Thyras Großvater Gösta vor.
Ragnar schien nun doch zu spüren, dass er beobachtet wurde. Er wirkte irritiert, als er sich aufrichtete, aber als er sie entdeckte, zog ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht.
Jetzt müsste Greta ihn sehen, schoss es Thyra durch den Kopf. Dann würde sie nicht mehr an seinen Gefühlen zweifeln.
Und was ist mit deinen Gefühlen?, wisperte eine lästige Stimme tief in ihrem Innern, aber Thyra ignorierte sie einfach.
Sie setzte sich in Bewegung und ging Ragnar entgegen. Als er sie in die Arme nahm, schloss sie die Augen und schmiegte den Kopf an seine Schulter.
Ich liebe dich! Die Worte verweilten in ihren Gedanken, doch Thyra brachte sie nicht über die Lippen. Ein Sturm von Emotionen tobte in ihr, während sie vergeblich versuchte, das auszusprechen, was sie so gerne sagen wollte.
Auch Ragnar sagte nichts, sondern hielt sie einfach nur fest.
»Hej, ihr beiden.«
Der Moment war vorbei, ohne dass die Worte gesagt wurden, die sie ohnehin noch nie zueinander gesagt hatten.
Sie lösten sich aus der Umarmung, als Ragnars Bruder Birger auf sie zu kam. Er wohnte mit seiner kleinen Familie in unmittelbarer Nachbarschaft. Die beiden Brüder züchteten gemeinsam schwedische Bergkühe und stellten Käse her.
Birger vermietete zusätzlich zwei Gästezimmer in seinem Haus. In den kurzen Sommern waren die Zimmer immer ausgebucht, zumeist von Stammgästen, doch nun verkündigte er stolz, dass er Wintergäste erwartete.
»Die beiden Männer bleiben zwei Wochen«, sagte er. »Es gibt allerdings ein Problem. Die beiden treffen morgen mit dem Zug in Jokkmokk ein und müssen abgeholt werden. Aber ausgerechnet jetzt haben sich Aapeli und Heikki angekündigt.«
Bei den Männern handelte es sich um Kunden aus Finnland, die den Käse für ihr Hotel orderten.
»Unsere besten Kunden«, betonte Birger.
»Ich kann deine Gäste in Jokkmokk abholen«, schlug Thyra vor. »Wann treffen sie ein?«
Birger schaute sie dankbar an. »Um zehn Uhr morgen früh an der Busstation in Jokkmokk.«
»Wie erkenne ich deine Gäste?«
»Es sind zwei Männer.«
Thyra verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. »Das schließt ungefähr die Hälfte der Menschheit aus. Sehr beruhigend.«
Birger lachte. »Du bekommst eine Tafel, auf der mein Name steht. So habe ich es mit den Gästen vereinbart. Wenn du willst, kannst du gleich mitkommen, dann gebe ich sie dir.« Er schaute seinen Bruder an. »Oder kommt am besten beide mit. Annbritt hat frische Zimtschnecken gebacken. Außerdem kocht sie wie verrückt für Gretas Abschiedsfeier.«
Ragnar liebte Zimtschnecken. Er griff nach Thyras Hand, als sie gemeinsam durch den Schnee zu Birgers Haus nebenan stapften.
Wie die meisten Holzhäuser in Tjarojakk waren auch die von Ragnar und Birger in Falunrot gestrichen, während Türen und Fensterrahmen in hellem Weiß erstrahlten. Drei Stufen führten zum Eingang hinauf. Als Birger die Tür öffnete, schlug ihnen ein verführerischer Duft nach Frischgebackenem entgegen.
Die Tür zu dem gegenüberliegenden Raum war nur angelehnt. Dahinter waren streitende Kinder zu hören.
»Du bist doof!« Das war die siebenjährige Ella, ein etwas pummeliges Mädchen, Annbritts Ebenbild im Miniformat. Ihre blonden Haare waren rechts und links hochgebunden und ringelten sich jeweils zu einer Locke, die bis zu den Schultern reichte.
»Du bist viel döfer!«, schrie der sechsjährige Ludvig. Er war dünn und ähnelte seinem Vater.
»Und du bist am allerallerallerdoofsten«, trumpfte Ella auf.
Sie zeigte ihrem Bruder gerne und sehr deutlich, dass sie sich überlegen fühlte, und schaffte es so auch immer wieder, ihn zu provozieren. So wie in diesem Moment. Ludvig stimmte ein wütendes Protestgeheul an, das alles andere übertönte.
Ragnar grinste, während er – ebenso wie sein Bruder und Thyra – die dicke Winterjacke auszog und an den Garderobenhaken hängte.
»Das Lachen wird dir vergehen, sobald ihr selbst Kinder habt«, prophezeite Birger.
Ragnar lachte gutmütig, während Thyra automatisch wieder an die Hochzeit dachte, auf die das Dorf seit vier Jahren wartete. Über Kinder hatten sie sich bisher noch keine Gedanken gemacht.
Nun, zumindest sie nicht. Ragnar vielleicht?
Prüfend schaute sie ihn an, doch ihr Verlobter war bereits auf dem Weg ins Wohnzimmer und stieß die angelehnte Tür ganz auf.
Der kleine Ludvig brüllte immer noch, während seine Schwester auf dem bequemen Sofa saß und ihn mit einem hämischen Lächeln beobachtete. Ihr Bruder stand mit erhobener Hand vor ihr, schlug aber nicht zu. Offensichtlich hatte er selbst in seiner Wut nicht vergessen, dass das streng verboten war.
Links, gleich neben der geöffneten Tür zur Küche, stand der große Esstisch, der für sechs Personen gedeckt war. Es sah ganz so aus, als hätte Annbritt bereits damit gerechnet, dass Birger seinen Bruder und Thyra mit ins Haus brachte.
In diesem Moment kam Annbritt aus der Küche. Sie war klein, ein wenig mollig und hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. In den Händen hielt sie ein Blech voller Zimtschnecken. Sie war eine begnadete Köchin und Bäckerin.
Als sie Thyra erblickte, verdrehte sie die Augen.
»Sag mir bitte, dass Greta bleibt«, rief sie laut, um das Geschrei ihres Sohnes zu übertönen.
Thyra schüttelte den Kopf.
»Mist!«, fluchte Annbritt und stellte die Platte auf den Tisch. Danach stemmte sie die Hände in die Hüften. »Ludvig, jetzt ist Ruhe.«
»Bäbäbäbäbäbä«, sang Ella und rieb dabei triumphierend die Zeigefinger aneinander.
»Und du hörst sofort auf, deinen Bruder zu ärgern«, fuhr Annbritt ihre Tochter an, bevor Ludvig sich in einen neuen Wutanfall hineinsteigern konnte.
Ella schaute ihre Mutter finster an. »Der ärgert mich.«
»Die hat mich zuerst geärgert.« Auch Ludvig sah seine Mutter an, wies mit dem Zeigefinger jedoch auf Ella.
»Du hast mich zuallerallerallererst geärgert.« Ella gab nie auf und »alleralleraller« schien gerade ihr Lieblingswort zu sein.
Wütend stapfte Ludvig mit dem Fuß auf. »Stimmt nicht!«
»Was ist denn mit euch los?«, mischte Thyra sich ein. »Ich dachte, wir essen alle zusammen Kanelbullar. Aber wenn ihr keinen Appetit habt …« Fragend schaute sie Ragnar an. »Am besten gehen wir wieder, dann können die beiden sich in Ruhe streiten.«
Ragnar nickte zustimmend, und Annbritt nahm die Platte mit dem Gebäck wieder vom Tisch.
»Dann nehmt das mit und lasst es euch zu Hause schmecken. Ella und Ludvig wollen offensichtlich keine.«
»Doch!«, schrien die Kinder gleichzeitig. Ella sprang vom Sofa und stellte sich neben ihren Bruder. »Vertragen wir uns wieder?«
Ludvig musste ein paar Sekunden über seine Antwort nachdenken, doch dann nickte er.
»Ja.« Seine Stimme klang eher mürrisch als bereitwillig. »Aber nur, weil ich sonst keine Zimtschnecke kriege.«
Es war einer der wenigen Augenblicke, in denen Ella offensichtlich die Ansichten ihres Bruders teilte.
Während der Kaffeestunde blieben die Kinder friedlich und spielten anschließend sogar miteinander, während die Erwachsenen noch am Tisch saßen und sich unterhielten.
Erst als Ella und Ludvig außer Hörweite waren, sprach Annbritt das Thema an, das sie offensichtlich gerade besonders beschäftigte.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Greta uns verlässt.«
»Ich auch nicht.« Thyra seufzte. »Ich habe alles versucht, um sie umzustimmen. Erst gerade eben habe ich ihr noch einmal vorgeschlagen, ihre Mutter hierher zu holen, aber das ist ihr zu gefährlich …«
Thyra brach ab und seufzte erneut tief auf, als die Trauer wegen des bevorstehenden Abschieds sie wieder einholte.
Ragnar griff nach ihrer Hand. Mitfühlend schaute er sie an.
»Vielleicht hat sie auch selbst den Wunsch, nach Hause zurückzukehren«, überlegte er. »Weißt du noch, wie unglücklich sie war, als sie unmittelbar nach ihrem Studium zu uns geschickt wurde?«
Thyra nickte. »Aber inzwischen hat sie sich doch hier eingelebt. Sie ist eine von uns geworden.«