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Wir Apfelesser, Adams Kinder, in unserem harten süßen Leben, weich wird es mit der Zeit, saftlos und faltig. Am Ende schwindet gar der Duft, macht Raum einem schimmligen Kellergeruch. Dunkelbraun wird das Fleisch wie bei Alten, die mit Sonnenbräune aus sich noch etwas machen wollen, mit braunen Zähnen Gesundheit predigen, mit Händen wie Flussdeltas auf alten Karten. Wenn die letzten Wespen die zusammengesunkenen Haufen verlassen haben, werden die Schalen zu lederschwarzen Gräbern und Schleim. Und singt auch wieder im kalten März die schwarze Amsel -- uns singt sie nicht mehr.
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Seitenzahl: 49
Vorwort
Erinnerung an Freiburg.
Küche unter dem Dach
Salomons Silberschatz
Langer Nachmittag
Alte Gymnasien
Der Gesang der Lerche
Tag, dann Nacht
Ich bin Beamter, Notiz zu einer Poetik
KOLLEGEN!
Friede auf Erden
Sturm
März
Mährische Gärten (Zyklus)
Der glückliche Gärtner
Der unglückliche Gärtner
Einladung in den Garten
Anger und Friedhof
Bucht vor Bäumen
Apfelesser
Finnische Kartoffelesser
Mährische Semmelknödel
Sorgen
Die nackte Muse
Zwischen uns
Mozart muss warten
Pferde
Der Duft der Kühe
Diversität
Der Vollständigkeit halber:
Wir Apfelesser
Ein Sommer
Am Strand
In der Strandsauna
Jonas
Die tägliche Fliege
Vergangene Landschaften
Reise an die Grenze
Leutnant von Trottas Vorübergehn
Zu Hellevis Achtundsiebzigstem
Berliner Zahnarztpraxis
Jerusalem
Abschied
Anfang der Ewigkeit
Kommen und Gehen
Stroh
Essenszeit
Donnerstag
DDR
Blütezeit der blauen Zichorie
Der Geruch der Kamille,
Weiße Hortensien
Holunder
Fingerhut digitalis
Buchen
Welkende Anemonen
Der Traum des Lehrers
Die Hesse
Hinterlassenschaften des Jahres
Herbstabend in Berlin
Silentium
Odysseus‘ Tränen
Oktober
Kirchner
Unruhiger Tag
Monolog
Sonnenblume
Vor dem Gesetz
Auferstanden
Neo Rauch, ein Bildgedicht
Das Xylophon
Igor Obrosov, Stillleben mit Telefon 1974
Anselm Kiefer
Die Grille
Weißer Sonntag
Totensonntag
Neuschnee
Vater hat zwei Hechte gebracht
Menschen am Wasser
Rhabarber holen
Wo schlafen die Wolken?
Die Erde, mein Garten
Wie in der Sammlung »Rückkehr zur Erde« wird der Leser auch hier auf die »Schauplätze« Berlin, den Schwarzwald, Mähren und Finnland stoßen. Es gibt allerdings weniger Berlin-Gedichte, auch die heimischen Vogelarten finden nun weniger Interesse. Geschrieben sind die Gedichte unverändert in »freien reimlosen Versen unter Beibehaltung der üblichen Rechtschreibung und Zeichensetzung«.
In vielen Fällen kann man Gruppen von Gedichten ein gemeinsames Motiv zuordnen, so kenntlich gemacht beim Zyklus »Mährische Gärten«, oder bei Gedichten, die sich mit Essen und Kochen, mit Pflanzen, Büschen und Bäumen, oder mit Bildern der Kunst und mit Künstlern beschäftigen. Gedichte mit finnischen Themen sind meist Natur- oder Landschaftsgedichte, das gilt auch für die Schwarzwaldgedichte. Die mit mährischen Themen reden mehr von Geschichte und haben autobiographische Anlässe. Schule, Lernen und Lernstoffe sind neue Themen in dieser Sammlung und was hier »Bildgedicht« genannt wird, nach der eingebürgerten Bezeichnung »Dinggedicht«, die Kunstwerke und Künstler poetisch reflektieren. Vielleicht ist der Titel »Wir Apfelesser« dieser Sammlung erklärungsbedürftig. Die biblische Urgeschichte im Buch Genesis erzählt, dass der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von dem zu essen Gott den Ureltern verboten hat, eine für das erste Menschenpaar verlockend wirkende Frucht trug, die die Menschen reizte, sie zu essen. Die Bildhauer und Maler, die diese Szene darstellen sollten, griffen meist zu einem Notbehelf, weil sie das abstrakte Wort Frucht nicht verbildlichen konnten, und nahmen Zuflucht zu einem Apfel, einem Notapfel, wie es ja auch Notnägel gibt.
Das ändert aber nichts an unserer tiefen Bewunderung für den Dichter der Vorzeit, dem es gelungen ist, die Probleme der menschlichen Existenz in der scheinbar einfachen Form einer Erzählung darzustellen. Der nachpardiesische Mensch erleidet die Mühen der Arbeit auf einer disteltragenden Erde, seine Frau gebiert ihm Kinder unter Schmerzen, von ihm versklavt, und am Ende eines mühseligen Daseins erwartet beide der Tod. Aber das ist bekanntlich nicht das Ende, denn ehe Gott die Beiden nackt in die unwirtliche Welt hinausjagt, näht er ihnen schützende Kleider. Man kann auch draußen leben.
Vielleicht wird dem einen oder anderen Leser noch auffallen, dass neben der unmittelbaren Erfahrung auch die Erinnerung zur Quelle vieler Gedichte wurde, kein Wunder, sind es doch die Gedichte eines alten Mannes.
Vor Sonnenaufgang
Tannenhaarige, zwischen dunstigen Tälern
hingestreckte Bergrücken wie an Land gestiegene
schlafende Meeressäuger unter einem glasharten
Himmel voll unruhiger Sterne.
Unten Rossmarkt der Fahrräder,
Wochenmarkt der Bauern. Hausfrauen beim Einkauf,
der aus der offenen Tasche ragende gehisste
Lauchstängel Wappen der Suppenköchinnen.
Es gibt Eier in vier Klassen, Maultaschen
in zwei Geschlechtern. Bienen umschwärmen
die süßen kleinbeerigen Trauben, Zwetschgen
sind noch kalt von der Nacht und Pfirsiche
wie drei Kilokugeln groß,
mit goldenem und rotem Leuchten werden
wir Apfelesser gegrüßt
Der gotische Kirchturm zählt den Vormittag mit.
Die heulende Ambulanz voll unbestimmter Ahnungen
verhallt hinten im Tal, bis sie die Baumgrenze überschritt.
Für uns stehen heute in Freiburg
nur leere Häuser, in den Türmen
hängen stumme Glocken, es ist
geworden wie eine Stadt auf dem
Meeresgrund, in hundert Jahren
einmal belebt sich wieder der Markt,
wenn sie aus der Vergangenheit
emporsteigt,
und alle Händler warten immer noch auf den
erlösenden Pfennig.
Mit Stroh geflochtene Stühle um den runden Tisch.
Zwischen Tisch und Wand eine Küchenbank mit
verdrückten Kissen gepolstert. Darüber eine alte
Küchenuhr, stumm im käsefarbenen Gehäuse, die
Schlüssel zu Uhr- und Schlagwerk gingen verloren,
obwohl in einer Schublade im braunen Büfett
Schlüssel zur Genüge, auch im alten Aschenbecher
(Cinzano).
Niedrig über dem Tisch wie ein weißer Sonnenschirm
eine Lampe, schwebend auch über einer
blauen Keramikschale mit Äpfeln. Niedrig ist auch
die tapezierte Küchendecke. Und das Fenster in den
Hof der Garagen.
Unter ihm ein Treteimer neben einem Korb
Zeitungen, aufgerissenen Briefen, die es nicht vermocht hatten, den Adressaten zu Hause zu halten.
Im Hof, die Garagen und das Haus hoch überragend
wie ein riesiger Pinsel, eine kahle Pappel, isoliert
und jedem Gespräch entzogen. Im Spülbecken und
auf dem Tisch Spuren, Geschirr und Reste eines Frühstücks,
Kaffeebecher, Müslischale, Cornflakes, Bodum-Kaffeekanne. Es riecht nach den Äpfeln und nach
Katzenklo.
Der Kühlschrank neben der Küchenbank stößt auf
und verstummt dann, als sei ihm das peinlich.
In memoriam Bernd Seegebrecht · Maler und Bildhauer
1940 – Berlin, 2020 – Freiburg