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Bereits über 50 Jahre prägt mit dem Epplehaus ein einzigartiges Jugendzentrum die Geschichte und Menschen in Tübingen. Seit seiner Besetzung 1972 ist das Haus in der Karlstraße 13 ein Raum für politische Kämpfe, kulturelle Revolutionen und generationsübergreifende Selbstverwirklichung. Jenseits des politischen Mainstreams organisieren sich Jugendliche und Junggebliebene selbst – irgendwo zwischen Krisen, Plenum, Streitereien mit der Stadt und dem Traum von einer besseren Welt.
Als unverzichtbares Stück Zeitgeschichte erzählt dieses Sachbuch in vier großen Themenblöcken von der Historie des Hauses und dem jeweiligen soziokulturellen Kontext. Zentrale Aspekte des Buchs sind zudem gelebte politische Ideale sowie die Musik und Subkultur, welche das Leben im Epplehaus formten. Exkurse wie zum Schwabenhaus, über die Jugendzentrumsbewegung oder ein Verzeichnis aller Tübinger Hausbesetzungen versprechen weitere interessante Einblicke.
Gemeinsam mit Gast-Autor*innen wie "Ton Steine Scherben"-Bassist Kai Sichtermann und vielen Zeitzeug*innen steigen Elias Raatz und Lucius Teidelbaum vom „Epplebeinturm“ herunter – jenseits von Selbstbeweihräucherung und einer „früher-war-alles-besser“-Nostalgie. Dieses Sachbuch liefert eine tiefgehende und unterhaltsame historische Aufarbeitung über das Epplehaus, einem schützenswerten Ort, dessen spannende Geschichte es wert ist, erzählt zu werden.
Mehr Infos unter: www.analyse-subkultur.de
1. „Von Jugendzentrumsbewegung und Hausbesetzungen“ bietet einen Einstieg und liefert neben der Geschichte der Hausbesetzung spannende Hintergrundinformationen, wie über die Historie des Schwabenhaus oder eine Chronologie aller Tübinger Hausbesetzungen.
2. „Das Epplehaus als Jugendzentrum“ fasst die Historie des Hauses ab 1968 bis 2025 zusammen und behandelt dabei beispielsweise Streitereien mit der Stadt, interne Probleme, die Professionalisierung durch Sozialarbeiter*innen, den Kinderladen oder das Frauencafé.
3. „Zwischen Politik und Interna“ gibt vielen Aspekten einen Raum, die für ein linkes Jugendzentrum unabdingbar sind: Basisdemokratie und Entscheidungsstruktur, Graffiti und Subkultur, Awareness und queeres Leben, klare Positionierungen und Antifa.
4. „Über Musik und Events im Haus“ sagt bereits alles Relevante zum thematischen Inhalt der unter dieser Überschrift gesammelten Kapitel: von Punkrock und Drum and Bass über Disco-Abende und Metalnights bis zu den Mittwochs- und Nachmittagskonzerten..
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis zum Buch
Über 50 Jahre Tübinger Jugendzentrum Epplehaus
Titel
Herausgeber
Ein Stück gelebte Utopie
Vorwort: Über 50 Jahre Jugendzentrum Epplehaus
von Elias Raatz und Lucius Teidelbaum
Ode an mein Lieblingsrattenloch
Prolog
von Ben Frandesa
VON JUGENDZENTRUMSBEWEGUNG UND HAUSBESETZUNGEN
„Lasst das Grundgesetz in Ruh, SPD und CDU!“
1968: Notstandsgesetze, Antikapitalismus und ein Geldautomat
von Elias Raatz
„Bis zum Brand meine zweite Heimat“
Seit 1900: Die Geschichte des Schwabenhaus
von Elias Raatz
„Dann aber Feuer frei!“
1972: Richard Epple stirbt durch Schüsse aus einer Polizeiwaffe
von Elias Raatz
Hausbesetzung, Widerstand und Klassenkampf
Seit 1970: „Ton Steine Scherben“ und der Häuserkampf
von Barbara und Kai Sichtermann
Freiheit der Freizeit!
1970er: Im Schnittpunkt der Jugendzentrums- und Hausbesetzungsbewegung
von Marc Amann
„Wir hol’n jetzt unser Haus!“
1972: Die Hausbesetzung der Karlstraße 13
von Elias Raatz
Ballettmeister, Hilfsbremser und Pfarrer
1863-1972: Das Epplehaus vor seiner Besetzung
von Lucius Teidelbaum
„Wir müssen den Schleier der Freundlichkeit zerreißen“
1972-1978: Die ersten Jahre im Jugendzentrum
von Elias Raatz
„Die Häuser denen, die drin wohnen“
Seit 1968: Chronologie Tübinger Hausbesetzungen
von Marc Amann und Elias Raatz
DAS EPPLEHAUS ALS JUGENDZENTRUM
Der erste Tübinger Berufsjugendliche
1968-1975: Haus-Historie aus subjektiver Sicht
von Jürgen Hempel
Freiheitsstreben in der Selbstverwaltung
1972-1978: Haus-Historie aus subjektiver Sicht
von Michael Löffler
„Alles, was wir machen können, machen auch wir“
1975-1985: Haus-Historie aus subjektiver Sicht
von Jürgen Hempel
Hierarchiefrei, locker und effektiv
1980er: Kampfsporttrainings im vierten Stock
von A. O. und F. S.
Besetzte Räume im besetzten Haus
1983-2003: Zwanzig Jahre Frauencafé und Frauenkultur im Epplehaus
von Christa Stengelin
„Jugendhaus mit vorbildlichem Ruf“
1983-2004: Professionalisierung des Hausbetriebs
von Elias Raatz
Die Kleinen groß werden lassen
Seit 1991: Über 30 Jahre Kinderladen „Villa Kunterbunt“
von Gabi Erbis, Thomas Müller und Helga Geiger
Das Epplehaus lebt weiter
2001-2025: Das Epplehaus im 21. Jahrhundert
von Lucius Teidelbaum
Trouble in Paradise
Seit 1972: Konflikte und Probleme in der Selbstverwaltung
von Lucius Teidelbaum
Braucht’s das eigentlich noch?
1972 vs. 2025: Berechtigung von Jugendhäusern
von Elias Raatz und Ulrike „Rika“ Seibert
ZWISCHEN POLITIK UND INTERNA
Eine Schule der Basisdemokratie
Seit 1972: Station in der Sozialisierung junger Menschen
von Lucius Teidelbaum
Das Epplehaus als Feindbild
Seit 1972: Rechte Angriffe und Anfeindungen gegen linkes Zentrum
von Lucius Teidelbaum
„Ein Raum voller queerer Menschen“
Seit 1972: Queeres Leben im Epplehaus
von Helene Merz
Radikaler als der saturierte Bio-Mainstream
1996-2000: Der Arbeitskreis für Anarchie & Subkultur
von Kai Herrmann
„Reclaim the Streets“
Seit 2006: Graffiti und die künstlerische Außenwirkung am Epplehaus
von Peter „Pete“ Püschel
„Auch mal ohne seitenlange Marxzitate“
Seit 2007: Linke Bildungsarbeit von „Input“
von Larissa Roth und Lucius Teidelbaum
Von Kollektiv und Konsens
2012-2018: Entscheidungsfindung und -struktur im Epplehaus
von Udo Nonner
Ein sicherer Raum für alle?
Seit 2017: Besondere Awareness im Epplehaus
von Lena Pinto
Alerta, alerta, antifascista!
Antifaschismus und das Epplehaus
von Lucius Teidelbaum
ÜBER MUSIK UND EVENTS IM HAUS
„Mekka verschiedener Szene-Gruppen“
Seit 1972: Musik als wichtige Säule im Epplehaus
von Elias Raatz
„Schneller, lauter, härter!“
1980er: Punkrock-Konzerte in Saal und Keller-Disco
von Rick Newton
Schampus über Schallplatten
Seit 1985: Disco-Abende im Gewölbekeller des Epplehaus
von Gernot „Gerri“ Rothhaar
„Du musst selbst was machen, sonst macht’s keiner“
1994-2002: Umsonst & Drinnen Mittwochskonzerte
von Marc Amann
Bassment for the Basement
Seit 1994: Breakbeat, Jungle und eine Prise Drum & Bass
von Oliver „Lightwood“ Lichtwald
Von Magic Mushrooms und Psytrance
2000er: Eine Anekdote zur Eventreihe „Afterwork Trance“
von Elias Raatz
Open-Mic, Street Art und Pakete in den Knast
Seit 2000: Interview zur Tübinger Graffiti- und Hip-Hop-Szene
von Peter „Pete“ Püschel
Zwischen Punk, Party und Politik
Seit 2003: Hardcore Punk, SubZine und Artverwandtes
von Freddi Hrůsa und Tobias Weckenmann
Draußen war es kühl, drinnen tropfte der Schweiß
Seit 2004: Die Metalnight im Epplehaus
von Uwe „Crazy“ Frank
„Wir passen in alle Schubladen“
2005-2015: Musikalische Subkultur bei „Tübingen Underground“
von Jochen Braun
How to do „more than music“
Ein 31-Schritte-Programm, zusammengestellt aus dem Repertoire von zwei Tübinger d.i.y.-HardcorePunk-Konzertgruppen
von Marc Amann, Dirk Neges, Anke Gasser und Kai Heneka
DANK & EPILOG
Helfende Hände und flinke Finger
Nachwort & Danksagung
von Elias Raatz
Unsere Autor*innen
Kurzvorstellung der Beteiligten
Gespräch im Epplehaus
Epilog
von Elias Raatz
Titel
Wir hol’n jetzt unser Haus!
Über 50 Jahre Tübinger Jugendzentrum
EPPLEHAUS
zwischen Hausbesetzung, Selbstverwaltung und Subkultur
Elias Raatz & Lucius Teidelbaum
Herausgeber
© Edition Analyse & Subkultur 2025
Edition Analyse & Subkultur ist eine Reihe des Dichterwettstreit deluxe-Verlag
© Dichterwettstreit deluxe, Villingen-Schwenningen
www.dichterwettstreit-deluxe.de/impressum
Lektorat: Elias Raatz & Annika Siewert
Faktenprüfung, Archiv & Bildrecherche: Elias Raatz
Satz & Design: Hubert Baumann & Elias Raatz
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
ISBN Festschrift: 978-3-98809-035-5
ISBN Print: 978-3-98809-036-2
ISBN E-Book: 978-3-98809-037-9
www.analyse-subkultur.de
www.dichterwettstreit-deluxe.de
Ein Stück gelebte Utopie
Vorwort: Über 50 Jahre Jugendzentrum Epplehaus
Von Elias Raatz & Lucius Teidelbaum.
Komm rüber Bruder, reih’ dich ein, komm rüber Schwester, du bist nicht allein.
Komm rüber Mutter, wir sind auf deiner Seite, komm rüber Alter, wir woll’n das Gleiche.
In Augsburg, München, Frankfurt, Saarbrücken, es sind überall dieselben, die uns unterdrücken.
In jeder Stadt und in jedem Land, mach ’ne Faust aus deiner Hand.
Keine Macht für Niemand! Keine Macht für Niemand!
(Rio Reiser/Ton Steine Scherben: „Keine Macht für Niemand“)
Vom „Epplebeinturm“ heruntersteigen
„Hallo, altes Haus!“, ist eine nette Begrüßung unter vertrauten Freund*innen, jedoch im Kontext unseres Buches auch eine absichtlich doppeldeutige Aussage: Für viele ehemalige und aktuelle Aktive sowie Jugendhausbesucher*innen ist das Epplehaus zu einer Art vertrautem Freund geworden, gleichzeitig ist das 1863 erbaute Gebäude in wahrsten Sinnen des Wortes ein „altes Haus“. Mittlerweile über 50 Jahre existiert das Haus in der Karlstraße 13 als linkes Jugendzentrum, nachdem es 1972 von den Tübinger Jugendlichen besetzt wurde.
Gemeinsam mit weiteren Autor*innen und vielen Zeitzeug*innen wollen wir mit diesem Buch vom „Epplebeinturm“ heruntersteigen und interessante Einblicke in die Epplehaus-Historie ermöglichen. Jenseits von Selbstbeweihräucherung und einer „früher-war-alles-besser“-Nostalgie liefert unser Sachbuch bestmöglichen journalistischen Anspruch zur geschichtlichen Aufarbeitung.
Nicht nur außen am Haus, auch im Haus finden sich jede Menge Graffiti, Kritzeleien, Sprüche und politische Statements. Unser liebstes Wand-Zitat: „Die Manifestation des Kapitalismus in unseren Leben ist die Traurigkeit“. [© Archiv Epplehaus]
Kämpfe um Autonomie und das Überleben
Für Stadt und Gemeinderat schien das Epplehaus lange Zeit eine Art kontrollierter Unruheherd gewesen zu sein. Angehörige missliebiger Randgruppen wurden von ihm angezogen und dorthin abgeschoben: Rocker*innen, Punks, Erwerbslose, Drogenabhängige. So ist die Geschichte des Epplehaus auch eine Geschichte von Konflikten und Streitereien sowie von Kämpfen um Autonomie, ums Überleben und um den Charakter des Hauses.
Heute hat sich die Situation weitgehend beruhigt. Aus dem Haus als städtischem Schandfleck wurde im Laufe der Jahrzehnte nicht nur ein positives Wahlplakat der Grünen, sondern auch ein überregional anerkannter Jugend- und Kulturträger. Das Epplehaus ist akzeptiert, man hat sich mit ihm arrangiert oder nimmt es hin. Gäbe es das Epplehaus nicht mehr, ganz sicher würde man es vermissen, nicht zuletzt wegen seiner markanten Fassade. Ein kleines Mädchen nannte es im Beisein eines Herausgebers deswegen einmal treffend „tätowiertes Haus“.
Das Jugendzentrum in der Karlstraße 13 ist und war schon immer politisch. Slogans an der Fassade wie „Hupen gegen Deutschland“ zur WM 2010, das Zitat von Oscar Wilde „Patriotismus ist die Tugend der Boshaften“ zur WM 2018 oder die Forderung „Verdrängen, vertuschen, totschweigen? Kein Schlussstrich! NSU-Komplex aufklären, Verfassungsschutz auflösen!“ aus dem gleichen Jahr zeigen die klare politische Haltung des Hauses. [© Lucius Teidelbaum]
Alle Buchkapitel haben wir in die folgenden vier Überthemen eingeteilt:
1. „Von Jugendzentrumsbewegung und Hausbesetzungen“ bietet einen Einstieg und liefert neben der Geschichte der Hausbesetzung spannende Hintergrundinformationen, wie über die Historie des Schwabenhaus oder eine Chronologie aller Tübinger Hausbesetzungen.
2. „Das Epplehaus als Jugendzentrum“ fasst die Historie des Hauses ab 1968 bis 2025 zusammen und behandelt dabei beispielsweise Streitereien mit der Stadt, interne Probleme, die Professionalisierung durch Sozialarbeiter*innen, den Kinderladen oder das Frauencafé.
3. „Zwischen Politik und Interna“ gibt vielen Aspekten einen Raum, die für ein linkes Jugendzentrum unabdingbar sind: Basisdemokratie und Entscheidungsstruktur, Graffiti und Subkultur, Awareness und queeres Leben, klare Positionierungen und Antifa.
4. „Über Musik und Events im Haus“ sagt bereits alles Relevante zum thematischen Inhalt der unter dieser Überschrift gesammelten Kapitel: von Punkrock und Drum and Bass über Disco-Abende und Metalnights bis zu den Mittwochs- und Nachmittagskonzerten.
Ein Stück gelebte Utopie
Bei der Gesamtbetrachtung des Epplehaus wird klar, dass hier Generationen von jungen Menschen entscheidend in ihrem Leben geprägt wurden. Im Jugendzentrum war der Raum, um sich auszuprobieren, um freier zu atmen, „ein Platz, um frei zu leben“. Der Schriftsteller Oscar Wilde schrieb in seinem wunderschönen Text „Die Seele des Menschen im Sozialismus“:
Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, dass man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlte das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort gelandet ist, hält sie wieder Ausschau, und sieht sie ein schöneres Land vor sich, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien. (Oscar Wilde)
So ist das Epplehaus immer auch ein Stück gelebte Utopie gewesen. Hier versuchen sich Jugendliche und Junggebliebene selbst, basisdemokratisch, konsensorientiert und möglichst frei von Hierarchien und Ressentiments zu organisieren und Politik jenseits des Mainstreams zu machen. Das Epplehaus ist ein Freiraum gelebter Subkultur. Ein Ort, den es zu schützen und zu bewahren gilt. Ein Ort, dessen spannende Geschichte es wert ist, erzählt zu werden.
Viel Freude und Erkenntnis bei der Lektüre wünschen Elias Raatz und Lucius Teidelbaum.
„welcome to utopia“, zierte als Schriftzug jahrelang die Fassade des Epplehaus, welches trotz vieler Schwierigkeiten ebendieses Utopia für viele Menschen ist und war. [© Lucius Teidelbaum]
Ode an mein Lieblingsrattenloch
Prolog
Von Ben Frandesa.
Nahe dem Hauptbahnhof
liegt das nach einem von
Polizeikugeln durchsiebten
siebzehnjährigen Lehrling benannte
Jugendhaus in Selbstverwaltung.
Außen bunt und innen dreckig
ist das Epplehaus in Tübingen.
Im Innern wurden Theoriegipfel erstiegen,
Revolutionen geplant
und das bessere Leben geprobt,
dessen Aufführung aber vorerst
aufgrund technischer Mängel
leider noch abgesagt ist.
Irgendwo zwischen
dem Geruch nach schalem Bier,
verflogenem Zigarettenqualm
und plattgetretenem Kaugummi
liegt die Jugend vieler.
An den Wänden
die Parolen von gestern
für ein besseres Morgen.
Im obersten Stock gibt es
bei Bier und Mate
tiefsinnige Wohnzimmergespräche
über Politik und Patriarchat
und das Verhältnis von Theorie und Praxis.
Währenddessen stapelt sich in der Spüle
das schmutzige Geschirr
und im Büro baut sich
ein Taubenpaar ein neues Nest.
Mitten im Neckarstädtchen Tübingen
existiert ein Widerstandsnest
von Nestbeschmutzern
und vaterlandslosen Gesellen.
Irgendjemand im Rathaus
hat offenbar vergessen
den kontrollierten Unruheherd
auszuschalten.
Comic von Andre Lux
Die Comics „Egon Forever!“ des Zeichners Andre Lux erscheinen regelmäßig in Zeitungen oder Magazinen sowie als eigenes Buch. [© Andre Lux ]
VON JUGENDZENTRUMSBEWEGUNG UND HAUSBESETZUNGEN
1972 besetzten Tübinger Jugendliche ein leerstehendes Haus in der Karlstraße 13 – und blieben. [© Archiv Epplehaus]
„Lasst das Grundgesetz in Ruh, SPD und CDU!“
1968: Notstandsgesetze, Antikapitalismus und ein Geldautomat
Von Elias Raatz.
Während ein für dieses Buch wichtiges Haus in der Tübinger Karlstraße noch als Wohnhaus diente und Jugendliche im sogenannten Schwabenhaus rauschende Feste veranstalteten, geschah in der Stadt so einiges. Ende Mai 1968 versuchte sich die Tübinger Kreissparkasse an einer technischen Revolution: Am Fuß des Österbergs installierte sie den ersten Geldautomaten der Bundesrepublik. Die Geldwirtschaft der Banken zeigte sich so mitten in der Stadt, während die studentische Welt für die Revolte und gegen den Kapitalismus stritt. 1968 war ein durch die Studentenbewegung, den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze geprägtes Jahr voller Massenprotest und Widerstand: „Alles Reaktionäre fällt nur, wenn man es stößt!“
„Wir müssen radikal sein, wie die Realität!“
Ausgehend von den Studentenunruhen in West-Berlin forderte das rebellische Kollektiv der Neckarstadt von der Professorenschaft Diskurs statt Frontalvorlesung. Die Jugend prangerte schlechte Studienbedingungen an und richtete sich gegen die autoritären Strukturen der Gesellschaft. Um die praktische Eingangsprüfung am „Institut für Leibesübungen“, dem heutigen Sportinstitut der Universität, zu verhindern, füllten Protestierende sogar Gülle in die Weitsprunggrube. Die Studierenden rebellierten, experimentierten mit Drogen und feierten den freien Sex. Sie lehnten sich gegen das neue Landeshochschulgesetz auf und gingen frei nach Che Guevaras Motto: „Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen!“, im Februar 1968 wegen des Vietnamkriegs auf die Barrikaden. Am 3. April 1968 sprach unter anderem der Tübinger Professor und Philosoph Ernst Bloch auf einer Kundgebung gegen imperialistische Kriegsverbrechen der USA. Auf ihn und seine Schriften beriefen sich viele Teile der 68er-Bewegung: „Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern.“
An seinem Todestag 1977 trauerten rund 3.000 Studierende bei einem Fackelzug durch die Stadt. Ernst Bloch wurde auf dem Tübinger Bergfriedhof begraben. [© Burkhard Bartel]
„Tötet Dutschke, wählt CDU“
„Du dreckiges Kommunistenschwein!“, brüllte am 11. April 1968 ein rechtsradikaler Hilfsarbeiter in West-Berlin, bevor er auf einen der Wortführer der Studentenbewegung schoss. Alfred Willi Rudi Dutschke überlebte knapp das Attentat, welches eine der härtesten Protestwellen in Tübingen auslöste. Der ironische Spruch: „Tötet Dutschke, wählt CDU“, zierte handschriftlich die Seitenfront des Stadtmuseums. Noch einen Monat danach waren systemkritische Demonstrationen, Vorlesungsstreiks und Sit-Ins gegen die heiß diskutierten Notstandsgesetze an der Tagesordnung. „Tübingen kommt gleich hinter Berlin, Frankfurt und Heidelberg!“, lobte Klaus Behnken das lokale Engagement. Behnken war nicht irgendwer, sondern Mitglied im Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der auch in Tübingen Flugblätter verteilte.
Auszug aus dem Flugblatt des Tübinger SDS und AStA vom 12. April 1968 über Dutschke, den Vietnamkrieg, Notstandsgesetze und mit der Aufforderung zur Zerschlagung des Springer-Konzerns. [© MAO-Projekt]
Notstandsgesetze und der „Notstand der Demokratie“
Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges gab es in der Verfassung der BRD keine Regeln, wie sich der Staat in einer inneren oder äußeren Notlage verhalten sollte. Ein sogenannter Notstand kann ausgerufen werden, wenn die innere Sicherheit eines Staates in Gefahr ist, beispielsweise durch Naturkatastrophen, Aufstände oder Kriegshandlungen. Um durch klare Vorgaben demokratische Entscheidungsprozesse in einer Krise beschleunigen zu können, wurden seit Mitte der 1950er-Jahre die Notstandsgesetze heiß diskutiert, welche bis 1968 nach und nach verabschiedet wurden. Sie beinhalten unter anderem die Möglichkeit, die Bundeswehr gegen Aufständische im Inneren einzusetzen, Telefone abzuhören oder ein Notparlament zu installieren. Da für eine Notstandsverfassung das Grundgesetz geändert werden musste, formierte sich spürbarer Widerstand unter dem Slogan: „Lasst das Grundgesetz in Ruh, SPD und CDU!“
Entschieden gegen die Notstandsgesetze protestierten vor allem die Gewerkschaften unter der Federführung der IG Metall, die FDP, die westdeutsche Studentenbewegung sowie das Kuratorium „Notstand der Demokratie“, das aus Studierenden, wissenschaftlich tätigen Personen, Kulturschaffenden und Geistlichen bestand. Gemeinsam mit verschiedenen Bürgerinitiativen, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), dem Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) und vielen weiteren Gruppen wurde die Außerparlamentarische Opposition (APO) ins Leben gerufen. Die APO stellte sich vehement gegen die auf parlamentarische Weise nicht verhinderbaren Pläne der Regierung.
Auszug eines dreiseitigen Flugblatts des Tübinger LSD vom 8. April 1968, an dessen Ende postuliert wird: „Noch hat unsere Demokratie, noch haben wir eine kleine Chance. Wie lange noch? Deshalb bevor es zu spät ist: Streik!“ [© MAO-Projekt]
„Erst NS-Propagandist, jetzt Notstandsplaner“
Doch auch BRD-weite Massenkundgebungen und Proteste konnten den Beschluss der Notstandsgesetze nicht verhindern. Ebenso wenig wie die Rathausbesetzung in Tübingen am 25. Mai 1968, bei der die Tübinger Studierenden von Oberbürgermeister Hans Gmelin Protestunterstützung forderten, oder der Streikaufruf des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) vom 27. bis 30. Mai 1968. Die Regierung beschloss am 30. Mai 1968 die Gesetzesänderungen, durch welche die Grundrechte zeitweise eingeschränkt oder gar komplett außer Kraft gesetzt werden konnten. Die regierende erste Große Koalition der BRD aus CDU/CSU und SPD nutzte dazu ihre Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Alles unter der Kanzlerschaft des CDU-Mannes Kiesinger, einem ehemaligen NSDAP-Funktionär und stellvertretendem Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung im Dritten Reich. „Kurt Georg Kiesinger: Erst NS-Propagandist, jetzt Notstandsplaner“, schrieben West-Berliner Studierende noch wenige Tage vor der Abstimmung auf ein Transparent.
Auf dem gesamten Tübinger Universitätsgelände wurde durch den AStA zum Streik gegen die absichtlich zweideutig abgekürzten „NS-Gesetze“ aufgerufen: „Diesmal kann keiner sagen: ‚Ich habe von nichts gewußt!‘“ [© Archiv Epplehaus]
Symbolischer Siegeszug des Kapitalismus
Allem Engagement der APO zum Trotz konnten die Notstandsgesetze nicht verhindert werden. Während die rebellischen Tübinger Studierenden neben westlichem Imperialismus, Staat und Staatsgewalt auch den bürgerlichen Kapitalismus auf dem Müllhaufen der Geschichte sehen wollten, baute die Kreissparkasse am 27. Mai 1968 den ersten Geldautomaten Deutschlands in die Außenmauer der Filiale Doblerstraße ein. Der automatische Geldtresor bot laut Schwäbischem Tagblatt „größtmögliche Bequemlichkeit“. Schließlich wurden nur drei Dinge benötigt, um an Bargeld zu kommen: ein Doppelbartschlüssel, ein gelochter Plastikausweis und ein individueller Lochkartenscheck. Zuerst musste der Tresor mit dem Schlüssel geöffnet und der Ausweis zur Identifikation in einen Schlitz geschoben werden. Der im Scheck eingestanzte Betrag von bis zu 400 Mark konnte dann in 100er-Schritten abgehoben werden. Jedoch fühlten sich nur rund 150 Kontoinhabende dazu bereit, das Tüftler-Meisterwerk auszuprobieren. „Die Zeit war einfach nicht reif für diese Idee“, resümierte der damals technische Abteilungsleiter der Sparkasse Werner Staiger im Nachhinein.
Erst in Ernst Blochs Todesjahr 1977, knapp zehn Jahre später, begann der Siegeszug moderner Geldautomaten von München aus. Im selben Jahr beschlossen die studentischen Fachschaften in Tübingen einen erneuten Vorlesungsboykott gegen die Landeshochschulgesetze und verfassten einen Brief an die Eltern der drei toten Stammheimer RAF-Terroristen. Die Notstandsgesetzte waren bis dato nicht eingesetzt worden – und auch bis heute nicht.
Werbefoto aus einer Broschüre des Herstellers OSTERTAG aus Aalen, welcher den ersten Geldautomaten Deutschlands gemeinsam mit AEG-Telefunken entwickelte. [© OSTERTAG]
„Bis zum Brand meine zweite Heimat“
Seit 1900: Die Geschichte des Schwabenhaus
Von Elias Raatz.
Seit den 1950er-Jahren hatte sich in der Tübinger Gartenstraße 12 mit dem Schwabenhaus ein selbstverwalteter Jugendtreff etabliert. Das traditionsreiche Gebäude neben dem damals noch unbebauten Neckarmüllereigelände wurde von den Jugendlichen für ausgelassene Feiern am Neckar geschätzt. Jedoch bedrohten das Schwabenhaus immer wieder äußere Konflikte und Einflüsse. Im September 1971 gab der Landkreis die Trägerschaft des Jugendclubs auf, womit dieser seinen amtlich bestellten Leiter verlor. Der Gemeinderat wollte das Gebäude abreißen, doch es formierte sich Widerstand. Bis die Stadt 1972 nach einem ungeklärten Schwelbrand die Gunst der Stunde nutzte und entschied: „Das Haus soll jetzt weg!“
König Wilhelm, Hitler und das Haus der „Tübser Schwaben“
Seit 1885 betrieb die Studentenverbindung Corps Suevia ihr erstes Corpshaus in der Neckarhalde 66. Schon bald wurden Rufe nach „einem größeren Kneiplokal“ laut, da die bestehenden Räumlichkeiten aus allen Nähten zu platzen drohten. Somit beschloss die Suevia-Generalversammlung am 28. September 1898 den Ankauf eines Grundstücks in der Gartenstraße, auf welchem der Zimmermeister Julius Haller einst eine Badeanstalt betrieb. Das renommierte Architekturbüro „Eisenlohr & Weigle“ aus Stuttgart plante daraufhin ein dem französischen Rokokostil nachempfundenes Corpshaus. Am 19. Mai 1900, 69 Jahre nach der Gründung des Corps Suevia, wurde das neue Haus feierlich in Gegenwart von König Wilhelm II. von Württemberg übergeben. Der Corps wurde in der Region auch die „Tübser Schwaben“ genannt. Daher kommt auch der bis heute bestehende Name des Gebäudes, welches die „Tübser Schwaben“ bis 1936 nutzten: das Schwabenhaus.
Zur Eröffnung des Corpshaus schoss der württembergisch-königliche Hoffotograf Julius Wilhelm Hornung ein Foto des großen Kneipsaals. [© Julius Wilhelm Hornung]
Rechts über der Eingangstür hängt ein Portrait von König Wilhelm II., der sich als Alter Herr des Corps in dessen Farben schwarz-weiß-rot fotografieren ließ. [© Julius Wilhelm Hornung]
Trotz angeblich anfänglich übermittelter Skepsis gegenüber dem Druck zur Gleichschaltung unter dem Hitler-Regime beschloss das Corps am 27. Oktober 1935, die Arierbestimmungen im Sinne der NSDAP durchzuführen. 1936 musste der Aktivenbetrieb eingestellt werden und 1940 wurde das Gebäude von der Wehrmacht beschlagnahmt, welche das Schwabenhaus als Kasino nutzte. Ab August 1942 wurde das Haus als Lazarett für die Behandlung von sehbehinderten und erblindeten Soldaten zweckentfremdet. In der Nacht vom 15. auf den 16. März 1944 wurden Gebäudeteile durch eine neben der Neckarbrücke abgeworfene Luftmine zerstört, die das ehemalige Wohnhaus Ludwig Uhlands traf. Nach dem Krieg war das Schwabenhaus französisches Kasino (1945-1949) und wurde später für wenige Jahre vom Kaiser-Wilhelm-Institut, dem heutigen Max-Planck-Institut, genutzt.
Im Eigentum der Stadt: Der erste Jugendclub Tübingens
Am 28. Juli 1950 erwarb die Stadt Tübingen das benachbarte Neckarmüllerei-Anwesen, um dort notwendige bauliche Veränderungen im Sinne des damaligen Stadtbauplans durchzusetzen. Der Plan sah vor, das gesamte Neckarmüllereigelände mit einem Hotel- und Geschäftskomplex zu bebauen. 1953 kaufte die Stadt zur Umsetzung dieses Plans deshalb auch das Schwabenhaus für 55.000 Mark. Eine Bürgerinitiative verhinderte jedoch das große Bauprojekt.
Gegen Mitte des Jahres 1959 wurde das seit einiger Zeit leerstehende Schwabenhaus vom Jugendsozialwerk jeden Montag geöffnet. Wöchentlich trafen sich 40 bis 50 Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren, mit ausreichend Platz für zahlreiche Aktivitäten. Das erste Jugendhaus Tübingens war geboren.
Das provisorisch eingerichtete Clubheim im Schwabenhaus sollte im Herbst 1960 plangemäß wieder aufgelöst werden. Jedoch erkannten die Stadt und der Landkreis Tübingen aufgrund des sich schnell etablierten Jugendtreffs die Notwendigkeit eines eigenen Clubs und wurden am 1. Oktober 1960 gemeinsame Träger der neu geschaffenen Einrichtung. [© Roman Eisele]
„Ich bin von der Straße weggekommen wie viele andere auch“
Die Freude der Tübinger Jugendlichen über ihren eigenen Jugendclub wurde bei vielen offiziellen wie inoffiziellen Einweihungspartys deutlich. Das malerische Grundstück am Neckarufer lud gemischte Klientel zum Verweilen ein. Da allerdings der Winter bevorstand und Außenaktivitäten mit immer kälter werdenden Knochen verbunden waren, machten sich die Jugendlichen an den Umbau des Hauses. Der alte Gerümpelkeller sollte in eine gemütliche Tanzbar verwandelt werden, wobei Hermann Baur tatkräftig mitanpackte:
Ich war beim Umbau nur fürs Grobe zuständig. Demontage, nicht Montage. Erstmal mussten wir den ganzen Keller ausräumen und dann habe ich tausende Zentner Zement geschleppt. Dann kam die Disco. (Hermann Baur)
Für die ersten „Clubler“, wie sich die neu angesiedelten Schwabenhäusler nannten, waren neben der neu errichteten Kellerbar vor allem gemeinsame Unternehmungen die Highlights ihrer Jugendclubzeit. Beispielsweise war der Club im Jahr 1960 in Zürich, die Jugendlichen radelten zum Tegernsee oder machten gemeinsam den Schwarzwald unsicher. Wolfgang Haag war damals einer der aktivsten „Clubler“:
Früher hat man sich in der Stadt, am Neckartor oder auf dem Sportplatz auf den Mittag versammelt und seine zwei Bier getrunken. Der Jugendclub war für mich ein Glücksfall. Ich bin von der Straße weggekommen wie viele andere auch. Wir haben nicht alles richtig gemacht, aber wir waren anständig. Wobei ich einmal ins Haus gekommen bin, und im großen Saal fehlte das alte Klavier. „Das Klavier ist leider nass geworden“, hieß es dann. Fast zwei Wochen lag das gute Stück im Neckar. Das muss geplatscht haben. (Wolfgang Haag)
1962 übernahm der Wohlfahrtspfleger Hans Klein die Stabsführung im Schwabenhaus. Die erste Riege der „Clubler“ war damals nicht mehr allzu aktiv, nur noch wenige trafen sich mehr oder weniger regelmäßig zum Kartenspielen. Es entstand die erste Krise des Jugendclubs, da das Engagement trotz verschiedener Angebote des Wohlfahrtpflegers langsam, aber sicher einzuschlafen drohte. Als Hans Klein dann vom CVJM zu einer anderen Aufgabe abberufen wurde, überlegte die Stadt wie schon planmäßig zwei Jahre zuvor, die Sache mit dem Jugendtreff einfach wieder zu beenden.
Nur 80 Pfennig kostete ein Cuba-Libre und für 70 Pfennig gab’s den Spezial-Club-Drink mit Cola, Canada und etwas Rum. Auf einer Feier am 20. April 1964 blieben Peter Amann und Walter Tröger aber lieber bei Bier. [© Hannelore Baur]
Die Ära Manfred Sailer: „Es war einfach schön“
Als im Mai 1963 der erst 25-jährige Manfred „Manne“ Sailer mit viel Idealismus die Leitung des Jugendclubs übernahm, war die Zukunft des Schwabenhaus noch lange nicht gesichert. Selbst nach seinem Amtseintritt als Jugendhausleiter bewegte sich der Schwabenhaus-Karren bedenklich pomadig. Der junge Sozialarbeiter sah allerdings im Club die Chance, mehr an die Öffentlichkeit zu treten, Kontakte zu Jugendverbänden herzustellen, Gegeneinladungen an andere Clubs auszusprechen und öffentliche Veranstaltungen wie Tanzabende zu initiieren:
Montags haben wir gekegelt in der Linde. Immer, wenn man alles getroffen hat, gab es Schnaps. An einem guten Abend kam ich auf rund 20 davon. (Inge Vetter)
Mit Manfred Sailer an der Spitze veränderte sich das Schwabenhaus rasant und bot Platz für zahlreiche neue Aktivitäten und fremde Jugendgruppen auf Reisen, wie aus Frankreich oder England. Es wurden ebenso Beat- und Faschingsabende veranstaltet wie Vorträge und Diskussionen zu gesellschaftspolitischen Themen oder Sporttreffen:
Es gab einen beliebten Sport bei uns im Haus, das „Kugelstoßen“. Ich bin mir sicher, dass die ein oder andere Kugel noch heute im Neckar liegt. Aber der Balkon war wie gemacht für weite Stöße in den Fluss. (Hannelore Baur)
Neben Bandwettbewerben, Spielemittagen, Modeschauen, Sporttreffen, Filmabenden und Wohltätigkeitsbällen fanden auch kooperative Events mit dem Amerika-Haus, der Lebenshilfe oder dem evangelischen Mädchenwerk statt. Sogar Bier durfte mittlerweile unter dem neuen Leiter getrunken werden, selbstverständlich nur unter der strengen Aufsicht von „Manne“ höchstpersönlich. Er prägte die „Clubler“ nachhaltig: 1965 war es den Jugendhausbesuchern Elke und Wolfgang Haag wichtig, dass „Manne“ ihr Trauzeuge wird:
Für mich ist es im Jugendclub erst richtig gut geworden, nachdem der „Manne“ dazukam. Aktivitäten in allen vier Himmelsrichtungen. Es war einfach schön. (Wolfgang Haag)
Noch heute trägt Hannelore Baur im Geldbeutel dieses Foto von einem Ausflug an den Bodensee mit sich, welches sie 1964 selbst geschossen hat. Von links: Manfred Sailer, Klaus Seitzer, unbekannt, Peter Amann, Hermann Baur, Uschi Walter. [© Hannelore Baur]
Acht Jahre voller Prägung: Gendarmen und Bidet-WCs
Ein Highlight der kommenden Jahre im Jugendclub bildeten verschiedene Ausflüge in die ganze Welt. Den Anfang machte eine Besuchergruppe aus Durham, die im Schwabenhaus gastierte und anschließend 14 junge Tübinger*innen auf die Reise mit nach England nahm. In Erinnerung geblieben ist vielen ehemaligen „Clublern“ auch eine Reise nach Frankreich:
Auf einer Felsenzunge bei Cassis am Mittelmeer sind wir einmal fast verhaftet worden, weil wir mit einem kleinen Gaskocher unsere Suppe gemacht haben. Es gab dort ein strenges Rauch- und Feuerverbot. Es kam eine ganze Gruppe Gendarmen und wir mussten 50 Mark Strafe zahlen. Woanders sind wir zum Essen eingeladen worden und es gab blutiges Steak, also so blutig, dass das Blut rausgelaufen ist. Wir fanden das eklig, aber wollten nichts liegenlassen. Drum haben wir das Fleisch mit den Klammern von der Tischdecke unter dem Tisch festgemacht. Die müssen geschumpfen haben, als das angefangen hat zu stinken. (Gerhard Wörner)
Ich bin einmal auf eine Jugendclubreise nach Marseille mitgefahren und wir haben irgendwo übernachtet. Auf den Gemeinschaftstoiletten gab es ein Bidet-WC. Wir kannten das nicht und dachten, dass man dort stehend die Füße reinhält. Das war eine Überraschung! (Inge Vetter)
Noch heute treffen sich die ehemaligen „Clubler“ mit ihrem früheren Leiter Manfred Sailer zu einem monatlichen Stammtisch in Tübingen. Nicht nur das, es gab natürlich Jubilarfeiern und „Manne“ wäre nicht „Manne“, wenn sein Engagement jemals enden würde:
Früher sind wir als „Clubler“ einmal im Jahr in die Rohrauer Hütte oberhalb von Bad Urach gefahren, das waren oft die Höhepunkte vom Clubjahr. Im Herbst 2022 sind wir wieder für ein paar Tage dort gewesen. Das ist alles der Verdienst von „Manne“. Damals wie heute organisiert er solche Erlebnisse. Das 50-jährige Jubiläum des Clubs konnten wir übrigens im Schwabenhaus feiern. Es war ein Highlight, dass wir nochmal ins Haus durften. Während der Feier gab es ein Orgelkonzert, aber der hat den Saal total leer gespielt. Das hat uns nicht gefallen, war halt kein Elvis oder so. (Elke Haag)
Der Schwabenhaus-Stammtisch wanderte über die Jahre vom Weinhaus Schmid über das Weinhaus Beck ins Café Cojote. Jeden zweiten Montag im Monat treffen sich dort die ehemaligen „Clubler“ – im März 2023 von links: Wolfgang Haag, Elke Haag, Inge Vetter, Hermann Baur, Hannelore Baur. [© Elias Raatz]
Abschied von „Manne“ und der Bebauungsplan von 1968
Im Jahr 1968 wurde ein weiterer in der Tübinger Bevölkerung umstrittener Bebauungsplan von der Stadtverwaltung genehmigt, wonach das Schwabenhaus sowie die benachbarte Neckarmüllerei abgerissen und einer Finanzgruppe zur Errichtung eines Geschäftszentrums zur Verfügung gestellt werden sollten. Eine Bürgerinitiative verzögerte die Pläne der Stadt, konnte den Abriss der Traditionswirtschaft neben dem Schwabenhaus im Jahr 1971 jedoch nicht verhindern. Heute befindet sich anstelle der alten Neckarmüllerei dort die 1991 neuerbaute Gasthausbrauerei „Neckarmüller“.
In die Neckarmüllerei kehrte bei einem Tübingen-Besuch am 5. Juli 1950 gar der damalige Bundespräsident Theodor Heuss mit seiner Entourage ein. Das Bild aus dem Jahr 1911 zeigt auf dem Vorplatz der Gastwirtschaft die Nymphen-Skulptur aus weißem toskanischem Marmor des Tübinger Bildhauers Karl Merz, welche heute im Park am Anlagensee steht. [© Till Kopper]
Die Eltern der 13-jährigen Ulrike „Rika“ Seibert haben sie 1971 durch deren Engagement in der Initiative zum Erhalt der Neckarmüllerei auf das Schwabenhaus gebracht:
Das Schwabenhaus hatte frisch wiedereröffnet und es war oberaffengeil. Die oberen Stockwerke waren zwar wegen Einsturzgefahr gesperrt, aber ansonsten war es traumhaft. Mit der Stadt gab es immer Streit, die wollte sich dem Trend der 70er zur Bebauung der Innenstädte anschließen. Aber für uns war der Jugendclub wichtig, wir hatten ja sonst nichts, wo wir unter uns waren oder hätten hingehen können. Vor allem nicht so malerisch am Neckar. (Ulrike „Rika“ Seibert)
Trotz seiner Bedeutung für die Jugendlichen der Region wurden dem etablierten Jugendclub bereits 1967 die Räume im Schwabenhaus schriftlich durch die Stadt gekündigt, damit diese den Bebauungsplan durchsetzen konnte. Im folgenden „Übergangsbetrieb“ war eine zukunftsgerichtete Arbeit sowie das Anwerben neuer Mitarbeitender unter den ständigen Abbruchdrohungen der Stadt kaum mehr möglich. Zudem fehlten Zuschüsse und eine dringend benötigte Gehaltsaufstockung für Manfred Sailer. Der kapitulierte 1971 schließlich vor den massiven Problemen und verließ ziemlich genau acht Jahre nach seinem Amtsantritt den Jugendclub:
Mit nur 25 Jahren durfte ich den Jugendclub übernehmen, ein Haus voller Leben. Jugendliche von den berüchtigten Tübinger Straßenecken haben mit mir gemeinsam Jahr für Jahr den Club nach ihren Vorstellungen in ihr Heim verwandelt. Ob die Tanzabende im Keller mit Schallplatten oder auch gesellige Nachmittage am Neckarufer, das Schwabenhaus wird immer einen Platz in meinem Herz haben. Und ich bin dankbar, dass dieser Platz durch unseren Stammtisch auch heute noch gut gefüllt wird. (Manfred Sailer)
Das Schwabenhaus wurde nach Protesten des Landesdenkmalamts, welches im Gebäude ein erhaltenswertes Kulturdenkmal sah, das „einen wichtigen Beitrag des Historismus mit leichten Jugendstileinflüssen“ bildet, vorerst nicht gemeinsam mit der alten Neckarmüllerei abgerissen. Innerhalb der Stadtverwaltung war man sich nun über die Zukunft des Schwabenhaus uneins, in welchem ohne Zukunftssicherheit und Manfred Sailer dem Chaos Tür und Tor geöffnet wurde. Neben „Manne“ verließen in dieser Zeit auch viele Aktive den Jugendclub.
Manchmal spielte Manfred Sailer im Keller des Schwabenhaus mit seiner Ziehharmonika. Neben ihm saß an diesem Abend seine Frau Gerda, mit der er noch heute „zufrieden mit dem, was das Alter so täglich bringt“ bei Rottenburg wohnt. [© Privatarchiv]
Von „Rettet das Schwabenhaus!“ zu „Das Schwabenhaus brennt!“
Ohne Clubleiter kam es im Schwabenhaus zu Zerstörungen und Schlägereien, woraufhin es im September 1971 kurzerhand geschlossen wurde. Der 19-jährige Elektromechaniker-Lehrling Josef Leuchter war seit der Selbstverwaltung im Schwabenhaus aktiv und hatte dort praktisch gewohnt:
Die Schließung hat mich getroffen wie ein Schlag! Natürlich lief nicht immer alles astrein und wir hatten Probleme, mal mit Drogen, mal mit den französischen Besatzungssoldaten, aber natürlich auch viel mit uns selbst. Dann hat der Landkreis die Trägerschaft des Clubs aufgegeben. Doch wir haben für unser Schwabenhaus gekämpft, vor allem Arbeiter, Lehrlinge und Schüler. (Josef Leuchter)
Die „Clubler“ verteilten Flugblätter, schrieben Leserbriefe im Schwäbischen Tagblatt und sammelten am 24. und 25. September 1971 im Rahmen der Unterschriftenaktion „Rettet das Schwabenhaus!“ auf der Tübinger Neckarbrücke rund 2.000 Unterschriften. Die Stadt wollte das Gebäude weiterhin abreißen, ließ die Jugendlichen aber mit gestifteten 5.000 Mark der Stadt die nötigsten Renovierungsarbeiten leisten und im Januar 1972 wiedereröffnen. In der darauffolgenden Zeit übernahmen die im Club verbliebenen Jugendlichen das Haus in Selbstverwaltung, das funktionierte recht ordentlich.
Bernd Melchert war damals 19 Jahre alt und Mitglied des Jugendclub-Fünfergremiums, welches als verantwortliche Personen und Sprecher*innen des Schwabenhaus gewählt wurden. Er erinnert sich wie Josef Leuchter noch gut an das Frühjahr 1972:
Wir hatten das Bedürfnis, ein Haus zu haben und wollten einen Treffpunkt, wo wir uns Getränke leisten können, feiern, Musik machen oder politisch aktiv sein. Das hat der Stadt nicht so ganz gepasst. Und eines Abends – obwohl wir beispielsweise immer kontrolliert haben, dass alle Aschenbecher in eine Metalltonne geleert werden, damit nichts passiert – rief mich die Feuerwehr an und sagte: „Das Schwabenhaus brennt!“ Für mich ist das heute noch merkwürdig, aber man kann es so stehen lassen. Damit war die Geschichte des Schwabenhaus sowieso gestorben. (Bernd Melchert)
Noch Tage später hat das Haus ein beklemmender Geruch von kaltem Rauch umweht. Es war kein lichterloher Brand und ich erinnere mich, wie wir nachts fassungslos am Neckar standen. Im großen Saal gab’s Polstermöbel, die wir irgendwie selbst organisiert hatten. Diese alten Dinger haben geschwelt und sind in Brand geraten, wie auch immer, aber ich will mich nicht in Theorien verlieren, davon gibt’s genug. Das Schwabenhaus war bis zum Brand meine zweite Heimat. In der Nacht habe ich geweint. (Josef Leuchter)
Die Jugendlichen organisierten am Rosenmontag im Februar 1972 ein Sit-in, um über die Zukunft ihres Jugendclubs zu diskutieren. [© Archiv Epplehaus]
„Wir haben Grund zur Annahme, daß man uns, die Tübinger Jugendlichen, rigoros abschieben will“
Der aus ungeklärten Umständen entstandene Schwelbrand im Inneren des Schwabenhaus machte die Räume in der Nacht zum 17. April 1972 unbenutzbar. Auch die folgenden polizeilichen Untersuchungen erbrachten keine Erkenntnisse. Aus dem Protokoll der Vollversammlung des selbstverwalteten Jugendclubs vom 27. April 1972 geht hervor, dass der Stadt bis zum 15. Mai 1972 das Ultimatum gestellt wurde, ein gleichwertiges Haus als Übergangslösung bereitzustellen. Tübingens parteiloser Oberbürgermeister Hans Gmelin äußerte sich laut Tagblatt-Ausgabe vom 31. Mai 1972 zu dieser Situation so: „Es ist wohl nicht Aufgabe der öffentlichen Hand, Jugendlichen ihr Tanzvergnügen zu finanzieren.“
Ich bin damals ein paar Wochen nach dem Brand mit ein paar Freund*innen in das abgebrannte Haus gestiegen. Wir hatten die Stadt der Brandstiftung verdächtigt und suchten Beweise. In der Mitte des Diskoraums hat einer meiner Mitschüler einen Packen verschmolzener Singles aus einem Haufen gezogen. Die oberste war noch leicht erkennbar „Let It Be“ der Beatles – aber wir haben es natürlich nicht sein lassen. (Ulrike „Rika“ Seibert)
Da die Stadt dem ersten Ultimatum nicht nachkam, wurde Oberbürgermeister Gmelin ein erneutes Ultimatum zum 22. Juni 1972 gestellt: „Wir haben Grund zur Annahme, daß man uns, die Tübinger Jugendlichen, rigoros abschieben will.“ Die „Clubler“ wurden ungeduldig und heckten einen geheimen Plan aus. Bereits einen Tag nach Ende des Ultimatums war für die Jugendlichen klar: „Wir hol’n jetzt unser Haus!“ – und sie besetzten ein Haus in der Karlstraße. Es folgte die „Geburtsstunde“ des Epplehaus, bei der es dem eigentlichen Jugendhaus-Gegner und Oberbürgermeister Gmelin zu verdanken war, dass sie nicht in einer Polizeieskalation endete.
Im weiteren Text des Ultimatums der Jugendlichen vom 8. Juni 1972 heißt es: „In zuvielen Gesprächen hat man versucht, uns zu beruhigen und hinzuhalten, während ca. 300 Jugendliche nicht wissen, wo sie hingehen sollen.“ [© Archiv Epplehaus]
Das Schwabenhaus vom Brand bis heute
Während das brandgeschwächte Schwabenhaus mehrere Jahre ein tristes Leerstand-Dasein am Neckarufer fristete, hat es den ehemaligen Betreuer Manfred Sailer erneut in die direkte Nachbarschaft verschlagen. „Manne“ arbeitete jahrzehntelang als Herbergsvater der Tübinger Jugendherberge. Den stadtinternen Streitereien um die Zukunft des Schwabenhaus setzte erst ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim ein Ende. Auch in Revision wurde die Klage der Stadt Tübingen auf einen Abriss des Schwabenhaus abgewiesen. Das Landesdenkmalamt hat es zum Kulturdenkmal erklärt: „Es steht im positiven Gegensatz zu den teutonischen Trutzburgen der übrigen Verbindungshäuser“ und wurde aufgrund seiner „kulturgeschichtlichen und heimatkundlichen Bedeutung“ in den 1970er-Jahren ins Denkmalbuch eintragen, gegen den erklärten Widerstand der Stadt. Ende 1976 begann die Sanierung des Gebäudes, welches schließlich am 15. August 1978 offiziell eröffnet und an die Volkshochschule übergeben wurde.
Seit 1998 wird das Gebäude nach erneuter Sanierung von der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik genutzt, deren großzügige Orgelnotenbibliothek mit über 8.000 Bänden europaweit etwas Besonderes darstellt. Die Evangelische Landeskirche Württemberg hat als Trägerin der Hochschule mit der Stadt einen langfristigen Mietvertrag vereinbart, sodass die weitere Nutzung des architektonischen Kleinods am Neckarufer gesichert ist – und somit auch die Zukunft des Schwabenhaus.
Von August 2015 bis Anfang 2017 wurde das Schwabenhaus durch die Stadt Tübingen aufwändig renoviert, wobei auf die Bedürfnisse der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik Rücksicht genommen wurde. [© TÜpedia]
„Dann aber Feuer frei!“
1972: Richard Epple stirbt durch Schüsse aus einer Polizeiwaffe
Von Elias Raatz.
Das Epplehaus heißt nach vielen Streitereien mit der Stadt um seine Benennung offiziell „Jugendzentrum Karlstraße“ – inoffiziell jedoch mit vollem Namen „Richard-Epple-Haus“, gerne auch „REH“ oder eben „Epplehaus“ abgekürzt. Vielen Ehrenamtlichen oder Konzert- und Partybesucher*innen ist der Hintergrund des Namens allerdings unbekannt. Wer war also der 17-jährige Mechanikerlehrling aus Breitenholz? Wie kam es dazu, dass Richard Epple mitsamt seinem Auto von der Maschinenpistole eines Polizisten durchsiebt wurde? Und warum trägt das Epplehaus seinen Namen, der jahrelang für Benennungsstreitereien und einige Furore sorgte?
Eine kleinbäuerliche Familie in Zeiten der Rote Armee Fraktion
Seit Generationen lebte die Familie Epple im ältesten Haus des kleinen Ortes Breitenholz im Tübinger Landkreis. Mit drei Kühen, zwei Schweinen und zehn Hühnern auf dem Hof sowie etwas Landbesitz waren es kleinbäuerliche Verhältnisse, in die Richard Epple am 2. August 1954 hineingeboren wurde. Sein Vater starb, als er zwölf Jahre alt war. Seitdem musste die Mutter Maria ihn und seinen älteren Bruder Erich allein aufziehen. Der pubertierende Jugendliche wuchs im Spannungsfeld zwischen 68er-Revolte und RAF-Hysterie auf, wobei er von beidem eher wenig mitbekam und sich vornehmlich dem Schrauben an Autos widmete.
Im Jahr von Epples Konfirmation 1968 legten Andreas Baader und Gudrun Ensslin mit zwei Komplizen mehrere Brände in zwei Frankfurter Kaufhäusern. Die Brandstifter*innen kamen in Haft. Am 14. Mai 1970 wurde Andreas Baader unter Einsatz von Waffengewalt befreit. Eine zentrale Rolle spielte dabei die junge Journalistin Ulrike Meinhof, welche bereits über den früheren Prozess berichtete. Gemeinsam mit Ensslin und dem Rechtsanwalt Horst Mahler galten Baader und Meinhof als Kopf der sich sukzessive vergrößernden Rote Armee Fraktion (RAF). Nach einer militärischen Ausbildung in Jordanien bombte und schoss sich die „Baader-Meinhof-Gruppe“ durchs Land. Nachdem sich mit einem Schreiben 1971 erstmals an die Öffentlichkeit gewandt wurde und neben dem RAF-Mitglied Petra Schelm auch die ersten Polizisten ihr Leben ließen, herrschte Angst und Schrecken in der Bundesrepublik. „Wer zuerst schießt, überlebt“, beschrieb ein Kriminalkommissar damals die Stimmung unter seinen Kollegen.
Im April 1971 veröffentlichte die RAF mit ihrem Strategiepapier „Das Konzept Stadtguerilla“ erstmals ein öffentliches Dokument. Darin bezeichnete sich die Gruppe als Rote Armee Fraktion und nutzte seitdem ihr Symbol mit rotem Stern und Maschinenpistole.
Wilde Verfolgungsjagt mit Todesfolge
Mittlerweile steckt der 17-jährige Richard Epple mitten in einer Ausbildung zum Mechaniker. Der Autonarr konnte seiner großen Leidenschaft nicht widerstehen und fuhr ab und an verbotene Spritztouren mit einem nicht zugelassenen Ford Taunus 12M der Familie. So auch am Abend des 1. März 1972, als er mit dem Wagen wegen eines defekten Rücklichts um 20:43 Uhr einer Polizeistreife auf der Tübinger Wilhelmstraße auffiel. Mutmaßlich aus Angst vor Konsequenzen durch eine Polizeikontrolle floh der mit circa 2,3 Promille angetrunkene Jugendliche in hoher Geschwindigkeit. Epple war nicht vorbestraft, hatte allerdings keinen Führerschein.
Es entwickelte sich eine wilde Verfolgungsjagd durch Tübingen und über die Bundesstraße 28 in Richtung Herrenberg, wobei Epple mehrfach versucht haben soll, das ihn verfolgende Polizeiauto abzudrängen. Die örtliche Polizei richtete bei Herrenberg eine Straßensperre ein, die der junge Fahrer durchbrach und weiter durch die Stadt hindurch in Richtung Calw flüchtete. Bei dieser waghalsigen Aktion musste ein Polizist zur Seite springen, was dem fliehenden Epple als Mordversuch ausgelegt wurde. Zumindest geht das aus wütenden Funkmitschnitten hervor, die der verfolgende Tübinger Streifenführer Hans-Jörg Geigis mit der Zentrale führte, die wenig später entschied: „Dann aber Feuer frei!“
Nach einer circa 20 Kilometer langen Verfolgungsjagd schoss Polizeimeister Geigis sein gesamtes Pistolenmagazin ab – drei Warnschüsse und neun weitere gezielt, aber wirkungslos. Anschließend zog der 26-jährige Geigis eine Beretta-Maschinenpistole und lehnte sich aus dem Seitenfenster seines Polizeiwagens. Mitten im kleinen Örtchen Affstätt entleert er das gesamte Magazin seiner MP auf Epples Fahrzeug. Dessen Wagen kam ins Schleudern und rammte einen Eisenstab. Richard Epple wurde von sieben Kugeln durchsiebt und war sofort tot.
Die Polizei sichert den Tatort, nachdem Epples Wagen bei Herrenberg-Affstätt auf Höhe der Gaststätte „Linde“ zum Stehen gekommen war. Den Flüchtenden traf ein Schuss in den Brustkorb, zwei in die linke Schulter, zwei in die Nackenpartie, einen in die linke Wange und einen in den Ellenbogen. [© Stadtarchiv Tübingen]
„Isch’s Klei noch allweil net do?“
Ein 17-jähriger Junge fährt ohne Fahrerlaubnis, gerät in Panik und wird von mehreren Schüssen aus einer Polizeiwaffe getötet. Sein damals 19-jähriger Bruder Erich Epple musste seiner Mutter selbst die Todesnachricht überbringen. Die Mutter Maria fragte ihn bei seiner Ankunft: „Isch’s Klei noch allweil net do?“ („Ist das Kleine [Kosename] noch nicht da?“). Daraufhin begann der Bruder zu weinen: „Muetter, nei, der kommt nemme. […] Muetter, der isch tot.“ Erich Epple musste den ganzen Abend am Bett seiner Mutter bleiben, da sie mit Selbstmord gedroht hatte:
Meiner Mutter zu sagen, dass ihr Sohn nicht mehr lebt, das hat man einem jungen Seicher wie mir überlassen. Bis zu ihrem Tod war von der Polizei niemand bei ihr, um ihr zu sagen: „Wir haben Ihren Buben erschossen, es tut uns leid.“ (Erich Epple)
Richard Epple als Opfer einer RAF-Hysterie?
Der Fall sorgte für Schlagzeilen und Furore. Landkreisweit solidarisierten sich Menschen mit der Familie, in Tübingen wurde das ,,Solidaritätskomitee Richard Epple“ gegründet. In Herrenberg sollte eine Podiumsdiskussion der Frage nachgehen, ob die Polizei entwaffnet werden müsse. Der lokal bekannte Ali Schmeißner organisierte in der Tübinger Innenstadt ein Solidaritäts-Konzert mit den Politrockern „Ton Steine Scherben“ um Rio Reiser, die sich wegen ihrer Tour gerade in der Nähe aufhielten. Das Konzert wurde jedoch wegen fehlender Anmeldung nach wenigen Songs von der Polizei aufgelöst. „Ton Steine Scherben“ sollten wenige Monate danach noch eine größere Rolle bei der Besetzung eines leerstehenden Hauses spielen, welches später nach Richard Epple benannt werden wird.
In Breitenholz war unterdessen Richard Epple beigesetzt worden. Seine Mutter konnte die Beerdigungskosten vor allem von den 2000 Mark begleichen, die das ,,Solidaritätskomitee“ für sie gesammelt hatte. Erich Epple war dennoch „nicht besonders froh“ um das ausgiebige Engagement der Tübinger Schüler*innen und Studierenden. Er habe trotz viel Mitgefühl gemerkt, „dass sie den Fall meines Bruders auch in politischem Eigeninteresse ausschlachten wollten“. Richard Epple wurde als ein Opfer des (aus RAF-Angst) zum Polizeistaat aufrüstenden Rechtsstaat begriffen, als Opfer eines fatalen Verlustes der Verhältnismäßigkeit.
Auf der anderen Seite ging der Staat in Abwehrstellung. In der Begründung zum Schusswaffengebrauch wird die Polizei später verlauten lassen, man habe Epple wegen seiner rücksichtslosen Flucht für einen RAF-Terroristen gehalten. Hans-Jörg Geigis gab zudem an, nur auf die Reifen gezielt haben zu wollen und nicht gesehen zu haben, dass es sich um einen sehr jungen Fahrer handelte. Da die ermittelnde Staatsanwaltschaft Stuttgart die „Grundsätze des Mindesteingriffs und der Verhältnismäßigkeit“ beim Polizeieinsatz als nicht verletzt empfand, wurde das Verfahren gegen den Todesschützen nach drei Wochen wieder eingestellt – was zu diversen Reaktionen führte:
Wir sind der Meinung, daß das jeden angeht. Wir fordern Sie, die Bevölkerung, auf, durch massiven Protest diesen brutalen Methoden unserer „Freunde und Helfer“, der Polizei, Einhalt zu gebieten. (,,Solidaritätskomitee Richard Epple“)
Der Fall Richard Epple schlug breite Wellen. Am 4. März 1972 erschien neben einem ausführlichen Artikel diese Karikatur in der linken Schülerzeitung „Roter Alex“ des Schweinfurter Alexander von Humboldt-Gymnasiums. [© MAO-Projekt]
„Jeder, der sich wie ein Verbrecher verhält, muss auch damit rechnen, als ein solcher behandelt zu werden“
Posthum wurde Richard Epple diffamiert, um ihm so eine (stärkere) Mitschuld an seinem Tod zu geben. Am 14. März 1972 erschien ein Brief, der angeblich von 31 anonymen Bewohner*innen von Breitenholz unterzeichnet wurde:
Der Lehrling Richard Epple ging seit Wochen keiner geregelten Arbeit nach, versäumte die Berufsschule und wurde abends erst aktiv, wenn Leute in seinem Alter zu Haus sein sollten. Wir alle bedauern den tragischen Tod von Richard Epple, sind jedoch der Meinung: Jeder, der sich wie ein Verbrecher verhält, muss auch damit rechnen, als ein solcher behandelt zu werden. (anonymer Leserbrief)
Nach dem Tod seines Bruders wurde Erich Epple immer misstrauischer und einsamer. Die Diffamierung zeigte in der kleinen Dorfgemeinschaft von Breitenholz ihre Wirkung. Wenn er auf Fußballplätze ging, zeigten die Leute auf ihn: ,,Guck, des isch dr ander Epple!“ Bewundernd sprach er sich vor allem über die Nervenstärke seiner Mutter aus, die im Laden oder der Metzgerei immer erst dann beachtet wurde, wenn alle anderen schon bedient waren. Erich Epple resümierte:
Nein, ein Verbrecher war mein Bruder nicht. Und ein Held auch nicht, schon gar kein politischer. Sondern ein Bursch, der zu früh den Vater verloren hat und mit dem die Mutter nicht fertig geworden ist. (Erich Epple)
Die Fotografie von Richard Epple als Konfirmand 1968 im Hintergrund des Bildes sollte fast drei Jahrzehnte bis zu ihrem Tod im Zimmer seiner Mutter Maria Epple stehen. [© Archiv Epplehaus]
„Das Haus sollte etwas wie ein Mahnmal sein“
Auch circa drei Monate nach Richard Epples Tod war seine Geschichte noch immer brandaktuell. Am Abend des 23. Juni 1972 gab die Band „Ton Steine Scherben“ ein erneutes Konzert, diesmal in der Mensa Wilhelmstraße. Danach besetzten Jugendliche ein leerstehendes Haus in der Karlstraße 13, um sich dadurch nach dem Brand des ehemaligen Jugendclubs Schwabenhaus sowie dem Ablauf eines an die Stadt gestellten Ultimatums ein neues Jugendzentrum zu erstreiten. Ob ihrer baldigen Selbstverwaltung des besetzten Hauses waren die Jugendlichen der Ansicht, ihnen stünde die freie Wahl des Namens ihres Jugendzentrums zu. Der Name „Richard-Epple-Haus“ wurde bereits direkt nach der Hausbesetzung in einer Vollversammlung der Jugendlichen bestimmt.
Die Benennung wurde von der kommunalen Verwaltung und der Polizei als Provokation verstanden. Die Kreissparkasse als Eigentümerin des Gebäudes weigerte sich gar, das Haus an die Stadt zur Einrichtung eines Jugendtreffs zu verkaufen oder zu vermieten, sollte es den Namen Richard Epples tragen. Tübingens Oberbürgermeister Hans Gmelin meinte in einem Interview über Epple: „Wie jeder weiß, war Richard Epple kein unbeschriebenes Blatt.“ Starke Worte eines Oberbürgermeisters, der von 1941 bis 1945 als NS-Gesandtschaftsrat am Holocaust in der besetzten Slowakei beteiligt war – wie jeder weiß, war Hans Gmelin kein unbeschriebenes Blatt.
Um das gesamte Projekt nicht zu gefährden, stimmten die Jugendlichen dem städtisch vorgeschlagenen Namen „Jugendzentrum Karlstraße“ zu. Das war jedoch Kalkül. Rund eine Woche nach der offiziellen Eröffnung wurde der Name „Richard-Epple-Haus“ in einer weiteren Vollversammlung am 10. Dezember 1972 erneut beschlossen, nachdem die Formalia mit der Stadt geregelt waren. Davon berichtet Bernd Melchert, der im ehemaligen Jugendclub Schwabenhaus zum Fünfergremium gehörte, welches die Jugendlichen offiziell vertrat:
Wir waren uns einig, dass wir mit dem Namen zwar nicht die Polizei provozieren wollten, aber eben ein Zeichen setzen, dass die – ich sage es einfach – Ermordung von Richard Epple damals wie heute nicht aufgeklärt oder strafrechtlich verfolgt worden ist. Es war eine schwierige Zeit mit der ersten RAF-Generation und nervösen Polizisten, die klassische Hippies mit langen Haaren wie mich und meine Freunde auch mal mit der Maschinenpistole bei der Verkehrsstreife aus dem Auto holten. Das Haus sollte etwas wie ein Mahnmal sein. (Bernd Melchert)
„Vom Jugendzentrum besetzt“ und „Jugendzentrum Richard Epple“ stand auf den Transparenten, die das Schwäbische Tagblatt am 26. Juni 1972 fotografierte. [© Blunck/Schwäbisches Tagblatt]
„Sorgen wir durch richtige Erziehung dafür, daß unsere Kinder nicht zur Plage der Familie werden, um eines Tages als unerzogene Erwachsene in kollektiver Neurose unseren Staat wegzufegen“