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Als Kind in Auschwitz: das Schicksal einer Holocaustüberlebenden erzählt für junge Leser
Tova Friedman wurde 1938 in der polnischen Stadt Tomaszów Mazowiecki, geboren. Dort war sie damals eines von Hunderten jüdischen Kindern. Im Alter von fünf Jahren wurde sie zusammen mit ihrer Mutter ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Bei Kriegsende waren von den Kindern aus ihrer Heimatstadt nur noch fünf am Leben. Tova gehört zu den letzten Überlebenden, die von ihren Erlebnissen im Holocaust berichten. Zusammen mit der preisgekrönten Journalistin und Kinderbuchautorin Hilary Freeman erzählt sie leicht fasslich für junge Leser*innen, und doch ohne zu beschönigen, von ihren Kindertagen in Polen, den schrecklichen Erlebnissen im Lager, von den alltäglichen Grausamkeiten, dem Leiden und Sterben. Und sie erzählt davon, wie sie überlebte, wie sie mit ihren Eltern in die USA auswanderte und dort ein neues Leben für sie begann. Manuel Šumberac hat die Erzählung einfühlsam illustriert. Das Buch enthält neben einem Glossar auch eine Auswahl der Fragen, die Tova auf ihrem TikTok-Kanal @tovafriedman am häufigsten gestellt werden. Sie schreibt: »Ich kann und werde mich nicht entmutigen lassen. Wir müssen Antisemitismus verhindern, wo immer wir können. Die Menschen müssen zusammenkommen und gemeinsam das Übel Vorurteil ausmerzen. Wir sollten stattdessen den Frieden, die Toleranz und die Akzeptanz aller Menschen feiern, egal welcher Religion, welcher Kultur oder welchem Glauben sie angehören.«
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Seitenzahl: 175
Veröffentlichungsjahr: 2025
TOVA FRIEDMAN
WIE ICH DAS TODESLAGER ÜBERLEBTE
Geschrieben in Zusammenarbeit mit Hilary Freeman
Aus dem Englischen von Roman Stadler
Illustrationen von Manuel Šumberac
Dieses Buch ist den eineinhalb Millionen jüdischen Kindern gewidmet, die im Holocaust ermordet wurden – und all den jungen Leserinnen und Lesern, die diese Welt zu einem besseren Ort machen wollen.
Tova Friedman wurde 1938 geboren, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In der polnischen Stadt Tomaszów Mazowiecki, wo sie mit ihren Eltern lebte, war sie damals eines von Hunderten jüdischen Kindern. Im Alter von fünf Jahren wurde sie zusammen mit ihrer Mutter ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Bei Kriegsende waren von den Kindern nur noch fünf am Leben.
Tova ist eine der wenigen noch lebenden Überlebenden, die von ihren Erlebnissen im Holocaust erzählen. Heute lebt sie in Highland Park im Bundesstaat New Jersey in den USA und setzt sich weltweit gegen Antisemitismus ein.
Mit ihrem TikTok-Kanal @tovafriedman erreicht sie seit Kurzem ein ganz neues Publikum, ihre Videos wurden insgesamt bereits über 75 Millionen Mal angesehen. Hier im Buch finden sich neben einem Glossar auch eine Auswahl der Fragen, die Tova auf ihrem Kanal am häufigsten gestellt werden.
Dieses Buch ist Tovas Geschichte.
Hilary Freeman ist eine preisgekrönte Journalistin und die Autorin von sieben Kinder- und Jugendbüchern, die für verschiedene Literaturpreise nominiert wurden. Sie hat sich für mehrere große Publikationen mit dem Thema Antisemitismus befasst, arbeitet regelmäßig für Radio und TV und hilft als Kummerkastentante Jugendlichen und Erwachsenen bei ihren Problemen.
Hilarys Großeltern mussten aus Nazideutschland fliehen, viele ihrer Verwandten wurden im Holocaust ermordet.
Mit ihrem Partner und der gemeinsamen Tochter lebt sie auf einem Hausboot in Camden Town, London.
Der Übersetzer
Roman Stadler ist staatlich geprüfter Übersetzer und arbeitet seit 2005 als freier Übersetzer und Lektor. Zuvor hat er in München und Manchester Anglistik und Germanistik studiert. Er lebt in München.
Inhalt
Prolog
Ankunft – 1950
Kapitel eins
Unter dem Tisch
Kapitel zwei
Der Sammelplatz
Kapitel drei
Überlebensregeln
Kapitel vier
Das letzte jüdische Kind auf der Welt
Kapitel fünf
Der Viehwaggon
Kapitel sechs
Die Rasur
Kapitel sieben
Hunger
Kapitel acht
Ganz allein
Kapitel neun
Die Tätowierung
Kapitel zehn
Die Gaskammer
Kapitel elf
Mama
Kapitel zwölf
Befreiung
Kapitel dreizehn
Heimkehr
Kapitel vierzehn
Albträume
Kapitel fünfzehn
Das Sanatorium
Epilog
Familie
Fragen an die Autorin
Glossar
Danksagungen
Ankunft – 1950
»Alles Gute zum Geburtstag, Tola!«
Mama hält mir einen kleinen Kuchen entgegen. Er ist mit blassrosa und weißem Zuckerguss verziert, obendrauf sind Kerzen, die in der Zugluft des Küchenfensters flackern.
Einen Moment lang bin ich unsicher, was ich tun oder sagen soll. Heute, am 7. September 1950, werde ich zwölf Jahre alt, und das hier ist der erste Geburtstagskuchen, den ich jemals bekommen habe. Er sieht so schön aus und so lecker – so perfekt – , dass ich ihn fast nicht berühren mag. Ich weiß, wie sehr sich meine Eltern diesen Kuchen vom Mund abgespart haben. Wir haben sehr wenig Geld, und meine Eltern sind sehr bedacht darauf, es nicht für Unnützes auszugeben.
»Na los«, sagt Mama. Sie schaut zu Papa, der neben ihr steht und stolz lächelt. »Blas die Kerzen aus. Wünsch dir was.«
Was wünsche ich mir? Es gibt so vieles – so vieles, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Ich wünsche mir, dass wir für immer hier in unserer kleinen Wohnung bleiben können, dass wir nie wieder irgendwohin umziehen müssen. Ich wünsche mir, dass wir nicht nur zu dritt wären, sondern dass auch meine Großeltern und meine Tanten und Onkel und Cousins und Cousinen hier wären, um mit uns zu feiern. Ich wünsche mir, dass Mama nicht immer so traurig ist, dass ich sie nicht, wenn ich abends im Bett liege, durch die dünne Schlafzimmerwand weinen höre. Aber jetzt, in diesem Augenblick, wünsche ich mir vor allem, dass ich Freundinnen hätte, eine einzige wenigstens.
Ich hole tief Luft und blase, so fest ich kann. Die Flammen flackern wild, wehren sich kurz und gehen dann eine nach der anderen aus. Nachdem alle erloschen sind, schließe ich meine Augen. »Ich wünsche mir, dass …«
»Psst!«, macht Papa. »Sag’s uns nicht, sonst geht es nicht in Erfüllung.«
Mama stellt den Kuchen auf den Küchentisch, und ich sehe ihr dabei zu, wie sie ein großes Küchenmesser nimmt und anfängt, ihn in winzig kleine Stücke zu teilen, damit wir so lange wie möglich etwas davon haben. Der glatte rosa Zuckerguss splittert, und der Kuchen darunter ist braun – Schokolade, den mag ich am liebsten. Mama lächelt zwar immer noch, doch ihre Augen glänzen feucht. Sie blinzelt die Gedanken an ihre Familie weg. Papa legt ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Sie seufzt.
»Na los, Tola, das erste Stück gehört dir«, sagt sie.
Das muss man mir nicht zweimal sagen. Gierig habe ich mir schon eins geschnappt und mir zu viel davon in den Mund gestopft. Der Kuchen schmeckt unglaublich. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, hungrig zu sein. Doch heute werde ich essen wie eine Königin.
Mama, Papa und ich sind erst vor fünf Monaten in New York angekommen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich ungläubig die Skyline bestaunte, als unser Schiff in den Hafen einfuhr. Mama ging es nach den vielen Wochen auf See gar nicht gut. Als Papa mich zum Bug des Schiffs schickte, lag sie an Deck auf einer Matratze.
»Lauf nach vorn und sieh dir die Freiheitsstatue an«, meinte er. »Das ist ein Anblick, den du nie mehr vergessen wirst.«
Bis dahin hatte ich die Statue nur auf Fotos gesehen, und mir blieb die Luft weg, als ich sah, wie groß sie in Wirklichkeit war – und wie ihre Augen unserem Schiff zu folgen schienen, als wir langsam an ihr vorbeifuhren. Ich konnte nicht glauben, wie hoch die Wolkenkratzer waren: Sie reichten tatsächlich bis in die Wolken. Der Unterschied zwischen dieser Stadt und den schmutzigen, zerbombten Kraterlandschaften Europas, die ich noch deutlich vor Augen hatte, hätte größer nicht sein können. Der Schatten der Freiheitsstatue glitt über unser Schiff hinweg, und ich betete, dass das Leben in unserer neuen Heimat sich zum Besseren wenden möge.
Während der ersten paar Wochen wohnten wir in einem Hotel in Manhattan. Dann fand Papa eine Arbeit und wir zogen in unsere Wohnung nach Queens, genauer: in den Stadtteil Astoria, ein italienisches Viertel mit kleinen Häuschen und gepflegten Gärten. Unser Haus war der einzige Wohnblock im Karree. Wir hatten ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Badezimmer, an den Fenstern waren Vorhänge, und es gab sogar ein Radio. Es fühlte sich alles so luxuriös an, dass es mir gar nichts ausmachte, dass ich auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen musste.
Außerhalb unserer Wohnung war das Leben schwieriger. Alles in New York fühlte sich fremd an: die Kleidung, die Autos, das Essen, der Lärm, und am allermeisten die Sprache. Aus den Mündern der Leute kamen unverständliche Laute, und manchmal fragte ich mich, ob ich sie jemals verstehen würde. Am Anfang konnte ich nur einige Wörter Englisch – zu Hause hatten wir immer Jiddisch gesprochen. Ein wenig Polnisch sprach ich auch, aber das brachte mir hier nichts.
An meinem ersten Tag in der Schule sagte der Direktor, dass ich in die vierte Klasse müsse, wo die Kinder zwei ganze Jahre jünger waren als ich. Ich war groß für mein Alter, ragte also weit über meine neunjährigen Klassenkameradinnen und -kameraden hinaus. Die anderen Kinder hänselten mich, weil ich seltsam aussah mit meinen langen Zöpfen, Secondhand-Kleidern und abgetragenen Schuhen, und weil ich einen ausländischen Akzent hatte. Manchmal näherten sie sich mir, als würden sie sich an ein seltsames Tier heranpirschen, um es zu begutachten, nur um dann kichernd davonzurennen. Oder einer schubste den anderen in meine Richtung und sie riefen dabei etwas, das ich nicht verstand, und lachten mir dann direkt ins Gesicht. Ich schämte mich, aber ich wusste auch, dass alles noch viel schlimmer hätte sein können. Wenigstens nannte mich niemand mehr »dreckige Jüdin« oder versuchte, meine Familie umzubringen.
Die Kinder in meiner Straße waren genauso. Sie starrten mich an, als wäre ich eine Außerirdische. Ich hätte so gerne mit ihnen gesprochen, bei ihren Spielen mitgemacht, aber ich wusste ja nicht einmal, wie man spielt. Den ganzen ersten Sommer hier in New York fühlte ich mich einsam, hatte Angst und war verwirrt.
Meinen Eltern konnte ich nicht sagen, wie traurig ich war. Wir hatten alle schon so viel durchgemacht, und ich hatte das Gefühl, dass es nun an mir war, sie stolz und glücklich zu machen. Obwohl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schon fünf Jahre vergangen waren, waren unsere Wunden immer noch sehr frisch.
Jetzt bin ich also zwölf, und ich denke – ich hoffe – , dass die Dinge von jetzt an besser werden. Das neue Schuljahr beginnt und ich komme in die siebte Klasse, mit Kindern in meinem Alter. Ich muss nicht mehr auf einem winzigen Stuhl sitzen, und meine Lehrerin hat mir bereits gezeigt, wie man einen Stift richtig hält. Und ich verstehe immer mehr englische Wörter, was bedeutet, dass die anderen mich etwas weniger wie eine Idiotin behandeln. Grund dafür ist dieses wundervolle Buch, das mir Mama geschenkt hat. Es ist ein großes Bilder-Wörterbuch, und man könnte sagen, dass dieses Buch der erste Freund war, den ich in New York hatte.
Ich verbrachte den Sommer auf einem Stuhl vor unserem Wohnblock, prägte mir die Bilder ein und sagte die Wörter auf – so, wie sie da standen, also wahrscheinlich nicht ganz richtig. Jeden Abend, wenn sie von ihrer Arbeit in der Schuhfabrik nach Hause kam, ging Mama mit mir die Wörter durch, die ich an diesem Tag gelernt hatte.
Wenn Mama und Papa abends zu Bett gegangen sind, habe ich das Wohnzimmer für mich alleine. Zum allerersten Mal muss ich mir ein Zimmer nicht mit irgendjemandem teilen und kann sogar – das ist das Allerbeste – stundenlang bis spät in die Nacht Radio hören. Für den Großteil meines bisherigen Lebens waren Radios verboten gewesen; sie konnten dich töten, wenn sie ein Radio bei dir fanden. Jetzt eines zu haben, gibt mir das Gefühl von Freiheit.
Eines Freitagnachmittags, ich bin seit etwa einem Monat in der siebten Klasse, werde ich ins Büro des Direktors gerufen. Ich bin nervös und überlege, was ich Falsches getan haben könnte. Ich kämpfe gegen schreckliche Erinnerungen an und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Zu meiner Erleichterung werde ich von einer freundlich lächelnden Frau begrüßt, die mir bedeutet, mich zu ihr zu setzen.
»Hallo, Tola«, sagt sie.
Ich nicke, sage aber nichts. Ich sitze so still wie möglich da und warte auf Bestrafung.
»Keine Sorge, du hast nichts angestellt. Ich sag dir, worum es geht. Uns ist aufgefallen, dass du noch keine Freunde hast, Tola. Es scheint, als seist du immer allein. Ich würde dir gerne helfen.«
Ich fühle, wie mir die Hitze in die Wangen steigt.
»Ich weiß, dass es schwierig ist, sich zugehörig zu fühlen, wenn man neu ist und von … woandersher kommt. Aber es gibt Dinge, die du tun kannst, um es dir selbst ein wenig leichter zu machen. Hier haben Mädchen in deinem Alter keine so langen Zöpfe.« Sie deutet in Richtung meiner Haare und formt mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere, für den Fall, dass ich sie nicht verstanden hätte. »Abschneiden wäre doch eine Möglichkeit, oder?«
Es ist weniger eine Frage, mehr ein Befehl. Unbewusst greife ich nach meinen Zöpfen und zwirbele sie wieder und wieder um meine Finger. Ich habe mir seit fünf Jahren nicht mehr die Haare geschnitten – nicht mehr, seit sie mir im Konzentrationslager abrasiert wurden. Meine langen Haare bedeuten Mama so viel, und ich weiß, sie wird entsetzt sein.
»Und dann deine Kleidung.« Sie deutet auf mein langes, formloses Kleid, von dem ich natürlich bereits weiß, dass es mit den modischen Kleidern der anderen Mädchen in der Schule nicht mithalten kann. Aber ich habe mich noch nicht getraut, meine Eltern nach etwas Neuem zum Anziehen zu fragen, weil ich weiß, dass sie sich das nicht leisten können.
»Ich kann dir beim Aussuchen einiger geeigneter Kleidungsstücke helfen. In einem Laden hier in der Nähe«, fährt sie fort. »Du brauchst unbedingt etwas mit langen Ärmeln, um deine Arme zu bedecken.« Sie legt ihre Hand auf ihren eigenen Arm – genau dorthin, wo bei mir die Tätowierung ist – und schüttelt den Kopf.
»Niemand will an das da denken. Es verunsichert die Leute. Halte das bedeckt, versuch zu vergessen, was passiert ist, und erzähl niemandem davon, was du erlebt hast, okay?«
Jetzt fühle ich mich schuldig. Es liegt also an mir, dass ich keine Freunde habe – ich verschrecke sie, weil sie glauben, ich bin ein Monster. Wenn ich tue, was sie sagt, vielleicht mögen mich die anderen dann ja. Ich nicke wieder und würde am liebsten durch den Stuhl im Boden versinken.
Sie lächelt. »Zum Schluss möchte ich noch etwas anderes vorschlagen.«
Sie hebt an zu einem Vortrag. Ab und zu höre ich meinen Namen, aber mir dreht sich immer noch alles von dem, was sie zuvor gesagt hat, und ich verstehe kein Wort.
»Wir sind uns also einig, ja?«, sagt sie schließlich.
»Ja«, sage ich, weil es das ist, was sie erwartet. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wozu ich da meine Zustimmung gegeben habe.
Anfangs weigert sich Mama, mir die Haare zu schneiden. Ich muss zwei Tage lang mit ihr diskutieren, um sie davon zu überzeugen, dass es sein muss, weil die wichtige Frau in der Schule es so will. Schließlich holt sie mit einem tiefen Seufzer die Schere aus der Schublade und fängt an, mir die Haare genauso modisch kurz zu schneiden, wie die anderen Mädchen hier sie tragen. Als sie die Schere an meine Zöpfe legt, hat sie wieder Tränen in den Augen.
Auf meinem Weg zur Schule am Montagmorgen frage ich mich, ob meine neue Frisur mir tatsächlich mehr Beliebtheit verschaffen wird oder doch wieder nur doofes Geglotze. Weil ich mit meinen langen Beinen, hellen Augen und blonden Haaren natürlich immer noch nicht einmal ein kleines bisschen so aussehe wie die anderen Mädchen, die eher zierlich und dunkel sind.
Von meinem Lehrer, Mr Eagan, ernte ich ein anerkennendes Nicken, als er meine Verwandlung sieht. Im Laufe des Tages wird er jedoch zunehmend gereizt und ungeduldig. »Susan!«, sagt er schließlich und schaut mich direkt an. »Wieso hörst du nicht zu? Ich habe dir eine Frage gestellt.«
Susan? Plötzlich dämmert mir, wovon genau die Rede gewesen sein muss, als ich am Freitagnachmittag im Büro des Direktors nichts mehr verstanden hatte. Man hat mir einen neuen Namen gegeben. Mr Eagan schreibt ihn mir auf einen Zettel, den ich mit nach Hause nehme und meinen entgeisterten Eltern vorlege. Ich habe eine brandneue Identität: Ich bin jetzt nicht mehr Tola aus Polen, sondern ein amerikanisches Mädchen wie alle anderen – Susan Grossman.
In den folgenden Wochen schaffe ich es sogar manchmal, auf meinen neuen Namen zu reagieren, aber ich kann mich nicht daran gewöhnen. Er gehört irgendwie nicht zu mir.
Dann kommt während der Pause eines der Mädchen aus meiner Klasse zu mir rüber. Ich weiß, dass sie Lilly heißt. Sie ist klein und hübsch mit dunklen lockigen Haaren, trägt Kleider mit weißen Krägen und hat freundliche Augen. Wir haben noch nie miteinander geredet, aber ich weiß auch so, dass sie anders ist als die anderen. Sie dreht sich oft während des Unterrichts zu mir um und lächelt mich an – vor allem dann, wenn jemand meinen neuen Namen sagt und ich wieder mal nicht darauf reagiere.
»Warum hast du deinen Namen geändert?«, fragt sie. »Ich mag Tola!«
Ihre Direktheit verblüfft mich, aber ich bin zu schüchtern, um ihr zu antworten. Also zucke ich nur mit den Schultern.
»Ich finde das nicht fair«, sagt sie.
Einige Tage später fasse ich mir ein Herz und spreche sie in meinem gebrochenen Englisch an. Ich erzähle ihr, wie unwohl ich mich mit meinem neuen Namen fühle; dass in der jüdischen Tradition Babys die Namen von geliebten verstorbenen Verwandten bekommen, damit diese nicht vergessen werden; und dass ich nach einer Großmutter meiner Mutter benannt bin.
»Dann sag ihnen doch einfach, dass du wieder Tola sein willst«, meint Lilly trocken.
Und genau das mache ich dann auch. Ich stelle mich vor Mr Eagan und sage: »Ich hätte bitte gerne meinen eigenen Namen zurück!«
Er fängt an, ablehnend den Kopf zu schütteln, scheint es sich dann aber anders zu überlegen und hält inne. Wahrscheinlich hat er genug davon, dreimal »Susan« rufen zu müssen, bevor ich reagiere. »Also gut – Tola«, sagt er dann.
Und damit ist Susan Vergangenheit.
Danach werden Lilly und ich Freundinnen. Sie ist lieb und großherzig und hilft mir, mich weniger als Fremde in einem fremden Land zu fühlen. Ihre Mutter backt Kekse, die Lilly dann mit in die Schule nimmt, und sie besteht darauf, sie mit mir zu teilen. Mein Englisch wird von Tag zu Tag besser, und auch das habe ich größtenteils Lilly zu verdanken, die mir mit meiner Aussprache hilft. Ich fange an, mir Bücher aus der Schulbibliothek auszuleihen. Ich höre weniger Radio und lese mehr, und langsam eröffnet sich mir eine neue Welt – eine, in der Kinder nicht geschlagen oder ausgehungert werden. Eine, in der Eltern nicht einfach spurlos verschwinden.
Es wird Herbst, und ich bin jetzt seit über einem Jahr in Amerika.
»Was machst du an Thanksgiving?«, fragt mich Lilly eines Tages.
Ich starre sie verwirrt an. Meine Familie begeht nur die jüdischen Feiertage, über Thanksgiving weiß ich nichts.
»Ich finde, du solltest zu uns zum Essen kommen«, sagt sie.
Ich bin überrascht und freue mich sehr, dass mich Lilly zu sich nach Hause einlädt.
Mama scheint es ebenfalls zu freuen, aber sie ist auch ein wenig besorgt. »Iss alles, nur nicht das Fleisch«, ermahnt sie mich.
Ich nicke. Ich weiß, dass ich nur koscheres Fleisch essen darf. Selbst wenn ich dadurch noch mehr auffalle. Ich hoffe, dass Lillys Familie genauso nett ist wie Lilly, und dass sie das verstehen werden.
Am Nachmittag des Thanksgiving-Tages ziehe ich mein bestes Kleid an und laufe den kurzen Weg zum Haus von Lillys Eltern. Ich bin überwältigt von seiner Größe, seinen vielen Fenstern, von der Veranda – die das Haus aussehen lässt, als käme es aus einer meiner Geschichten – und von der Tatsache, dass man erst eine Treppe hinaufsteigen muss, um zur Eingangstür zu gelangen. Drinnen fühle ich mich dann vollends wie verzaubert. Der Tisch im Esszimmer ist riesig und aufwendig gedeckt, jeder Teller, jedes Glas, jedes Messer und jede Gabel glänzt und funkelt. Es ist Platz für mindestens zwanzig Leute. Ich kann meine Augen nicht abwenden.
»Kommt die ganze Klasse?«, frage ich.
»Klasse?« Lilly lacht. »Nein, nur meine Familie.«
Lillys Eltern begrüßen mich – sie sind genauso freundlich und herzlich wie Lilly selbst – , und ich weiß, dass sie auch noch einen älteren Bruder, eine ältere Schwester und zwei jüngere Geschwister hat. Aber wer sind all die anderen Leute? Sehnsucht und Traurigkeit überkommen mich. Familie. Ich hatte auch einmal eine große, glückliche Familie, bevor der Zweite Weltkrieg alles verändert hat.
Lilly merkt, dass es mir nicht besonders gut geht. Sie nimmt mich bei der Hand und führt mich nach oben in ihr Zimmer. Auch hier ist es märchenhaft – rosa und hell und voller Rüschen, Puppen, Kleider und Bücher.
»Kommt euch zu Thanksgiving nicht eure Familie besuchen? Macht es deinen Eltern nichts aus, dass du heute hier bei uns bist?«
Eigentlich bin ich stolz darauf, nie zu weinen – zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Aber heute kann ich meine Tränen nicht zurückhalten.
»Wir haben keine Familie.« Ich flüstere, weil ich Angst habe, dass uns jemand hört. »Sie sind alle tot. Ermordet.«
Von unten hören wir fröhliche Stimmen und Gelächter, doch Lilly sieht mich nur stumm an. Nach einer sehr langen Zeit flüstert sie: »Wie …?«
Man hat mir gesagt, ich solle niemals über das sprechen, was passiert ist. Und das habe ich auch nicht, mit niemandem. Aber ich weiß, dass ich Lilly vertrauen kann, und ich muss mit jemandem reden. Ich habe nicht mehr die Kraft, all die schrecklichen Erinnerungen, all den Schmerz bei mir zu behalten. »Ich … ich …«
»Lilly!«, hören wir ihre Mutter rufen. »Kommst du mit deiner Freundin jetzt zum Essen runter?«
»Wir können später darüber reden«, sage ich und versuche, mich wieder zu sammeln. »Oder morgen nach der Schule.«
Sie nickt und nimmt meine Hand. »Okay. Aber ich will die ganze Geschichte hören.«
»Ich werd dir alles erzählen. Das verspreche ich. Aber das wird nicht leicht – nicht für mich und nicht für dich.«
Und das habe ich ihr erzählt …
Unter dem Tisch
Das Erste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich mich unter dem Küchentisch verstecke.
Ich versteckte mich dort vor dem Geräusch der Stiefel. Schwere Stiefel, die Gefahr bedeuteten. Schwere Stiefel an den Füßen deutscher Soldaten, die mich jederzeit mitnehmen und umbringen konnten, nur weil ich Jüdin war. Manchmal, wenn ich sie direkt am Haus vorbeimarschieren hörte, kroch ich vorsichtig wieder unter dem Tisch hervor, stellte mich auf Zehenspitzen und lugte aus dem Fenster. Die Soldaten hatten Stahlhelme auf und jeder trug ein Gewehr, und das Geräusch ihrer Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster war so laut, dass ich es in meinem Bauch spüren konnte. Sie marschierten im Takt, hintereinander, wie ein riesiger Tausendfüßler.