Wir sind für dich da! -  - E-Book

Wir sind für dich da! E-Book

0,0

Beschreibung

Weltweit steigt die Zahl der Krebserkrankungen stetig an – es gibt kaum eine Familie, die davon nicht betroffen ist. In diesem Buch berichten renommierte Journalistinnen und Journalisten (FAZ, Süddeutsche Zeitung, ZDF, ZEIT usw.) in 11 Reportagen, wie Familien auf ihre je ganz eigene Art mit einem solchen Schicksalsschlag umgehen. Erzählt werden ergreifende und zum Teil sehr persönliche Geschichten von Krankheit, von Genesung und Tod, die Hoffnung geben, Trost spenden und Mut machen. Die Reportagen zeigen aber auch, dass Angehörige von krebskranken Menschen besondere Hilfe benötigen, auch von Seiten der Gesellschaft und Politik. Daher wird das Buch mit einer Diskussionsrunde aus Expertinnen und Experten abgerundet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 354

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Es gilt inklusive Sprache: Wenn zum Beispiel Autoren im Text im Plural steht, sind gleichzeitig Autorinnen und Autoren gemeint.

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagmotiv: © Verlag Herder

Umschlaggestaltung: Chris Langohr, Freiburg

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-38574-2

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83084-6

Inhalt

Vorwort

Wir sind für dich da!Krebs und Familie – 11 Reportagen

Sarah Majorczyk

Eine Krankheit, die alles verändert

Claudio Armbruster

»Wie sollen wir das schaffen?!«

Peter Dausend

»… ansonsten übernimmt die Krankheit die Herrschaft.«

Rocco Thiede

»Mutter ist eine starke Frau«

Ulrike Winkelmann

Liebe, keine Bedingungen: Eine »Familie des Herzens«

Kira Hanser

»Bei der Heilung sind wir nur Beifahrer, bei der Krankheitsbewältigung der Motor«

Martin Ahrends

Treff an der Transitraststätte

Melanie Mühl

Verschworene Gemeinschaft

Heike Haarhoff

»Mama, ihr habt das gut gemacht!«

Nina Freydag

Nur noch bis Weihnachten …

Stefan Braun

Unsere letzte Reise

Expertengespräch

Krebs: Patient ist die ganze Familie

Nachwort

Gemeinsam gegen den Krebs – Warum dieses Buch so wichtig ist

ANHANG

Hilfreiche Links

Fotografen

Autoren

Herausgeber

Über das Buch

Vorwort

Wir sind für dich da!

Krebs und Familie – 11 Reportagen

Die Diagnose Krebs verändert das Leben eines Menschen schlagartig – und auch seine Familie und Freunde sind betroffen: Wenn aus Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Partner oder Partnerin, Freund oder Freundin plötzlich ein Mensch mit einer Krebserkrankung wird, belastet das auch das soziale Umfeld. Wie geht es nun weiter? Wie können wir helfen? Und dann ist da noch die große und oft unausgesprochene Angst, die sich um den möglichen Verlust des geliebten Menschen dreht. Ängste und Sorgen werden zum alltäglichen Begleiter in einer Zeit, in der die Angehörigen doch stark sein wollen, eine Stütze für den Erkrankten. Sie leiden oft im Stillen. Ich erinnere mich noch gut an die Worte von Claudio Armbruster, einem der Autoren dieses Buches, der bei einem Treffen mit uns davon sprach, dass mit der Krebserkrankung seiner Mutter die Säule der Familie weggebrochen sei. Die Mutter, die sonst nichts umgehauen habe, wurde durch die Erkrankung völlig aus der Bahn geworfen. Wie sollte der Sohn nun den Spagat zwischen seiner eigenen Familie und seiner Mutter zu Hause am Bodensee, die die wichtigste Bezugsperson für seinen schwerstbehinderten Bruder ist, meistern? Oder die Geschichte der Autorin Heike Haarhoff, die von ihrer ehemaligen Nachbarin und deren Mann erzählt, der im Frühjahr 2009 an Darmkrebs verstarb. Bis heute beeinflusst seine Erkrankung das Leben der Familie.

Die Probleme und Nöte der Angehörigen stehen nur selten im Fokus der Öffentlichkeit. Mit diesem Buch wollen wir dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. In elf Reportagen schildern renommierte Journalistinnen und Journalisten, wie Angehörige und enge Freunde die Krebserkrankung eines nahestehenden Menschen erlebt haben und vor welchen Herausforderungen sie standen. Ohne zu beschönigen und fern von trockener Wissenschaftlichkeit beschreiben die Autorinnen und Autoren in zum Teil sehr persönlichen Geschichten das Auf und Ab in dieser schweren Lebensphase, von den geglückten und nicht geglückten Versuchen, gemeinsam den Krebs zu besiegen. Es sind Geschichten, die das Leben schreibt: So unterschiedlich die Krankheit Krebs ist, so individuell sind auch die Erzählungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Dieses Buch zeigt die komplexe und zutiefst menschliche Seite einer Krankheit, die zumeist nur in Statistiken und Zahlen wahrgenommen wird. Was in diesem Buch geschildert wird, geschieht überall im Land. Heute leben in Deutschland rund vier Millionen Menschen mit Krebs. Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche. Rechnet man die Familien und Freunde dazu, so sind in unserem Land viele Millionen Menschen von Krebs betroffen. Krebs geht uns alle an.

»Wir sind für dich da« – der Titel dieses Buches ist Versprechen und Herausforderung zugleich. Mit diesem Buch wollen wir Angehörigen Mut machen, über ihre Sorgen zu sprechen und Hilfe anzunehmen. Es soll ihnen Kraft und Hoffnung geben und zeigen: Ihr seid nicht alleine. Unser wichtigstes Anliegen als Deutsche Krebshilfe ist es, Krebsbetroffenen und ihren Angehörigen zu helfen. Wir unterstützen sie dabei, die neue Lebenssituation zu bewältigen, und zeigen auf, wie und wo die Familie und andere Bezugspersonen praktische, soziale und psychologische Hilfe finden. Wir bieten Broschüren an, die Antworten auf viele Fragen geben und sich mit den Problemen und Gefühlen beschäftigen, mit denen sich Angehörige auseinandersetzen müssen. Ein offenes Ohr für alle Betroffenen haben auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des INFONETZ KREBS, unseres kostenlosen telefonischen Informations- und Beratungsdienstes. Kompetente Ansprechpartner gibt es auch in den von der Deutschen Krebshilfe geförderten Krebsberatungsstellen.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Mitwirkenden herzlich bedanken: Bei Rocco Thiede, mit dem wir gemeinsam diese wunderbare Buch-Idee entwickelt haben, den elf Autorinnen und Autoren, dem Herder Verlag sowie den Teilnehmern des Experteninterviews: Cornelia Scheel, Professor Anja Mehnert-Theuerkauf, Professor Wolfgang Hiddemann, Dr. Karl Lauterbach und nicht zuletzt den Betroffenen und Angehörigen in diesem Buch für ihr Vertrauen und ihre Offenheit.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine gute Lektüre und dass dieses Buch Hoffnung gibt und Trost spendet. Darüber hinaus will es Angehörigen von Krebspatienten ermutigen, sich mit anderen zu verbinden, Hilfe zu suchen und über ihre Ängste und Sorgen zu sprechen – Sie sind nicht alleine!

Gerd Nettekoven

Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krebshilfe

Sarah Majorczyk

Eine Krankheit, die alles verändert

Der Blick ins Leben von fünf jungen Frauen in Deutschland. Sie wünschen sich ein Kind, sind schwanger oder bereits Mütter – und sie sind konfrontiert mit der gleichen, erschreckenden Diagnose: KREBS. Sie alle kämpfen mit ganz unterschiedlichen Sorgen und Gedanken – sind aber vereint in der Frage: Wie schütze ich meine Familie? Ein Bericht über Leid, Mut, Zuversicht – und Trauer.

Sorgfältig hört Louisa (5) ihre Schwester Feli (6) mit dem roten Plastik-Stethoskop aus dem Arztkoffer ab. Sie strahlt und ruft: »Alles gut – nur noch Krebs!«

Die krebskranke Feli (li.) mit Schwester Louisa, Mama Maren und Papa Basti

Feli aus Frankfurt leidet an einem Hirntumor, erlitt gerade zum zweiten Mal einen Rückfall. Feli verbringt seit ihrem dritten Lebensjahr fast genauso viel Zeit mit Ärzten wie mit ihrer Familie. Mutter Maren (34) zerreißt sich, um irgendwie beiden Kindern gerecht zu werden – der totkranken Feli, die kaum Freunde haben kann, weil die Gefahr von Infektionen viel zu groß ist, und der kleinen Schwester Louisa, die oft in der Kita oder bei Bekannten »geparkt« werden muss, weil Maren versucht, alles rund um Felis Untersuchungen und Therapien herum zu organisieren.

***

Jessica bekam schwanger Krebs, das Bild zeigt sie anderthalb Jahre später

260 Kilometer weiter Richtung Norden, in Essen, sitzt die in der 34. Woche schwangere Jessica (32) beim Arzt, weil ihre Lymphknoten stark angeschwollen sind. Sie ist sicher, dass sie nur eine Grippe hat. Sie ist selbst Ärztin, kann das schließlich einschätzen. Doch dann bekommt Jessica Wehen und ihre Kollegen werden misstrauisch, wollen eine Gewebeprobe der Lymphknoten untersuchen – und finden ein sogenanntes Hodgkin-Lymphom. Lymphdrüsenkrebs.

***

Als Lisa die Diagnose bekommt, hat ihr Brustkrebs bereits gestreut

In Brandenburg geht Lisa (31) mit Rückenschmerzen zum Arzt und erfährt, dass die Ursache Metastasen sind. Ein bisher unerkannter Brusttumor, der bereits in Becken, Oberschenkel und Wirbelsäule gestreut hat. Lisa steht kurz vor einer Beförderung im Gabelstaplerunternehmen, wohnt im eigenen Häuschen mit Garten, plant zu heiraten – und Kinder zu kriegen. Sie braucht einige Wochen nach diesem Tag beim Arzt, um alles zu verarbeiten. Dann beginnt sie sich zu fragen, ob sie diesen Familien-Traum noch leben kann, wie viel Zeit ihr bleibt?

***

Manuela ist unheilbar krank, gewinnt dank einer Immuntherapie Zeit

Sie muss nun ein Hospiz finden, erklärt Manuela (42) in einem kleinen Ort nahe Göppingen ihren Söhnen Benjamin (13) und Nils (18). Einen Ort, an dem sie sterben kann. Der Krebs frisst sich so unerbittlich durch Manuelas Körper, dass sie seit Wochen nur noch liegen kann. Ob er seinen Patenonkel bitten solle, ihn zu adoptieren, fragt Benjamin und drückt die Hand seiner Mama. Irgendwo muss er ja bleiben. Seine Mutter erzieht ihn allein – und nur mit dem Bruder leben, das würde das Jugendamt wohl nicht erlauben. Manuela weint. Nicht, weil sie Angst vor dem Tod hat, sondern weil sie spürt, dass ihr Sohn an diesem Tag schlagartig erwachsen wird. Dabei sollte er doch verdammt noch mal noch Kind sein dürfen.

***

Janine mit Tochter Lana – die sie trotz Brustkrebs stillen konnte

Das kleine Baby-Händchen ruht auf Janines linker Brust während ihre Tochter trinkt. Janine (33), die im Grünen vor den Toren Münchens lebt, kann ihre Kleine nur mit einer Brust stillen – die andere hat vorher der Krebs befallen, es schießt keine Milch mehr ein. Janine ist 26 Jahre jung, als sie die Diagnose Brustkrebs bekommt. Sie kämpfte sich durch OP, Chemo, Bestrahlung, Anti-Hormontherapie – zurück ins Leben. Und sie kämpfte für das neue Leben, das sie unbedingt zur Welt bringen wollte, das sie jetzt endlich in ihren Armen hält.

***

Maren mit ihrer Tochter Feli. Die Kleine leidet an einem Hirntumor

Frankfurt – Zweimal rosa Hose, dunkle Strümpfe, blaues Shirtkleid mit Eisprinzessin-Figuren – »Heute sind wir Zwillinge«, ruft Louisa. Mittlerweile ist sie alt genug (»Fünf und halb!«), um zu merken, dass Mama und Papa sie und ihre Schwester Feli trotz der gleichen Klamotten auseinanderhalten und nur so tun, als seien sie verwechselbar.

»Aber Mama, die Feli hat doch blaue Augen und ich braune. Und sie hat doch gar keine Haare!!«, protestiert Louisa, als Mama Maren sie mit »Feli« anspricht. Die beiden Schwestern trennt ein Jahr – und der Krebs.

Louisa ist Felis Lieblingsspielpartnerin. Meist ist sie auch ihre einzige, denn Feli ist durch die schweren Therapien sehr infektanfällig. Deshalb finden die Schwestern Husten auch bedrohlicher als Krebs. Wenn Louisa eine Erkältung hat, dürfen sie nicht zusammen spielen. »Ich werd Arzt, dann bin ich bei Mama und Feli«, sagt Louisa.

Einmal musste Louisa wegen Fieber in ihrem Zimmer bleiben. »Isa erträgt das unheimlich gefasst, kann sich stundenlang mit Spielen beschäftigen«, sagt Mama Maren. Wenigstens zu Hause soll Feli sich frei bewegen können, weil das im Krankenhaus oft nicht möglich ist. Innerhalb von vier Monaten war Feli zweimal auf der Isolierstation, weil ihr nach einer Hochdosis-Chemo eigene Stammzellen transplantiert wurden, um ihr Immunsystem aufzubauen.

Auf die Kinder-Krebsstation dürfen keine Geschwister unter vierzehn Jahren, aber Louisa und Feli können sich auf dem Flur sehen. Vorher auf der Isolierstation durfte Feli ihr Zimmer vier Wochen nicht verlassen. Louisa vermisste Feli. Und auch ihre Mama. Maren kümmerte sich um Feli, Papa Basti (34) zu Hause um Louisa.

»Isa hat am Anfang oft nach mir gefragt, wollte vor allem, dass ich sie ins Bett bringe«, sagt Maren. »Ich habe ihr erklärt, dass ich abends so spät komme, dass sie schon schläft. Wir haben ein Foto gemacht, wie ich ihr einen Gute-Nacht-Kuss gebe, als sie schlief, und Basti hat es ihr am nächsten Morgen gezeigt«, erzählt Maren. Mittlerweile hängt das Foto über Louisas Bett. Weil Maren viele Nächte mit Feli im Krankenhaus verbringt. So ist sie trotzdem auch bei ihrer Isa.

****

Baby und Glatze: Direkt nach der Geburt begann Jessica mit der Chemo

Essen – Abtasten, Ultraschall, Gewebeproben … Keiner operiert freiwillig eine Schwangere mit Wehen, das weiß Jessica. Sie, die bis zu diesem Punkt fest daran geglaubt hat, dass alles okay ist, dass sie nur eine Grippe hat, beginnt zu ahnen, dass etwas anderes in ihrem Körper wütet. Als die Ärzte Jessica die Diagnose Lymphdrüsenkrebs, genauer gesagt Hodgkin-Lymphom, mitteilen, sagen sie ihr auch direkt, dass sie ihr Baby am nächsten Tag holen werden. Jessica ist in der 35. Woche. Sechs weitere Wochen sollte ihr kleiner Sohn eigentlich noch geschützt vor der Welt in ihr weiterwachsen. Das geht jetzt nicht mehr.

Es ist ein Donnerstagnachmittag, an dem bei Bauingenieur Sebastian das Handy klingelt. Er weiß, dass seine Frau mit vorzeitigen Wehen ins Krankenhaus gefahren ist. Er selbst ist im Büro, muss sich abends um die zweieinhalbjährige Tochter kümmern, wollte eigentlich erst am nächsten Tag nach seiner Frau sehen. Der Anruf ändert alles. Sebastian: »Jessi sagte, dass ich die Nachbarn kontaktieren müsse, damit sie unsere zweijährige Tochter Selma am nächsten Tag von der Kita mit nach Hause nehmen, am besten zum Übernachten. Weil die Geburt morgen eingeleitet würde, bei der ich unbedingt dabei sein wollte. Weil sie Krebs habe.« Der Ingenieur tastet nach der Lehne seines Bürostuhls, setzt sich. »Vor meinen Augen ist erstmal alles verschwommen. Ich hatte sofort Angst um meine Frau und um das Baby. Dann stieg Panik in mir auf, vielleicht allein mit beiden Kindern dazustehen. Sie brauchen doch auch ihre Mama!« Sebastian schiebt die Sorgen weg, schaltet um auf Funktions-Modus. Er informiert seinen Chef, der ihn sofort nach Hause schickt, reicht zwei Wochen Urlaub ein, kontaktiert die Nachbarin, die zum Glück zusagt. Die Großmütter leben beide hunderte Kilometer entfernt im Osten.

Dann geht alles ganz schnell. Am Freitagvormittag wird die Geburt eingeleitet, kurz nach Mitternacht kommt der kleine Leo zur Welt. 2100 Gramm leicht und 42 Zentimeter klein. »Ich war dankbar, den Süßen in den Armen zu halten – aber habe mich auch gefragt, wie nun alles weitergeht, wie lange ich das noch können werde«, sagt Jessica.

Vier Tage verbringt die junge Familie im Krankenhaus-Familienzimmer in einer Blase des Glücks. Sie lernen sich kennen, erfühlen jeden Zentimeter des neuen, winzigen Körpers, spenden Wärme und Nähe. Jessica beginnt zu stillen, weil es das Beste für ihr Baby ist, sie ihm jeden Schutz mitgeben möchte, den sie geben kann. Und weil die Ärzte ihr sagen, sie hätte Zeit, bevor sie mit der Therapie anfangen müsse. Nach vier Tagen beginnen für Jessica die vielen Untersuchungen, die rausfinden sollen, in welchem Stadium ihr Krebs ist.

Eine Woche später steht fest: der Krebs ist weiter fortgeschritten als gedacht, die Tumormasse drückt bereits auf die Luftröhre, wird Atemnot verursachen. Jessica hat nur wenig Zeit. Sie muss sofort mit der Chemo beginnen. Weil das Gift auch in die Muttermilch übergehen würde und weil sie mittlerweile schon sehr schwach ist, stillt sie ab. Gerade als ihr Leo sich ans Trinken gewöhnt hatte. Sicher, es gibt wunderbare Flaschennahrung, aber für Jessica ist es trotzdem sehr schmerzlich, ihrem Baby nicht das geben zu können, von dem sie als Ärztin weiß, dass es das Beste für ihn wäre. Ihr selbst geht es da aber schon so schlecht, dass sie es kaum noch aus dem Bett schafft.

Erst jetzt bekommt Jessica Angst. Um sich – vor allem aber um ihre Familie.

****

Lisa musste sich vom Traum verabschieden, Kinder zu bekommen

Brandenburg – Als die Ärztin zu Lisa sagt, sie könne nichts mehr für sie tun, rennt Lisa wütend aus dem Zimmer. Wenn die meint, sie kann mein Leben nicht retten, dann hat sie die Rechnung ohne mich gemacht – das waren damals Lisas Gedanken. So absurd es klingt, als nächstes denkt Lisa daran, dass sie übermorgen mit Freunden zum Frühstücken verabredet ist und sich so etwas doch nicht nehmen lassen wird!

»Bis bei mir einrastete, dass es irgendwann – und zwar irgendwann bald – kein Übermorgen mehr geben würde, hat es Monate gedauert«, sagt die junge Frau.

Die Ärztin vermittelt Lisa, zum Glück, nach NRW, ans Brustzentrum des Huyssenstifts der Kliniken Essen-Mitte, wo sie sehr wertvolle Hilfe findet.

Die Chemo greift nicht, dafür aber Hormontherapie und Antikörper.

Normalerweise nimmt man die Kombination nur ein Jahr lang, Lisa bekommt sie vier Jahre – aber ihr Krebs ist ruhig, wächst nicht weiter, macht keine Schmerzen mehr. Es weiß nur keiner, wie lange das so weitergeht. Denn langsam häufen sich die Nebenwirkungen. Die Antikörper gehen schwer auf die Niere, machen sie durchlässig wie einen Kaffeefilter. Lisa verliert zu viel Eiweiß, schwemmt auf, ist oft geschwächt, hat Hitzewallungen wie in den Wechseljahren.

Lisa arbeitet in einem Gabelstapler-Unternehmen, will gerade die Abteilung wechseln, um Karriere zu machen, hat ein Haus mit Garten, drei Fernseher – und einen Freund, den sie heiraten, mit dem sie eine Familie gründen möchte. Aber plötzlich hat sie das Gefühl, sie gehört nicht mehr in dieses Leben.

Alles war bestens geplant, aber scheint jetzt undenkbar. Kinder? Selbst wenn das unter der Therapie gehen würde oder unter einer anderen, würde sie Kinder in die Welt setzen wollen, die eventuell bald ihre Mutter verlieren?

Lisa spürt, dass sie das nicht kann. Sie möchte das Haus verkaufen und zurück von Brandenburg zu ihrer Familie ins 400 Kilometer entfernte Bamberg ziehen. Wieder Tochter sein, statt Mutter zu werden. Lisas Freund will aber so weitermachen wie vorher. »Irgendwann habe ich gemerkt, dass mein Freund nicht loslassen kann – weder das Leben im schönen Haus noch mich. Vielleicht wollte ich ihm die ständige Angst ersparen. Zumindest habe ich mir das eingeredet«, erzählt Lisa. Ein Jahr nach der Diagnose trennt Lisa sich von dem Mann, den sie ursprünglich heiraten und mit dem sie eine Familie gründen wollte, und geht zurück nach Franken, nach Hause.

****

Göppingen – Bei Manuela, alleinerziehende Mutter von zwei Teenager-Jungs, beginnt der Kampf gegen den Krebs genauso wie bei Lisa – mit einem Arztbesuch wegen Rückenschmerzen. Der Hausarzt verschreibt Krankengymnastik. Doch innerhalb von vier Wochen verliert die technische Assistentin fast zehn Kilo Gewicht. Krankenhaus, Ultraschall, Darmspiegelung. Die Ärzte finden einen elf Zentimeter großen Tumor, der operativ entfernt und mit einer Chemo bekämpft wird.

Manuela mit ihren Söhnen, als sie noch klein waren; heute sind sie Teenager

Ein Jahr lang scheint alles gut – nur der rechte Arm von Manuela schmerzt oft und heftig. Wieder Krankengymnastik, wieder keine Besserung. Irgendwann entnehmen die Mediziner eine Probe und stellen fest: Erneut Krebs.

Das Problem: niemand kann herausfinden, wo er herkommt, und die Ärzte bezweifeln nun, dass der ursprüngliche Tumor wirklich aus dem Darm stammte. CUP nennen es Experten, wenn sie keinen Ursprung für Krebs finden, der sich im Körper ausbreitet, »Cancer of Unknown Primary Site«. Statistische Lebenserwartung: ein halbes Jahr. Fünf Mal wird Manuela operiert, jedes Mal bangen ihre Söhne an ihrem Bett. »Man denkt nicht wirklich nach, man ist einfach da«, meint Nils, der ältere. Dann aber sagen Manuela die Mediziner, dass die Metastasen in ihrem Körper schneller nachwachsen, als sie sie entfernen können, dass die beiden verabreichten Chemos nicht mehr helfen, dass sie anfangen müsse, loszulassen.

»Ich hatte keine Angst um mich, aber um meine Jungs. Wer sollte für sie da sein? Niemand liebt sie doch so wie ich«, sagt Manuela auch heute noch unter Tränen. Manuela bittet ihre Jungs zu sich. »Mama hat gesagt, dass sie ein Hospiz suchen muss und was das ist. Ein Ort, an dem wir uns von ihr verabschieden müssen. Ob wir das wollen, hat uns keiner gefragt«, sagt Benjamin, der jüngere, fast trotzig. Manuela wird nicht dabei sein können, wenn der Kleine die Schule beendet, der Große einen Ausbildungsplatz sucht. Sie werden auf sich gestellt sein. »Kein Problem«, sagt Nils, der Große, ganz schlicht. »Wir packen das.« Die Stärke ihrer Kinder verhindert, dass Manuela in diesem Moment, in dem sie eigentlich nur noch fallen möchte, zusammenbricht. Wo sollen ihre Jungs hin? Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes verschwand der Vater aus dem Leben der drei. Er ist mittlerweile neu verheiratet, hat zwei weitere Kinder, Kontakt besteht nur sporadisch. Manuela ruft ihn an, bittet um seine Hilfe. Der Vater kommt, besucht die Jungs – aber die beiden zu sich nehmen, wenn Manuela stirbt? Das steht außer Frage.

****

München – Janine bereitet sich als Schwimmerin gerade auf die Olympischen Spiele vor, als sie nach einem Training einen Knoten in der Brust ertastet. »Kurz darauf saß ich in einem Kreis von Ärzten, die diskutierten, wie sie mein Leben retten konnten: OP-Methode, Bestrahlungs-Dauer, Chemo-Mittel, Antihormon-Therapie. Als ich fragte, welche der Behandlungen ich denn bekommen solle, war die erschreckende Antwort: ›Alle‹.«

Janine posiert nach der Chemo mit ihrer Perücke

Auch das Thema Familienplanung, über das sich Janine bis dahin wenig Gedanken gemacht hat, außer dass sie weiß, irgendwann Kinder zu wollen, wird nun im Kreis der Ärzte diskutiert. Eine Chemotherapie kann zu Unfruchtbarkeit führen. Die Mediziner empfehlen Janine, damals Single, vor der Therapie Eizellen einfrieren zu lassen. Dafür hätten über mehrere Wochen Zellen mit Hormonen stimuliert werden müssen. »Ich hatte das Gefühl, diese Zeit nicht zu haben, wollte den Krebs so schnell es ging bekämpfen. Rückblickend habe ich mich oft gefragt, ob das richtig war, aber damals hatte ich vor allem Angst.« Janine entscheidet sich stattdessen für eine Behandlung, die zwar als weniger sicher gilt, aber keine Zeit frisst: Ihre Eierstöcke werden während der Chemo geschützt – durch ein winziges, per Spritze in den Bauch gesetztes Implantat, das sich alle drei Monate selbst auflöst.

Janine kämpft sich durch die anstrengenden Therapien, schließt die Behandlung mit einer fünfjährigen Antihormongabe ab. Ihr Tumor wuchs durch weibliche Hormone, also bekommt ihr Körper Stoffe, damit nicht zu viele Hormone produziert werden.

Währenddessen ist Kinderkriegen nicht möglich, denn die Medikamente versetzten Janine in die Wechseljahre. »Seit vier Jahren bin ich jetzt mit Alex verheiratet. Dass Kinderkriegen für mich ein Problem werden könnte, habe ich ihm direkt beim Kennenlernen beigebracht, er war aber zum Glück sehr verständnisvoll«, sagt Janine. »Wir haben schon damals gesagt, wir probieren es nach Abschluss der Therapien und wenn es nicht klappt, denken wir über Adoption nach«, erklärt Alex (37).

Vielleicht ist es diese Entspanntheit, die Janines Eierstöcken geholfen hat, wieder anzuspringen. Denn trotz Schutz bei der Chemo war nicht klar, ob das klappt. Gleich im ersten Monat, nachdem sie die Behandlung beendet hat, bekommt Janine wieder normal ihre Regelblutung, hat von Beginn an einen regelmäßigen Zyklus – und ein Jahr nach Ende der Therapie wird sie schwanger!

****

Frankfurt – Wenn Papa Basti sich zu Hause um Louisa kümmert, die kleine Schwester von Feli, die gegen einen Hirntumor kämpft, und mit Mama viel Zeit im Krankenhaus verbringt, dann spielt er eher Fang-die-Louisa mit der Kleinen als Prinzessin. »Manchmal sag ich einfach Mama zu Papa«, sagt Louisa aber und strahlt. Basti trägt’s mit Fassung. »Wir haben viel Spaß zusammen, aber Mädchen brauchen halt auch ihre Mama. Und wenn ich als solche tauge, ist es doch bestens«, sagt Basti. Wenn Feli zu Hause ist, versucht Maren sich besonders um Lousia zu kümmern. »Ich hole sie dann mal allein von der Kita ab, gehe mit ihr Eis essen. Das genießen wir beide sehr.«

Feli wird oft mit Geschenken überhäuft, nicht jeder denkt aber daran, auch ihrer Schwester Louisa etwas mitzubringen. »Wir sammeln dann alles zusammen und geben es beiden. Sie spielen ja eh gemeinsam mit den meisten Sachen«, sagt Basti. »Ich habe nicht das Gefühl, dass Louisa sich vernachlässigt fühlt, aber man muss schon auf ein paar Dinge achten«, erklärt Maren.

Louisa ist wesentlich stärker als ihre zarte, kranke Schwester. Sie flitzt durch die Wohnung, passt aber auf Feli auf, weil sie weiß, dass die oft hinfällt. Gleichgewichtsprobleme durch Tumor und Therapie. Die heftige Chemo hat Feli außerdem schwerhörig gemacht. Wenn Feli laut »Wie bitte?« ruft, weil sie etwas nicht versteht, krabbelt Louisa nah an sie ran, fast Nase an Nase, und wiederholt laut, was sie ihr sagen möchte.

Louisa gibt ihrer krebskranken Schwester Feli einen Kuss

Trotzdem ist Feli die große Schwester, das Vorbild. »Isa klettert besser, ich bin besser im Malen«, sagt Feli. Wenn die beiden zusammen Geschenke unterm Tannenbaum zeichnen, hilft Feli Louisa, die Schleife aufs Papier zu kriegen. »Du musst hier zwei Kreise machen und dann da einen Strich«, erklärt Feli. »Ich schaff das nicht«, mault Louisa – und strahlt, wenn Feli sie lobt: »Ist doch wunderbar!«

Louisa und Feli durchleben mit Malstiften und Arztkoffer die gemeinsamen Momente, die ihnen der Krankheitsalltag gewährt. Sie messen sich wie andere Geschwister, aber stützen sich auch. Sieht man sie gemeinsam spielen, ist man um eines besonders froh: dass beide noch zu jung sind, um Todesangst zu fühlen und sich umeinander zu sorgen. Denn wenn Krebs bei Kindern wiederkommt, dann gibt es für Ärzte kein klares Gerüst mehr, was sie tun können. Dann können sie nur probieren und hoffen.

*****

Essen – Als Jessica ihren kleinen Sohn in den Armen hält, vergisst sie für einen kurzen Moment, dass sie sich nicht nur um dieses neue Leben kümmern, sondern auch um ihr eigenes kämpfen muss. Doch die Ärzte holen sie schnell und unerbittlich in diese Realität zurück. Sie können nicht anders. Der Krebs breitet sich in Jessicas Körper rasanter aus, als sie zunächst vermutet hatten. Schon wenige Tage nach der Geburt bekommt Jessica hohes Fieber und nimmt fast jeden Tag ein Kilo ab – beides gehört zur sogenannten B-Symptomatik des Tumors, der in ihr wuchert.

Als ihr Sohn zehn Tage jung ist, beginnt Jessica mit der Chemo. Aber sie wird immer schwächer. Ihr Baby trägt Jessica mit besonderer Vorsicht, aus Sorge, dass ihre Kräfte sie verlassen. Meist nimmt es der Vater.

Leos Mama bekam schwanger Krebs – mittlerweile ist er ein kerngesundes Kleinkind

Jessica verlässt das Krankenhaus, macht die Therapie ambulant. Ihr Mann Sebastian ist noch eine Woche bei ihr zu Hause, dann geht er wieder arbeiten – und steht trotzdem nachts mehrmals auf, um den kleinen Leo mit der Flasche zu füttern. Jessica ist zu schwach, wird einmal sogar in der Küche ohnmächtig, als sie eine Milch anrührt. »Wenn so etwas funktionieren muss, dann entwickelt man Bärenkräfte«, sagt Sebastian, der in dieser Zeit mit seinen Ängsten allein bleibt. Seine Kinder brauchen ihn, seine Frau beschwichtigt, »alles wird gut«. Pendelnd zwischen Job und Familienorganisation, sieht er kaum noch seine Freunde.

Jessica beginnt zu Hause, die Krankheit mit einem Plan systematisch zu bekämpfen. Über den Verband alleinerziehender Mütter und Väter besorgt sie sich eine Not-Mutter als Hilfe für den Haushalt und die zweieinhalb Jahre alte Tochter. In solchen Situationen unterstützen diese auch, wenn man nicht wirklich alleinerziehend ist. Die Krankenkasse bewilligt eine Hilfe für acht Stunden täglich. Außerdem hängt am Kühlschrank eine Liste mit Freunden, die bereit sind zu helfen, wenn beispielsweise die Not-Mama sich um den Kleinen kümmert und jemand die Große aus der Kita holen muss, weil sie krank geworden ist. Oder wenn Jessica selbst zu einer Untersuchung oder einem Chemoblock muss.

Jessica steht all das durch. Sie verbringt die Elternzeit, die sie sich als Auszeit für sich und ihre Familie gewünscht hatte, zwar häufiger im Krankenhaus oder im Schlafzimmer ihrer Wohnung als draußen auf dem Spielplatz, auf den sie sich so oft geträumt hatte – aber sie ist bei ihren Kindern und für sie da. Trotz der Krankheit. Und das gibt ihr immer wieder neue Kraft. Kraft, die sie braucht, um allein fünf Lungenentzündungen zu überstehen, die sie während der Therapie bekommt.

Nach einem Jahr, als ihre Elternzeit sowieso geendet hätte, geht es Jessica wieder so gut, dass sie eine Reha beginnt. Vier Wochen allein, ohne die Kinder. »Ich war nur etwa zwei Stunden weit weg und natürlich haben mir die Kleinen gefehlt, aber ich habe gespürt, dass ich Ruhe brauchte, um das Aufbautraining zu schaffen, und nachts mal einfach schlafen musste«, berichtet Jessica. Zu Hause geben sich die Omas, die abwechselnd ins Gästezimmer ziehen, und die Not-Mama die Klinke in die Hand, am Wochenende kommen Papa und die Kinder zu Besuch in die Rehaklinik nach Bad Oeynhausen.

Und tatsächlich: danach geht es Jessica so gut, dass sie wieder zu arbeiten beginnt. Sie ist Ärztin – und möchte anderen helfen. Das ist für sie nicht nur Beruf, sondern Berufung. Gerade jetzt, wo sie gemerkt hat, wie abhängig man von solcher Hilfe sein kann. Jessica beginnt sich auch in der Selbsthilfe zu engagieren. Mittlerweile leitet sie die Essener Familiengruppe für Krebskranke und ihre Angehörigen. »Ich erlebe dort immer wieder, wie wichtig es wäre, dass auch Familienmitglieder oder Freunde, die sich um Betroffene kümmern, psychologische Hilfe bekommen. Auch meinem Mann hätten Gespräche gutgetan. Aber das geht ja quasi nicht, dafür müsste man ihm eine F-Diagnose anhängen«, sagt Jessica. Eine F-Diagnose bedeutet beispielsweise eine Depression oder eine posttraumatische Belastungsreaktion. »Hier muss sich politisch noch viel tun, nicht nur Betroffene, auch die Familien brauchen dringend Unterstützung. Und zwar nicht erst, wenn sie wirklich depressiv sind«, sagt die engagierte Ärztin.

Söhnchen Leo, der wegen der Krebserkrankung seiner Mama in der 35. Schwangerschaftswoche zur Welt kam, ist mittlerweile fünf Jahre alt und kerngesund, nur etwas klein. Jessica hat nichts zurückbehalten vom Krebs oder den Therapien, außer leichten Sensibilitätsstörungen in den Fingern. Die merkt sie aber nur, wenn sie beispielsweise versucht, den Verschluss einer Milchflasche für die Große zu öffnen.

Natürlich hat Jessica Angst, dass der Krebs irgendwann wiederkommt und ihre Familie aufs Neue bedroht. Aber als Ärztin weiß sie, dass das Risiko bei ihrer Krebsart statistisch zum Glück nicht sehr hoch ist. »Und selbst wenn: Ich bin Mutter und keine Statistik«, sagt Jessica entschlossen. »Ich gebe so schnell nicht auf.«

*****

Brandenburg / Bamberg – Lisa ist übergangsweise zu ihrer Tante gezogen und findet dann in ihrer bayerischen Heimatstadt Bamberg eine 1,5-Zimmer-Wohnung. Ihr altes Leben, das vor dem Krebs, mit Mann und Haus und Führungsjob, hat sie nach der Diagnose unheilbarer Brustkrebs in Brandenburg zurückgelassen. Lisa ist nicht mehr arbeitsfähig, lebt mit Rente und Sozialhilfe knapp über dem, was man Armutsgrenze nennt – aber sie kennt wieder jeden Nachbarn, erfährt ein ganz neues Stück Lebensqualität. Sie ist zu Hause, bei ihrer Familie.

Die Krankheit brachte Lisa zurück in ihre Heimat Bamberg, zur Familie

Ihre jüngere Schwester Lena (32) erzählt: »Mein Leben änderte sich schlagartig. Als Lisa wieder heimkam, mussten wir komplett neu anfangen: eine Wohnung und einen Doktor für sie suchen, sich im Alltag neu zurechtfinden – sie hat meine Hilfe gebraucht und die gab ich ihr. Ich fühlte mich verantwortlich. Alles war komplett anders, sie kam in unser sehr strukturiertes Leben und wir mussten erst einmal Raum für sie schaffen. Aber sie ist meine Schwester und Blut ist dicker als Wasser. Mittlerweile bin ich einfach nur sehr froh, dass sie wieder daheim ist!«

Körperlich geht es Lisa, die nun 37 Jahre alt ist, mal so, mal so. Manchmal geht sie nur mit einer Freundin Kaffee trinken und ist danach für den Rest des Tages fertig, muss sich hinlegen, mal geht es ihr prima. Sie macht wenig Termine, außer bei Ärzten, aber sie schiebt auch nichts mehr vor sich her.

»Wenn ich eine Freundin anrufen will und abends denke, ich bin zu kaputt, melde ich mich trotzdem«, sagt Lisa. Vor kurzem ist sie den Donauradweg von Passau nach Budapest mit dem Fahrrad gefahren, das hatte sie sich schon ewig vorgenommen.

Die Therapien nehmen schon einen großen Teil ihrer Zeit ein. Morgens und abends Tabletten, ständig Kontrolltermine. Aber Lisa hat trotzdem ein Leben neben dem Krebs. In diesem Leben lässt sie sich nicht mehr so schnell hetzen wie früher, sagt mit solcher Inbrunst »Bitte« und »Danke«, dass sie ihrem Umkreis schon auf die Nerven damit geht, und schaut mehr nach rechts und links auf ihre Nächsten.

Auf einem Fest sieht sie in die Augen eines Mannes, in den sie sich verliebt: Marc (33). Ein Freund ihrer kleinen Schwester. Er weiß, dass Lisa Krebs hat und daran sterben wird, aber er hat den ganzen Prozess nicht mitbekommen, die anstrengenden Therapien, die Sorgen, das Loslassen vom alten Leben, deshalb kann Lisa bei ihm unbeschwert sein. Die beiden lieben sich, leben mittlerweile zusammen, machen aber keine Zukunftspläne. »Er hat seine eigenen Ziele, das macht ihn wohl stark genug dafür«, sagt Lisa. Marc selbst sagt: »Es war wichtig, dass wir von Anfang an in unserer Beziehung offen über die Krankheit gesprochen haben. Der Krebs ist jetzt zwar präsent, aber ich versuche, ihn im Alltag nicht an erster Stelle zu sehen. Dadurch ist es möglich, die gemeinsame Zeit einfach zu genießen und zu erleben. Wenn alles ok ist, Lisa also keine Schmerzen hat und keine besorgniserregenden Untersuchungsergebnisse, dann denke ich oft gar nicht an die Krankheit. Es ist mir aber immer bewusst, dass sich alles ganz schnell wenden kann.«

Marc hat, zum Glück, keinen Kinderwunsch. Denn mit diesem Thema hat Lisa für sich abgeschlossen. Wie soll sie neues Leben in die Welt setzen, wenn sie nicht weiß, wie lange sie dafür da sein kann? Mal ganz abgesehen davon, dass es unter den Therapien gerade einfach nicht geht, schwanger zu werden.

Lisa versucht diese Gedanken wegzuschieben so gut sie kann. Sie versucht im Hier und Jetzt zu leben, was einem doch immer alle predigen. Sie tut es aus ganz pragmatischen Gründen: Zu viel über morgen grübeln heißt zwangsläufig, an den Tod denken und das Leben vergessen. Das geht nicht, weil sie ja nicht weiß, wie viel ihr davon noch bleibt.

Natürlich gibt es Abende, an denen Lisa verzweifelt. Sich fragt, wie das Leben ihrer Lieben wohl weitergeht, wenn sie kein Teil mehr davon ist. Aber das ist dann eben so. Sie versucht diese Stimmung nicht überzubewerten.

Lisas Freund und ihre Familie lassen Lisa weinen, toben, schreien, aber auch und vor allem lachen.

Nur ein Satz ist verboten: »Das wird schon wieder.« Denn das wird es eben nicht. Aber so, wie es jetzt ist, ist es für sie gut – es muss also im Moment gar nichts »werden«.

*****

Göppingen – Weil es ihr immer schlechter geht, kommt Manuela, Mutter von zwei Teenager-Jungs, mehrere Wochen auf die Palliativstation der Alb Fils Kliniken in Göppingen.

Dann lernt Manuela Professor Martin Bommer kennen, der von der Uniklinik Ulm als Chefarzt der Onkologie an die kleine Klinik gewechselt ist. Er kontaktiert die Kollegen im Heidelberger NCT, dem Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen, und bittet sie, Manuelas Krebs genetisch genau zu untersuchen.

Exon-Sequenzierung heißt das, was dann gemacht wird: Mehr als 20 000 Gene aus dem Tumormaterial werden entschlüsselt. Es zeigen sich zwei Dinge: der Tumor hat ein Oberflächenmerkmal, das sehr viele der Zellen besitzen und eine insgesamt große Menge an genetischen Veränderungen, also Fehlern. In einem solchen Fall schlägt oft, aber bei weitem nicht immer, eine Immuntherapie an.

Immuntherapien sind die Hoffnungsträger der Krebsforschung, wenn sie wirken, bewirken sie meist Erstaunliches. Aber sie wirken eben lange noch nicht bei allen Tumorarten. Und sie sind teuer. Professor Bommer schlägt Manuela vor, es zu versuchen – doch ihre Krankenkasse lehnt ab.

Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Weil seine Patientin von Tag zu Tag schwächer wird, entscheidet Professor Bommer mit der Klinikdirektion, das Medikament ohne Zusage der Kasse aus den USA zu importieren, die Klinik übernimmt die Kosten von über 10 000 Euro für die ersten beiden monatlichen Gaben.

Wie viel Zeit der alleinerziehenden Manuela bleibt, ist unklar

Schon nach wenigen Wochen geht es Manuela deutlich besser. »Ich bin aus dem Bett wieder aufgestanden und konnte am Tisch mit meinen Jungs zu Abend essen!« Nach sechs Wochen zeigt eine Kontrolluntersuchung, dass der Krebs fast schlimmer zu wüten scheint, aber der Patientin geht es so gut, dass die Therapie fortgesetzt wird. Professor Bommer vermutet, dass das Immunsystem den Kampf aufgenommen hat, erklärt sich so das starke Leuchten auf den MRT-Bildern. Und er behält recht.

Nach einem halben Jahr ist nichts, einfach nichts mehr in der Bildgebung zu erkennen. Manuela ist tumorfrei.

»Freiheit, das war es, was ich in diesem Moment zum ersten Mal so richtig gespürt und verstanden habe«, sagt sie heute. Die Krankenkasse, bei der Professor Bommer drei Widersprüche gegen die Ablehnungen eingereicht hat, übernimmt nun endlich die Kosten.

Für mehrere Jahre spürt Manuela kaum mehr, dass sie krank ist. »Ich bin sehr viel draußen spazieren gegangen, die Natur tat mir enorm gut. Ich habe mich über jedes gemeinsame Abendessen mit den Jungs gefreut.« »Wir haben oft zusammen Karten gespielt danach«, sagt ihr Benjamin. »Wir haben uns die Zeit vom Krebs geklaut.«

Manuela lernt die erste feste Freundin ihres Großen kennen und hilft ihm beim Auszug – ohne Wehmut, erfüllt von Dankbarkeit, dass er jetzt sein eigenes Leben beginnt, sie nicht mehr so sehr braucht. Sie bejubelt den Schulabschluss ihres »Kleinen«, dem nun 18-Jährigen, und hilft ihm, eine Lehrstelle zu suchen – alles Dinge, von denen sie befürchtet hatte, sie nicht mehr mitzuerleben. Langsam denkt auch ihr Kleiner darüber nach, auszuziehen.

Vor zwei Monaten finden die Ärzte bei einer Kontrolluntersuchung dann neue Metastasen in Manuelas Arm und Unterschenkel. Sie spürt mittlerweile auch Nebenwirkungen der Therapie, hat Probleme mit der Leber und den Gelenken, wird wieder schwächer. Keiner kann ihr sagen, wie lange das Immuntherapeutikum den Krebs nun noch in Schach halten wird. Zusätzlich wird sie bestrahlt. »Natürlich habe ich immer noch große Angst davor, meine Jungs alleine zu lassen«, sagt Manuela. »Aber vor allem bin ich dankbar, für die geschenkten Jahre. Ich weiß jetzt, dass sie es alleine schaffen werden. Ich werde loslassen können, wenn es so weit ist.«

*****

Janine mit Tochter Lana, die sie nach überstandener Krebserkrankung bekam

München – Die kleine Lana kommt kerngesund zur Welt. »In diesem Fall ist es wunderschön, wie nah Tod und Leben beieinander liegen«, sagt Janine. »Ich bin unglaublich verliebt in meine Maus. Sie zeigt mir jeden Tag, wie viel das Leben wert ist.« Janine, die den Brustkrebs erfolgreich hinter sich gelassen hat, muss jetzt jedes halbe Jahr abwechselnd zum Frauenarzt, ins MRT oder zur Mammographie. »Ich lebe nicht in ständiger Sorge, aber als Mutter denkt man schon anders darüber nach, was wäre, wenn der Krebs zurückkommt«, sagt Janine. Als die Moderatorin Miriam Pielhau an ihrem Brustkrebs starb, googelte Janine zuerst, was aus deren dreijähriger Tochter wurde. »Ich habe meinem Mann gesagt, wenn irgendwas mit mir wäre, soll er engen Kontakt zu meinen Eltern halten, auch wenn es mich nicht mehr gibt.« Für ihren Mann ist das selbstverständlich, auch wenn er über diese Möglichkeit gar nicht erst nachdenken will. »Lana liebt ihre Großeltern«, sagt Alex mit finalem Unterton. Ende der Diskussion.

Janine weiß, dass es sein kann, dass sie aufgrund einer Genveränderung so jung Krebs bekommen hat. Die Gene BRCA 1 und 2 sind erblich, hat man sie, bekommt man zu 60 bis 80 Prozent irgendwann Brustkrebs.

Auch das Risiko für einen Tumor an den Eierstöcken ist erhöht. Janine hat lange mit sich gerungen, ob sie einen Test machen soll – »aber was bringt mir das, außer dass es allen Frauen in meiner Familie die Unbeschwertheit nimmt?«, fragt Janine. »Ich muss jetzt eh in kurzen Abständen zur Vorsorge und meine Verwandten sind sehr gewissenhaft, gehen regelmäßig. Was anderes kann man doch eh nicht machen.«

Natürlich weiß sie, dass auch ihre kleine Tochter betroffen sein könnte – und am Ende ist es die Sorge um ihr Kind, die Janine doch dazu bewegt, sich testen zu lassen. Denn es könnte sein, dass der Krebs auch in ihren Genen schlummert. Aber die Tests ergaben, zur Überraschung der Ärzte, dass bei Janine keine genetische Komponente vorhanden ist. Obwohl sie so jung betroffen war. Eine Riesenerleichterung.

»Ich hatte Angst, ein Mädchen zu bekommen, weil man für sein Kind natürlich nur das Beste will, und was gibt es Angsteinflößenderes, als wenn das eigene Kind eventuell einer schlimmen Krankheit entgegensieht? Gleichzeitig war es aber auch mein innigster Wunsch, ein Mädchen zu haben, einfach weil ich eine so innige Beziehung zu meiner eigenen Mutter habe.« Ein schwer zu ertragender Widerspruch für Janine.

Dass ihr dieser Wunsch erfüllt wurde, ist für Janine das größte Wunder – und noch ein größeres, seit sie weiß, dass sie ihrem kleinen Schatz keinen Brustkrebs mit in die Gene gelegt hat. Tochter Lana ist für Janine die Belohnung für alles, was sie durchstehen musste.

»Letztens lag ich mit Lana morgens im Bett, sie hat mit mir gekuschelt und gesagt, sie liebt mich so sehr, ich müsse ihr versprechen, immer bei ihr zu bleiben. Ich habe fast geheult. Vor Rührung bei diesen schönen Worten, aber ehrlicherweise auch vor Angst. Was, wenn ich dieses Versprechen nicht halten kann? Wenn man einmal eine körperliche Grenzerfahrung gemacht hat, dann ist eine solche Sorge viel realer.«

Aber Janine hat diese Ängste weggekuschelt. Angst lähmt, das weiß sie und das will sie nicht zulassen. Mittlerweile überlegen ihr Mann Alex und sie, ob es an der Zeit wäre, ein Geschwisterchen für die kleine Lana anzugehen. Ob sie sich trauen, das Schicksal noch einmal herauszufordern. Sie haben sich entschieden, es zu probieren.

Ihre Ärzte haben Janine geraten, das Gewebe aus ihrer zweiten Brust entfernen zu lassen – vorsichtshalber, damit der Krebs nicht in der anderen Brust zurückkommt. Aber dann könnte Janine ein zweites Kind nicht stillen und das ist ihr sehr wichtig. »Alle haben mir gesagt, ich würde Lana mit einer Brust nicht satt kriegen – und dann war sogar die Hebamme überrascht, wie viel Milch aus der einen Seite kam. Ich habe meine Tochter elf Monate lang voll stillen können. Krebs hin oder her. Das hat mich stolz gemacht.«

Robert, Oliver und Claudio Armbruster am Bodensee im März 2019

Claudio Armbruster

»Wie sollen wir das schaffen?!«

Meine Eltern haben immer alles im Griff. Sie kümmern sich um meinen schwerstbehinderten Bruder, sie unterstützen meine Frau und mich, betreuen die Enkel. Sie helfen, wo sie können. Dann brauchen sie plötzlich selbst Hilfe.

2017 bekommt meine Mutter Lungenkrebs – die Statik der Familie gerät ins Wanken.

Davor

»Mutter böse! Oliver traurig! Oliver wegwerfen! Neuen Oliver kaufen!«

So spricht mein Bruder.

Für Oliver ist unsere Mutter der wichtigste Mensch, Dreh- und Angelpunkt, Stimmungsbarometer. Wenn wir gemeinsam am Esstisch sitzen, spricht er ausschließlich mit ihr, mein Vater und ich sind Nebenfiguren. Ein »Guten Morgen« oder »Guten Appetit« bekommen wir nur, wenn Mutter ihn dazu auffordert. Die ganze Zeit beobachtet er sie: Lächelt sie, freut er sich. Ist sie ernst, macht er sich Vorwürfe, weint oder bekommt einen Wutanfall.

Unsere Mutter hat sich nie damit abfinden können, dass Oliver sich anders verhält, dass er nicht »normal« ist. Wenn er unkontrolliert schreit oder zu laut Selbstgespräche führt, bittet sie ihn, leise zu sein. Wenn er krampft und zuckt, mahnt sie ihn zur Ruhe. Sie kann es nicht leiden, wenn andere Menschen ihn aufgrund seines Andersseins beobachten, beim Einkaufen oder im Restaurant. Oliver merkt das.

»Ach Mutter! Mutter traurig, Oliver böse, Oliver krank, Mutter traurig, oje!«

Ein Kreislauf.

Oliver ist 45 Jahre alt, körperlich und geistig schwerstbehindert. Er kann gehen, ohne Hilfe essen und sich mit einem sehr kleinen Wortschatz verständlich machen. Er braucht Hilfe beim Duschen und Anziehen, das Essen muss für ihn gemacht werden, alle Dinge des Alltags müssen für ihn geregelt werden. Er lebt seit seinem 5. Lebensjahr in einer anthroposophischen Dorfgemeinschaft für behinderte Menschen am Bodensee und fühlt sich dort wohl. Aber er kommt auch sehr gern an den Wochenenden und in den Ferien ins nur wenige Kilometer entfernte Elternhaus.

Unsere Mutter kümmert sich um Olivers Finanzen, Versicherungen, um seine zahlreichen Arztbesuche, seine Hörgeräte, Brille, einfach um alles.

Meine Eltern wagten es, nach der Geburt meines Bruders und seinem zweijährigen Überlebenskampf auf der Intensivstation, noch einmal schwanger zu werden. Nun gab es den behinderten Sohn und den gesunden Sohn; der eine bekam mehr Fürsorge, der andere alle Chancen, sich zu entfalten.

Und als die Enkel auf die Welt kamen, waren die Großeltern schwer verliebt. Sie besuchen uns oft in Mainz. Meine Frau und ich sind beruflich viel unterwegs, der Alltag mit zwei Kindern, den Berufen und dem Haushalt ist eng gestrickt. Da kann die Betreuung durch KiTa, Schule, Hort, Babysitter noch so gut geplant sein: Die Großeltern reisen an, wenn es brennt.