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Beschreibung

Dieses Buch lässt 13 hochkarätige und couragierte Frauen aus Afghanistan in Textbeiträgen und Interviews zu Wort kommen. Sie schreiben über berufliche und gesellschaftliche Errungenschaften als Programmiererin, Filmemacherin, Politikerin, Journalistin u.a.m.; sie berichten über die Angst und den Schmerz vor dem drohenden Verlust der Heimat, aber vor allem über das, was die Mädchen und Frauen vor Ort schon jetzt verloren haben: Freiheit, Selbstbestimmung, Lebensfreude.

Entstanden ist ein aufrüttelndes Buch, verbunden mit dem Appell, afghanische Mädchen und Frauen nicht zu vergessen und sich zu solidarisieren, denn sie haben wie wir ein Recht auf ein freies Leben in Würde. Ein Recht, für das wir an ihrer Stelle in der freien Welt kämpfen müssen, denn Afghanistan ist nur geografisch weit weg. Radikale Ideen kennen keine Grenzen.

Mit einem Vorwort von Margaret Atwood und Gastbeiträgen von Theresa Breuer, Dr. Inge Haselsteiner, Susanne Koelbl, Düzen Tekkal und Prof. Dr. Maria Wersig.

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Seitenzahl: 166

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Nahid Shahalimi (Hg.)

Wir sind noch da!

Mutige Frauen aus Afghanistan

© 2021 Elisabeth Sandmann Verlag GmbH, München

ISBN 978-3-949582-02-8

2. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Übersetzung des Vorworts von Margaret Atwood: Sven Koch

Redaktion, Übersetzungen, Lektorat: Nahid Shahalimi, Elisabeth Sandmann, Eva Römer

Alle Fotografien im Buch wurden von den Frauen selbst zur Verfügung gestellt, mit Ausnahme folgender Rechteinhaber: Seite 98 © Najia Anwari/DW, mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Welle; Fotografie Nahid Shahalimi (Umschlag) © Isa Foltin; Fotografie Margaret Atwood (Umschlag) © Kieran E. Scott, aus: 200 Frauen. Was uns bewegt, mit freundlicher Genehmigung von Blackwell & Ruth blackwellandruth.com.

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Gemäldes von Nahid Shahalimi: »The Eyes of the Innocent«, Wachs und Multi-Medium auf Leinwand, 2011

Gestaltung und Satz: Sofarobotnik, Augsburg & München

Lithografie und Herstellung: Jan Russok

Druck und Bindung: Graphius, Gent

Besuchen Sie uns im Internet unter www.esverlag.de

Editorische Notiz

Die Entscheidung, ein Buch mit Beiträgen von Frauen aus Afghanistan herauszubringen, fiel wenige Tage nach der Einnahme der Hauptstadt Kabul durch die Taliban am 15. August 2021. Der Truppenabzug der Amerikaner und ihrer Verbündeten zum 31. August wurde zum katastrophalen Wettlauf gegen die Zeit. Das internationale Entsetzen war groß, als sich die Bilder von Menschenströmen verbreiteten, die in Panik den Kabuler Flughafen (notfalls zu Fuß) erreichen wollten, um das Land zu verlassen. Darunter waren Ortskräfte und ihre Familien, die für die USA und ihre Alliierten gearbeitet hatten ebenso wie JournalistInnen, KünstlerInnnen, AktivistInnen, PolitikerInnen, SportlerInnen und Kulturschaffende.

Wir überlegten, ob wir unsere Sprachlosigkeit, Wut, Trauer und Ohnmacht nicht umwandeln könnten in etwas Produktives, Positives, Sinnvolles; ein Buch, in dem wir afghanischen Frauen und Akteurinnen eine Stimme geben, sie sichtbar und hörbar machen: »Wir sind noch da!«. Frauen, die in den letzten Jahren aktiv in ihrem Land für den Wiederaufbau, für die Partizipation an Gesellschaft und Wirtschaft, für Mitbestimmung und die Gleichheit der Geschlechter gearbeitet und gekämpft haben – und über die nun eine Katastrophe hereingebrochen ist, die die ›alte Welt‹ von vor zwanzig Jahren wiederherstellen könnte. Gleichzeitig möchten wir auch hierzulande aufrütteln, denn in den USA und in Europa gibt es ebenfalls konservative-fundamentalistische Strömungen, die die Rechte von Frauen einschränken wollen und damit bereits begonnen haben. Vor allem aber wollten wir, dass die Mädchen und Frauen in Afghanistan wissen, dass wir, die wir hier in Sicherheit leben, sie nicht vergessen haben.

Mit Nahid Shahalimi hatte der Verlag bereits 2017 das Buch »Wo Mut die Seele trägt« veröffentlicht. Sie hatte zahlreiche Kontakte zu Frauen und ihren Organisationen – von Sportlerinnen, Künstlerinnen zu Politikerinnen, Ärztinnen oder Informatikerinnen. Die Frage, die wir uns stellten, war, wo sind diese Frauen jetzt und was wird aus ihnen werden. Nahid Shahalimi versuchte, nicht nur mit den Frauen vor Ort in Verbindung zu bleiben, sondern auch im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfestellung zu leisten, um Menschen eine Ausreisemöglichkeit zu verschaffen.

Doch während wir von einigen Mädchen und Frauen die Gewissheit haben, dass sie das Land verlassen konnten, fehlt von anderen jede Spur. Wir wissen nicht, wo sie sind und ob sie noch leben. Und auch einige der Frauen, zu denen Nahid Shahalimi den Kontakt halten konnte, mussten in den letzten Wochen immer wieder ihre Verstecke wechseln und Angst davor haben, dass ihre Mobiltelefone geortet werden. Daher war es schwierig, Interviews zu führen und/oder bei Unklarheiten, diese in einem Gespräch klären zu können.

Manche der Gespräche und Texte wurden auf Pashto, Dari oder Deutsch geführt oder geschrieben, die meisten auf Englisch. Wir mussten uns bei den Bearbeitungen und Übersetzungen entscheiden, wie intensiv wir in die Sprache und damit auch in den Inhalt der Texte eingreifen sollten. Wir beschlossen, eine individuell-hörbare Tonlage zu erhalten und gaben diesem Ton den Vorzug gegenüber einem perfekten Deutsch.

Um einige der Beiträgerinnen nicht in noch größere Gefahr zu bringen, konnten wir bestimmte Aussagen nicht differenzierter darstellen oder wir mussten akzeptieren, dass es eine Form von Selbstzensur gab, der sich manche Frauen unterzogen.

Wir wollten wegen der Dringlichkeit des Themas nicht allzu viel Zeit verstreichen lassen und hatten weniger als zwei Monate, um die Frauen, die nun mit Beiträgen im Buch vertreten sind, zu finden, zu interviewen, Gespräche zu transkribieren, diese zu übersetzen und zu lektorieren.

Allen, die dabei geholfen haben, dies möglich zu machen, gilt unser großer Dank.

München im Oktober 2021

Dr. Elisabeth Sandmann · Verlegerin

Frauen in Afghanistan Vorwort von Margaret Atwood

Vor sehr, sehr langer Zeit – 1978 nämlich, als Menschen, die heute vierzig Jahre alt sind, noch gar nicht geboren waren – unternahmen Graeme Gibson und ich eine Reise um die Welt. Unser Ziel war das Adelaide Festival in Australien, aber wir nahmen uns ein Round-the-World-Ticket, mit dem man unterwegs Stopps einlegen konnte, und das taten wir. Wir reisten mit unserer 18 Monate alten Tochter und meinten, dass sie zu lange in einem Flugzeug wäre, wenn wir direkt nach Australien flögen.

Der Zwischenstopp in Afghanistan war meine Entscheidung gewesen. Schon das Wenige, das ich von seiner Geschichte wusste, hatte mich von fern fasziniert – kein ausländischer Invasor einschließlich der Briten vermochte jemals, das Land über längere Zeit zu beherrschen. Berühmt ist der Ausspruch Alexanders des Großen, dass es sehr leicht sei, in Afghanistan einzumarschieren, aber sehr schwer, wieder hinauszugelangen. Auch die Russen sollten später diese Erfahrung machen, und wenige Jahrzehnte nach ihnen die Amerikaner. Warum? Vielleicht liegt es an der Verbindung von einer außerordentlich harschen Landschaft und dem unbändigen Freiheitswillen der Bewohner.

Vor unserem Abflug sagte mein Vater: »Fahrt da nicht hin, es wird bald Krieg geben.« Wie konnte er das wissen? Sechs Wochen nach unserem Besuch wurden Präsident Daoud Khan und fast seine gesamte Familie ermordet, was den über vierzigjährigen Krieg auslöste, den wir seither mitansehen. Wir hatten das Glück, dieses überwältigend schöne Land zu erleben, kurz bevor es in diesen Abgrund stürzte.

Es gibt Stimmen, die sagen, ein Grund für den Mord an Daoud Khan sei sein Eintreten für die Bildung und Berufstätigkeit von Frauen gewesen. Egal, ob das stimmt oder nicht – bei mir hat die Rolle der Frauen in Afghanistan, insbesondere ihre beinahe völlige Unsichtbarkeit im öffentlichen Leben, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Es ist offensichtlich, dass diese Unsichtbarkeit einer der vielen – historischen wie zeitgenössischen, aus aller Welt stammenden – Einflüsse ist, die sich in der Rolle der Frau niedergeschlagen haben, die ich für die Republik Gilead aus Der Report der Magd entworfen habe. Ich habe dieses Buch 1981 begonnen, und es erschien 1985; meine Fiktion einer amerikanischen Theokratie, die Frauen in eine extrem untergeordnete gesellschaftliche Stellung zwingt, ist also kurz nach meinem Afghanistan-Besuch entstanden.

Doch was ist mit heute – jetzt, da in Afghanistan erneut ein puritanisches theokratisches Regime an die Macht gekommen ist? Frauen, die bislang als Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen, Denkerinnen, Schöpferinnen oder auch im medizinischen Bereich aktiv waren, werden zurück in die Unsichtbarkeit gezwungen. Man wird ihnen erklären, dass sie keine Ausbildung erhalten dürften, weil – hier lassen sich eine oder auch mehrere der Begründungen einfügen, die zu vielen Zeiten und in vielen Ländern gegeben wurden. Etwa, dass Frauen zu höherem Denken unfähig seien, ihre eigentliche Bestimmung darin liege, Kinder zu gebären und der Familie zu dienen, und so weiter. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts wurde sogar behauptet, dass das Gehirn von Frauen, die Bildung erhielten, mit zu viel Blut versorgt würde und ihre Gebärorgane schrumpften. Es wurden unzählige Gründe angeführt, und keiner davon hält einer näheren Betrachtung stand. Sagen wir doch einfach, dass es in Wirklichkeit eher um Macht und Herrschaft geht und auch eine bösartige Seite in der menschlichen Natur zum Zug kommen soll: das Vergnügen, das manche empfinden, wenn sie anderen Schmerz zufügen.

Viele Afghaninnen haben die Behauptung, Frauen könnten nicht lehren, lernen, forschen, erfinden, heilen und erschaffen, bereits widerlegt. Vielleicht werden sie nun wieder ins Dunkel gezwungen, vor Blicken versteckt, ihre Talente ihrem Land und ihren Gemeinschaften vorenthalten; aber das, was sie bereits wissen, lässt sich nicht mehr auslöschen. Ich vermag nicht in die Zukunft zu sehen und weiß nicht, wie sich die Amputation der Frauen und ihrer Fähigkeiten auf Afghanistan auswirken wird. Vielleicht werden jüngere Frauen verzweifelter sein, weil sie die Zeit nicht erlebt haben, in der Afghaninnen aus der Unsichtbarkeit traten und sichtbar wurden. Vielleicht werden ältere Frauen beharrlicher sein in der Überzeugung, dass das, was schon einmal erreicht wurde, wieder erreicht werden kann. In unserer seltsamen und traurigen Zeit, in der wir von einer Pandemie und den grausamen Auswirkungen einer Klimakrise geplagt werden, ist nichts vorhersagbar. Aber die afghanischen Frauen selbst haben gesagt: »Wir sind noch da!« Das allein ist eine Aussage von beträchtlichem Gewicht: Nach mehr als vierzig Jahren Umsturz und Zerstörung, Wiederaufbau und neuerlicher Zerstörung haben sie schon sehr, sehr viel durchgemacht.

Ohne Frauen kann kein Land lange bestehen. Egal, wie sehr ein Regime Frauen hasst und straft, ganz ohne sie kommt es nicht aus. Aber von welcher Art werden diese Frauen sein? Wir werden es sehen.

Wir sind noch da! Einleitung von Nahid Shahalimi

Seit ich denken kann, haben wir keine Zeit gehabt zu trauern. Eine Katastrophe hat die nächste abgelöst. Wir haben geliebte Menschen, unsere Heimat, Freiheiten und Hoffnungen verloren. Und nun wird ein ganzes Land und seine Jugend um die Zukunft gebracht, die es braucht, um es wenigstens ernähren zu können.

Auch jetzt habe ich keine Zeit zu trauern, und so wie mir geht es allen meinen afghanischen Freundinnen und Freunden – denn wir wollen jenen helfen, die noch da sind, und jenen eine Stimme geben, die keine mehr haben und vielleicht niemals mehr eine Stimme haben werden. Die radikalen Kräfte, die nun in Afghanistan wirksam sind, müssen die freie Welt, aber vor allem uns Frauen beunruhigen – um es vorsichtig zu formulieren. Afghanistan ist nur geografisch weit weg von Deutschland, radikale Ideen aber kennen keine Grenzen.

Lassen Sie mich von der Vergangenheit erzählen, weil man nur dann versteht, was wir einmal hatten und was wir immer wieder aufs Neue verloren haben.

Als ich 2011 in einem Flugzeug der Ariana Afghan Airlines von Frankfurt nach Kabul flog, war dies meine erste Reise 26 Jahre nach unserer Flucht aus der Heimat. Ich war sehr aufgeregt, obwohl ich in Begleitung meiner Mutter war, die Afghanistan bereits zuvor und sogar schon häufiger besucht hatte. So oft hatte ich in den letzten drei Jahrzehnten von diesem Moment geträumt, konnte mir aber nicht vorstellen, wie es wirklich wäre, eines Tages in meine Heimat zurückkehren zu können. Zu meiner Überraschung saßen in dem Flieger viele Exilafghanen – Männer wie Frauen. Was wollten sie in Afghanistan? Kamen sie auch zum ersten Mal zurück? Ich stellte mir all diese Fragen und hätte am liebsten alle Passagiere nach ihren Beweggründen gefragt. Meine westlich-modisch gekleidete Sitznachbarin war 25 Jahre alt, in Deutschland geboren, hatte afghanische Eltern und sie hatte gerade ihren Master abgeschlossen. Wie sich herausstellte, wollte sie ihren Verlobten treffen, den sie auf einer der vielen unter Afghanen so üblichen und meist großen Familienfeiern kennengelernt hatte. Es war bereits ihre fünfte Reise ins Land und sie hatte nicht die Spur von Angst.

2011: Der erste Blick vom Flugzeug aus auf den Hindukusch – nach 26 Jahren.

Es überkam mich ein Gefühl von Zugehörigkeit und ein Glücksgefühl, das meinen ganzen Körper durchströmte, ein Gefühl, von dem ich nicht ahnte, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte. Zum ersten Mal verstand ich, was es hieß, ein Geburtsrecht zu haben. Hier war ich keine Außenseiterin, ich gehörte selbstverständlich dazu. Wir sprachen eine Sprache – und ich war auf dem Weg nach Hause. Ich selbst wollte mein Geburtsland nach so vielen Jahren nicht nur wiedersehen und besuchen, sondern ich wollte zurückkommen, um mich einzubringen, um zu helfen, mich für den Aufbau von sozialen und künstlerischen Projekten einsetzen, beraten, dokumentieren, berichten – und vor allem wollte ich Frauen unterstützen, in deren Situation ich mich am besten einfühlen konnte und mich selbst darin wiederfand. Ich wusste immer – seit ich zwölf Jahre alt war –, dass ich zurückgehen würde.

Es gab die Jahre, in denen es nicht möglich war, nach Afghanistan zu reisen, vor allem betraf das die 1980er-Jahre bis 2001, weil es zu gefährlich geworden war – und auch von ihnen will ich erzählen.

Ich hatte das Glück, von den Zeiten des Friedens und der Einheit noch einige unbeschwerte Jahre in meinem Land erleben zu dürfen. Für meine Familie verändert sich nicht sofort alles, aber in der Folge doch alles, als der letzte König von Afghanistan, Mohammed Zahir Schah (1914–2007), 1973 gestürzt wurde. Dieser Sturz leitete den Untergang unseres friedlichen und vereinten Zusammenlebens ein, zumindest was die vierzig Jahre vor dem Putsch betrifft. Im Dezember 1979 marschierte die sowjetische Armee in Afghanistan in dem Glauben ein, es siegreich kontrollieren zu können. Eine kommunistische Regierung wurde etabliert und die Sowjets verstrickten sich in einen Krieg mit religiösen Freiheitskämpfern. In der Folge unterstützten die USA die Mudschaheddin mit Geld und Waffen, und Afghanistan wurde der traurige Schauplatz eines Stellvertreterkrieges zwischen den USA und der Sowjetunion, wobei es verschiedene weitere Akteure gab, die ebenfalls für ihre Interessen und gegen den Westen kämpften, wie Pakistan, Saudi-Arabien, der Iran und andere. Über 1 Million Afghanen und etwa 15.000 sowjetische Soldaten starben. Als die Sowjets 1989 nach zehn Jahren abzogen, hatten wir keine Zeit, um die Toten zu betrauern, denn es folgte zwischen 1992 und 1996 ein Bürgerkrieg, in dem weitere 1,5 Millionen Menschen ihr Leben ließen. Zahlen, hinter denen Schicksale stehen und die das Land weiter in die Rückständigkeit gebombt haben. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wo wir heute vielleicht im Hinblick auf Wohlstand und Bildung ohne diese Konflikte wären. Der nun folgende und extrem blutige Bürgerkrieg stärkte die Taliban, die 1995/96 einen von Pakistan und Saudi-Arabien geförderten, radikalen und menschenfeindlichen Islamismus einführten. Die Nachrichten, die damals zu uns drangen, hatten eine neue Qualität des Schreckens.

Zwischen 1996 und 2001 terrorisierten sie das Land und machten aus ihrer Missachtung gegenüber Frauen keinen Hehl. In dieser Zeit war alles verboten, was als freudvoll gelten kann: Musik, Tanz, Sport, Bildung. Frauen durften sich lediglich im Gesundheitswesen betätigen und das auch nur, weil die Sterblichkeitsrate von Frauen und Kindern vor allem bei Geburten in die Höhe schoss. Heute noch ist die Rate der Analphabeten unter Frauen weltweit am höchsten, vor allem auch im Verhältnis zur Alphabetisierung der Männer. Dass Bildung von Frauen nachweislich ein nachhaltiger Weg aus der Armutsfalle ist, gilt längst als unumstößlich.

2014: Nahid Shahalimi auf ihrer Reise durch ihr Heimatland Afghanistan.

Die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 veränderten dann die Welt. Zwei von Attentätern entführte Passagierflugzeuge steuerten in die Türme des World Trade Center in New York und brachten sie zum Einsturz. Zwei weitere entführte Flugzeuge nahmen Kurs auf die Hauptstadt Washington; eine der Maschinen stürzte in das Pentagon, eine weitere stürzte vorher auf freiem Feld ab. Fast 3000 Menschen starben. Zu den Anschlägen bekannte sich das Terrornetzwerk Al-Kaida und dessen saudi-arabischer Anführer Osama bin Laden, der sich unter dem Schutz der Taliban in Afghanistan versteckt hielt. Der US-amerikanische Präsident George W. Bush rief den »Krieg gegen den Terror« aus – und dieser weitere Krieg sollte unter anderem Afghanistan von Al-Kaida- und Taliban-Netzwerken befreien. Der Sturz der Taliban Ende des Jahres 2001 brachte uns die Hoffnung auf einen Neubeginn: Jahre, in denen sich Mädchen und Frauen Freiheiten und Rechte zurückeroberten. Jahre, in denen wir wirklich glaubten, es gäbe eine Zukunft für diese Mädchen und Frauen. Über diese Jahre der Hoffnung will ich später noch erzählen.

Seit dem 15. August 2021 gibt es keinen realistischen Grund mehr für diese Hoffnung. Die Bilder im Fernsehen und in den sozialen Medien erschienen mir und allen, die sich mit dem Land verbunden fühlen, wie ein Schlag ins Gesicht. Der Schmerz und der Schock waren und sind überwältigend. 

Die Taliban haben das Land unter den Augen einer fassungslosen Öffentlichkeit unter ihre Kontrolle gebracht. Sie kontrollieren nicht nur das Land, sondern auch die Angst der Menschen. Frauen trauen sich nicht mehr auf die Straße und diejenigen, die nach Bildung, Mitsprache, Teilhabe und persönlicher Freiheit strebten, bleiben besser zu Hause ebenso wie jene, die für die alliierten Truppen tätig waren und auf den Schutz dieser Allianz vertraut haben. Die Bilder der sogenannten Ortskräfte, die in Scharen mit ihren Familien oder allein im August 2021 versuchten, den Flughafen von Kabul zu erreichen, gingen um die Welt. Ebenso wie die verstörenden Nachrichten, dass Männer und Frauen, Alte und Junge nicht mehr darauf hoffen können, das Land zu verlassen. Verzweifelt versuchen sie noch immer, in die Nachbarländer (Pakistan, Usbekistan, Tadschikistan, Iran) zu gelangen, aber die meisten Grenzen sind zu oder nur mit Visa zu passieren. Sie werden Gefangene in ihrem eigenen Land sein, angewiesen auf die Welthungerhilfe, denn die Taliban können die etwa 30 Millionen Einwohner nicht ernähren. Hinzu kommt die Gefahr eines erneuten Bürgerkriegs, ausgelöst durch radikale Strömungen aus dem IS, der Anschläge verübt und selbst um Einfluss und Macht im Land ringt. 

Zwar gibt es landesweite Proteste der Bevölkerung, die sogar von Frauen initiiert werden – eine dieser Frauen kommt in diesem Buch zu Wort –, aber diese Proteste sind ein lebensgefährlicher Akt, die Strafen drakonisch, die Methoden der Bestrafung mittelalterlich – die Taliban schlagen mit Peitschen und Kabeln auf Demonstranten und auch auf Reporter ein. Wenn wir auf Twitter, Instagram, YouTube und anderen Kanälen von diesen Protesten erfahren, halten wir den Atem an, denn wir alle befürchten stets das Schlimmste.

Niemals hätte ich gedacht, dass das Rad noch einmal so weit zurückgedreht werden könnte, aber die Taliban sind dabei, das Land in sehr dunkle Zeiten zu katapultieren. Dabei erinnere ich mich an ganz andere Jahre, die mir heute wie eine ferne Utopie erscheinen.

Ich wurde 1973 in eine Familie hineingeboren, in der es normal war, als Mädchen die Schule und die Universität zu besuchen und später einen Beruf als Lehrerin, Ärztin oder Wissenschaftlerin zu ergreifen. Auf dem Land war es damals natürlich rückständiger und auch konservativer, aber in den Städten arbeiteten Männer und Frauen in einem Büro oder besuchten den gleichen Hörsaal. Wer keinen Tschaderi oder Schleier tragen wollte, wurde gesetzlich nicht dazu gezwungen. In den Straßen der Hauptstadt Kabul sah man junge Frauen in kurzen Röcken. Auch von meiner Mutter und ihren Freundinnen gibt es Fotografien, auf denen sie sich in der neuesten Pariser Mode präsentieren. Es gab letztendlich eine friedliche Koexistenz konservativer, islamisch geprägter Werte und liberaler Strömungen.

Die ersten zwölf Jahre meines Lebens habe ich in privilegierten Verhältnissen gelebt. Wir wohnten in einer herrschaftlichen Villa und meine drei Schwestern und ich führten das Leben von Prinzessinnen. Mein Vater Abdul Hakim Shahalimi war eine hochgeachtete politische Persönlichkeit, bevor er sich Ende der 1960er-Jahre aus dem aktiven politischen Leben zurückzog.

Gleichsam über Nacht veränderte der Tod meines Vaters 1981 unser Leben von Grund auf.

Er starb, weil ihm die kommunistische Regierung die Ausreise für eine nur im Ausland durchzuführende, notwendige Operation verweigert hatte – und weil er selbst kein Kommunist war. Wir standen aber nicht nur in Opposition zu einem politischen System, sondern auch das beträchtliche Vermögen, das unser Vater seiner Frau und seinen Töchtern hinterlassen hatte, wurde zu einer Gefahr für uns. Frauen hatten auch damals nicht die gleichen Rechte wie Männer und ohne einen Bruder – also ohne einen männlichen Vertreter – waren wir nicht viel wert, außer in der Fantasie der Männer, vielleicht einmal attraktive, gefügige Ehefrauen abzugeben. Einige Familienmitglieder, die dem Kommunismus nahestanden und die Machtpositionen im Land anstrebten, ebenso wie andere, die Macht und Reichtum für sich geltend machten, stahlen in der darauffolgenden Zeit alles, was wir besaßen. Meine Mutter war damals 26 Jahre alt – und als sie mit Morddrohungen und der Entführung ihrer Kinder konfrontiert wurde, beschloss sie, das Land heimlich mit der Unterstützung meiner Großeltern in Richtung Pakistan zu verlassen. Wir konnten nichts mitnehmen, was mir einmal wichtig war. Ich kenne daher die Erfahrung – oder besser das Trauma –, vertrieben zu werden und alles zurücklassen zu müssen, nicht nur Besitz, sondern auch nahestehende Menschen.