Wir tanzen uns glücklich - Sabrina Pietsch - E-Book

Wir tanzen uns glücklich E-Book

Sabrina Pietsch

0,0

Beschreibung

Tanzen verbindet - oder nicht? Die führbar ist eröffnet und erfolgreicher, als René und Julie zu träumen gewagt haben. Voller Leidenschaft bringen sie in ihrer Tanzschule schon bald zahlreiche Menschen und Herzen in Bewegung. Fernab des Parketts wird dem Paar jedoch immer mehr bewusst, worauf es im Tanz des Lebens wirklich ankommt: Vertraue deinem Partner - egal, was passiert. Tanzlehrer David fühlt sich nur mit Musik in den Ohren und Schweiß auf der Haut wirklich lebendig. Das Herz seiner großen Liebe Elena schlägt jedoch zu einem anderen Rhythmus als seins. Mit jedem Tanz gerät ihr Beziehung zunehmend aus dem Takt. Zum Glück gibt es noch Davis Trainingspartnerin Lucy, mit der ihn mehr verbindet, als ihm bewusst ist. Mit einem Tanzkurs möchte Anna ihre Ehe retten. Ihr Plan scheint zu funktionieren, denn mit dem Walzer kommt auch wieder Schwung in ihre Beziehung - bis Ben plötzlich nicht nur das Tanzen aufgibt. Nur langsam bringt Anna ihr neues, partnerloses Leben wieder ins Gleichgewicht und bemerkt zu nächst nicht, dass sich längst ein anderer Mann in ihr Herz getanzt hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 385

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Mama und Papa. Danke, dass ihr mich auf meinem Weg zum Traumberuf unterstützt habt.

PLAYLIST

1. S CLUB 7 – DON’T STOP MOVIN‘

2. TOVE LO – TALKING BODY

3. HELENE FISCHER – EHRLICH UND KLAR

4. MEGHAN TRAINOR – NO EXCUSES

5. CODY SIMPSON – WISH YOU WERE HERE

6. NINA GORDON – TONIGHT AND THE REST OF MY LIFE

7. FOREST BLAKK – IF YOU LOVE HER

8. SELENA GOMEZ – FEEL ME

9. ALTEGO, BRITNEY SPEARS, GINUWINE – TOXIC PONY

10. MARK FORSTER – WIR SIND GROSS

11. SOFIA KARLBERG – LONELY TOGETHER

12. CHRISTINA AGUILERA – TOUGH LOVER

13. LIAM PAYNE – STACK IT UP

14. TRADING YESTERDAY – MY LAST GOODBYE

15. JOHN MAYER – SLOW DANCING IN A BURNING ROOM

16. GLOCKENBACH – DIRTY DANCING

17. NEW KIDS ON THE BLOCK – CLICK CLICK CLICK

18. RACHEL PLATTEN – BROKEN GLASS

19. LIGHTHOUSE FAMILY – HIGH

20. CHROMEO – JEALOUS (I AIN’T WITH IT)

21. COLBIE CAILLAT – TRY

22. P!NK – NEVER GONNA NOT DANCE AGAIN

23. MAROON 5 – GIRLS LIKE YOU

24. ROSA LINN – SNAP

25. MOMO CHAHINE – GEGENSTÜCK

26. ED SHEERAN – 2STEP

27. LENNY KRAVITZ – FLY AWAY

28. XO CUPID, MAYA AVEDIS – TRUE COLORS

29. ANA RITA – LETTING GO TONIGHT

30. BRITT NICOLE – THE SUN IS RISING

31. SPORTFREUNDE STILLER – HAND IN HAND

32. CALUM SCOTT – DANCING ON MY OWN

33. LEA – IMMER WENN WIR UNS SEHEN

34. PULSEDRIVER, CHRIS DEELAY – TRULY MADLY DEEPLY

35. DEEPLACE, RED – FOR THE NIGHT

36. NIALL HORAN – SLOW HANDS

37. THE SPENCER LEE BAND – THE WOLF

38. SASHA ALEX SLOAN, SAM HUNT – WHEN WAS IT OVER?

39. MARIAN HILL – LIPS

40. JAZZE PHA, MONICA – CAN I WALK BY

41. MARSHMELLO, CHVRCHES – HERE WITH ME

42. ELLA HENDERSON – FRIENDS

43. MILK & SUGAR – SKY AND SAND

44. OLLY MURS – DANCE WITH ME TONIGHT

45. ANDERSON EAST – WHAT WOULD IT TAKE

46. BRYAN ADAMS – HERE I AM

Die Playlist zum Buch findest du bei Spotify.

Einfach diesen QR-Code scannen und zu jedem Kapitel das passende Lied hören:

Inhaltsverzeichnis

Warm Up

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

Training

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

Showtime

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

Warm Up

Das Aufwärmen bereitet Körper und Geist auf die anstehende Belastung vor.

Es erhöht die Leistungsfähigkeit und mindert das Verletzungsrisiko.

KAPITEL 1

Rene

Im alten Güterbahnhof von Grona schob René den Lautstärkeregler nach oben und zählte. »5, 6, 7, 8!«

Die Paare tanzten über das neue Parkett durch die ehemalige Lagerhalle, entlang der roten Backsteinwände und unter dem hölzernen Gebälk hindurch. Bunte Strahler erleuchteten die Tanzfläche in allen Farben, und durch die vier Boxen in den Ecken des Saals schallte schwungvolle Discomusik. Der Tanzlehrer verließ die Deckung des Musikpults und schlenderte in die Mitte der Fläche, wo seine Assistentin auf ihn wartete. Er griff ihre Hand, führte sie mit einem Schlenker seines Handgelenks in eine lockere Tanzhaltung und setzte den ersten Schritt. Eins, zwei, drei, Cha-Cha-Cha, zwei, drei, Cha-Cha-Cha … Sie tanzten, ohne nachzudenken. Er führte, und sie folgte. So hatten sie es schon immer getan.

René kannte Elena seit ihrer Grundschulzeit. Gemeinsam hatten sie ihre Leidenschaft fürs Tanzen entdeckt und über die Jahre zahlreiche Turniere bestritten, bis er ihre Karriere für seine eifersüchtige Ex-Freundin beendet hatte. Daran war auch ihre Freundschaft zerbrochen, und Elena hatte der Tanzwelt den Rücken gekehrt. Erst seine heutige Ehefrau Julie hatte es geschafft, ihn und seine Tanzpartnerin zu versöhnen und sie auf dem Parkett wieder zu vereinen.

»Was unterrichten wir heute?«, fragte Elena, kurz bevor das Lied endete.

»Zuerst tanzen wir noch einen Langsamen Walzer, und danach zeigen wir eine neue Figur im Discofox«, antwortete René und löste ihre Haltung.

Die Musik verstummte, und die Paare um sie herum kamen zum Stillstand. Sie warteten Arm in Arm, hielten sich die Hände oder gaben sich einen Kuss als Dankeschön für diesen ersten Tanz.

René sog die Harmonie dieses magischen Moments in sich auf. »Damit ist die führbar offiziell eingeweiht. Ihr seid unser erster Tanzkurs, und ich freue mich sehr, dass ihr alle hier seid«, verkündete er, und die Paare klatschten und lachten mit ihm. »Das nächste Lied ist ein Langsamer Walzer.«

Er wählte einen Titel aus seiner Playlist, dimmte das Licht und wieder tanzten alle durch den Raum. Dieses Mal zum Dreivierteltakt.

Nur eine Woche zuvor hatten bereits unzählige Menschen auf dem Parkett der führbar getanzt. Die Eröffnungsfeier war ein riesiger Erfolg gewesen, und René hatte im Anschluss an die Veranstaltung keinen Tag verbracht, ohne von Anrufen und E-Mails überhäuft zu werden. Sowohl die Gesellschaftstanzkurse für Fortgeschrittene als auch die Grundkurse waren restlos ausgebucht. An fünf Abenden pro Woche unterrichteten er und Elena, die nach ihrem Feierabend in der Bank in letzter Minute zu ihm stieß, die tanzbegeisterten Menschen von Grona.

»Wie geht es eigentlich Julie und Lio? Ich habe sie nach der Eröffnung gar nicht mehr gesehen.«

»Ich auch nicht.« René grinste sie verschmitzt an, und Elena verdrehte die Augen.

»Sag schon. Ist alles in Ordnung bei euch?«

»Ja, klar. Julie hält zuhause alles beisammen und hilft mir, wo sie kann. Aber mit Lio ist es nicht immer einfach. Nächsten Monat wird er schon ein Jahr alt. Nicht zu fassen, wie schnell die Zeit vergeht.«

»Er kann eben nicht ewig ein Baby bleiben. Habt ihr schon einen Kindergartenplatz?«

»Nein, noch nicht. Ehrlich gesagt haben wir das Thema immer vor uns hergeschoben. Während der Gründung der Tanzschule hatten wir andere Dinge im Kopf.«

»Ich weiß. Ich war dabei.«

Bei der Entscheidung für die Selbständigkeit hatten René und Julie sich intensiv mit ihren Finanzen auseinandersetzen müssen. Elena hatte mit ihrem Fachwissen aus der Bank Ordnung in ihre Überlegungen gebracht und ihnen geholfen, Fördergelder und Kredite zu beantragen.

»Komm her. Der Walzer dauert nur noch eine Minute, dann brauche ich dich in der Mitte.«

»Bin schon bereit.«

Sie positionierten sich in Gegenüberstellung. Die Paare bildeten einen großen Kreis um sie herum und lauschten Renés Erklärungen. Nach einer kurzen Einführung in den Discofox übten sie die Schritte zur Musik. Danach folgte eine Figur, in der die Herren ihre Damen in eine elegante Drehung führten und anschließend selbst drehten. Der Spaß stand den Tanzpaaren ins Gesicht geschrieben, und sogar, wenn ein Versuch nicht klappte, herrschte gute Stimmung in der Gruppe.

Am Ende der Unterrichtsstunde verabschiedeten sich René und Elena und luden alle Tanzenden ein, zehn Minuten länger zu bleiben und den Abend ausklingen zu lassen.

»Das hätte es früher niemals gegeben«, murmelte er, damit die Paare ihn nicht hörten.

»Du meinst in der Tanzschule Glomm?«

»Ja. Dort zu kündigen, war die richtige Entscheidung. Es tut mir leid, dass ich David im Stich gelassen habe, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten.« Von Weitem winkte ihm ein Ehepaar zu und verließ freudestrahlend mit seinen Jacken den Saal. »Tschüss, bis nächste Woche!«, rief er den beiden nach.

Auch Elena winkte ihnen überschwänglich zu. Dann wandte sie sich erneut an René. »Ich glaube, ihm geht es ähnlich. Seit du weg bist, hat er kaum noch Gutes zu berichten, wenn er nachts nach Hause kommt.« Sie strich sich die langen Haare hinter ihre Ohren und lehnte den Kopf an Renés Schulter.

»Aber zwischen euch ist alles in Ordnung, oder?« Er legte einen Arm um sie und knuffte leicht ihre Wange.

Elena lachte. »Ja, alles bestens. Hat er es dir eigentlich erzählt?«

»Was?«

»Dass er mich gefragt hat, ob ich ihn heiraten möchte.«

René löste die Umarmung, wandte sich ihr zu und starrte sie mit hochgezogenen Brauen an.

Sie tätschelte seine Schulter. »Entspann dich. Ich habe abgelehnt.«

»Äh …«, stotterte er. »Ich verstehe nicht …«

Elena lief an ihm vorbei in Richtung der schweren Saaltür. Die verbliebenen Tanzpaare verabschiedeten sich allmählich und verließen ebenfalls den Raum. Im Foyer herrschte buntes Treiben, während alle ihre Schuhe wechselten, Jacken anzogen und sich einen guten Heimweg wünschten. Als die letzten Menschen die Tanzschule verlassen hatten und nur Elena und René zurückblieben, konnten sie endlich ihr Gespräch fortführen.

»Erklär’s mir, bitte«, bohrte René ungeduldig nach, und Elena schmunzelte vergnügt.

»Du weißt doch, dass David früher mal mit Lucy, eurer früheren Auszubildenden, rumgemacht hat.«

»Ja, ich erinnere mich …« René ahnte nichts Gutes.

»Jedenfalls hat er die Sache mit Lucy zuerst nicht endgültig abhaken können. Es ist zwar nichts mehr passiert zwischen ihnen, aber er konnte mir auch nicht versprechen, dass es dabei bleiben würde. Also habe ich gesagt, dass ich mir auch jemand anderen fürs Bett suchen werde. Gleiches Recht für alle, dachte ich mir.«

Ein lautes Lachen entfuhr René. Er schlug die Hände vors Gesicht und wartete gespannt auf das Ende der Geschichte. Wie aus dieser Situation ein Heiratsantrag werden konnte, war ihm ein Rätsel.

»Jedenfalls hat David die Vorstellung nicht ertragen, mich mit einem fremden Mann zu teilen, und mich deshalb gefragt, ob ich ihn heiraten möchte.«

»Und du hast Nein gesagt? Aber du wolltest ihn doch immer für dich allein haben.«

»Klar, aber dazu brauche ich doch keine Hochzeit. Er soll mir treu bleiben, weil er es will und nicht, weil eine Urkunde an unserer Wand hängt, die ihm das vorschreibt.«

»Du bist unglaublich. Hätte ich geahnt, dass du diejenige bist, die ihn zähmt, hätte ich ihn dir schon früher vorgestellt.« Er knuffte sie in die Seite und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Lass uns jetzt Feierabend machen.«

Sie schalteten die Lichter aus, wechselten ihre Schuhe und verließen den alten Güterbahnhof.

»Bis morgen dann. Richte David liebe Grüße von mir aus.«

»Mache ich. Und du grüß Julie von mir.« Mit beschwingten Schritten lief Elena über den großen Parkplatz in die Nacht hinein.

René beobachtete seine Freundin grinsend und stellte sich vor, wie diese zarte und wunderschöne Tänzerin es geschafft hatte, das Herz seines besten Kumpels zu erobern. Zufrieden verriegelte er die Tür und versicherte sich, dass alle Fenster geschlossen waren. Die Nacht belohnte ihn mit einem sternenklaren Himmel und einem riesigen, hellen Mond direkt über dem Dach der Tanzschule. Voller Stolz und Demut blickte René auf das imposante Gebäude mit dem Schriftzug an der Tür, auf der sein Name stand: René Martens – Inhaber.

KAPITEL 2

David

Als David die Wohnung seiner Freundin betrat, saß sie bereits in Jogginghose und Schlafshirt auf dem Sofa und tippte wahllos auf der Fernbedienung herum.

»Na, endlich Feierabend?« Sie blinzelte ihn mit ihren braunen Bambi-Augen an und lächelte mitleidig. Ihr langes Haar hatte sie zu einem wüsten Knoten zusammengebunden. Einige Strähnen hatten sich jedoch gelöst und umspielten ihre mädchenhaften Gesichtszüge.

Er streifte seine Sneakers ab, warf den Wintermantel über einen Stuhl und ließ seine Sporttasche auf den Boden fallen. An seinem Handgelenk meldete eine sanfte Vibration seiner Uhr, dass ein neuer Tag begann. »Oh.« Er sah auf das winzige Display. »Es ist ja schon Mitternacht.«

»Allerdings.« Elena gähnte. »Und ich muss morgen früh arbeiten.«

»Tut mir leid, dass ich so spät bin.« Er setzte sich neben sie aufs Sofa und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie drückte die Aus-Taste der Fernbedienung und fixierte ihn mit ernster Miene. »Gab es einen besonderen Grund?«

David wusste genau, worauf sie hinauswollte. Dass er mit seiner ehemaligen Affäre zusammenarbeitete, gefiel seiner Freundin überhaupt nicht. »Nein, ehrlich. Zwei meiner Tanzpaare konnten sich nicht von der Bar lösen.«

»Ach so. Okay. Und sonst? Wie war dein Tag?« Betont friedlich und unschuldig dreinblickend warf Elena ihm ihr schönes Lächeln zu, neigte den Kopf zur Seite und blinzelte ihn mit ihren dunklen Wimpern an.

Obwohl er spürte, dass Elena sich weiterhin um seine Treue sorgte, war er dankbar für den Themawechsel. Es gab ohnehin Wichtigeres zu besprechen. »Ehrlich gesagt, war mein Tag ziemlich beschissen. Ich habe eine Nachricht von meinem Vermieter bekommen. Er meldet Eigenbedarf an, also werde ich mir schnellstmöglich eine neue Wohnung suchen müssen.«

»Oh.« Die Überraschung stand Elena ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig sah David, wie der Gedanke, auf den er gehofft hatte, hinter ihrer Stirn aufblitzte und in ihr arbeitete. »Wann musst du denn ausziehen?«

»In sechs Monaten.« Er sah betreten auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers und seufzte.

Elena räusperte sich. »Also … Vielleicht könnten wir ja – aber nur, wenn du wirklich willst! – gemeinsam nach einer Wohnung suchen. Oder du ziehst erst mal hier ein.«

»Meinst du das ernst?«

»Sicher. Du schläfst ohnehin fast jede Nacht bei mir.«

Erleichtert wandte er sich seiner Freundin zu und schürzte die Lippen zu einem Kussmund, doch Elena starrte ihn nur breit grinsend an. »Bedeutet das, du bist einverstanden?«

»Natürlich bin ich einverstanden! Und jetzt gib mir endlich einen Kuss!« Er streichelte ihre Wange, drehte mit sanftem Druck ihren Kopf in seine Richtung und küsste sie. Sofort öffnete sie ihre Lippen, und ihre Zungen berührten sich. David ließ seine Hand über ihre Haut gleiten. Von ihrem Gesicht strich er vorsichtig hinter ihr Ohr, hinunter in ihren Nacken und den Hinterkopf hinauf zum Haarknoten. Dann griff er zu.

Ein lustvolles Stöhnen stieß aus Elenas Mund hervor, als er sie am Schopf packte und sie zwang, den Kopf nach hinten zu neigen. Wie ein durstiger Vampir beugte er sich vor und zog mit seiner Zungenspitze eine langsame Bahn von ihrem Schlüsselbein den Hals hinauf, bis zu ihrem Kieferknochen. Elena summte genüsslich, und David wusste, dass sie ab diesem Moment zu allem bereit war. Sie gehörte ganz ihm.

»Zieh dich aus«, befahl er ihr mit leiser Stimme und lehnte sich zurück in die Sofakissen, während sie aufstand, langsam ihr Shirt auszog und die Jogginghose von ihren Hüften gleiten ließ.

Erwartungsvoll sah sie ihn an, schob zwei Finger in den Saum ihres Höschens und beugte sich leicht vor, um es abzustreifen. Sie richtete sich auf, presste ihre Lippen aufeinander und stützte die Hände in die Hüften. »Und was soll ich jetzt tun?«, flüsterte sie.

David betrachtete ihren nackten, perfekten Körper. Ihre kleinen dunklen Brustwarzen traten deutlich hervor, und die schmale Lücke zwischen ihren Oberschenkel gewährte ihm die schönste Aussicht, die er jemals bei einer Frau gesehen hatte. Er hielt dem Druck in seinem Inneren keine Minute länger stand. »Knie dich hin, Hände auf die Lehne«, hauchte er.

Sie gehorchte, stieg auf das weiche Polster des Sofas und stützte ihre Unterarme auf die Rückenlehne. David sprang auf, öffnete seine Jeans, schob notdürftig seine Shorts herunter und positionierte sich hinter ihr. Er legte eine Hand auf ihren Rücken, bahnte sich mit der anderen den Weg in ihren Schritt und erspürte das warme, nasse Ziel seine Begierde.

Mit sanften, wellenartigen Bewegungen seiner Finger durchbrach er die letzte Distanz zwischen ihren Körpern, formte winzige Kreise. Elena atmete hörbar aus, reckte sich ihm entgegen. David strich mit seiner freien Hand über die zarten Knochen ihrer Wirbelsäule. Der Duft ihrer makellosen Haut stieg ihm in die Nase und vernebelte seine Sinne. Wie er es sonst nur auf der Tanzfläche erlebte, schaltete sein Kopf auf Standby und eine außenstehende Macht übernahm die Kontrolle über seinen Verstand. Das Blut pulsierte in seinen Adern, gab den Rhythmus vor für die nächste Bewegung. Er packte mit beiden Händen Elenas Hüftknochen und hielt sie fest in Position, während er kraftvoll zustieß.

»Aaaaargh …« Ihm entfuhr ein langgezogener Schrei, die Anspannung des Tages entlud sich auf einen Schlag und er sank nieder auf den Rücken seiner Liebsten. »Entschuldige.«

Elena sah über ihre Schultern hinweg zu ihm. Ihre Augen wirkten glasig, die Wangen leicht gerötet und der Haarknoten hatte sich endgültig verabschiedet.

»Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten«, keuchte er.

»Ist mir aufgefallen.« Sie schmunzelte und entwand sich seiner Umarmung. »Und nun?«

David grinste und gab ihr einen Klaps auf den Hintern. »Mach‘s dir bequem. Ich kümmere mich um dich …«

Am nächsten Morgen erwachte er alleine auf dem Sofa. Elena war längst aufgestanden und zur Arbeit gegangen. Wie sie es schaffte, nach einem Arbeitstag in der Bank und einer Abendschicht in der Tanzschule nachts auf seine Heimkehr zu warten und daraufhin nicht zu verschlafen, war ihm ein Rätsel. Doch eben diese Energie hatte ihn von Anfang an begeistert. Manchmal, wenn er sah, wie Elena ihren Alltag meisterte und ihr Leben im Griff hatte, bohrten sich tiefe Zweifel durch seine Eingeweide, ob er mit dieser Frau überhaupt mithalten konnte.

David tippte zweimal mit dem Finger auf sein Handy, um das Display einzuschalten. Es war elf Uhr mittags. In einer Stunde würde Elena in ihrer Mittagspause in die Stadt spazieren und bei ihrem Lieblingsitaliener essen. Wenn er sich beeilte, konnte er es noch schaffen. Er schwang sich vom Sofa, lief ins Badezimmer und sprang unter die Dusche. Wenig später zog er seinen Wintermantel an und verließ die Wohnung.

Die Gronaer Innenstadt war, bis auf ein paar Mütter mit Kinderwagen und vorsichtig durch den Schneematsch stapfende Rentner, wie ausgestorben. In den kleinen Geschäften, Blumenläden und Bäckereien, die die Kleinstadt zu bieten hatte, beschlugen die Schaufenster von der Hitze im Inneren. Seit den Weihnachtstagen herrschten fast durchgehend Minusgrade und feucht-trübes Winterwetter, was Sommerliebhaber David enorm belastete. Leere und Dunkelheit drückten insbesondere in der kalten Jahreszeit schwer auf sein Gemüt. Er brauchte die Wärme, vor allem die eines menschlichen Körpers, und er brauchte Licht, egal ob natürlich, bunt, dimmbar oder mit Spezialeffekten.

Vor der Bank angekommen wartete er geduldig, bis sich die Schiebetüren öffneten, ein Schwall warmer Luft hinausströmte und ihm seine Freundin entgegenwehte.

»David!«, rief sie und beschleunigte ihren Schritt.

Er breitete seine Arme aus. »Überraschung!«

Sie legte ihre Hände an seine Hüfte und reckte sich auf Zehenspitzen stehend zu ihm hinauf, um ihn zu küssen.

»Gehen wir zusammen etwas essen?«

Elena lachte. »Klar. Ich bin nur nicht sicher, ob sie in der Pizzeria auch Frühstück anbieten.«

»Sehr witzig …« Er schwang einen Arm um ihre Schulter und kniff ihr sanft ins Ohrläppchen. »Was kann ich dafür, wenn du mich morgens liegen lässt wie nach einem billigen One-Night-Stand.«

»Du bewegst dich auf dünnem Eis, mein Lieber«, grummelte Elena in ungewohnt ernstem Tonfall.

Er küsste sie auf die Wange. »Entschuldige. Das war blöd von mir.«

»Na los. Lass uns gehen. Ich habe Hunger.«

KAPITEL 3

Anna

Gekleidet in seine Offiziersuniform entsprach Ben jedem Klischee, das man von einem Berufssoldaten und Familienvater erwartete. Seine aufrechte Haltung, der exakt gestutzte Bart und seine tiefbraunen Augen, mit denen er sein Gegenüber in einer Sekunde entblößen und gleichzeitig sein eigenes Inneres verbergen konnte, strahlten eine unübersehbare Präsenz aus. Nach vielen Jahren als Offizier am Luftwaffenstützpunkt Bonn hatte er sich wenige Wochen zuvor für eine Stelle in der Verwaltung beim Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr in Düsseldorf entschieden. Die geregelten Arbeitszeiten und der kürzere Fahrweg kamen seiner Ehe und der Beziehung zu seinen Kindern zugute. Nach seinem Seitensprung ein Jahr zuvor, versuchte er seine Schuld zu begleichen, indem er mehr Zeit mit seiner Familie verbrachte und auf Dienstreisen, durch die sein Fehltritt erst zustande gekommen war, verzichtete.

Monatelang hatte er Anna belogen, an seinen freien Wochenenden in der Kaserne gearbeitet und Auslandsaufträge angenommen, weil er wusste, dass seine Affäre ebenfalls zum Dienst eingetragen war. Kurz vor der Geburt ihres dritten Kindes, als die wachsende Lüge unerträglich an ihm gezerrt hatte, war schließlich die Wahrheit aus ihm herausgebrochen.

Seitdem führten er und Anna ein Leben in gegenseitiger Akzeptanz. Beide bemühten sich, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und ihrer Liebe eine zweite Chance zu geben. Für ihre Kinder blieben sie ihren Rollen als liebende Eltern treu, doch als Mann und Frau eröffneten sich ihnen tiefe Wunden aus fehlendem Vertrauen und Schuldgefühlen.

Ihre Paartherapeutin Frau Ruskera forderte sie seit einem halben Jahr jeden Montag dazu auf, ihre ehrlichen Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Insbesondere Ben fiel dieser Teil der Therapie schwer.

»Nun ja … Ich denke, dass wir auf einem guten Weg sind, oder?«, fragte er an Anna gewandt, als sie auf den Sesseln Platz genommen und das Gespräch eröffnet hatten.

»Findest du das wirklich?« Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und gab die Frage an ihn zurück.

»Ja. Wir haben diese Woche doch viel gelacht und miteinander geredet.«

»Stimmt. Wir haben geklärt, wer wann welches Kind zum Sport bringt und wieder abholt. Außerdem haben wir gelacht, weil Luis und Maya das Badezimmer in eine Schaumparty verwandelt haben.«

»Wir kommen immer wieder an denselben Punkt, Herr und Frau Kowalski«, schaltete sich die Therapeutin ein. »Sie sind wunderbare Eltern und ein krisenfähiges Team im Alltag. Aber Ihre Funktion als Liebespaar bleibt vollkommen auf der Strecke.«

Anna nickte, und Ben sah betreten auf seine Füße. Stille trat ein. Weder er noch sie trauten sich, ihre Gedanken auszusprechen.

Seit Monaten suchte Anna nach dem Grund, warum sie und ihr Mann keinen Zugang zueinanderfanden. Waren es seine Schuldgefühle wegen des Seitensprungs? Genügte sie ihm nicht mehr, nun, da eine Andere ihm eine neue Welt der Ekstase gezeigt hatte? Kopfschmerzen drückten ihre Gedanken beiseite, und an ihren Schläfen pulsierte das Blut. Sie rieb sich die Stirn mit ihren kalten Fingerknochen.

»Wann hatten Sie das letzte Mal Sex miteinander?«

»Wie bitte?«, fragte das Ehepaar nahezu aus einem Mund, und ein Grinsen huschte über beide Mienen, angesichts ihrer Übereinstimmung, dass diese Frage vollkommen unangebracht war.

»Entschuldigen Sie, dass ich so direkt werde. Ich glaube, dass wir mit klaren Worten an dieser Stelle weiterkommen. Und das ist doch Ihr Ziel, richtig? Also. Wann hatten Sie zuletzt Sex miteinander?« Frau Ruskera musterte die beiden abwechselnd. Es bestand kein Zweifel, dass Anna oder Ben antworten mussten.

»Ich glaube, das war vor ungefähr einem Jahr, oder?«, murmelte Anna und sah hilfesuchend zu Ben.

»Ja, das könnte hinkommen. Anfang letzten Jahres.«

»Okay. Danke für Ihre Offenheit.« Frau Ruskera zupfte ihr dünnes, metallenes Brillengestell zurecht, das fast von ihrer Nasenspitze rutschte. »Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Ich bin überrascht. Und geschockt. Es kam mir nicht so lange vor.« Nachdenklich rieb Ben sich die Bartstoppeln.

»Du hattest zwischendurch ja auch Sex, im Gegensatz zu mir«, entfuhr es Anna. Sofort bereute sie ihre Zickigkeit. Vorwürfe halfen ihr nicht, ihre Ehe zu retten, doch der Schmerz saß zu tief, als dass sie ihre Gefühle in diesem Moment verbergen konnte.

Frau Ruskera überging ihren Ausrutscher. »Sie wissen mittlerweile, dass der Schlüssel zum Glück in der richtigen Kommunikation liegt. Sie haben in den letzten Monaten große Fortschritte gemacht. Lassen Sie uns ganz offen sprechen und den Fokus auf Ihre Zweisamkeit legen. Wie können Sie mehr Zärtlichkeit und körperliche Nähe in Ihren Alltag bringen?«

Sie sahen sich an und ohne ein Wort zu wechseln, wussten beide, was sie als Paar brauchten, um wieder zueinanderzufinden.

»Wir wollten schon lange wieder mal einen Tanzkurs belegen. So haben wir uns kennengelernt«, antwortete Ben, und Anna strahlte neben ihm. »Ich kümmere mich morgen darum.«

»Sehr gut. Das wird der erste Baustein ihrer Aufgabe. Anschließend möchte ich, dass Sie beide getrennt voneinander ihre Gedanken sammeln, wie Sie sich den per fekten Sex miteinander vorstellen. Beschäftigen Sie sich mit dem Thema, und dann sprechen Sie über ihre Vorstellungen, ohne sich gegenseitig zu bewerten oder zu verurteilen. Denken Sie immer daran: Klarheit schafft Sicherheit. Sicherheit schafft Vertrauen. Vertrauen schafft Liebe.«

Am Abend lagen Anna und Ben nebeneinander in ihrem großen Bett, jeder in die eigene Decke gehüllt und die Nachttischlampen auf die kleinste Stufe gedimmt. Früher hätten sie den Samstagabend mit ihren Schulfreunden verbracht oder wären zur Übungsparty im Tanztreff gegangen. Heute hatten sie ihren dreißigsten Geburtstag längst hinter sich gelassen, ihre drei Kinder schliefen in ihren Zimmern und in Annas Kopf schwirrten die Worte der Paartherapeutin, die ihnen auferlegt hatte, sich mit ihren körperlichen Bedürfnissen auseinanderzusetzen.

»Ich habe vorhin in der Tanzschule angerufen. Ende März beginnt der nächste Kurs. Er findet immer mittwochs statt, wenn die Kinder schon schlafen. Ich habe uns sofort angemeldet.« Ben stützte sich seitlich auf seinen Unterarm und wartete auf Annas Reaktion.

»Wirklich? Das ist toll! Und es wird uns bestimmt guttun.« Sie drehte sich auf die Seite, um ihren Mann ansehen zu können. »Dann kümmere ich mich jetzt um eine Babysitterin. Vielleicht hat die ehemalige Praktikantin aus Mayas Kindergarten Zeit und Lust. Ich weiß, dass sie sich neben ihrer Ausbildung zur Erziehrin etwas dazuverdienen wollte.«

»Klingt gut.« Ben räusperte sich. »Und was die andere Sache angeht, die Frau Ruskera angesprochen hat, also …«

»Ich brauche nichts Neues oder Besonderes im Bett. Ich will nur … dich.« Sie blinzelte ihren Mann an und versuchte, seine Gedanken zu lesen, doch Bens unnachgiebiger Ausdruck verschloss jede Gefühlsregung, die vielleicht oder auch nicht in ihm stattfand, erfolgreich vor der Außenwelt. Seine dunklen Augen starrten sie an wie ein Wolf seine Beute.

»Was denkst du?«, fragte Anna hoffnungsvoll.

Endlich rührte Ben sich, ließ sich rücklings in sein Kissen fallen und sah hinauf zur Zimmerdecke. »Ich bin nicht sicher, was ich will, Anna.«

»Wie meinst du das?«

»Es liegt nicht an dir. Ich erkenne mich selbst nicht mehr, seit … du weißt schon.«

»Seit du mit einer Anderen geschlafen hast, ja. Aber das ist nicht nur für dich schwierig. Ich kann es auch nicht einfach so vergessen. Ich dachte nur, dass wir für unsere Familie bereit sind, das durchzustehen.«

»Du hast recht. Es tut mir leid … Ich denke nur, dass wir noch Zeit brauchen. Dass ich noch Zeit brauche.«

Anna versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen, lächelte, um nicht zu weinen, und streichelte mit ihrer Hand Bens bärtige Wange. Fast unmerklich zuckte er bei ihrer Berührung zusammen. Kurz befürchtete sie, er würde sie von sich stoßen, doch dann lehnte Ben sich zu ihr hinüber und stoppte wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht. Sein schwerer, tiefer Atem streifte ihr Kinn. Mit jedem Herzschlag näherten sie sich mehr an, und schließlich, wie in Zeitlupe, trafen ihre Lippen aufeinander. Erst ganz vorsichtig, ohne Druck, ohne sich zu bewegen. Anna öffnete leicht ihren Mund, und er tat es ihr gleich. Langsam suchte ihre Zunge den Weg zu ihm. Endlich ließ Ben seine Zurückhaltung fallen, legte eine Hand in Annas Nacken und drückte sein Gesicht an ihres. Seine weichen Bartstoppeln glitten über ihre Haut.

Wie lange sie dort lagen und sich küssten? Sie wusste es nicht, und es war ihr egal. Seit Monaten waren sie nicht mehr derart intim miteinander gewesen, und am liebsten hätte sie in dieser Nacht kein Auge zugemacht, nur, um ihm weiterhin nah sein zu können.

»Anna …«, flüsterte Ben nach einer Weile.

Sie hielt ihre Lider geschlossen, versuchte, die Magie des Moments nicht vergehen zu lassen. »Ja?«, hauchte sie.

Er strich ein letztes Mal mit seinen kräftigen Fingern über ihr Gesicht. »Du bist die wunderbarste Ehefrau, die ich mir vorstellen kann. Ich habe dich überhaupt nicht verdient.« Langsam rückte er zurück auf seine Bettseite, drehte ihr den Rücken zu und knipste das Licht seiner Nachttischlampe aus.

KAPITEL 4

Rene

Das Wohnzimmer bot ausreichend Platz für ein Sofa, eine Kommode und einen Esstisch. In der letzten freien Ecke hatte nach Lios Geburt ein Stubenwagen gestanden, den sie später durch einen Laufstall ersetzt hatten, der anschließend einem Bällebad gewichen war. Alles in allem genügte ihnen eine Zwei-Raum-Wohnung, doch sobald sie Gäste empfingen, gestaltete sich die Organisation schwierig. Zum ersten Geburtstag ihres Sohnes luden René und Julie daher nur seine Taufpaten ein.

David saß bereits auf dem Wohnzimmerteppich und spielte mit seinem Patensohn, als es klingelte. Vom Sofa aus beobachtete René, wie seine Frau die Wohnungstür öffnete und Anna begrüßte.

»Hey, meine Liebe.« Julie umarmte ihre beste Freundin.

»Hey, entschuldige die Verspätung. Ich musste warten, bis Ben zuhause ist, sonst hätte ich Emil und Maya mitbringen müssen.«

»Kein Problem. Komm erst mal rein. Darf ich dir Luis abnehmen?«

»Gerne, danke dir.« Anna überreichte ihr Baby und zog Jacke und Schuhe aus.

Gemeinsam gesellten sie sich zu den Männern ins Wohnzimmer, und Julie legte Luis auf eine Krabbeldecke, die sie für ihn und Lio ausgebreitet hatte.

»Hallo, Anna! Wie geht’s dir?« René wies auf den freien Platz neben sich.

Sie setzte sich aufs Sofa und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Bestens, danke. Und dir? Wie läuft es in der Tanzschule?«

»Es könnte kaum besser sein. Die Kurse sind wahnsinnig gut besucht und … Ähm … entschuldige. Mein Handy klingelt. Könnte wichtig sein.« Er erhob sich und lief in die Küche, um ungestört zu telefonieren.

Es war ein möglicher Neukunde. Er fragte nach den Terminen für Einstiegskurse und einem Gutschein, den er seiner Frau zum Hochzeitstag schenken wollte. Kaum hatte René aufgelegt und sich wieder zu den anderen gesellt, ertönte ein Ping und die E-Mail mit der Gutscheinbestellung des Mannes erreichte sein Postfach. Zufrieden grinste er in sich hinein und steckte das Telefon zurück in seine Hosentasche.

»Alles okay, Schatz?«, fragte Julie und fuhr sich mit einer Hand durch ihre blonde Lockenmähne. Ihre braunen Augen sahen ihn eindringlich an.

»Schon wieder eine Anfrage für den neuen Grundkurs.«

»Oh, das ist toll.«

»Bei uns werden es zurzeit immer weniger Menschen in den Kursen«, warf David ein und seufzte. »Aber das war ja zu erwarten, stimmt’s?«

»Wenn der Zulauf in der führbar so bleibt, kann ich mir bald einen weiteren Tanzlehrer leisten.« René zwinkerte ihm zu.

»Hast du das schon mit Elena besprochen?«, fragte Julie.

»Nein, wieso?«, antworteten beide Männer im Chor.

Die zwei Mütter lachten.

»Sie hat die Zahlen im Blick und kann uns sagen, ab wann wir uns die Personalkosten leisten können.«

»Jaja. Schon klar«, antwortete René und warf David einen verschwörerischen Blick zu.

»Schluss jetzt mit dem Arbeitsthema, wir sind hier, um Geburtstag zu feiern. Wer hat Lust auf Kuchen?«, fragte Anna und erntete allseitigen Zuspruch.

Lio und Luis robbten über den Teppich und tauschten abgelutschte Bauklötze hin und her.

Ping. Die Signalleuchte an Renés Handy leuchtete erneut auf. Er öffnete das Postfach und las die eingegangene E-Mail. Eine Teilnehmerin aus der Tanzschule Glomm meldete ihr Interesse an und fragte nach einer Probestunde. Sie wolle die führbar kennenlernen und fragte außerdem im Namen aller anderen Paare ihres Kurses. Wenn möglich, würden sie ihren wöchentlichen Termin gerne behalten und in Zukunft gemeinsam in der führbar tanzen. René stand der Mund offen. Eine komplette Gruppe von Tanzpaaren? Kurz flammte in ihm ein schlechtes Gewissen auf, und er fragte sich, ob es falsch wäre, seinem früheren Vorgesetzten ganze Tanzkurse abzuwerben.

»Was ist los?« Seine Frau legte ihren Kopf an seine Brust und schielte auf das Telefon in seiner Hand. Ihre Augen weiteten sich, während sie las, und René erwartete gespannt ihr Urteil.

»Und? Was meinst du?«

»Das ist ja großartig! Schreib ihr sofort zurück und lade sie zu uns ein!«

Neben ihnen hockte David noch immer auf dem Boden bei Lio und fütterte den Einjährigen mit Schokoladenkuchen. Anna setzte Luis dazu, und die Jungen quietschten, brabbelten und sabberten munter vor sich hin.

»Okay. Ja, du hast recht. Es wäre bescheuert, sie abzuweisen.«

»Ganz genau. Und jetzt weg mit dem Ding und feiere mit deinem Sohn!« Julie schnappte ihm sein Handy aus der Hand und legte es mit dem Display nach unten auf die Kommode. Gut, dass er eine Frau an seiner Seite hatte, die einen klaren Kopf behielt.

René wandte sich ihr zu, schlang beide Arme um ihren schlanken Körper und hielt sie einige Sekunden fest. Ohne sie hätte er die führbar nie eröffnet, hätte sich nicht mit Elena versöhnt und wäre nicht Vater geworden.

»Schluss jetzt mit der Knutscherei!«, rief David.

»Du vermisst wohl deine Freundin?« René schmunzelte ihn an und ließ Julie los. Sie setzten sich zu David, Anna und den Kindern auf den Boden und bedienten sich ebenfalls am schnell schwindenden Kuchen.

David schob ein ganzes Stück auf einmal in den Mund und gestikulierte, dass er René gerade nicht antworten könne. Nachdem er zu Ende gekaut und die Krümel aus seinen Mundwinkeln gewischt hatte, erhob er sich gemächlich vom Teppich. »Ich muss leider schon gehen. In einer Stunde fängt mein Hip-Hop-Kurs an.«

Julie legte den Kopf schief. »Oh, schade. Na dann viel Spaß und lass dich nicht ärgern.«

»Danke. Ich gebe mein Bestes. Wie immer.«

»Wie immer.« René begleitete seinen Kumpel zur Haustür und gab ihm zum Abschied einen kräftigen Handschlag. »Halt die Ohren steif. Nur die Ohren. Verstanden?«

Sie zwinkerten sich zu, und David verschwand im Treppenhaus.

Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer hörte René die Stimmen der zwei Frauen, die in ernstem Ton miteinander sprachen. Am Türspalt hielt er kurz inne und lauschte.

»Und wie läuft die Therapie mit Ben?«, fragte Julie vorsichtig.

Anna seufzte. »Ganz gut, aber es wird noch lange dauern, bis wir die Sache hinter uns gelassen haben. Falls das überhaupt jemals passieren wird.«

»Und weißt du mittlerweile mehr über die Frau? Arbeiten sie noch zusammen?«

»Nein. Ben hat die Stelle gewechselt. Er ist jetzt in einer anderen Abteilung.«

René biss sich auf die Unterlippe. Offensichtlich wusste Anna noch immer nicht die ganze Geschichte über Bens Seitensprung. Am Tag von Luis‘ Geburt hatte der Offizier sich ihm anvertraut, und seither trug René dieses riesige Geheimnis mit sich herum. Er hatte versprochen, niemandem etwas zu erzählen, hoffte aber, dass Ben bald zur Vernunft kam und die Wahrheit sagte. Wozu bezahlen sie jede Woche Geld für eine Paartherapie?, fragte er sich. Keine Therapeutin der Welt konnte Bens Problem lösen.

Er schob die Tür zum Wohnzimmer auf und setzte sich aufs Sofa. Anna und Julie sprachen unbeirrt weiter.

»Und wie läuft‘s im Schlafzimmer?«

Anna errötete. »Ähm … keine Ahnung. Es ist schwierig, zu erklären.«

»Habt ihr etwa immer noch nicht …?« Ungläubig sah Julie sie an. »Aber Luis ist sechs Monate alt. Wie lange willst du denn noch warten?«

»Darum geht‘s nicht.« Nervös wandte Anna ihren Blick ab, schaute auf ihren Sohn und streichelte sein hellbraunes Babyhaar. »Ich denke, wir brauchen noch etwas Zeit, um uns wieder anzunähern.«

»Hm. Verstehe.«

In Renés Nacken stellten sich alle Haare auf. Zu gerne hätte er Anna ihre Sorgen abgenommen, das Pflaster aus Lügen mit einem Ruck abgezogen und ihr den wahren Grund verraten, warum Ben nicht mehr mit ihr intim werden wollte. Doch er durfte sich nicht einmischen, das hatte er seinem Freund versprochen.

»Ich werde mich auch auf den Weg in die Tanzschule machen.« Er warf Julie einen entschuldigenden Blick zu.

»Jetzt schon? Ich dachte, du hättest heute länger Zeit …«, erwiderte sie geknickt.

»Ich muss noch einige Mails beantworten und Anmeldungen bearbeiten, bevor die Kurse starten. Sonst wird’s heute Abend umso später.«

»Na gut.« Sie warf ihm einen Luftkuss zu. »Bis später, Schatz.«

Er beugte sich zu ihr und drückte seine Lippen auf ihre. »Bis dann. Macht euch noch einen schönen Nachmittag.« An Anna gewandt, sprach er weiter. »Tschüss, Anna, richte Ben liebe Grüße von mir aus, okay?«

»Das mache ich, danke.«

10. Februar/21:18

Hey, Schatz, ich bin total müde.

Lege mich schon mal hin.

Ich hoffe, du hast heute alles

geschafft, was du wolltest.

Ich liebe dich.

10. Februar/22:07Wir sind jetzt fertig. Bin bald zuhause und würde mich sehr freuen, wenn du noch wach bist. *zwinker*

Als René nach den Tanzkursen seine Wohnung betrat, brannte nirgendwo mehr ein Licht. Er entledigte sich seiner Sachen, machte einen kurzen Abstecher ins Bad und schlich ins Schlafzimmer, wo Julie und Lio tief und fest schliefen. Ein wenig enttäuscht ließ er sich in sein Kissen sinken und betrachtete seine Frau. Ihre langen Locken fielen ihr teilweise ins Gesicht und sie atmete schwer. René fragte sich, welchen Traum sie in diesem Moment hatte. Kam er darin vor?

Für ihn gab es nur Julie, seine Ehefrau. Und es lag vollkommen außerhalb seiner Vorstellungskraft, dass ein Mensch mehr als einen anderen gleichzeitig lieben oder begehren konnte. Weder Davids unverbindliche Art noch Bens Affäre weckten in ihm den kleinsten Funken Verständnis. Auf der Tanzfläche ist kein Platz für Taktlosigkeit.

KAPITEL 5

David

»Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei …« Zum einhundertsten Mal betete David die Figurenfolge des Walzers vom Anfang bis zum Ende seinen Tanzpaaren vor. Nach den ersten Takten hatten bereits vier Menschen den Anschluss verloren, ab der Hälfte der Folge kapitulierte auch der restliche Kurs.

David zog den Regler am Mischpult herunter und schlurfte in die Mitte des Saals, wo er die Figuren erneut präsentierte. Seit Renés Kündigung unterrichtete er ohne Assistentin, zeigte abwechselnd die Herren- und Damenschritte und betreute während der Tanzphasen alleine alle Paare, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Ein eher schwacher Trost waren die sinkenden Teilnehmerzahlen.

»Wie wär’s, wenn wir jetzt noch eine Runde tanzen? Die letzte neue Figur wiederholen wir dann nächste Woche.«

Mit seinem Vorschlag erntete David allseitige Zustimmung von seinen erschöpft dreinblickenden Kunden. Er wählte ein Lied aus und versuchte, das Elend auf der Tanzfläche wegzulächeln. Danach entließ er alle in die Pause, öffnete die Fenster des Saals und sog die frische Abendluft in sich auf. In der führbar tanzten in diesem Moment seine Freundin und sein bester Freund miteinander. Die Vorstellung, dass Elena und René sich amüsierten, während er hier versauerte, verschlimmerte seinen Missmut noch, und die Zeit bis zu seinem Feierabend verging nur schleichend.

Als der letzte Tanzkurs endete und alle Paare die Tanzschule verlassen hatten, trottete David vollkommen ausgelaugt durch den Saal. Der Hall seiner Schritte auf dem hölzernen Boden klang vertraut, doch zugleich löste er ein unangenehmes Gefühl der Leere in ihm aus.

Früher hatte er ständig alleine trainiert und jede freie Minute vor dem Spiegel verbracht, auf der Suche nach Perfektion. Es gab nichts Größeres, als die Einsamkeit inmitten eines Raums, der ihm mehr Entfaltungsmöglichkeiten bot, als er sich vorstellen konnte. Wann hatte er seiner Leidenschaft den Rücken gekehrt?

Er verharrte einen Moment vor der riesigen Spiegelwand und wartete. In seinem Inneren geschah nichts. Keine Regung des Nervensystems, kein Kribbeln in den Eingeweiden, kein noch so schwacher Impuls, sich bewegen zu wollen. Frustriert wandte er sich ab und rupfte an seinem Kragen, der ihm die Luft abzuschneiden schien. Der oberste Knopf des Hemdes fiel zu Boden, rollte in kleiner werdenden Kreisen über das Parkett und blieb neben der verstaubten Fußleiste am Rand der Tanzfläche liegen.

»Scheiße.« David bückte sich, um ihn aufzuheben. Seine Knie knackten, als er in die Hocke ging, und in seinem Rücken löste sich eine Verspannung, die er schon den ganzen Tag mit sich schleppte. Kurz flimmerten kleine Lichter vor seinen Augen, und er hatte Mühe, seinen Kreislauf zu stabilisieren. Er richtete sich auf, steckte den Knopf in die Gesäßtasche seiner Jeans und lief aus dem Tanzsaal.

»Hey, David.«

»Oh. Hey, Lucy, ist alles in Ordnung? Ich dachte, du wärst schon weg.«

Seine Kollegin lächelte ihn an, rieb ihre Handflächen aufeinander und setzte einige Schritte auf ihn zu, als liefe sie über eine dünne Eisfläche.

»Ich habe eine Frage zu der Tangofigur, die wir im Goldkurs unterrichten sollen. Kannst du sie vielleicht mal mit mir tanzen?«

»Ja, na klar. Komm hier rein.« Er wies in den Tanzsaal, aus dem er gerade gekommen war.

Seit René die Tanzschule Glomm verlassen und sich selbständig gemacht hatte, übernahm David die Betreuung der Auszubildenden. Lucy stand kurz vor ihrem Abschluss zur Tanzlehrerin und geriet regelmäßig in Panik, wenn ihr Chef Christoph Glomm zu einer unangekündigten Lehrprobe in ihren Kursen erschien. Selten kamen sie und die anderen Lehrlinge dabei gut weg. Glomm kontrollierte weniger die Qualität der Lehrperson als die korrekte Einhaltung des vorgegebenen Kursprogramms, was alle Beschäftigten enorm unter Druck setzte.

»Also? Wo liegt das Problem?«, fragte David.

»Nach der Promenade. Ich bin nicht sicher, wie die Fußposition des Herren im Schritt vor der Wiegedrehung sein soll.«

»Na komm, wir tanzen es zusammen, und dann spürst du es. Ich weiß, dass du in der Prüfung die genauen Positionen kennen musst und dass Christoph sich einen darauf runterholt in seinen Kursen dasselbe zu unterrichten. Aber du bist Tänzerin. Du musst es fühlen.« Er legte seinen Arm um Lucy, hielt sie eng an seinen Körpern gepresst, sodass sein rechtes Bein die Innenseiten ihrer Schenkel berührte. Ihre Gewichtsverlagerung kontrollierend, wiegte er von einem Fuß auf den anderen und mit einem gezielten Ruck führte er sie in die Promenade. Ihr Pferdeschwanz zischte durch die Luft, als sie ihren Kopf in die neue Richtung drehte. Sie setzten einen Schritt, David schwang sich vor sie, und in wiegenden Bewegungen rotierten sie über die Fläche. Er beendete die Figur mit einem langgezogenen Ausfallschritt.

»Jetzt verstehe ich, was du meinst«, schnaufte Lucy. Sie lösten ihre Haltung und die Auszubildende richtete ihren Zopf, der in der Drehung einige Strähnen verloren hatte.

»Freut mich, wenn ich behilflich sein konnte.« Er zwinkerte ihr kurz zu und wandte sich zum Ausgang.

»Wo willst du hin?«, fragte Lucy.

»Nach Hause.«

»Willst du noch mit zu mir kommen?«

David sah sie an. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und bildschön vom Scheitel bis zur Sohle. Zwischen allen zwanglosen Liebschaften, die er vor Elena geführt hatte, war Lucy die einzige Konstante gewesen. Er hatte die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Frauen ihn verließen. Alle, angefangen bei seiner Mutter, waren gegangen, nur Lucy war stets geblieben. Sie war seine Tanzpartnerin gewesen, seine Urlaubsbegleitung und Pseudo-Freundin bei Familienfeiern. Seit sie in der Tanzschule arbeitete, hatten sie unzählige Nächte zusammen verbracht, und Lucy hatte sich nie daran gestört, dass er neben ihr noch andere Frauen traf. Dann war Elena in sein Leben getreten, und David hatte sofort gespürt, dass es dieses Mal anders sein würde.

»Du weißt doch, dass ich eine Freundin habe.«

»Na und?« Sie scharrte mit ihren Tanzschuhen über den Boden, starrte ihn mit glasigen Augen an. Eine dicke Träne quoll aus ihren Lidern hervor und rollte über ihre Wange.

David legte den Kopf schief, lächelte sie an und breitete die Arme aus. »Komm her, Süße.«

Sie schlurfte auf ihn zu, ließ sich in seine Umarmung fallen und presste ihre Lippen an seinen Hals. Eine Gänsehaut fuhr über seinen Körper, doch er behielt die Kontrolle. Vorsichtig schob er sie von sich. »Lass das, Lucy. Ich mag dich sehr, und wir hatten eine Menge Spaß, aber das ist vorbei.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sie ihm den Rücken zu und stapfte zur Mitarbeiterumkleide. David sah ihr nach und atmete geräuschvoll aus. In seiner Tasche vibrierte es.

10. Februar/23:36

Hey, ich komme

heute später nach Hause.

Ein Paar aus dem Kurs hat mich

eingeladen, mit ihnen noch was

trinken zu gehen. Warte nicht auf mich.

Ich liebe dich.

Er starrte auf den Bildschirm seines Telefons und las ein weiteres Mal Elenas Nachricht. In seinen Schläfen pulsierte das Blut, und er spürte, wie sich seine Nackenmuskulatur zu einem schmerzhaften Panzer verkrampfte. Verärgert schielte er hinüber zur Mitarbeiterumkleide, in der Lucy sich gerade umzog, und eine Stimme, die er lange unterdrückt hatte, meldete sich in voller Lautstärke zurück. Jede Faser seines Körpers schrie nach Zuneigung, und Lucy würde keine Sekunde zögern, sie ihm zu geben. Er fuhr sich mit beiden Händen durch seine strubbeligen braunen Haare und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Reiß dich zusammen! Denk an Elena.

In diesem Moment trat Lucy aus der Umkleide hervor und würdigte ihn keines Blickes. In ihren Mantel gehüllt und mit der Handtasche über der Schulter schritt sie zum Ausgang der Tanzschule und verschwand, ohne sich zu verabschieden. Erleichterung breitete sich in David aus. Er sah auf sein Handy und tippte.

10. Februar/23:40

Okay. Ich liebe dich auch.

KAPITEL 6

Anna

Der Spiegel im Flur erinnerte sie täglich daran, dass sie neben ihrer Rolle als Mutter auch eine Frau war. Bevor sie die Haustür öffnete, warf sie einen kurzen Blick hinein, zupfte ihr dünnes Haar zurecht und lächelte sich selbst an. Die Therapeutin hatte ihr in der vergangenen Sitzung die Aufgabe gegeben, an ihrer Wahrnehmung zu arbeiten und achtsam mit ihrem Körper umzugehen. Seit Ben sie betrogen hatte, mangelte es in ihrer Ehe an Vertrauen, und darunter litt auch ihre Selbstliebe.

An diesem Nachmittag blieb jedoch keine Zeit für aufbauende Selbstgespräche. Soeben klingelte es an der Tür, und ihr neunjähriger Sohn Emil kehrte von der Schule zurück.

»Hallo, mein Süßer, wie war dein Tag? Hast du Hunger? In der Küche steht ein Teller für dich.«

»Hi, Mama. Hab keinen Hunger. Gehe in mein Zimmer.« Er schlurfte an ihr vorbei, streifte seine Schuhe ab und trottete die Treppe hinauf ins obere Stockwerk.

»Moment mal, nicht so eilig.« Sie folgte ihrem Sohn bis zum Treppenabsatz.

Mit gleichgültiger Miene wandte der Junge sich zu ihr um. »Was ist denn?«

»Ich bringe deine Schwester jetzt zu ihrer Tanzstunde, und danach hat Luis einen Kinderarzttermin.«

»Okay.«

»Papa holt nach seinem Feierabend erst Maya in der Tanzschule ab. Er kommt also etwas später, verstanden?« Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete sie auf ein Zeichen, dass er ihr zugehört hatte.

»Okay.«

»Und du machst bitte deine Hausaufgaben und wartest auf uns. Wir essen gemeinsam Abendbrot.« Sie deutete mit dem Zeigefinger in Emils Richtung. »Komm nicht auf die Idee, schon vorher den Kühlschrank zu plündern.«

»Okay.«

»Gut. Bis später, mein Großer. Ich hab dich lieb!« Sie warf ihrem Sprössling einen Luftkuss zu.

»Okay.« Emil verschwand in seinem Zimmer, und Anna betrachtete für einen Moment die verschlossene Tür. So fing es wohl an, diese Sache mit der Pubertät.

»Maya? Komm bitte, wir müssen los!«, rief sie in Richtung der zweiten Kinderzimmertür am Ende der Treppe.

Prompt kam ein rosafarbener Wirbelwind auf sie zu gerauscht, in der einen Hand eine Trinkflasche von Prinzessin Lillifee und in der anderen einen lilafarbenen Beutel mit Schuhen und Wechselkleidung. »Bin schon da, Mama!«

»Setz dich bitte ins Auto und schnall dich an. Ich hole noch Luis und dann geht’s los.«

Das siebenmonatige Baby rollte sich vergnügt in seinem Laufstall hin und her und störte sich nicht am Trubel um ihn herum. Anna eilte zu ihm ins Wohnzimmer, setzte ihm sein Mützchen auf und stopfte seine speckigen Arme und Beine in einen Overall. Beim Hinausgehen warf sie doch noch einen letzten Blick in den Spiegel.