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Ein Konzert, ein Blick – und das Leben ändert sich für immer. Mira und Sam verbindet eine gemeinsame Leidenschaft – das Schreiben. Mira lebt in Hamburg, zusammen mit ihrer quirligen Mitbewohnerin Hermine, während Sam es in die irische Hauptstadt Dublin verschlagen hat. Bei einem Konzert begegnen sich die beiden das erste Mal, doch keiner von ihnen ahnt, welche Auswirkungen dies nach sich zieht. Während Mira mit ihrer Vergangenheit kämpft, zeigt sich, dass das Schicksal manchmal den richtigen Moment wählt, um neue Wege zu eröffnen. Es entfaltet sich eine berührende Liebesgeschichte zwischen Hamburg und Dublin, in der Straßenmusik und Sommerregen zwei Herzen auf eine besondere Reise führen. Eine emotionale Reise voller Hoffnung, Träume und einem Hauch von Sternenstaub erwartet dich.
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Seitenzahl: 401
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Für alle Mutlosen und alle, die schon mutig sind. Für alle, die lieben oder lieben wollen und Angst haben – es spielt keine Rolle, weil euer Herz den Weg kennt.
Vorwort
Playlist
Kapitel 1 Mira
Kapitel 2 Sam
Kapitel 3 Sam
Kapitel 4 Mira
Kapitel 5 Mira
Kapitel 6 Sam
Kapitel 7 Mira
Kapitel 8 Mira
Kapitel 9 Sam
Kapitel 10 Mira
Kapitel 11 Sam
Kapitel 12 Mira
Kapitel 13 Mira
Kapitel 14 Sam
Kapitel 15 Mira
Kapitel 16 Mira
Kapitel 17 Sam
Kapitel 18 Mira
Kapitel 19 Mira
Kapitel 20 Mira
Kapitel 21 Mira
Kapitel 22 Mira
Kapitel 23 Mira
Kapitel 24 Mira
Kapitel 25 Sam
Kapitel 26 Mira
Kapitel 27 Mira
Kapitel 28 Sam
Kapitel 29 Mira
Kapitel 30 Mira
Kapitel 31 Mira
Drei Monate Später
Was dir niemand nehmen kann, ist die Magie, die du in dir trägst.
Es kann noch so viel Dunkelheit herrschen, doch dein Zauber ist das schönste Geschenk für diese Welt.
Und manchmal ist es auch das größte Geschenk für einen ganz bestimmten Menschen.
Am Ende dieses Buches findest du eine Liste mit Themen die dich in dieser Geschichte triggern könnten. Bitte pass beim Lesen gut auf dich auf
Doro Celestine
Rome – Dermot Kennedy Two Hearts – Dermot Kennedy Drops of Jupiter – Train Waves – Dean Lewis Better days – Dermot Kennedy Gewinner – Clueso Ich flieg los – Leslie Clio Lila Wolken – Marteria feat.Miss Platnum Magic – Coldplay Ready now – Amistat Stargazing – Myles Smith Immer wenn wir uns sehn – Lea
Mira stieß mit dem Fuß gegen etwas Hartes und fluchte leise. Auch das noch. Etwas Nasses begann sich über ihren Fußrücken zu verteilen. Der Wassernapf stand direkt im Flur und war nun umgekippt, daneben hatte sich eine kleine Wasserlache gebildet. So ein Mist, dass sie immer so ungeschickt sein musste. Dabei war sie heute sowieso schon spät dran. Schnell rannte Mira in ihr Schlafzimmer, holte ein frisches Paar Socken aus der Kommode, zog sie im Gehen an und schnappte sich ihre Tasche und die Wohnungsschlüssel. Eigentlich sollte sie schon längst auf dem Weg sein, denn es war bereits viertel vor sieben.
Als Mira bereits im Auto saß, hielt sie kurz inne. Erst jetzt fiel ihr auf, wie erschöpft sie war. Sie warf einen flüchtigen Blick in den Autospiegel ihres weißen Citroën. Ihr Gesicht war blass, die hellbraunen schulterlangen Haare waren verstrubelt und achtlos zu einem Zopf gebunden. Obwohl es Ende Juli war, fror sie bei den morgendlichen Temperaturen. Wieso reagierte ihr Körper immer so empfindlich auf alles, was rund um sie geschah?
Das Dröhnen eines Kleinlastwagens riss sie aus ihren Gedanken. Lärm und Geräusche waren für sie ein täglicher Kampf. Müde ließ sie sich auf den Autositz zurückfallen und fuhr langsam aus der Parklücke. Ihre Gedanken wanderten zu dem bevorstehenden Tag und zu ihr.
Gabriella. Augenblicklich stimmte sie der Gedanke etwas positiver. Da war es wieder. Das Lachen und die fröhlich unbeschwerte Art des kleinen Mädchens schoben sich in ihren Kopf. Sie konnte nicht anders, als zu lächeln. Gaby war der Sonnenschein, in der Klasse in der Mira als Schulbegleiterin arbeitete. Ein elfjähriges Mädchen mit dunkelbraunem schulterlangem, lockigem Haar und einer Zahnlücke. Gabriella war nonverbal, sie sprach also nicht, sondern äußerte ihr Befinden durch Laute, Mimik oder ihr kehliges süßes Lachen.
Sie war mit einer geistigen und körperlichen Behinderung auf die Welt gekommen. Mira kannte ihre Diagnose und hatte schwer zu kämpfen gehabt, als sie die ganze Geschichte über sie erfahren hatte.
Gabriella würde nicht alt werden, ihr blieb nicht viel Zeit. Es war ein Leben mit tickender Zeitbombe.
Mira schluckte, verdrängte rasch die unangenehmen Gefühle, die kurz aufflammten, und bog auf den Parkplatz des Schulgeländes ein. Sie stieg aus dem Wagen, überquerte den Parkplatz und trat in das Gebäude der Sonderschule. Der Gang war geschmückt mit aller Art Zeichnungen und Bastelarbeiten der Schüler*innen aus den einzelnen Klassen. Auch wenn Mira erst seit einem Dreivierteljahr dort arbeitete, fühlte es sich jedes Mal vertraut an, wenn sie den Weg zu ihrer Klasse antrat.
Seit September letzten Jahres war sie nun zuständig für die Betreuung von Gabriella, sie war Teil der kleinen Klasse, bestehend aus elf Kindern, welche unterschiedlichen Unterstützungsbedarf hatten. Sie waren wirklich ein ganz bunter Haufen und Mira liebte diese Vielfalt. Sie liebte diese ganz besondere Gemeinschaft, in der jeder willkommen war. Ganz egal wie groß oft das Missverständnis vonseiten der Gesellschaft war.
»Guten Morgen«, murmelte Mira zu einem ihrer Kollegen, der ihr auf dem Gang entgegentrat. Er winkte ihr fröhlich zu.
»Hey Mira, schön, dich zu sehen!« Mira nickte und schenkte ihm ein müdes Lächeln.
Das laute Geräusch der Schulglocke ließ sie zusammenzucken, als sie erneut durch die Schiebetür am Eingang trat.
In der Garderobe hatte sie rasch ihre Straßenschuhe gegen Hausschuhe getauscht und stand jetzt wieder auf dem Parkplatz vor dem Schulgebäude. Ein kleiner Transporter fuhr vor und Mira spähte durch die Glasscheibe des Autos.
Zwei Minuten später schob sie Gabriella in ihrem Rollstuhl in Richtung der Klassenräume. Sie hatte wieder ihr strahlendes Lachen aufgesetzt, als sie die anderen an der Eingangstür erblickte.
»Schau mal, wer schon da ist.«
Eine Kollegin von Mira war gerade mit einem kleinen Jungen an der Hand in den Flur getreten. Acht weitere Augenpaare starrten ebenfalls neugierig zu ihnen herüber.
»Gabriella, da.«
Der blondhaarige Junge tippte mit dem Zeigefinger auf Gabriellas Schulter. Daraufhin quietschte sie erfreut auf und Mira schob ihren Rollstuhl zu den anderen.
Der Vormittag verging an diesem Tag recht zügig. Es war ein ruhiger Schultag und auch für Gabriella war es einer ihrer guten Tage. Sie hatte ausnahmsweise Spaß bei der Physiotherapie und war aktiv mit dabei. Als sie später im Hof die Pausenzeit mit den Kindern gemeinsam verbrachten, strahlte die Sonne bereits von oben herab. Mittlerweile war es auch sehr warm geworden.
Für die Kinder, die sich gut bewegen konnten, gab es ein viereckiges Trampolin, ein Klettergerüst sowie eine Korbschaukel. Ein kleiner Pavillon bot Sitzgelegenheiten für das Lehrpersonal und die Schüler-Innen.
Mira genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie versicherte sich, dass Gabriella ihre Kappe auf dem Kopf behielt, und schob sie dann zu einer der großen Schaukeln.
Gegen Mittag packte Mira ihre Tasche zusammen, um sich auf den Heimweg zu machen. Sie war froh, dass sie den Arbeitstag halbwegs überstanden hatte, denn die letzten Wochen hatten es in sich gehabt.
Sie hatte seit einigen Tagen wieder mit Schlafproblemen zu kämpfen. Es wurde höchste Zeit, ihre Therapeutin aufzusuchen und einen Folgetermin zu vereinbaren.
Während sie das Treppenhaus betrat, kramte sie ihren Schlüssel aus ihrer Jackentasche. Die kühle Luft tat gut, dennoch stand Mira der Schweiß bereits auf der Stirn, als sie ganz oben bei der Nummer dreizehn angelangt war.
Plötzlich öffnete sich vor ihr die Eingangstür und eine junge Frau mit dichtem dunkelbraunem Haar und großer runder Brille strahlte ihr entgegen.
»Hallo. Willkommen zurück in der Unterwasserwelt!«, begrüßte Hermine sie. Ihre Mitbewohnerin begann leise zu kichern.
Mira blickte verdutzt.
»Ähm, was?« Sie zog die Augenbrauen hoch. Ein kurzes Bellen ertönte hinter der Tür und Komet, Hermines Hund, drückte sich an ihr vorbei, so als ob er ebenfalls ein Mitspracherecht in dieser Angelegenheit wollte.
»Ich glaube, du hast da vergessen, etwas zu entfernen, der Boden im Flur schwimmt, aber keine Sorge, ich habe das Chaos schon beseitigt«, antwortete Hermine vergnügt und ließ sie eintreten.
Jetzt fiel es Mira wieder ein, der Wassernapf von heute Morgen. Eine Sekunde lang dachte sie, Hermine wäre ihr böse. Sie verwarf rasch den Gedanken.
»Tut mir ehrlich leid und danke, ich hoffe, du bist nicht hinein-getreten«, antwortete Mira und machte dabei eine mitleidvolle Miene. Sie betrat den Flur und kickte ihre Sneaker einfach zur Seite. »Ach, ist doch halb so schlimm. Komet hat mir geholfen. « Hermine zuckte mit den Schultern und schenkte ihr ein ehrliches Lächeln.
Seit zwei Jahren lebte Mira nun mit ihrer besten Freundin in der kleinen Wohnung im Hamburger Stadtteil Hammerbrook. Zuvor hatte Hermine sich die Wohnung mit einer anderen Mitbewohnerin geteilt, die aber ins Ausland gezogen war. Das Zusammenleben funktionierte ohne größere Probleme. Der Grund war Hermines unkomplizierte Art. Außerdem hatten sie beide ähnliche Interessen. Hermine bevorzugte es, die Nase in Bücher zu stecken und führte gern Gespräche über interessante Themen. Sie hatte ein ansteckendes Lachen, war immer hilfsbereit und manchmal auch überdreht auf ihre lustige Art und Weise. An den Wochenenden teilte sie oft die Couch mit Mira für einen Lesenachmittag, einen gemeinsamen Film oder einen Austausch über Miras Fortschritte beim Schreiben.
Hermine war Studentin und jobbte in einem kleinen Secondhandladen in der Hamburger Innenstadt, er war nur wenige Kilometer von der Wohnung entfernt. Dort hatte sie erst vor zwei Wochen begonnen zu arbeiten.
»Wie war es heute in der Schule, du siehst etwas blass aus?« Hermine kam einen Schritt näher und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie schob Mira sanft Richtung Wohnzimmer. Sie hatte immer das Gefühl, dass Hermine jede Stimmung sofort wahrnahm und wusste, wenn es ihr nicht gut ging.
»Komm, wir setzen uns erst einmal. Außerdem habe ich einen Bärenhunger, wir könnten uns später etwas kochen. Was hältst du davon?« Mira gab nach und ließ sich auf das Sofa nieder. Sie erzählte knapp von Gabriella und ihrem Tag und Hermine machte keine Anstalten, sie zu unterbrechen.
»Heute war es aushaltbar, weißt du, aber die meiste Zeit schaffe ich den Vormittag nur mit großer Anstrengung. Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll«, beendete sie den Satz. Dann zog sie ihre Knie zur Brust und legte ihren Kopf darauf ab.
»Hör zu, Mira, du steckst deine ganze Energie und Liebe in diese Arbeit, aber du darfst dich dabei nicht vergessen, immerhin arbeitest du gerade etwas auf und machst nicht umsonst eine Therapie.«
Mira wusste, dass sie recht hatte, aber was half es schon, sie konnte jetzt nicht einfach kündigen. Sie konnte das Team nicht im Stich lassen, sie fühlte sich verpflichtet, Gabriella zu betreuen.
Außerdem liebte sie ihre Arbeit, keine Frage, doch die Umstände waren nicht gerade die besten.
Dies war ein weiterer Punkt und Grund ihrer ständigen Überforderung.
Auch in ihren früheren Arbeitsstellen war es ihr ähnlich ergangen. Damals schon fand Mira kaum Anschluss zu den anderen. Es gab viele Reize, wie Lärm, Licht und die Geräusche, die täglich auf sie einprasselten. Zusätzlich musste sie sich nun auch noch mit den Schatten der Vergangenheit auseinandersetzen.
Hermine strich ihr liebevoll über den Rücken und Mira blickte sie dankbar an.
»Ich finde, du solltest dir mehr Zeit für dich nehmen. Die brauchst du dringend.Vielleicht wohin fahren oder was Tolles unternehmen? Oder eine Auszeit am Meer …«, zählte Hermine ihr auf.
Mira dachte über ihre Worte nach, doch gerade in diesem Moment war sie zu müde, um sich damit auseinander zu setzen. Sie wollte einfach nur durchhalten. Nur noch diese zwei Wochen, bis die Sommerferien beginnen würden. Denn dann hätte sie sowieso eine kleine Auszeit vom Alltag. Zumindest vorerst.
»Ich schlage vor, du ruhst dich erst einmal aus, okay? Ich habe den Nachmittag sowieso frei, ich koche uns später etwas und wir können gemeinsam essen. Du solltest auch etwas essen Mira.«
Hermine boxte ihr sanft gegen den Oberarm und lächelte sie liebevoll an.
Bei den Worten rührte sich ihr Magen und sie vernahm ein leises Grummeln. Ein Lächeln huschte über Miras müdes Gesicht.
»Okay. Ich bin mal drüben in meinem Zimmer, bis später und danke.«
Mira drückte Hermine kurz an sich, dann erhob sie sich vom Sofa und ging geradewegs in ihr eigenes Zimmer, welches direkt an das Wohnzimmer angrenzte. Sie ließ sich auf das gemütliche Bett fallen und starrte zur weißen Decke, während sie gleichzeitig ein paarmal tief ein- und ausatmete. Ihr Blick wanderte zu dem kleinen hellblauen Schrank, der neben ihrem Bett stand.
Dort lag ihr Notizbuch halb aufgeschlagen und daneben ein Kugelschreiber. Es war hellbraun, aus Leder und etwas abgegriffen vom Herumtragen. Sie mochte es. Dieses Buch war für sie wie ein Abtauchen in eine andere Welt.
Diesen Rückzugsort konnte sie sich erschaffen, wann immer sie wollte. Hier hatte sie Notizen gesammelt für Schreibprojekte und gerade versuchte sie sich an einem Gedichtband. Manche Wörter schlichen sich einfach untertags in ihren Kopf, aber auch schon mal mitten in der Nacht, wenn sie früher aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte.
Kurz war Mira versucht, es aufzuschlagen. Dann wandte sie den Blick gleich wieder ab. Sie liebte das Schreiben. Zu gerne würde sie an ihrer Idee weiterarbeiten, doch in ihrer derzeitigen Verfassung fehlte ihr die Kraft.
Mira rappelte sich vom Liegen auf. Mit einer Hand fischte sie ihr Smartphone aus ihrer Tasche, die sie auf den Boden gestellt hatte, und öffnete ihre Playlist. Dann ließ sie sich wieder auf ihr Kissen zurückfallen und schloss für einen Moment die Augen.
Magie. Das fühlte sie, wenn sie bestimmte Melodien hörte. Die Lyrics gingen so tief in ihr Innerstes, sie konnte es nicht recht beschreiben. Wie wenn ein winziger Teil ihrer Geschichte von einer anderen Person niedergeschrieben wurde. Sie spulte einen ihrer Lieblingssongs ab und drückte danach wiederholte Male auf die Playtaste. Langsam wichen die Anspannung und das Durcheinander aus ihrem Körper und sie konnte erneut durchatmen. Es war eine ihrer Methoden, um sich zu regulieren, und meist auch, um ihre Gefühle zu durchleben, welche manchmal schwer zugänglich für sie waren.
Nach einer Dreiviertelstunde vernahm Mira ein leises Klopfen und wurde in den gegenwärtigen Moment zurückgeholt.
Hermine stand im Türrahmen und deutete auf einen Topf, den sie in der Hand hielt.
Als Mira gerade überlegte, ob sie noch etwas liegen bleiben sollte, meldete sich ihr Magen erneut. Also schwang sie ihre Beine aus dem Bett, richtete sich auf und deutete Hermine einen Daumen nach oben. Vielleicht würde sie später noch einmal über ihren Vorschlag nachdenken. Doch mit leerem Magen Entscheidungen zu treffen, war sowieso schwer möglich.
Sie betrat die kleine Küche, wo es schon herrlich nach Tomatensoße, Zwiebeln und Gewürzen duftete.
»Was hast du gezaubert?« Sie trat zu Hermine an den Herd, die gerade dabei war, Spaghetti aus einem Topf auf Teller zu verteilen.
»Vegane Spaghetti bolognese. Wir hatten noch zwei ganze Gläser Tomatensoße auf Vorrat.«
Hermine grinste breit und hielt ihr einen Teller vor die Nase.
»Klingt Super, danke.«
Mira nahm ihn entgegen. Sie genehmigte sich einen großen Schöpfer der Soße, ehe sie sich an den viereckigen Holztisch am Fenster niederließ. Frisch zubereitete Speisen liebte sie, kochte jedoch selbst nicht so gerne. In ihrer Wohngemeinschaft war das Kochen demnach zweitrangig. Sie selbst richtete sich nach Bedürfnissen und Hungergefühl. An den meisten Tagen schafften sie und Hermine es jedoch, gemeinsam Mittag zu essen, und das freute Mira umso mehr.
»Wie läuft es eigentlich in diesem Secondhandladen, möchtest du bleiben?«, fragte Mira, die bisher so in ihre eigenen Gedanken versunken gewesen war. Sie hatte sich noch gar nicht erkundigt, ob es bei Hermine Neuigkeiten gab.
Hermine setzte sich zu ihr und schenkte ihnen beiden Wasser ein. Sie gab ein lautes Seufzen von sich.
»Ja, also vorerst möchte ich bleiben, weil derzeit keine Stelle in der Buchhandlung frei ist, ich glaube, sie nehmen dort auch keine Studenten mehr auf. Im Laden ist es aber ganz lustig. Es ist nicht viel los, wir sortieren hauptsächlich Kleidung, also hätte es schlimmer kommen können.«
Hermine zuckte mit den Schultern, während sie eine Gabel voll Spaghetti zum Mund führte.
Mira wusste, dass ihre beste Freundin seit Anfang des Studienjahres gerne eine Stelle in einem Buchladen angenommen hätte, leider gab es bisher nur Absagen. Sie hätte sich wirklich für Hermine gefreut und ihr die Stelle voll und ganz zugetraut. Immerhin war sie inmitten eines Literaturwissenschaftsstudiums und hatte nicht nur eine Menge theoretisches Hintergrundwissen. Sie liebte es, in Geschichten einzutauchen und würde in der Sparte gewiss eine Bereicherung sein. Wie so oft wusste Mira nicht, was sie ihr Aufmunterndes zusprechen konnte, ihr fehlten schlichtweg die passenden Worte dafür.
»Dabei würdest du perfekt dorthin passen. Vielleicht klappt es dann im nächsten Jahr. Um ehrlich zu sein, sehe dich schon vor mir, wie du mit achtzig Jahren in deiner eigenen Bücherei sitzt, eine alte dicke Hornbrille auf dem Kopf tragend, und den Kunden die interessantesten Exemplare vorstellst.«, entgegnete Mira und schmunzelte bei der Vorstellung.
Hermine schaute gespielt empört drein. Doch dann fing sie ebenfalls an zu kichern.
»Also ich weiß nicht, ob eine eigene Bücherei besitzen wirklich mein Lebenstraum ist. Vielleicht eher so einen alten Buchladen, wie in den Filmen, mit ganz exklusiven Exemplaren.« Hermine strahlte jetzt und ihre Augen glänzten wie immer bei dem Wort Bücher.
»Ja genau das wäre toll. Ein Zimmer mit alten hohen, dunklen Regalen, dahinter ein kleiner einladender Raum mit Kaffeetischen, um gemütlich zu lesen und Kaffee oder Tee zu trinken …«, führte Mira den Gedanken weiter, während ihr Blick abschweifte und durch den Raum ging.
Auch in früheren Jahren war ihr das oft passiert, manchmal waren es Fantasien oder verrückte Ideen. Jetzt als Erwachsene war ihr das unangenehm, vor allem wenn sie mit anderen zusammen war. Sie konnte es nicht ausstehen, komisch angestarrt zu werden, gar missverstanden zu werden. Bei Hermine war ihr das jedoch egal.
Miras kreative Seite, die von manchen vielleicht als Träumerei abgetan wurde, war wertvoll. Sie war ihre größte Ressource und half ihr so oft in schwierigen Lebenssituationen. Die Therapie, die sie vor wenigen Monaten begonnen hatte, war eine Art Anker geworden und sie war sehr dankbar dafür, denn so lange hatte sie in ihrem Leben zu kämpfen gehabt.
Die psychischen Probleme hatten sich auch als körperliche Symptome bemerkbar gemacht. Mira fühlte sich so oft nicht zugehörig mit ihrer Denkweise. Seit ihrer Kindheit fühlte sie sich irgendwie anders, hatte das Gefühl selbst lange Zeit nicht zuordnen können. Was sie wollte, war, akzeptiert zu werden mit allem, was zu ihr gehörte. Doch gerade in diesem Moment kam wieder alles in ihr hoch. Warum nur immer in den unpassendsten Momenten?
»Willst du noch Nachschub?« Schlagartig wurde Mira aus ihren Gedanken gerissen, als Hermine sich vom Sessel erhob und sie anstarrte.
Sie wandte erst den Blick zu ihr und dann auf ihren fast leeren Teller. Langsam schüttelte Mira den Kopf. »Nein danke, momentan reicht mir das.« Dann nahm sie ihre Gabel wieder in die Hand und aß schweigend weiter.
»Ist alles in Ordnung?«
Hermine, die mit ihrem vollen Teller wieder zu ihr an den Tisch kam, musterte sie besorgt. Mira schluckte den Bissen hinunter und sah sie an.
»Ich bin gerade mit meinen Gedanken abgedriftet. Ich glaube, es wird Zeit wieder einen Termin bei Frau Castelli zu vereinbaren.« Hermine nickte.
»Wieder diese Gedanken von früher?«, fragte sie sanft und nahm dann einen Schluck aus ihrem Glas.
»Ja.« Mira seufzte.
Als sie mit Essen fertig war, half sie Hermine mit dem Geschirr und stellte Komet seine Ration Trockenfutter in den Flur. Danach betrat sie noch einmal die Küche und befüllte den Wasserkocher, der auf dem Tresen stand. Es war zu einer Art Ritual für Mira geworden. Sie wollte sich etwas Gutes tun und eine Tasse Tee half ihr manchmal, sich wieder zu sortieren.
»Möchtest du auch einen Tee?«, rief sie durch die offene Tür, denn Hermine saß im Wohnzimmer.
»Nein danke!«, kam es sogleich als Antwort.
Mira schaltete den Wasserkocher ein, wartete, bis das Wasser die richtige Temperatur erreicht hatte, und ging dann mit der dampfenden Tasse in ihr Zimmer. Dort schnappte sie sich ihr großes Sitzkissen, schaltete die kleine Lavalampe ein, die auf ihrer Kommode stand, und ließ sich auf das weiche Polster plumpsen.
Das Mittagessen hatte ihr zu neuen Lebensgeistern verholfen und sie fühlte sich etwas gestärkter. Mit beiden Händen umklammerte sie ihre Tasse und ein warmes, wohliges Gefühl durchströmte sie.
Einige Minuten saß sie einfach nur da. Als sie einen Blick aus dem Fenster warf, erkannte sie vereinzelt graue Wolken am Himmel. Es sah nach Regen aus. Eigentlich konnte sie auch später mit Komet eine Runde drehen. Dann kam ihr der Gedanke, in ihrem neuen Buch wei-terzulesen. In freudiger Erwartung nahm sie es aus dem hohen weißen Regal neben dem Kleiderschrank. Es war eine Fantasy-Geschichte, die sie vor Kurzem in einer Buchhandlung ergattert hatte. Mira mochte Schauplätze in fremden Welten, auch wenn sie Liebesgeschichten ebenso gerne las wie einen Urban-FantasyRoman. Dieses hier war ein etwas dickeres Exemplar. Rasch blätterte sie zu ihrem Lesezeichen, rutschte noch einmal in eine bequeme Position und begann zu lesen.
»Was tun Sie denn da?«, fragte jemand mit einer krächzenden hohen Stimme. Sie gehörte einer alten Dame. Diese stand jetzt direkt hinter Sam am Fuß der Treppe. Überrascht drehte sich Sam zu ihr um. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie anscheinend schon länger beobachtet wurde.
»Heute ist mein Umzugstag. Tut mir sehr leid, wenn ich zu laut war, die Tür klemmt leider etwas.«
Sam rüttelte nun heftig am zweiten Flügel der Haustür, mit dem sie seit fünf Minuten erfolglos kämpfte. Ihre Wangen waren gerötet und sie wurde nun etwas ungeduldig. Gerade als sie erneut loslassen wollte, um ihre Hände kurz auszuschütteln, weil sie bereits wehtaten und angeschwollen waren, sprang die Tür auf. Die alte Dame, die dieses Schauspiel noch immer beobachtete, atmete nun sichtlich erleichtert auf. Sam blickte ihr erneut ins Gesicht und schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln. Die Dame wandte sich zum Gehen und schlüpfte durch die offene Tür nach draußen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Etwas irritiert schüttelte Sam den Kopf und blickte ihr nach. Einzelne brünette Strähnen aus ihrer Kurzhaarfrisur fielen ihr ins Gesicht, als sie sich ganz aufrichtete.
Sie hatte sich hier in Liams Wohnung sehr wohlgefühlt, dennoch wusste sie, dass es nur eine Übergangslösung gewesen war. Liam war ebenfalls Student und Sam hatte ihn bereits im Frühjahr beim Bewerbungsverfahren für den Masterstudiengang Kreatives Schreiben kennengelernt. Damals kamen sie ins Gespräch. Beide hatten sich einen Studienplatz am renommierten Trinity College in Dublin gesichert, der ältesten Universität in Irland. Für Sam ging damit ein großer Traum in Erfüllung, eine neue Perspektive und Chance, sich als Schriftstellerin ausbilden zu lassen. Sie wollte unbedingt dort studieren und konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie das allererste Mal davorgestanden hatte.
Zuvor, als Sam noch in einer Wohnung in Deutschland gelebt hatte, hatte sie die Uni nur von Bildern im Internet gekannt.
Das imposante Gebäude mit seinen alten Mauern direkt im Innenstadtviertel war nicht nur Universität, sondern auch ein beliebtes Touristenziel.
Sie stellte sich immer vor, dort ein und aus zugehen, mit ihren Lernunterlagen und ihrem Notizbuch in der Hand, in welches sie selbst Geschichten hinein kritzelte. Sam träumte davon, die Nachmittage im Long Room zu verbringen, der größten und beeindruckendsten Bibliothek Irlands.
Ruckartig wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als neben ihr ein Hupen ertönte. Jemand schlug eine Autotür zu.
Es war Liam.
Bis zum heutigen Tag hatte sie Unterschlupf bei ihm gefunden, sie war ihm mehr als dankbar dafür. Jetzt war es Zeit für eine eigene kleine Wohnung, wie sie fand. So angenehm das Zusammenleben mit Liam war, sie brauchte auch Raum für sich, ihre eigenen kleinen vier Wände. Dazu kam, dass Liams Freundin gerne mit ihm zusammenziehen wollte. Für Sam war das ein guter Anlass gewesen, sich nach einer Einzimmerwohnung umzusehen, jedoch war dies keine leichte Aufgabe in Irlands Hauptstadt. Nach unzähligen Internetrecherchen und verzweifeltem Rechnen aufgrund von steigenden Mietpreisen hatte sie eines Abends einen wahren Glückstreffer gelandet.
Die Wohnung befand sich am Rande von Dublin, war jedoch in der Nähe einer Bahnstation und daher ideal, um zur Uni zu gelangen.
»Guten Morgen, schon auf den Beinen?«, begrüßte Liam sie gut gelaunt. Seine rotblonden Haare kringelten sich an seinem Hals und lugten unter einer grünen Mütze hervor. Sie liebte seine offene Art und gleichzeitig seine Leichtigkeit, mit der er das Leben nahm.
»Hey. Na klar, was denkst du? Ich kann doch unmöglich an meinem Umzugstag verschlafen«, antwortete Sam empört und zwinkerte ihm zu.
Gemeinsam betraten sie seine Wohnung im dritten Stockwerk. Umzugskartons und Möbel standen bereits am Eingang, denn Sam hatte Vorarbeit geleistet. Es konnte nicht besser laufen, denn sie hatten tatsächlich einen Tag erwischt, an dem es nicht regnete, und Sam wusste nicht, womit sie so viel Glück verdient hatte. Erst der Studien-platz und dann die neue Wohnung. Vielleicht durfte sie nun endlich nach vorne schauen nach zwei Jahren voll Ungewissheit und Trauer. Nach einer Zeit von Abschieden, die unverhofft ihr Leben durcheinandergewirbelt hatten.
Zuerst war da der plötzliche Tod ihrer Mutter nach schwerer Krankheit und die Trauer, die sich wie ein hoher steinerner Turm in ihrer Brust angefühlt hatte. Ein Turm, den sie allein zu bezwingen hatte. Von einem Tag auf den anderen hatte sie ihren Halt verloren, musste irgendwie weitermachen. Weiterleben mit dieser hohen Mauer aus schwankenden Gefühlen. Danach, als sie wieder halbwegs in ihren Alltag gefunden hatte und die Entscheidung traf, Deutschland eine Zeit lang zu verlassen, hatte sie auch noch ihr gewohntes Umfeld loslassen müssen.
Liam packte sie leicht an der Schulter. »Sam? Ist alles gut bei dir? Soll ich dir mit diesem Tisch helfen?«
Er sah sie mit einem sanften Blick an, der ihr wieder Sicherheit gab und sie ins Hier und Jetzt zurückholte. Dann deutete er zu einem kleinen dunkelbraunen Holztisch. Ihr Schreibtisch, das wohl wichtigstes Möbelstück für die kommenden Monate. Sie nickte.
»Danke nochmal, Liam. Auch dafür, dass du dir heute Zeit nimmst, das ist nicht selbstverständlich«, antwortete sie und fixierte sein Gesicht dabei.
»Natürlich ist es das. Mitbewohner tun das. Streng genommen bist du bis zum heutigen Tag ja noch Teil unserer Wohngemeinschaft.
Auch wenn mir unser morgendliches Ritual fehlen wird!« Er grinste sie nun an.
Sam lächelte ebenfalls.
»Oh ja, das wird mir auch fehlen. Wir könnten es ja vielleicht weiterführen, per Telefon oder so.« Sie zuckte mit den Schultern.
Liam und Sam hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen gemeinsam einen Kaffee zu trinken, bevor danach jeder seinen eigenen Weg ging. Dieses Ritual gab ihr auch Sicherheit und bei Liam konnte sie sich jederzeit anlehnen, wenn sie eine starke Schulter brauchte. Jetzt würde sie es wohl alleine weiterführen müssen.
Gemeinsam verstauten sie den Schreibtisch und die anderen Umzugs-kartons in Liams Transporter, den er sich kurzerhand von seinem Vater geliehen hatte. Sam stand vor dem Hauseingang des alten Backsteingebäudes und ließ ihren Blick ein letztes Mal nach oben zu ihrem ehemaligen Zimmerfenster schweifen. Die Wolken am Himmel waren zu kleinen dichten Wölkchen geworden, die aussahen wie winzige Schafe. In dem Moment kämpfte sich ein kleiner Sonnenstrahl zwischen ihnen hindurch, direkt auf ihr Gesicht. Sie spürte eine angenehme Wärme aufsteigen, hielt kurz inne, drehte sich dann entschlossen um und kletterte zu Liam in den Transporter.
Die neue Wohnung lag in einem Vorort Dublins. Je weiter sie sich von der Stadt entfernten, desto ruhiger wurde der Straßenlärm und Sam ließ sich nun etwas entspannter in den Sitz des Kleinwagens sinken.
Eine halbe Stunde später erreichten sie Killester, ein Dorf im Norden von Dublin. Früher hatten in dieser Gegend nur ein Kloster und eine Kirche gestanden, erst nach und nach entwickelte sich ein kleines Städtchen daraus. Sam wusste dies, denn sie hatte es in einem Buch gelesen, in dem auch geschichtliche Eckdaten Irlands nachzulesen waren.
Das kleine karminrote Gebäude war eine Art Miniaturversion des Gebäudes, in dem Liam wohnte. Sie standen jetzt zwischen einer Reihe von Häusern, die alle gleich auszusehen schienen.
Man musste wirklich genau hinsehen, um Unterschiede zu erkennen.
Alle besaßen einen kleinen Vorgarten mit Hecken und Sträuchern.
Eine halbhohe Mauer mit einem schwarzen Zaun umrandete das Grundstück zum Bürgersteig hin.
Sam lächelte bei dem Anblick der symmetrisch angeordneten Haushälften. Sie hatte die Gegend auf Anhieb ins Herz geschlossen.
Gmeinsam mit Liam, betrat sie das Gebäude.
Die Wohnung lag im ersten Stock und besaß ein Schlafzimmer, einen Wohn- und Essbereich mit einer schmalen Küchenzeile und ein winziges Bad. Sam sah sich um, sie war erst vor ein paar Tagen hier gewesen, um den Mietvertrag zu unterschreiben. Liam hatte bereits den ersten Karton in der Hand und stellte ihn in der Küche ab.
»Falls du jemals eine Übernachtungsmöglichkeit brauchst, kann ich dir nur meine Couch anbieten«, witzelte Sam und deutete auf die kleine grüne Couch, die mitten im Raum thronte.
»Vielen Dank, ich glaube, da übernachte ich dann gleich in meiner eigenen Wohnung. Nichts gegen deine Couch, aber da passen gerade einmal meine Beine drauf!« Liam lachte amüsiert auf.
»Hey, immerhin habe ich jetzt eine eigene!«, entgegnete Sam empört und boxte Liam spielerisch gegen die Schulter.
Langsam trugen sie gemeinsam alle Möbelstücke in die Wohnung.
Als auch die allerletzte Kiste Einzug gefunden hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie ließ sich auf die Couch plumpsen und streckte alle viere von sich.
»Ich glaube, ich brauche jetzt mindestens den Rest des Tages Ruhe, die letzten Tage waren eindeutig zu viel«, jammerte Sam und spürte zeitgleich, wie sich leichte Kopfschmerzen anbahnten.
Sie verharrte eine Weile in dieser Position und nahm einige tiefe Atemzüge.
»Ich parke nur schnell den Transporter um, dann könnten wir etwas kochen. Soll ich das heute übernehmen?«, fragte Liam, der sich aus seinem Anorak geschält hatte.
Sam hob ihren Kopf und setzte sich dann wieder auf.
»Ich wäre voll dafür.«
Sie reckte beide Daumen nach oben und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
Liam verschwand und kam fünf Minuten später mit erleichterter Miene wieder durch die Tür. Inzwischen hatte es draußen zu nieseln begonnen, das konnte Sam an der nassen Spur auf der Außenscheibe erkennen.
»Hier ist es beinahe unmöglich, einen Parkplatz zu bekommen, vor allem mit dieser großen Kiste meines Dads«, maulte Liam.
»Tut mir leid. Stehst du weit weg?« fragte Sam.
»Nur zwei Straßen weiter, schon okay. Aber hey, wir haben̕s geschafft.«
Liam trat auf sie zu und breitete die Arme aus, dann zog Sam ihn kurz an sich. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe und endlich ein Stück angekommen.
»Ich bin so happy und jetzt lass uns etwas essen, ich habe großen Hunger.«
Liam nickte und sie trat wieder einen Schritt zurück.
»Wie wäre es, wenn wir heute ausnahmsweise nichts kochen und den Backoffen anschmeißen?«, fragte Sam und stemmte ihre Hände in die Hüften.
»Auch eine Option. Ich bin für alles zu haben.«
Liam verschränkte grinsend die Arme vor der Brust und ließ sich dann auf die Couch zurückfallen.
Vorhin auf dem Weg hierher hatten sie an einem Supermarkt gehalten und Sam hatte diese Gelegenheit genutzt, um sich mit ein paar Lebensmitteln einzudecken. Für heute würde sie es sich zu Hause gemütlich machen, vielleicht später etwas spazieren gehen, wenn das Wetter nicht in Regenschauer umschlug. Kurz warf sie einen Blick auf ihr Smartphone, es war bereits früher Nachmittag. Sie tippte eine Nachricht und schickte sie ihrem Dad. Sie wollte ihm mitteilen, dass bei ihrem Umzug alles geklappt hatte. Am Abend würde sie ihm noch Fotos zukommen lassen, darüber würde er sich bestimmt freuen.
Wenige Zeit später hatten sie es sich mit Fertigpizza im neuen Wohnzimmer gemütlich gemacht. Die Möbel, es waren nicht viele, standen schon an ihrem Platz. Auch ihren Schreibtisch hatte sie neben dem Fenster untergebracht. Alles in allem sah es noch etwas chaotisch aus mit den ganzen Kartons in dem viel zu kleinen Raum.
Trotzdem war Sam froh und auch stolz, dass sie diesen Schritt gewagt hatte. Sie konnte es noch gar nicht richtig realisieren, dass sie ihre eigenen vier Wände hatte. Hier in Irland! Ihrem neuen Zuhause.
Als Sam später am Abend im Bett lag, dachte sie voller Vorfreude an ihr Studium und die Dinge, die auf sie zukommen würden. Zwischen Aufregung und Nervosität mischte sich auch ein Gefühl von Neugier. Es kribbelte in ihrem Bauch. Ein Neuanfang, sie hatte eine Chance, der Dunkelheit und der Vergangenheit zu entkommen.
Schließlich fiel sie in einen tiefen traumlosen Schlaf, während der Regen leise gegen die Fensterscheibe trommelte.
Der nächste Tag fing für Sam später an als gewöhnlich. Sie schlief viel länger als sonst. Normalerweise war sie kein Morgenmuffel, doch an diesem Morgen fehlte ihr jegliche Orientierung. Als sie sich schließlich überwunden hatte, aus dem Bett zu steigen, fiel ihr etwas ein. Gestern Abend hatte sie vergessen ihrem Vater die Fotos von der neuen Wohnung zu schicken. Sogleich holte sie das nach und scrollte durch die Aufnahmen vom Vortag.
Heute wollte sie sich nochmals mit Liam treffen. Sie planten, die neuen Räumlichkeiten zu erkunden, in denen die Vorlesungen für das Studium stattfanden. Liam war ortskundig und hatte Sam bereits in der Anfangszeit geholfen, sich in Dublin zu orientieren. Es war ein großer Vorteil, einen waschechten Iren an der Seite zu haben.
Außerdem stand heute Auspacken auf dem Plan, denn im Wohnzimmer warteten noch einige Kisten und Kartons auf sie.
Das Chaos in ihrem Kopf beruhigte sich erst, als sie gedanklich einen Schritt-für-Schritt-Plan erstellte. Er zeigte seine Wirkung und Sam fühlte sich danach endlich bereit ihren Tag zu starten.
Mit einem guten Gefühl im Bauch schlüpfte sie in das kleine Bad mit den dunkelgrünen Kacheln an der Wand.
Vor ihrer Dusche lag eine Badematte in Form eines Kleeblatts. Diese hatte sie in einem Laden in der Stadt zufällig entdeckt und direkt eingepackt. Es sah alles irgendwie sehr niedlich aus, wie sie fand.
Nachdem Sam eine ausgiebige Dusche genommen hatte, schaltete sie die Kaffeemaschine ein. Mit einer Tasse dampfendem Kaffee und zwei Toasts schlenderte sie zurück ins Wohnzimmer zu ihrem alten Schreibtisch, ihrem Lieblingsmöbelstück.
Dort warf sie einen Blick aus dem Fenster. Feiner Nieselregen besprenkelte die Scheibe und eine dünne Nebeldecke umhüllte Teile der Straße. Es war ein Wetter zum Einkuscheln, mit Kakao und Film. Zu zweit wäre es natürlich doppelt so schön.
Sam wollte diese Gedanken dringend beiseiteschieben, auch wenn sie sehr verlockend waren. Doch aus irgendeinem Grund wollte ihr Unterbewusstsein da nicht mitspielen. Sie sehnte sich schon eine ganze Weile danach. Wonach eigentlich genau? Vielleicht nach dem Gefühl von Nähe, oder war es mehr? Jetzt war nicht der passende Zeitpunkt, dem nachzugehen.
Sie wandte sich vom Fenster ab und nahm den ersten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. Die Wärme und der Duft belebten ihre Sinne. Sam setzte sich an den kleinen Tisch neben ihrer Küchenzeile und frühstückte erstmal.
Als sie fertig war und das Geschirr gespült hatte, raffte sie sich dazu auf, ein paar der Kartons auszuräumen. Einer davon war voller Bücher. Darunter befanden sich Fantasyromane, Liebesromane und ein paar literarische Werke als Vorbereitung für die Uni. Sie packte sie vorsichtig in ihr Bücherregal. Demnächst würde sie bestimmt eine Menge Zuwachs bekommen und auch selbst wieder schreiben. Endlich.
Der Gedanke daran, etwas zu Papier zu bringen, ließ Sam innerlich aufblühen. Es kitzelte sie in den Fingern, eine neue Geschichte zu erzählen. Auch auf den Austausch mit Gleichgesinnten freute sie sich, denn Bücher und Schreiben waren ihr Zuhause. Dies hier war ihre Welt. Tatsächlich war es wie ein kleines Paralleluniversum. Hier konnte sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Worte hatten diese Macht, alles zu erschaffen, bezaubernde Wesen und tief berührende Lebensgeschichten und ganz viele magische Momente.
Magische Momente.
Manchmal würde auch sie gerne einen dieser Momente erleben. Vielleicht mit einer Person. Vielleicht so, wie es in Büchern stand, doch sie wusste nicht, ob es überhaupt möglich war. Für einen Moment führte sie den Gedanken weiter aus. Sie stellte sich vor, dass es möglich war, so jemanden zu finden.
Sam blickte erneut auf den Karton und verwarf rasch den Gedanken. Ihre Umzugskisten würden sich nicht von allein ausräumen. Sie seufzte und packte schließlich den Rest aus.
Das letzte Buch, welches ganz unten im Karton lag, war ein Notizbuch, es hatte einen dickeren Einband mit blauem Blumenmuster. Sie nahm es heraus und legte es vorsichtig auf ihren Schreibtisch. Es war ein Geschenk von ihrer Mutter und sie besaß es schon viele Jahre. Anfangs hatte sie es als Tagebuch benutzt, doch jetzt war es Notizbuch für all ihre Ideen. Sie hatte es stets bei sich. Manchmal schlug sie es auf, wenn sie gerade im Park saß oder in einem Café, und kritzelte etwas hinein.
Sam strich liebevoll über den Einband und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Der letzte Eintrag für eine neue Ideen war schon etwas länger her. Es fehlte ihr in letzter Zeit an Konsequenz, diese zu ver-schriftlichen, also nahm sie sich vor, gleich heute wieder damit anzufangen. Sie erhob sich und ging in den Vorraum, um es in ihren beigen Stoffrucksack zu packen, der an einem Haken an der Garderobe hing. Als Sam ins Wohnzimmer zurückkam, hörte sie, dass ihr Smartphone, das auf dem Schreibtisch lag, vibrierte.
Auf dem Display erschien eine Nachricht von Liam. Darin stand, dass er es nicht zur ausgemachten Uhrzeit zu ihrem Treffpunkt schaffen würde. Sam rechnete kurz nach. Wenn sie jetzt losfahren würde, hätte sie noch Zeit, durch Dublin zu schlendern. Sie könnte nach Büchern Ausschau halten und neue Ideen für ihr Projekt niederschreiben. Der Gedanke ließ sie euphorisch werden. Schnell verstaute sie die leere Kiste unter dem Tisch, die anderen beiden konnte sie auch noch heute Abend ausräumen. Sam freute sich trotz des neblig-trüben Wetters auf einen schönen Nachmittag in der Altstadt.
Sie trat an das Fenster, um zu sehen ob der Regen nachgelassen hatte, und öffnete es. Feine Tropfen bedeckten das weiß gestrichene Fensterbrett, und als sie sich nach vorne lehnte, kam ihr ein Schwall kalter Luft entgegen. Sie fröstelte leicht, schloss es wieder und schnappte sich ihren türkisfarbenen Parka.
Der Bahnhof in Killester erinnerte eher an ein schickes großes Wohnhaus. Auf dem Dach des Gebäudes war ein schmaler Uhrturm zu erkennen. Er sah aus wie eine Kopie von Big Ben in London, nur eben sehr klein. Sam schlenderte in Richtung der Automaten in der Eingangshalle. Sie besorgte sich eine Fahrkarte und ging dann zu den Gleisen. Die Anzeige verriet, dass der nächste Zug in acht Minuten einfahren würde, also fischte sie sich ihre Kopfhörer aus dem Rucksack und scrollte auf ihrem Smartphone durch ihre Playlist. Ihr Musikgeschmack war zusammengewürfelt. Er bestand aus alten Songs und Klassikern, die sie schon in ihrer Schulzeit gehört hatte. Hauptsächlich waren es aber Popsongs und Lieder von britischen oder irischen MusikerInnen.
Sam riss erschrocken ihren Kopf hoch, als sie ein lautes Hupen vernahm. Sie hatte sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt mit dem Zug anstatt mit dem Bus zu fahren. Rasch ließ sie ihr Smartphone in die Jackentasche gleiten, zupfte an ihrem Reißverschluss und zog ihre Kapuze über ihre beige Baumwollmütze. Dann trat sie auf den Bahnsteig, wartete, bis der Zug die Türen öffnete, und stieg ein.
Eine Menschentraube stand bereits am Bahnsteig, als der Zug zwanzig Minuten später mit einem leisen Quietschen zum Stillstand kam. Wie immer war es an Werktagen in der Dubliner Innenstadt drückend voll. Sam hatte keine Schwierigkeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und den vielen Menschen. Dies war sie bereits aus ihrer Heimatstadt Berlin gewohnt.
Sie stieg aus und bahnte sie sich ihren Weg zwischen den Passanten hindurch, immer mit Blick Richtung Ausgang. Dabei passte sie auf, niemanden anzurempeln, und kam schließlich vor einer großen Straßenkreuzung zum Stehen. Kurz hielt sie inne, orientierte sich und überquerte dann den Zebrastreifen, als ihre Ampel auf Grün sprang.Der Regen hatte tatsächlich nachgelassen und so beschloss sie, den Weg Richtung St. Patricks Cathedral einzuschlagen.
Als Sam den Park erreicht hatte, ließ sie sich auf eine der Holzbänke nieder. Sie standen in einem runden Bogen um ein Denkmal und boten Aussicht auf die größte Kathedrale der Stadt. Sie dachte zurück an ihre allersten Tage hier, ihre Ankunft in Dublin. Damals war sie fast jeden Tag hier gewesen. Es war Frühjahr gewesen und die wunderschönen hohen Bäume hatten zu blühen angefangen. Sam nahm einen tiefen Atemzug. Sie mochte diesen Ort. Die kühle Brise, die ihr Gesicht streifte, bescherte ihr eine Gänsehaut. Gerade war sie froh, dass sie sich heute für ihre dünne Baumwollmütze entschieden hatte. In der Nähe des Atlantiks konnten die Sommertage sich anfühlen wie ein Herbsttag in Deutschland. Sam ließ ihren Blick schweifen. Zu dieser Zeit wirkte der Park vor der Kathedrale nahezu ausgestorben. Hier und da erblickte sie Jogger und Familien mit Kindern, die vorbei spazierten. Sie hatte sich bewusst für dieses Fleckchen entschieden, denn die Kathedrale war atemberaubend mit ihren alten Gemäuern. Sie passte exakt in die Kulisse und war umgeben von einem gepflegten Rasen und unzähligen Blumenbeeten. Hier war für sie der perfekte Ort zum Schreiben, zum Ideen sammeln und verweilen. Sie kam noch immer regelmäßig in den Park, eben weil er ruhiger war im Vergleich zu den anderen Plätzen in Dublin war.
Neugierig ließ sich ein Vogel neben Sam auf der Parkbank nieder und schaute mit seinen schwarzen kleinen Augen zu ihr hoch. Er war wohl in großer Hoffnung, ein paar Bissen von etwas Essbarem zu ergattern. Sam schenkte ihm ein Lächeln und beobachtete ihn eine Weile.
»Tut mir leid, mein kleiner Freund, ich habe heute nichts dabei.«
Dann griff Sam in ihren Rucksack und zog das blaue Notizbuch hervor. Ein paar Gedankenfetzen schwebten bereits in ihrem Kopf und so schrieb sie diese auf, während ihr Blick wieder in Richtung Kathedrale abschweifte. Viel war es nicht, stellte sie fest, als sie das Buch nach einer Weile wieder zuschlug. Sie seufzte etwas enttäuscht und packte es wieder ein.
In letzter Zeit war sie sehr unkonzentriert und hatte den Kopf nicht frei für Dinge, die sie normalerweise sofort in eine großartige Idee verwandeln konnte. Irgendetwas fehlte, doch sie konnte nicht genau ausmachen, was es war. Gedankenverloren holte Sam ihr Smartphone aus der Jackentasche. Wenn sie noch in den Bücherladen schauen wollte, wäre es Zeit, langsam aufzubrechen. Auf dem Display ihres Smartphones entdeckte sie eine Nachricht, sie war von ihrem Papa. Er hatte auf die Bilder reagiert und ihr geschrieben, dass ihm die Wohnung gefiel. Sam schmunzelte, als sie die Zeilen überflog, gleichzeitig kamen in ihr viele Emotionen hoch. Auch wenn sie wöchentlich mit ihrem Papa telefonierte, spürte sie eine Sehnsucht nach ihrer vertrauten Umgebung. Manchmal vermisste sie ihr Zuhause, welches sie vor knapp zwei Monaten verlassen hatte. Im Herbst würde sie nach Deutschland fliegen, das hatte sie ihm versprochen und der Gedanke daran half ihr in diesem Moment zumindest ein bisschen.
Als Sam eine viertel Stunde später über die berühmte Grafton Street schlenderte, die unzählige Geschäfte beherbergte, kam eine kindliche Vorfreude in ihr hoch. Durch das geringe Platzangebot standen die vielen Läden und Hotels sehr eng beieinander. Sam erreichte den Buchladen. Der Eingang war im Gegensatz zu den modernen Läden sehr unscheinbar.
Ein vertrauter Geruch von frisch gedruckten Büchern schlug ihr entgegen, als sie die Tür nach innen öffnete. Drinnen standen hohe Regale mit Büchern zu ihrer linken und rechten Seite. Sie ging zu einem der vielen Verkaufstische und die Dame an der Theke nickte ihr freundlich zu. Sie schenkte ihr ein Lächeln, begrüßte sie freundlich und sah sich dann um.
Zehn Minuten später trat Sam, mit zwei Büchern unter dem Arm, aus dem Laden. Ihr Blick blieb an einem Plakat, das neben der Ladentür klebte, hängen. Es war ein Aushang für ein Konzert und sie erkannte am Bild sofort, um wen es sich handelte. In großen Lettern stand dort der Name eines irischen Musikers, der ihr bekannt war. Sie las weiter und spähte zum Datum. Im August sollte hier in Dublin ein Konzert von dem Sänger stattfinden. Augenblicklich durchströmte sie ein kribbeliges Gefühl in ihrem Magen.
Würde es noch Karten geben? Das musste sie unbedingt Liam erzählen. Als Sam jedoch auf ihr Smartphone blickte, fluchte sie leise und schob es sogleich zurück in ihren Parka. Sie war schon spät dran und musste sich beeilen, denn Liam würde sicher gleich bei ihrem Treffpunkt sein. Sie hatten vereinbart, sich am Eingang des Trinity College zu treffen, bis dorthin war es zu Fuß aber noch ein ganzes Stück. Während sie los eilte, beschloss sie, Liam später zu fragen, ob er Lust hätte, sie zu dem Konzert zu begleiten. Immerhin liebte er die irische Straßenmusik genauso sehr wie sie selbst. Eine Welle der Vorfreude überkam Sam, als ihre Schritte langsamer wurden und sie die letzten wenigen Meter keuchend hinter sich legte.
Liam stand neben dem großen Torbogen und winkte ihr zur Begrüßung. Auch er trug heute wieder eine seiner Mützen, diesmal in einem knalligen Rot, beinahe Ton in Ton zu seinen rotblonden Locken. Tatsächlich hatte der Wind nun etwas nachgelassen und auch die Sonne erschien für ein paar Minuten auf der Bildfläche.
Sam öffnete ihren Parka und reckte den Kopf zum Himmel, um ein paar Sonnenstrahlen einzufangen. Dann schloss sie zu Liam auf, der sie in eine schnelle Umarmung zog und neugierig auf ihre Bücher blickte.
»Hey. Warst du shoppen?« Er grinste breit, sodass man seine Grübchen rund um den Mund ausmachen konnte.
Sam nickte. Sie hatte ganz vergessen, sie in den Rucksack zu packen. »Ich war noch schnell bei Dubray Books in der Grafton Street, ich brauche Nachschub und Inspiration.« Sie grinste ihn verlegen an, bis ihr plötzlich einfiel, was sie ihn Wichtiges fragen wollte.
Gemeinsam gingen sie am Gebäude des Colleges entlang und Sam erzählte ihm aufgeregt von dem Konzert, welches sie auf dem Aushang am Laden entdeckt hatte.
»Meinst du, es gibt noch Tickets, immerhin sind es nur mehr knapp drei Wochen bis zum Konzert, die sind doch bestimmt schon ausverkauft?« Liam war kurz stehen geblieben und sah sie an.
Bei dem Satz fühlte Sam, wie ihre Euphorie langsam schwand. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Enttäuscht wandte sie ihren Blick zur weitläufigen Grünfläche, wo sich in dem Augenblick eine Krähe niederließ. Ihre breiten schwarzen Flügel dicht an ihrem Körper hüpfte sie ein Stück über den gepflegten Rasen.
Liam hatte inzwischen sein Smartphone herausgeholt und tippte etwas auf seiner Tastatur, kurz darauf fuchtelte er mit dem Bildschirm vor ihrer Nase herum.
»Sieh mal, ein paar Restkarten gibt es noch!«
Sam erstarrte. Sie riss ihm das Smartphone aus der Hand und beinahe wäre es auf dem Boden gelandet. Dann stieß sie einen kleinen Freudenschrei aus und hüpfte wild auf und ab, ohne sich Gedanken zu machen, was die Passanten um sie herum jetzt dachten.
»Ich glaub es nicht! Los, reserviere uns schnell zwei Stück«, bettelte Sam und hielt ihm das Smartphone wieder vor die Nase.
»Das hier wird wohl eine kleine Premiere für mich. Mein erstes Konzert seit meiner Schulzeit.« Liam nahm sein Smartphone entgegen und grinste breit.
»Umso besser, dann wird es höchste Zeit, dass du wieder eines besuchst. Und dieses wird großartig, glaub mir.« Sam strahlte über beide Ohren.
Die Gedanken an das Konzert und die Vorfreude ließen sie an diesem Nachmittag nicht mehr los. Sie hatten bereits das College-Areal hinter sich gelassen und plauderten die restliche Zeit über Bands und die irische Straßenmusik. Liam schlenderte neben ihr her und warf ihr zeitweise einen gespielt genervten Blick zu, weil sie von nichts anderem mehr sprach.
»Bist du jetzt überhaupt noch aufnahmefähig für unser Vorhaben oder soll ich dich bei den Straßenmusikern absetzen?«, witzelte Liam und Sam erwiderte seinen Blick amüsiert. Dann blieb sie abrupt stehen, stopfte ihre Bücher in den Rucksack und stemmte die Hände in die Hüften.
»Okay, wohin müssen wir? Du bist der Boss.«
Liam ging voraus und wenig später erreichten sie ihr eigentliches Ziel. Das Geburtshaus von Oscar Wilde lag nur ein Stück vom Trinity College entfernt. In ihren Studienunterlagen hatten sie erfahren, dass dort ihre Gruppenworkshops stattfinden würden. Sam fand alles sehr aufregend, immerhin war Oscar Wilde eine Art Wahrzeichen der Stadt Dublin und ein sehr bekannter Schriftsteller. Sie standen jetzt vor einem gusseisernen Eingangstor des weiß gestrichenen Wohnhauses.
»Wusstest du, dass viele Autoren aus Irland, aber auch aus ganz Europa ihre Ausbildung hier absolviert haben?«, fragte Liam sie, doch Sam schüttelte den Kopf.
»Das ist so genial!«, stieß sie aufgeregt hervor und fühlte sich stolz. Ausgerechnet sie hatte eine Chance für diesen Neuanfang bekommen. Doppelte Freude überwog an diesem Nachmittag.
Schon nach dem Sommer würde sie voll durchstarten mit ihrem Masterstudium. Was sollte ihr jetzt noch zu ihrem Glück fehlen?
»Gut gemacht! Ich denke, dass ist genug Bewegung für heute.«
Mira ging in die Knie, während sie ihren Griff um Gabriellas Hüfte verstärkte. Diese hatte gerade ihre täglichen Gehübungen absolviert und Mira unterstützte sie so gut es ging. Sie half nun Gabriella, sich umzudrehen, sodass sie direkt in ihr Gesicht blicken konnte. Dann hob sie sie vorsichtig in ihren Rollstuhl, der neben ihnen stand. Als sie sich vergewissert hatte, dass ihr Bauchgurt geschlossen war, schob sie den Rollstuhl Richtung Klassenraum.