WO IST JAY? - Astrid Korten - E-Book

WO IST JAY? E-Book

Astrid Korten

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Der Nachtfalter symbolisiert die verborgene Seite des Menschen. In der Nähe von Licht wird er selbstzerstörerisch und die dunkle Seite einer Persönlichkeit kommt zum Spielen heraus.“ Eine junge Frau wird im Aachener Kaiser-Friedrichpark ermordet aufgefunden. Nicht weit davon entfernt wohnt die Tierärztin Mia Becker mit ihrem Mann Leon und den Kindern Esther und Benny. Nach einem Girlfriend-Wochenende verschwindet Mias beste Freundin Jay de Winterr, spurlos. Mia ist davon überzeugt, dass die charmante, gut aussehende Jay ihre Familie nicht freiwillig verlassen hat, zumal die Tote Jay verblüffend ähnlich sieht. Wo ist Jay? Außer Mia, fragt sich das niemand, obwohl Jay der strahlende Mittelpunkt des Freundeskreises ist. Die Freunde benehmen sich seltsam und scheinen etwas zu verbergen. Auf der Suche nach Jay wird Mia in ein Netz aus Lügen und Intrigen verstrickt. Nichts ist, wie es scheint. Unbändiger Zorn bekommt Flügel. Neuauflage 2024

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

Jay tanzte einst zu Nothing Else Matters

Teil 1

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Aachener Nachrichten

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Epilog

Anmerkungen

Danksagung

Impressum

Über dieses Buch

»Der Nachtfalter symbolisiert die verborgene Seite des Menschen. In der Nähe von Licht wird er selbstzerstörerisch, und die dunkle Seite einer Persönlichkeit kommt zum Spielen heraus.«

Eine junge Frau wird im Aachener Stadtgarten erschlagen aufgefunden und erliegt im Krankenhaus ihren Verletzungen. Nicht weit davon entfernt wohnt die Tierärztin Mia Becker mit ihrem Mann Leon und den Kindern Esther und Benny. Nach einem Girlfriends-Wochenende verschwindet Mias beste Freundin, die charmante, gut aussehende Jay de Winter, spurlos. Mia ist davon überzeugt, dass Jay ihre Familie nicht freiwillig verlassen hat, zumal die Tote Jay verblüffend ähnlich sieht.

Wo ist Jay? Außer Mia, fragt sich das niemand. Die Freunde benehmen sich seltsam und scheinen etwas zu verbergen.

Auf der Suche nach Jay beginnt für Mia ein Albtraum. Sie wird in ein Netz aus Lügen und Intrigen verstrickt und muss sich fragen: Wer ist Freund, wer Feind? Nichts ist, wie es scheint …

»Wo ist Jay?« ist ein spannender Psychothriller, der einen alten Mordfall aus Aachen aufgreift und die Hintergründe seziert. Liebe, Lust, Neid und Hass führen zu einem fulminanten Ende, das Sie so schnell nicht vergessen werden.

Wer Freunde hat, sollte diesen spannenden Psychothriller unbedingt lesen…

Erste Pressestimme:

»Astrid Korten hat mit ihrem neuen Thriller Wo ist Jay? nicht nur einen spannungsgeladenen Roman geschaffen, in dem der Verrat an der Freundschaft wie ein Sturm durch das Buch nur so tost. Wo ist Jay? ist auch eine messerscharfe literarische Analyse eines Gesellschaftsphänomens: dem Verlust von Scham. So spannend, so traurig, dass wir froh sind, keine Antworten schreiben zu müssen, sondern nur mitlesen zu dürfen. Spannend und nervenzerreißend.«WAZ – Stadtspiegel

Jay tanzte einst zu Nothing Else Matters

Kümmert mich nie, was die anderen sagen. Interessiert mich nie, was für Spiele sie spielen. Kümmert mich nie, was die anderen tun. Kümmert mich nie, was die anderen wissen. So nah, egal, wie weit entfernt. Es könnte nicht stärker von Herzen kommen. Für immer darauf vertrauend, wer wir sind. Nichts anderes ist von Bedeutung.

Frei nach der Ballade Nothing Else Matters der Band Metallica.

Teil 1

Jay de Winter verschwand spurlos am Sonntag, den 6. November. Bis das Verbrechen aufgeklärt werden konnte, vergingen neunundzwanzig Tage. Für Jays Freunde existierten in dieser Zeit nur die Tage unmittelbar vor Jays Verschwinden und die danach.

Die Freunde:

Mia und Leon Becker, Laura und Thomas Weber, Hugo und Jay de Winter, Doreen Bärendorf, Falk Kerner.

Prolog

Mittwoch, 2. November 2016

Silly hatte direkt in sein Gesicht geblickt, und doch konnte sie sich später nicht mehr daran erinnern, wie er ausgesehen hatte. Außer dass er alte Wanderschuhe getragen hatte, wusste sie nichts. Alter, Hautfarbe, Haare, Augen, Größe, nichts, was auch im Entferntesten für eine Beschreibung in Erinnerung geblieben war.

Sie war im Stadtgarten an ihm vorbeigeradelt in Richtung Carolus Thermen. Es war Dienstag kurz vor Mitternacht gewesen. Sie kam aus der Alexanderstraße, wo sie im »Katzencafé Aachen« arbeitete. Als sie vor einem Jahr von Düren nach Aachen umgezogen war und noch außerhalb des Zentrums gewohnt hatte, war sie immer sehr vorsichtig gewesen. Sie radelte nie allein in der Dunkelheit durch die Stadt oder durch die vielen Stadtparks, achtete immer darauf, dass jemand sie begleitete, oder sie übernachtete bei Freunden. Ein Jahr später, ein Jahr, in dem nichts geschah und sie Vertrauen in die urbanen Stadtbewohner gewonnen hatte, fuhr sie mit dem Fahrrad, wohin sie wollte und auch wann sie wollte.

In dieser Nacht radelte sie im Stadtgarten am Kongressdenkmal vorbei, leicht beschwipst von zwei Gläsern Wein, die sie immer nach Dienstschluss trank. Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann gelenkt. Er stand regungslos da und beobachtete sie. Sie war es gewohnt, dass Männer sie anstarrten. Immer und überall spürte sie ihre gierigen Blicke, ob nun während der Arbeit im Restaurant oder auf der Straße. In der Regel machte sie sich lustig über sie, oder sie zuckte die Schultern.

Aber etwas in den Augen dieses Mannes machte sie nervös. Sie sollte später erklären, dass ihn eine unheimliche Aura umgeben hatte. Unbeschreibliche Liebe hatte in seinem Blick gelegen und dann plötzlich blanker Wahn oder eiskalter Hass, würde sie sagen, nachdem sie länger darüber nachgedacht hatte. Sie hatte sofort weggesehen. Dem nur keine Beachtung schenken. Ein Taxi wartete in unmittelbarer Nähe auf einen Fahrgast, das Restaurant Et Möffelsche hatte noch geöffnet. Sollte etwas geschehen, dann waren dort Menschen, die ihr helfen würden.

Einen Augenblick später hatte sie den Mann bereits aus ihrem Kopf verdrängt und Platz gemacht für erfreuliche Gedanken, wie an John, den jungen amerikanischen Studenten, mit dem sie kellnerte und der ihr unter die Haut ging. Er hatte ihr angeboten, sie nach Hause zu bringen. Sie hatte Nein gesagt. Nie zu schnell Ja sagen, hatte ihre Mutter ihr eingeflößt. Den Jagdtrieb noch eine Weile lang aufrechterhalten. Sie war eine Studentin, die nicht nur von diesen Dingen wusste, sondern dieses taktische Vorgehen auch erfolgreich einsetzte. Mit John in ihrem Kopf und den Beinen in den Pedalen, die wie von selbst ihre Runden drehten, näherte sie sich dem Ausgang des Stadtgartens.

Die nachfolgenden Ereignisse fanden innerhalb weniger Minuten statt, und doch würde sie sich an jedes Detail und ihre Reaktion darauf erinnern. Nur nicht an das Gesicht des Mannes. Sie fühlte, wie er von hinten an ihrem Pferdeschwanz zerrte. Seine Hand, ein eiserner Griff, die sich in ihr langes dunkles Haar grub. Sie drehte ihr Gesicht zu ihm und erkannte den Mann, der sie vor dem Kongressdenkmal mit einem sehnsuchtsvollen, seltsamen Blick angestarrt hatte. Sie wollte schreien. Doch kein Laut entwich ihrer Kehle.

Nachdem er das Fahrrad beiseitegetreten hatte, schlug er ihr mit der flachen Hand hart ins Gesicht. Er flüsterte Worte, die sie nicht verstand. Sie dachte an ihre Zähne, ihre schönen, ebenmäßigen Zähne, die nie eine Spange gesehen hatten und die keine einzige Lücke aufwiesen. Sie erinnerte sich nicht an die Schmerzen. Sehr wohl aber daran, dass sie von ihrem Fahrrad auf den Boden fiel und dachte: Das war’s dann. Sie hatte zwar über Vergewaltigungen, Morde oder Psychopathen gelesen, die wie aus dem Nichts kommend einen ahnungslosen Passanten grundlos angriffen, aber sie hatte nie glauben wollen, dass diese Dinge tatsächlich geschehen konnten. Und immer noch, während sie auf dem Boden lag, fragte sie sich, ob es eine Möglichkeit gab, der Realität zu entkommen oder sie zumindest eine Stunde zurückzudrehen.

Versuch aufzustehen, mein Kind, hörte sie ihre Mutter sagen.

Aber noch während sie sich bewegte, trat er ihr mit seinem abgewetzten Wanderschuh voll ins Gesicht. Sie schmeckte ein Gemisch von Dreck und Blut. Wieder zischte er etwas Seltsames. Sie verstand es nicht.

Sie versuchte, sich mit ihren Händen zu schützen, aber sein Fuß war schneller. Sie hörte, wie die Knochen in ihrem Gesicht zerbrachen, ein Geräusch wie das Brechen von Karotten oder Bambusstäbchen.

Schrei, mein Mädchen. Wenn du angegriffen wirst, musst du jede Menge Lärm verursachen.

»Mama …« Nur ein Flüstern.

Ihre Stimme klang zu rau, zu kraftlos. Im Notfall kann man besser Feuer oder Hilfe rufen, hatte sie irgendwo gelesen. Allerdings war sie nicht mehr in der Lage, Wörter zu bilden. Außerdem wäre es lächerlich, jetzt Feuer zu rufen. Also erzeugte sie weiterhin diese seltsamen Geräusche, die von irgendwo tief aus ihrem Inneren kamen.

»Mama, hilf mir … Mama!«

Ein weiterer Tritt. Dann schien er zu zögern und sagte: »Tut mir leid.«

Tut mir leid?

Er trat einen Schritt zurück. Vielleicht war er zur Besinnung gekommen. Durch ihre Wimpern sah sie, wie er sich mit leerem Blick über sie beugte. Sie überlegte, ob sie aufstehen sollte. Aber dann hörte sie, wie sich seine Atmung beschleunigte. Sauerstoff, der wütend eingeatmet wurde.

Was habe ich dir getan?

Sein Fuß traf sie jetzt am Bauch. Dann trat er ihr in den Brustkorb, in den Bauch und immer wieder ins Gesicht. Sie verspürte keine Schmerzen mehr. Mit jedem Tritt sagte er etwas. Oder hatte er gesungen? Sie wusste es nicht mehr.

Er wird dich bewusstlos schlagen, mein Kind, warnte ihre Mutter sie, er wird dich in das dunkle Gebüsch ziehen und dich vergewaltigen.

Er trat weiter. Sie umwölkte der Nebel, dann tauchte sie in die Dämmerung ab. Einen Moment lang nichts. Dann nur das schmutzige Pflaster. Aus ihrem Mund wollten keine Geräusche mehr kommen. Nur zähes, dickflüssiges Blut. Hilfe suchend hob sie einen Arm. Er trat ihn nieder, zog sie wie eine Puppe in die Dunkelheit.

Im Gebüsch kuschelte er sich auf dem schmutzigen Boden an sie, mit einer fast zärtlichen Geste strich er über ihr Haar. Er richtete sich ein wenig auf, hielt seinen Kopf schief und kauerte sich zu ihren Füßen hin und sprach mit ihr.

Plötzlich stand er auf und trat ein letztes Mal auf sie ein … und sang. Silly war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob das singende Ungeheuer ein Mann war. Es könnte auch eine Frau in Männerkleidung sein. Die Stimme irritierte sie.

Kling … klang … sing … sang …

Wenn du das hier überlebst, wirst du nie mehr dieselbe sein, hörte sie ihre Mutter flüstern.

Nebel umhüllte sie, nahm ihr die Sicht. Das Leben war irgendwo in diesen dicken, nassen Schleiern verschwunden. Das Rauschen der Bäume verebbte. Wie ein Lufthauch umfing sie die Schwärze.

Kapitel 1

Dienstag, 8. November 2016

Dunkelheit hat sich über den Hangeweiher gelegt. Ich kann die Hand nicht mehr vor meinen Augen sehen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich bereits seit anderthalb Stunden im Kaiser-Friedrich-Park jogge. Bob läuft hinter mir her – ein betagter Bobtail mit einem zotteligen Fell, das mich an den alten, abgetragenen Pelzmantel meiner Großmutter erinnert.

Der heftige Gegenwind erschwert mir das Atmen, mein Gesicht ist vor Kälte erstarrt. Ich bereue, dass ich Leons alte Windjacke nicht entsorgt habe. Sie ist nicht mehr dicht. Dennoch laufe ich weiter und weiter. Tränen rinnen über meine Wangen. Das Weinen fällt mir leichter, jetzt, da ich den Wind dafür verantwortlich machen kann.

Ob Leon sich über mein Fernbleiben wundert? Oder sich vielleicht um mich sorgt? Zumindest werden die Zwillinge meine Abwesenheit schamlos ausnutzen und sich vor dem Schlafengehen drücken. Esther und Benny wünschen, dass ich ihnen jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte vorlese, obwohl sie mittlerweile selbst lesen können. Aber heute wird Leon auf dem Rand des Etagenbettes sitzen und das Vorlesen übernehmen müssen. Die Kids werden ihn ermahnen, sobald er einen falschen Ton anschlägt. Von mir erwarten sie obendrein, dass ich die Schürfwunden an ihren Knien mit Pflastern und gezielten Küssen verarzte und die Geister unter dem Etagenbett mit meinem bewährten Zauberspruch verjage.

Ich hätte nie gedacht, dass aus mir einmal eine gute Mutter wird, aber ich erweise mich als Naturtalent. Alles andere im Leben habe ich mir hart erarbeitet. Keine Farce, nein, das ist eine Tatsache! Ich habe viel erreicht und werde auch diesen Sturm überstehen.

Etwas außer Atem bleibe ich stehen und drehe mich nach Bob um. Der Hund wedelt mit seinem Schwanz und sieht mich fragend an.

»Okay, Bob. Wir laufen jetzt sieben kleine Meter zum Parkplatz zurück, sonst erkältest du dich noch.«

Sieben kleine Meter. Damit habe ich auch die Kids immer gelockt, wenn ihnen ein Spaziergang durch den Wald zu lang wurde. Kleiner Meter. Ich tippe mir an die Stirn und grinse. Es gibt keine kleinen oder großen Meter.

Mit dem Wind im Rücken fällt mir das Laufen leichter. Das Mondlicht hängt blass und geisterhaft über mir. Der böige Wind lässt das Herbstlaub tänzeln. Tote Zweige rascheln und flüstern: Lauf, Mia, lauf!

Plötzlich bleibt Bob wenige Meter vor dem Parkplatz stehen, zieht die Lefzen hoch und knurrt. Ich lege meine Hand in sein gesträubtes Nackenhaar. In der Ferne springt ein Motor an. Eine Staubwolke steigt auf. Ich bin nicht die Einzige, die in dieser Nacht unterwegs ist. Als die Scheinwerfer des Wagens mich kurz erfassen, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.

Nur noch wenige Schritte bis zum Wagen. Ich sehe mich um. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, einen Schatten wahrzunehmen. Ich sehe noch einmal hin. Nichts.

Warum überfällt mich neuerdings immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden? Verdammt, wer kennt sich schon mit einer Psyche aus. Eilig laufe ich auf meinen schwarzen Renault Kangoo zu, der einsam auf dem unbeleuchteten Parkplatz steht und kaum zu sehen ist.

Im Sommer ist dieser Ort überfüllt. Sobald die Touristen mitsamt ihren bunten Plastikflipflops nach Hause gefahren sind, gehört der Park wieder mir. Nur in diesem Winter ist alles so anders, so fremd. Ich öffne die Heckklappe meines Wagens. Bob springt hinein, dreht eine Runde und legt sich auf seine karierte Wolldecke.

Plötzlich vernehme ich Schritte. Alarmiert fahre ich herum. Mir wird heiß und kalt, mein Gaumen ist trocken und meine Kehle wie zugeschnürt. Doch da ist nichts. Kein Psychopath mit weit aufgerissenen Augen, böse und blutbesudelt. Keine masturbierende Kreatur. Ich habe mir die Schritte nur eingebildet. Ein nervöses Kichern entschlüpft meiner Kehle. Wie verrückt ein Lachen in der Dunkelheit klingt.

So verrückt wie meine Hirngespinste!

Ich steige ins Auto, stecke den Schlüssel ins Schloss und atme tief ein und aus. Mit meinem Blick fixiere ich einen Klecks Vogeldreck auf der Frontscheibe. Eine Autowäsche ist überfällig, schießt es mir durch den Kopf. Ich seufze. Wenn ich jetzt eine Liste von all den Dingen erstellen würde, die ich erledigen muss, säße ich noch morgen früh im Wagen. Ganz oben auf dieser Liste würde Leon stehen. Leon und Mia. Wie immer seit meiner Fehlgeburt vor einem Jahr. Ich weiß es, und Leon weiß es, obwohl er es leugnen wird. Wie gern hätte ich noch einmal das unablässige Purzeln eines Babys in mir gespürt und es am Daumen nuckelnd im Ultraschall gesehen. Wie gern hätte ich unserem Baby etwas Schönes erzählt. Und wie ich das wollte. So sehr. Da! Der Schmerz kommt hoch, der latent immer da ist, eine Verwirrung, wie nur eine Mutter sie erfahren kann, die ihr Baby verloren hat.

Meine Gefühle für Leon werden erneut auf den Prüfstand gestellt. Leon, der Hardliner, der Manager, der Langstreckenläufer. So konsequent, wie er seine täglichen Kilometer läuft, so konsequent rennt er vor unseren Problemen davon. Wir geben uns große Mühe, der Außenwelt vorzumachen, dass alles in Ordnung wäre.

Ich habe das Gefühl, Leon sollte etwas sagen. Unbedingt. Zugleich empfinde ich sein Schweigen als untröstlich, es ist ein Kokon, in den er sich seit Jahren einspinnt. Wie sonst auch. Das ist sein Ding.

Was denkst du? Erzähl! Warum muss immer nur ich reden?

Wenn ich so was sage, zuckt er normalerweise die Achseln und wendet sich ab. Leon ist immer ruhig gewesen, zurückhaltend, und das frisst schon seit Jahren an mir. Manchmal macht es mir sogar Angst. Da ist etwas in ihm, das ich nicht greifen kann.

Es ist still in unserem Haus. Mir sind die Worte ausgegangen. Manchmal sagt Gar-nichts-Sagen alles.

Aber heute Abend werde ich ihm unmissverständlich klarmachen, dass ich nicht mehr bereit bin, dieses Spiel fortzusetzen. Doch warum fürchte ich mich so vor dem Gespräch? Ist es, weil ich glaube, nicht mit, aber auch nicht ohne ihn leben zu können? Trotz seiner einundvierzig Jahre kommt Leon mir manchmal wie ein kleiner, trotziger Junge vor, den ich vor der Außenwelt beschützen muss.

Trennung. Das Wort hat sich unlängst in mein Hirn gebrannt, obwohl ich es nicht auszusprechen wage. Ich lege in Gedanken einen Letterkasten an. Mein erstes Wort: Trennung. Ich verbinde es mit einer Ehe in einem Haus voller Geister: Erinnerungen an Freundlichkeit, Liebe, Trost, glückliche Stunden und bis vor einem Jahr eine Quelle der Kraft. Leon und ich sind seit unserer Studienzeit ein Paar, und seit der Geburt der Zwillinge ist eine Trennung – moralisch betrachtet – eine verwerfliche Angelegenheit. Leon und Mia, zwei vernünftige Menschen, die keine verrückten Sachen machen, wie sich scheiden zu lassen, sage ich mir immer wieder. Wir werden unsere Kinder nicht dem Trauma eines Scheidungskrieges aussetzen.

Das Problem ist, dass ich immer alles vor meinem inneren Auge ablaufen sehe. Leon, allein in unserem chaotischen Haus, umgeben vom Mobiliar, das wir gemeinsam gekauft haben. Im Laufe der Zeit hat sich das Holz der Küchenbank und der Stühle verfärbt. Der Stoff der Sitzflächen hat Flecken, die sich nicht mehr entfernen lassen. Aber wir werden sie niemals austauschen. Wir leben mit dem verblassten Holz und den verschmutzten Bezügen.

Tränen rinnen über meine Wangen. Die Vorstellung von Leon, einsam und verlassen auf dem alten Sofa, raubt mir den Verstand. Ich starre in die Finsternis. Bilde ich es mir nur ein, dass ein Sturm aufzieht, sobald ich eine Trennung in Erwägung ziehe? Das Blut rauscht in meinen Ohren, ich zittere vor Kälte.

Zähneklappernd knöpfe ich meine Jacke zu und schalte das Heizungsgebläse auf Hochtouren. Das blaue Duftbäumchen, das Jay in Großbuchstaben signiert hat, baumelt wild vom Rückspiegel herunter. Ich greife nach meiner Handtasche auf der Rückbank und krame nach meinem Smartphone. Ich muss einfach mit jemandem reden, ein Gespräch wird meinen Kopf frei machen. Nachdem ich die Seitenfächer durchsucht habe, kippe ich den Inhalt der Tasche auf den Beifahrersitz. Einen Moment starre ich auf das Stillleben aus Quittungen, einer Einkaufsliste, einem verirrten Kinderhandschuh, einem Lippenstift, den ich noch nie benutzt habe, einem Kugelschreiber, einer Tüte Smarties und einem Päckchen Tempotaschentücher. Mittendrin liegt mein Smartphone. Das Display zeigt fünf verpasste Anrufe von Leon. Nein! Jetzt nicht! Ich drücke die Vier, unter der Jays Rufnummer gespeichert ist.

Das jährliche Girlfriends-Wochenende mit Jay liegt hinter mir. Tagsüber haben wir ausgedehnte Spaziergänge unternommen oder die Winzer in der Gegend besucht. Wir lieben Weinproben. In unserem Hotelzimmer redeten wir bis spät in die Nacht, wie Teenager. Dort erzählte ich Jay auch zum ersten Mal von meinen Eheproblemen. Bei ihr kann ich bedenkenlos über alles sprechen, was mich bedrückt, und mich einfach fallen lassen.

»Shit happens, Mia«, hatte Jay nur gesagt. Dann ließ sie mir ein Bad ein, zündete Duftkerzen an und stellte zwei Gläser Prosecco auf den Badewannenrand. Ich wurde wie ein kleines Kind ausgezogen. Sie gesellte sich zu mir und munterte mich im nach Rosen duftenden, wohltemperierten Wasser auf. Die trüben Gedanken verflüchtigten sich im Nu. Als Studenten hatten wir immer dann gemeinsam gebadet, wenn das Studium, die Dinge des Alltags oder ein Mann uns zermürbten. An solchen Abenden lachten wir, tranken und lästerten über Männer und Freunde, wie auch an diesem Wochenende. Wir stiegen erst aus der Wanne, wenn die Haut völlig aufgeweicht und das Wasser abgekühlt war. Nichts konnte die Intimität eines gemeinsamen Bades übertreffen. Das war es, was meine Freundschaft mit Jay ausmachte, eine Intimität, die für Dritte unzugänglich war.

Mit Leon hatte ich noch nie gemeinsam ein Bad genommen. Einen Mangel an erotischen Spielchen unter der Dusche hatte es allerdings nicht gegeben. Aber Sex und eine auf wahrer Freundschaft basierende Intimität haben nichts miteinander gemein.

»Mia, du musst eine Entscheidung treffen, und wie immer sie auch ausfallen wird, es nimmt ein gutes Ende. Shit happens. Aber alles wird gut«, hatte Jay gesagt. Entscheidung ist mein zweites Wort.

Unerschrocken war ein Wort, das Jay neuerdings gern benutzte. »Ja, das bist du, Mia. Mutig und unerschrocken.« Wort drei und vier für meinen Letterkasten.

Jays Voicemail meldet sich und holt mich aus meinen Gedanken zurück. Ich hinterlasse keine Nachricht, da ich befürchte, dass Jay meine Schwermut womöglich als Depression deuten wird.

Ich lasse den Motor an, blicke kurz in den Rückspiegel, trete das Gaspedal durch und schieße mit quietschenden Reifen davon, ohne noch einmal zurückzusehen.

»Verdammt, Leon!«, schluchze ich.

Leon steht an der Garagenauffahrt und erwartet mich mit einem besorgten Gesichtsausdruck. Die Stirn über den schweren Augenbrauen in Falten, hält er den Oberkörper gekrümmt, als wäre er bereit für den ersten Schlag. Trotz der Kälte trägt er keinen Mantel.

Ich parke den Renault vor dem Garagentor. Durch das Seitenfenster treffen sich unsere Blicke. Ich erwidere seinen stummen Gruß, den mir seine blauen Augen vermitteln, mit einem knappen Nicken.

Plötzlich übermannt mich eine tiefe Erschöpfung. Vielleicht ist es keine gute Idee, heute Abend ein klärendes Gespräch zu führen. Morgen ist auch noch ein Tag. Womöglich werde ich in Tränen ausbrechen, und das ist das Letzte, was ich will. Denn immer, wenn ich im Beisein von Leon weine, verstummt er.

Jay machte sich gern über mich lustig, weil ich als Leons Partnerin weder einen ehebrecherischen Kuss ausgetauscht noch eine Affäre begonnen habe. Meine männlichen Kollegen zeigten während des monatlichen Stammtisches der Tierärzte zwar Interesse, aber ich bevorzuge einen jovialen Umgang und halte die Männer damit auf Abstand. Sicheres Parkett. Lieber ein Schulterklopfen als eine erotisch angehauchte Berührung. Die erotische Spannung schmilzt schnell dahin, was übrig bleibt, ist gegenseitige Wertschätzung. So ist es immer gewesen.

Einmal, bei einem Glas Wein, sprach ich mit Jay darüber. Sie verschluckte sich prompt. »Oh, Mia! Wertschätzung? Dass ich nicht lache«, keuchte sie. »Eine Frau möchte begehrt werden und Beifall ernten.«

Jay hat schon einige Trennungsdramen hinter sich, aber ich weiß nicht, ob und wann der richtige Zeitpunkt für eine Trennung kommt und wie ich Leon verlassen soll. In Jays Augen ist das ein echtes Manko.

Leon steht noch immer regungslos neben dem Wagen. Ich steige aus und krame in meiner Jackentasche nach dem Autoschlüssel.

»Im Zündschloss«, sagt Leon knapp.

In der Tat, du Mistkerl. Ich greife nach dem Schlüssel, schlage die Tür hinter mir zu und öffne die Heckklappe. Bob springt heraus und läuft auf das Wohnhaus zu. Auf einmal bleibt er stehen, als hätte er es sich anders überlegt, und kommt auf mich zu.

Ein Windstoß zerrt an meinen Locken. Ich zittere vor Kälte und Erschöpfung. Leons farblose Lippen zeigen mir, dass er ebenfalls friert.

»Leon …«

»Ich muss dir etwas sagen, Mia«, unterbricht er mich.

Das Atmen fällt mir plötzlich schwer.

»Mia?« Er klingt zögerlich.

Ich starre auf meine weißen Joggingschuhe. »Bitte, bitte sag nichts. Für eine Predigt bin ich absolut nicht in Stimmung. Lass uns ins Haus gehen. Ich bin erschöpft.«

Mit einem Mal befürchte ich, dass er meine Gedanken aussprechen wird. Vielleicht hat er beschlossen, dass eine Trennung das Beste für uns beide wäre.

»Hast du es schon gehört?«, fragt Leon.

»Was?« Ich versuche, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Was soll ich gehört haben?«

Leon blickt mich liebevoll und zugleich besorgt an, als würde er eines der Kinder ansehen, nachdem es sich beim Spielen verletzt hat. »Jay ist verschwunden.«

Verschwunden? Mein Herz stolpert. Vergewaltigt, entführt … getötet? Absurd! »Wie meinst du das?«

»Sie ist weg. Hugo hat angerufen.«

»Aber …« Mein Gehirn verarbeitet seine Worte nur mit Mühe. »Wie bitte?«

»Jay hat Hugo eine Nachricht hinterlassen und anschließend wohl ihr Handy ausgeschaltet.«

»Was meinst du mit weg? Wohin ist sie denn gegangen?«

»Das weiß keiner. Jay hat Hugo verlassen«, er seufzt, »und die Kinder.«

Mit einem Lächeln verberge ich mein Entsetzen. »Das kann nicht sein. Nein. Das würde Jay niemals tun!« Ich bin empört.

»Ich habe die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen. Wo in Gottes Namen hast du gesteckt, Mia? Warum bist du nicht an dein Handy gegangen?«

Ich starre auf sein Brustbein, den Blick auf vereinzelte Härchen geheftet. Er hätte wenigstens sein Hemd zuknöpfen und sich einen Schal umbinden können. Tagtäglich ermahne ich die Kids, sich bei der Kälte wärmer anzuziehen, und ihr Vater steht da, als bewürbe er sich um eine Lungenentzündung.

»Ich war im Kaiser-Friedrich-Park joggen.«

»Aha. Du warst also joggen, während wir uns die größten Sorgen gemacht haben. Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Nein, keine Ahnung. Spät, vermutlich.«

»Zu spät«, sagt er grimmig.

Ich versuche, die Situation zu analysieren. Jay soll ihren Mann verlassen und die Kinder nicht mitgenommen haben? Als würde Jay jemals Pixie und Nora im Stich lassen. Außerdem würde sie Hugo niemals verlassen. Die beiden führen eine beneidenswert gute Ehe und sind glücklich. Mir wäre aufgefallen, wenn Jay eine Trennung geplant hätte. Meine Freundin hätte es am Wochenende sicher erwähnt, nachdem ich ihr mein Herz ausgeschüttet hatte. Wohin also ist sie gegangen?

Vielleicht hat Jay versucht, mich anzurufen. Ich greife nach meinem Handy und prüfe die Nachrichten. Doch da sind nur die Anrufe von Leon. Vielleicht hat sie ihr Handy ausgeschaltet, weil sie befürchtet, dass sie schwach werden und es sich anders überlegen könnte, sobald Hugo sie anruft. Was geht einer Frau durch den Kopf, die beabsichtigt, Mann und Kinder zu verlassen. Nein! Es ist undenkbar. Niemals ist Jay dazu fähig.

Ironie des Schicksals. Meine Lider flattern. Jay hat mir mit ihrem Verschwinden den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich kann heute Abend wohl kaum mit Leon über unsere Eheprobleme sprechen. Was gäbe es unter diesen Umständen schon zu sagen? Leon, wo wir beim Thema Trennung sind …

Bravo, Mia!Wieder mache ich einen Rückzieher. Feigling! Mir wird bewusst, dass ich wie eine Idiotin lächle, mitten auf dem Gartenpfad, während der eisige Wind mich küsst.

»Weißt du vielleicht, wo sie ist?«, fragt Leon argwöhnisch.

Es dauert ein paar Sekunden, bis ich realisiere, was er meint. »Nein.«

»Mia, wenn du etwas weißt, musst du es sagen. Hugo ist außer sich. Unsere Freunde verstehen es auch nicht. Niemand versteht es.«

Mein Herz setzt eine Sekunde aus. Früher oder später wird Jay mich zweifellos anrufen. Der Vorfall wird sich als schlechter Scherz herausstellen, nicht annähernd so schlimm, wie es jetzt den Anschein hat. Ich kenne meine Freundin. Jay wird mir und den anderen die Geschichte wie ein angenehm duftendes Gericht auftischen und mit unseren Freunden teilen. Wie immer werden wir ihr auch diesen Scherz verzeihen.

»Ich habe keine Ahnung, wo Jay ist«, erwidere ich dennoch. »Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Ihr habt das ganze Wochenende miteinander verbracht. Ich nehme doch stark an, dass sie dir etwas von ihren Plänen erzählt hat.«

»Nein, hat sie nicht.«

Leon ballt eine Faust. »Warte, lass mich raten. Du hast Jay versprochen, den Mund zu halten.«

Ich erstarre. Seltsam! Da ist er wieder. Dieser Tonfall, sobald von Jay die Rede ist, als würde er sie hassen. »Du glaubst mir nicht? Komm schon, Leon. Ich weiß, es ist merkwürdig, dass Jay mir ihre Pläne verschwiegen hat. Aber sie hat mir nichts gesagt.«

Er wirft mir einen Blick voll Misstrauen entgegen. »Ja, sehr seltsam.«

Einen Moment lang herrscht eisiges Schweigen. Leon ist ein Mann, der ständig kalkuliert und abwägt. Eine Situation wie diese überfordert ihn.

»Es ist kalt.« Mein Atem bildet blasse Nebelschwaden. »Gehen wir rein.«

Leon dreht sich abrupt um. Er läuft über den Rasen zur Haustür. Ich tue es ihm nach. Das Gefühl einer vergeudeten Chance ist für mich fast genauso unerträglich wie Jays plötzliches Verschwinden. Ich fühle mich beschädigt, isoliert, machtlos. Das Leben wird nie wieder so sein wie zuvor.

»Schlafen die Kinder schon?« Meine Stimme zittert.

»Ja!«, antwortet er, ohne sich umzudrehen. »Sie haben von alldem noch nichts mitbekommen.«

»Gott sei Dank!«

Obwohl es stockfinster ist, steckt Leon umstandslos den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Haustür. Bob trottet hinter ihm her. Ich schließe leise die Tür hinter mir und schiebe den Riegel vor.

Plötzlich lässt mich ein Geräusch aufhorchen. Ein leises Atmen? Es kommt aus der Küche. Leon ist im oberen Stockwerk. Es muss also noch jemand im Haus sein. Ich höre, wie die Tür zur Terrasse ins Schloss fällt.

In der Küche sehe ich aus dem Fenster in den Garten. Nichts. Nur Sträucher. Bäume. Und ein gelber Nachtfalter. Am schwarzen Nachthimmel leuchten die pulsierenden Punkte eines Flugzeuges auf. Vielleicht ist es nur der Wind gewesen.

Kapitel 2

Hugo – Sechs Tage davor

Die Mädchen wurden immer ungeduldiger. Obwohl sie hungrig waren, liefen sie wieder und wieder zum Küchenfenster und hielten nach dem Auto ihrer Mutter Ausschau. »Wo bleibt Mama?«, stellten sie immer wieder dieselbe Frage.

»Mama ist bald da«, antwortete er inzwischen knapp.

Mama verhielt sich mal wieder egoistisch. Mama machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Familie anzurufen, um zu sagen, dass es später werden würde. Mama ließ Papa mit dem Abendessen sitzen. Deshalb hatte Papa Lust, ihr zur Begrüßung das Abendessen an den Kopf zu werfen. Sie würde sich vermutlich totlachen und ihn mit ihrem Lachen anstecken. Darin lag exakt das Problem mit seiner Frau. Er konnte einfach nicht wütend auf Jay sein, obwohl er sich die größte Mühe gab.

Er hatte den Tennisplatz für abends halb neun reserviert. Die Uhr des Backofens, in dem der Fisch garte, ließ keinen Zweifel aufkommen. Er würde das Tennismatch mit Leon absagen müssen. Noch länger auf Jay zu warten, war keine Option. Er würde mit den Mädchen zu Abend essen. Sie zeitig ins Bett zu bringen, hatte er in den letzten Tagen nicht einmal geschafft, weil Jay neuerdings ständig spät heimkam.

Er räusperte sich und wählte Leons Handynummer. Mit der Wahl ihrer Festnetznummer hätte er womöglich Mia in der Leitung gehabt, und der Gedanke behagte ihm nicht. Er wollte, dass Jay wusste, wie er über ihr ständiges Zuspätkommen dachte, aber nicht mit Mia als Botschafterin. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel und erzählten sich alles. Für Jay stand fest, dass sie Mia aus einem früheren Leben kannte.

»Als was seid ihr euch begegnet?«, hänselte er seine Frau dann. »Als Hausangestellte, Totengräberinnen, Garnelenpulerinnen oder hagere Mütter, die ihren unterernährten Kindern die hungrigen Mäuler stopfen mussten?«

Er kannte Jays Antwort. Sie seien zwei adlige, wohlhabende Damen gewesen, die sich auf dem Kanapee – soweit es ihr Korsett erlaubte – niederließen, um sich über die neuesten Affären und Verwicklungen in den höheren Kreisen auszutauschen. Was zur Hölle sollte er darauf erwidern? Über diese Dinge dachten nur Frauen nach. Es gab kein Vorleben. Neulich hatten Jay und Mia einen Guru besucht, um sich mittels Hypnose in ein früheres Leben rückführen zu lassen. Freundinnen sollten wissen, was sie seit Jahrhunderten verband, hatte Jay die Fünfhundert-Euro-Stunde begründet. Die Nicht-Varianz war das Wesen der Wissenschaft. Game over. Keine Freundschaft während der Französischen Revolution.

Während er mit einer Hand die gekochten Kartoffeln zu Püree stampfte, hielt er das Handy an sein Ohr. »Hallo, Hugo hier.«

»Hugo«, begrüßte ihn Leon am anderen Ende der Leitung. »Wann kommst du?«

Er erklärte seinem Freund die Situation und beendete wenig später das Gespräch.

Dann nahm er den Fisch aus dem Backofen. »Hey, ihr Rabauken. An den Tisch!«

Pixie starrte den Teller ihrer Mutter an. »Aber Mama?«

»Kein Aber Mama«, erwiderte er. »Wir essen jetzt.«

Die Mädchen setzten sich. Den Fisch rührten sie nicht an, den Kartoffelbrei aßen sie mit Widerwillen. Irritiert sah er seinen Kindern zu und dachte, dass er ihnen ebenso eine aufgewärmte Dose Hundefutter hätte vorsetzen können. »Es ist immer das Gleiche mit euch. Esst jetzt, Herrgott noch mal!«

Pixie blickte erschrocken hoch. Hugo wusste, was sie ihm sagen wollten. Du darfst nicht fluchen. Als sie wohl erkannte, wie wütend er war, änderte sie anscheinend ihre Meinung. Rasch nahm sie einen Bissen und kaute den Fisch.

Schuldgefühle entflammten in Hugo. Er verlor in letzter Zeit immer öfter die Fassung und herrschte die Kinder an. Er hatte seine Töchter bereits jetzt als Erwachsene vor Augen: in schwarzen Roben, mit Piercings gespickt, durch Asien trampend. Sie hatten Freunde, die sich Thor und Waldemar nannten und mit denen sie Prembodhi-Karten legten oder zum Santoshi konvertierten, und von ihrem Dad wollten sie sowieso nichts mehr wissen.

Pixie quetschte mit einem großen Schwall zu viel Ketchup aus der Plastikflasche. Hugo schwieg und sah Nora an. Wenn Pixie mit sechs Kartoffelbrei mit Ketchup aß, dann wollte die drei Jahre jüngere Nora das gewiss auch.

Und schon griff Nora nach der Flasche und quetschte den Ketchup unbekümmert auf die Tischdecke.

Er seufzte. »Auf den Teller, Nora, nicht daneben.«

Nora strahlte ihn an, als hätte er seiner Tochter soeben ein großes Kompliment gemacht. Das Chaos nahm seinen Lauf. Die Teller wurden über den Tisch hin und her geschoben, und als krönenden Abschluss tunkte Pixie ihren Zeigefinger in die Ketchuplache und zeichnete ein Gesicht auf die Tischdecke. Nora kreischte vor Vergnügen. Selbst Hugo musste lachen.

»Mein Schätzchen«, sagte er.

»Mein Schätzchen«, imitierte Pixie ihn, hielt den Kopf dabei ein wenig schräg, zog die Augenbrauen leicht hoch, wobei ihre rechte Wange ein Grübchen zeigte, das er von Jay kannte und das sich nur in Momenten aufrechter Freude blicken ließ.

Wo blieb Jay? Noch einmal versuchte er, sie auf ihrem Mobiltelefon zu erreichen, aber es antwortete nur die Voicemail. Pixie starrte das Handy an, als würde sie mit ihrem Blick den Klang der Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung einfangen können.

Jay hatte versprochen, nach Dienstschluss sofort nach Hause zu kommen, aber hinter dem Zeichenbrett vergaß sie neuerdings gern die Uhrzeit. Warum ignorierte sie heute sogar seinen Anruf? Es war sein Sportabend, das wusste sie. Er nahm ja auch Rücksicht auf ihre Freizeitaktivitäten. So schwer konnte das doch nicht sein.

Pixie starrte ihn an und dann auf seinen unberührten Teller. Rasch nahm er einen Bissen. Der Fisch war zu trocken, und dem Kartoffelbrei fehlte es an Konsistenz und Würze.

»Reich mir bitte mal den Ketchup, Pixie.« Ein Fehler. Die Pampe spritzte über die Manschette seines Hemdes.

»Oh, Papa!« Pixie hielt ihre Hand vor den Mund.

»Oh, Papa!«, ahmte Nora ihre Schwester nach.

»Ja, ich weiß, euer Papa benimmt sich heute Abend ein wenig seltsam.«

Nora kicherte.

»Dürfen wir jetzt fernsehen?«, fragte Pixie und rutschte von ihrem Stuhl, ohne seine Antwort abzuwarten. Nora lief hinter ihrer Schwester her, die die Fernbedienung bereits in der Hand hielt. Lärm erfüllte das Wohnzimmer. Pixie war zwar zu alt für die Teletubbies, aber sobald sie sich mit ihrer kleinen Schwester die DVD ansah, wurde auch sie wieder drei Jahre alt.

»Oh, oh!«, quietsche Nora vergnügt.

»Pixie! Zehn Minuten und dann Abmarsch ins Bett.«

»Ja, Papa«, antwortete sie fröhlich, den Daumen im Mund.

Daumen lutschen, eine andere Sache, die er ihr versucht hatte, abzugewöhnen, aber Jay unterstützte seine Bemühungen nicht im Geringsten. Sie hätte früher auch den Daumen genommen, und ihre Zähne konnten sich trotzdem sehen lassen.

Hugo rührte mit der Gabel den Ketchup unter den Brei und stocherte im kalten Fisch herum. Wieso behauptete Jay, dass Ketchup einen Wirkstoff gegen Krebs enthielt und gesund sei? Er konnte dem roten Zeug nichts abgewinnen.

Er war, seit Pixie heute um sechs angefangen hatte, in ihrem Bett Nikolauslieder zu singen, auf den Beinen. Nachdem er Nora in den Kindergarten und Pixie in die Schule gebracht hatte, hatte er sich endlich seiner Arbeit widmen wollen. Seit Pixies Geburt arbeitete er zu Hause. Zunächst hatte er geglaubt, es wäre eine pragmatische Zwischenlösung. Zu pragmatisch, wie sich inzwischen herausgestellt hatte. Mittlerweile war er seit sechs Jahren zu Hause. Er wäre doch immer da, argumentierte Jay, er könne die Kinder in die Kita oder zur Schule bringen, sie abholen, zwischendurch die Wäsche waschen, die Einkäufe erledigen, die Pakete von der hübschen Briefträgerin entgegennehmen, dem Klempner die Tür öffnen. Unzählige kleine Dinge regeln, die alles in allem seine Zeit und seine Energie aufbrauchten. Sein Ein-Mann-Software-Unternehmen war klein und rentabel, aber er war zu umtriebig, um den Erfolg genießen zu können. Auch heute war er nicht zum Programmieren gekommen. Die Zeit raste ihm davon. Sein Entertainment hatte heute darin bestanden, Pixie und Nora abzuholen und danach mit den Mädchen zu backen. Voller Erfolg. Bravo! Die Kekse waren verbrannt, Nora hatte gekichert und dabei so niedlich ausgesehen, dass er seiner Süßen zuliebe das Zeug runterwürgte.

Pixie hatte das Desaster als Zeichnung festgehalten: Papa, Nora, Pixie und die angebrannten Kekse, um das Kunstwerk ihrer Mutter zu zeigen. Wo blieb Jay nur?

Hugo schob die Teller beiseite. Vergeblich versuchte er, sich auf die Tageszeitung zu konzentrieren. Die Mädchen lagen mal wieder zu spät in ihren Betten, weil er ihnen nach dem Fernsehen ein Kapitel mehr als gewöhnlich vorgelesen hatte – alles der Schuldgefühle wegen.

Er hörte, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wurde. Er blickte auf die mit Ketchup bekleckerte Tischdecke, die mit Ketchup verschmierten Teller, den Topf mit dem Kartoffelbrei und die misslungene Fischplatte. Noch immer erfüllte der Lärm der Teletubbies den Raum.

»Na, das nenne ich Bildungsfernsehen.« Jay schmiegte ihre Wange an die seine und umarmte ihn.

Hugo reagierte nicht, sondern fuchtelte wild mit der Fernbedienung herum, bis es ihm gelang, den Fernseher auszuschalten. Achtlos warf Jay ihre Sachen über den Stuhl, setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und versuchte, seine Hand zu nehmen, aber er entzog sich ihr.

»Hugo, komm schon. Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin, ich konnte nicht anders. Wirklich.«

Er schwieg.

»Wir mussten einen Entwurf präsentieren. Ich wollte anrufen, aber es gab so viel zu tun. Harold kam erst kurz vor Feierabend damit an. Ich fand es auch ärgerlich.«

Jay war Seniordesignerin in einer Agentur, die Industrieverpackungen entwarf. Sie hatte den Job vor drei Jahren bekommen. Harold, ihr Boss, erwartete, dass sie alles gab, was sie auch bis heute mit Hingabe tat.

»Erspar mir die Details«, schnaubte Hugo. »Heute ist Donnerstag. Mein Sportabend, den du nicht mehr vergessen wolltest. Weißt du noch, was du mir vergangene Woche versprochen hast? Wirklich, wirklich, ich verspreche es, Hugo, ich schwöre, bei meiner toten Großmutter, ab sofort werde ich pünktlich sein.« Er hasste sich, wenn er Jay nachahmte.

Sie errötete. Verdammt, was war sie doch für eine schöne Frau, wenn sich ihre Wangen rosig färbten und ihr Gesicht wie das eines Teenagers schimmerte.

»Shit, oh, entschuldige, Hugo. Ich bin ein Dummkopf. Ich …«

»Lass nur. Wir haben dieses Gespräch zu oft geführt.«

»Du könntest doch jetzt noch zum Tennis gehen.«

»Ich habe Leon abgesagt. Außerdem ist der Platz jetzt anderweitig vergeben. Verdammt, Jay!«

Sie beugte sich nach vorn und schnupperte an der Platte. »Hm, riecht gut, dein Fisch.«

»Kalter Fisch«, knurrte er.

Unbeirrt vom Klang seiner Stimme steckte Jay den Finger in den Kartoffelbrei. »Hm, Püree. Das ist lange her.«

»Kalter Kartoffelbrei.«

Sie schaufelte eine Portion auf den Teller und leerte ihn in Windeseile. »Wunderbar«, sagte sie mit vollem Mund, »wirklich lecker. Habe selten so gut gegessen.«

Sie grinste und nahm eine zweite Portion Püree. »Das schmeckt so gut. Einfach göttlich.«

Er versuchte, mit aller Macht zornig zu bleiben.

»Gestehe«, sagte Jay vergnügt. »Du hast dich selbst übertroffen. Allmächtiger Gott, was kannst du gut kochen.«

Geschafft, dachte er. Sie wickelte ihn mal wieder um den Finger. Er konnte das Lächeln nicht mehr unterdrücken.

Jay schob den Stuhl beiseite, kam auf ihn zu, setzte sich auf seinen Schoß und warf ihm einen verführerischen Blick zu. Sie wischte ihr dichtes kastanienbraunes Haar aus dem Gesicht und küsste ihn mit ihrem Püreemund. Als ihre Zunge in seinen Mund glitt, schob er Jay beiseite.

»Wo warst du?«

»Hugo, ich habe es dir doch erklärt.«

Er musterte sie. Ein Muskel unter ihrem linken Auge zuckte leicht. Kein Grübchen. Er wurde misstrauisch. »Ich weiß nicht.«

»Was weißt du nicht?«

»Was ich davon halten soll.«

»Oh, das ist sexy. Du bist eifersüchtig. Dass ich das in meinem Alter noch erleben darf.«

Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und küsste seinen Hals. »Und du? Was hast du heute getrieben? Hat die hübsche Briefträgerin wieder geklingelt? Die, die keine Unterwäsche unter ihrer geilen Postuniform trägt?« Sie schmiegte sich eng an ihn, ihre Zunge brannte in seinem Nacken. Er hatte das Bedürfnis, ihr zu sagen, sie solle die Hand aus seiner Hose ziehen, doch er tat es nicht. Er hatte einen langen Tag hinter sich, seinen Sportabend verpasst. Ihm stand die Entspannung zu. Genügend gute Gründe, seinen Widerstand aufzugeben. Er legte sich auf die Wohnzimmercouch, wo sie ihn auszog.

Dann schloss er seine Augen und überließ Jay das Liebesspiel.

Kapitel 3

Mia – Donnerstag, 10. November

Opel, Karla Heimanns betagter Boxer, liegt friedlich auf dem Behandlungstisch und lässt die Untersuchung über sich ergehen. Es sind nicht die Hunde, die mir heute Kopfschmerzen bereiten. Tiere besitzen einen guten Instinkt und wittern, wann sie sich ruhig verhalten oder sich bemerkbar machen müssen. Kopfschmerzen bereitet mir Karla, die alles unternimmt, um meinen Tag mit einer Packung Ibuprofen auf dem Nachttisch enden zu lassen. Sie ist die Nachbarin unseres Freundes Thomas und redet ununterbrochen auf mich ein. Das Thema kreist um altersbedingte Gebrechen des Tieres. Opel sei so ungelenk, Opel trinke zu viel, Opel brüte irgendetwas aus, und er habe die Nachbarskatze aus dem Vorgarten verjagt, was ganz und gar nicht seinem Naturell entspreche.

»Was soll ich denn ohne dich machen, Opel?« Jedes Mal, wenn Karla in meine Tierarztpraxis kommt, beendet sie ihren Besuch mit dem gleichen Wortschwall.

Opel sabbert unerschütterlich, und ich kraule ihn fest hinter seinen Ohren. »Dass er die Kraft aufbringt, die Nachbarskatze in ihre Schranken zu weisen, ist doch ein gutes Zeichen.«

Ich frage mich langsam, wer hier therapiebedürftig ist. Opel ist nicht krank. Sein einziger Makel ist das Alter. Aber dieses Wissen behalte ich für mich. Hunde sind klar und vorhersehbar in ihrer Kommunikation, wie ich während des Studiums gelernt hatte. Ein Blick in Opels Augen bestätigt diese These. Er lechzt nach Frolic-Häppchen, die er nach jeder Untersuchung bekommt.

»Ich bin nicht wirklich beruhigt«, sagt Karla und seufzt. »Neulich habe ich wieder von einem Überfall auf eine junge Frau in der Zeitung gelesen. Gibt es schon Neuigkeiten über Jay?«, will sie im selben Atemzug wissen.

Die Nachricht von Jays Verschwinden hat sich drei Tage zuvor wie ein Lauffeuer in der Nachbarschaft verbreitet. »Nein, nicht, dass ich wüsste.«

Karla legt den Kopf schief. »Was wird jetzt aus den beiden Mädchen? Sie sind so süß. Ich meine, das macht doch keine Mutter! So mir nichts, dir nichts ihre Kinder im Stich lassen.«

Einen Moment herrscht Stille.

»Von heute auf morgen«, fährt sie fort und seufzt erneut. »Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Und ich dachte, sie führten eine wirklich gute Ehe.«

Meine Karriere beruht auch darauf, dass ich einen Großteil meiner Zeit den Menschen zuhöre, die mit den Tieren in meine Praxis kommen. Dem Hund kann ich Platz! oder Still! befehlen. Mit Menschen wie Karla Heimann ist es komplizierter. Sei endlich still! wäre genau das, was ich ihr jetzt gern gesagt hätte.

Jay fällt es leicht, unangenehme Wahrheiten auf eine charmante Art zu unterbreiten, ohne ihr Gegenüber dabei gegen sich aufzubringen. Ihr Lächeln mildert die Schärfe ihrer Worte, und ihre hochgezogenen Mundwinkel beteuern, dass sie nur Gutes im Sinn hat, obwohl sie die Person bis auf die Knochen blamiert. Wenn sie betrunken war, machte es ihr noch mehr Spaß.

Ich nehme einen Hundekuchen aus dem Glas auf meinem Schreibtisch und lasse den Boxer aus meiner Hand fressen. »Der Urintest ist in Ordnung. Opel leidet nicht unter Diabetes. Er ist ein zäher Bursche.«

Karla greift nach der Hundeleine. »Meinst du nicht, dass wir uns um Hugo kümmern sollten? Er sitzt da, allein mit zwei kleinen Mädchen. Das geht doch nicht.«

»Hugo schafft das schon, Karla.« Ich gebe mich nach außen hin ruhig, obwohl ich innerlich koche vor Wut.

»Komm, Opel, lass uns gehen«, sagt Karla sichtlich irritiert. »Auf Wiedersehen, Mia! Bis bald!«

Ich reiche Karla die Hand, begleite sie zum Ausgang und schließe die Eingangstür zur Praxis. Endlich ist es still. Keine Karla, keine Patienten. Das Wartezimmer ist leer.

Für einen Moment schließe ich die Augen.

Eine gute Ehe …

Jay führt eine gute Ehe. Davon bin ich überzeugt. Meine Ehe hingegen ist alles andere als glücklich, und plötzlich habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Ich will Leon. Immer noch. Vielleicht mehr denn je. Es ist schon so lange her. Ich vermisse ihn physisch. Ich wünschte, ich könnte ihn hierherlocken und aus dem Hemd schälen, ich wünschte, wir hätten Sex. Und danach eine kalte Pizza, unser Lächeln. Unschuldig. Selig. Nein, so ist es nie zwischen uns gewesen. Und das hätte mich warnen sollen.

Eine Arbeitswoche nähert sich ihrem Ende, und noch immer gibt es kein Lebenszeichen von Jay. Vielleicht hat Hugo mittlerweile etwas gehört. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts passiert. Sobald ich morgens aufwache, kämpfe ich gegen den Gedanken an, etwas Schreckliches sei geschehen. Meine Emotionen drohen mich zu verbrennen, und ich wünsche mir ein kleines Wunder. Wie früher. Als Kind waren Elfen meine besten Freunde und Wunder an der Tagesordnung. Meiner Tochter Esther habe ich alles über Elfen beigebracht, vielleicht, weil ich mich auch heute noch ein wenig an diese Welt klammere, die für mich so selbstverständlich war wie die reale. Ich sehne mich nach meiner Freundin, möchte mich mit ihr austauschen. Wo bist du, Jay?

Ich entschließe mich, die Praxis heute Nachmittag zu schließen, obwohl der Regen wilde Muster auf das Fensterglas malt. Jays Verschwinden empfinde ich wie einen Notfall. Ich rufe einen Kollegen an, der mich regelmäßig vertritt und hinterlasse eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Eine Notiz mit seiner Telefonnummer klebt wenig später an der Eingangstür der Praxis.

Bob sieht mich erwartungsvoll an.

Ich atme tief ein und aus. »Ja, Bob. Wir machen blau.«

Der Hund springt schwanzwedelnd aus seinem Körbchen.

Draußen nieselt dichter Novemberregen wie ein Vorhang. Ein kalter, windiger Herbstnachmittag bricht an, es wird schon dunkel. Die Bäume auf der anderen Straßenseite haben ihr Laub verloren, ihre Kronen biegen sich im Wind. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch. Bob hat bereits einen geeigneten Laternenpfahl für seine erste Duftspur gefunden. Ich sehe auf meine Armbanduhr. Es ist zwölf Uhr. Esther und Benny sind in der Schule. Leon wird sie später abholen. Mir bleibt deshalb ein wenig Zeit, meine Gedanken zu ordnen.

Leon hatte nach einer schlaflosen Nacht heute Morgen das Haus mit tiefen Rändern unter den Augen verlassen, um ins Büro zu fahren, wo er als Steuerfachmann für eine große Wirtschaftsprüfungsgesellschaft arbeitet. Wir haben beim Frühstück nicht mehr als Floskeln ausgetauscht. Sein Blick war kalt, so kalt, dass es mir die Sprache verschlug. Zwischen uns lagen knapp fünfzig Zentimeter Tischplatte und ätzender Sarkasmus, der mich schaudern ließ. Wieder hat keiner von uns den Mut aufgebracht, den Zwillingen zu sagen, dass Pixies und Noras Mama vielleicht irgendwo anders lebt. Wenn es denn überhaupt so ist.

Meine Tage sind von morgens bis in den Abend verplant: Job, Kinder und Haus. Normalerweise hätte ich mich über einige Stunden Freizeit gefreut. Aber normal existiert seit Dienstag nicht mehr. Freizeit bedeutet jetzt Zeit zum Grübeln. Ich muss versuchen, mich in Jay hineinzuversetzen. Vielleicht kann ich so herausfinden, wo sie sich aufhält. Normal, das fünfte Wort.

Morgen Abend treffen wir uns mit unseren Freunden, wie an jedem Freitagabend, in der Kneipe. Der Apfelbaum ist seit Langem unser Stammlokal. Es ist die erste Gelegenheit, gemeinsam auf Spurensuche zu gehen. Mein Handy vibriert, nervös krame ich in meiner Tasche. Jay? Oder Hugo? Nein, meine Freundin Doreen.

»Sollen wir uns heute Abend wegen Jay treffen? Könnt ihr?« Ihre Stimme hat ein unangenehmes Timbre.

»Ich weiß nicht, ob ich so schnell einen Babysitter auftreibe, Doreen.«

»Wir treffen uns bei mir. Du kannst die Kinder mitbringen. Sie können in meinem Bett schlafen.«

Ein praktischer Vorschlag, wie immer.

»Esther und Benny wissen von nichts«, sage ich mit der Betonung auf nichts. Ein schwacher Protest.

»Mensch, Mia, die Kids haben längst begriffen, was los ist.« Ich habe Doreen schon einige Male als Babysitter in Anspruch genommen. Sie kennt die Zwillinge gut, aber die Autorität, die sie oft und insbesondere heute an den Tag legt, reizt mich.

»Und die anderen?«, will ich wissen.

»Ich werde sie informieren. Du kannst Hugo Bescheid geben. Bis dann!« Doreen legt auf. Verdammt! Warum habe ich nicht einfach gesagt, dass ich keine Lust dazu verspüre. Ich habe bei der Sache ein flaues Gefühl im Magen.

Bob trottet neben mir her. Es kann nicht schaden, Jay noch einmal anzurufen. Ich bleibe stehen, atme tief ein und aus. Ein Knistern in der Leitung. Wieder die Voicemail.

Bob knurrt.

»Ja, Boss, ich komme!«

Ich wähle Jays Festnetznummer und höre die Ansage auf dem Anrufbeantworter. Jays fröhliche Stimme, die Stimmen der Kinder.

»Dies ist der Anrufbeantworter … los, sagt mal was, Mädchen, Mama und Papa … nein, du musst deinen Namen sagen.« Pixie kichert. »Hier sind Jay, Hugo, Pixie und Nora«, sagt Jay. Nora und Pixie sprechen durcheinander. »Hinterlasst eine Nachricht nach dem …«, sagt Pixie und dann alle zusammen: »Piep!«

Ein Wagen fährt an mir vorbei, der Fahrer hupt. Idiot! Ich beschleunige meinen Schritt, mein Puls geht schneller. Meine Gedanken und Empfindungen überschlagen sich.

Plötzlich bin ich mir sicher. Jay hat ihre Familie nicht verlassen. Natürlich nicht. Wie hatte ich das auch nur für einen Moment annehmen können? Hätte sie mit dem Gedanken gespielt, sich von Hugo und den Kindern zu trennen, dann hätte sie das gesagt und erst danach die Koffer gepackt. Hat sie überhaupt etwas mitgenommen? Hat Hugo ihr Verschwinden zur Anzeige gebracht? Wenn nicht, muss er sofort die Polizei verständigen und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Wir müssen Jay finden, bevor es zu spät ist. Vielleicht hat jemand sie entführt, und sie liegt vergewaltigt und ermordet in einem Waldstück an der Autobahn.

Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Schweiß rinnt mir über die Stirn. Ich zittere am ganzen Leib und habe Mühe zu atmen. Ich rufe Leon an und fasle etwas von Jay und tot.

»Mia, beruhige dich! Wir unterhalten uns heute Abend, okay? Ich kann jetzt nicht sprechen, ich habe gleich ein Meeting.«

»Wir können nicht mehr länger warten, Leon«, erwidere ich außer mir.

»Was willst du denn unternehmen? Du machst dich verrückt.« Er klingt müde, als ob ihn jedes Wort Anstrengung kostete. »Beruhige dich! Hugo ist mit deiner Panikmache nicht geholfen. Damit tust du niemandem einen Gefallen. Wir sehen uns bei Doreen. Ich muss jetzt auflegen.«

Verwirrt starre ich auf das Handy. Ich kann nicht glauben, was er soeben gesagt hat.

Bob wedelt ein Stück weiter mit dem Schwanz, als forderte er mich auf weiterzugehen. Panikmache. Ich werde wütend. »Jay ist verschwunden. Kapier das endlich, Bob!«

Aber da ist noch was anderes, das mich seit Jays Verschwinden stutzig macht. Jedes Mal, wenn ich Schritte auf dem Pflaster höre, schlägt mein Herz schneller. Jedes Mal, wenn ich High Heels klacken höre, bekomme ich Beklemmungen. Ich spüre eine nahende Gefahr und kann das Gefühl nicht mehr abschütteln.

Inzwischen regnet es noch stärker. Der Gedanke an einen weiteren Tag des Wartens ist kaum zu ertragen. Ich muss etwas unternehmen, kann jedoch nicht hinter Hugos Rücken zur Polizei gehen. Wieder versuche ich ihn anzurufen. Wieder die Voicemail. Ich seufze und sehe zu Bob. »Okay, alter Knabe, du bekommst deinen Willen.« Ich überquere die Straße. »Aber nicht zu weit, okay?«

Ich gehe die Straße hinunter. Der Wind lässt die Blätter in den Bäumen rascheln, als wollte sein drängendes Flüstern mich warnen. Ich weiß, dass Dämonen existieren. Als Tierärztin habe ich gesehen, wie Monster Tiere auf abscheuliche Weise quälen. Der Zorn lodert in mir auf wie Feuer. Ich bin mir plötzlich sicher. Da draußen ist etwas, was versucht, mich zu vergraulen, mich zu erschrecken. Etwas, das mich wach hält wie der Schrei einer Eule. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will. Es will mir Angst einjagen.

Kapitel 4

Doreen – Vier Tage davor

Doreen ging nicht gern in eine überfüllte Kneipe wie diese, in der das Stimmengewirr und die Geräusche von klirrendem Geschirr von den Wänden widerhallten und es schlecht roch. Ein Ort voller Menschen, voller Leben, Blech und Beton, voll von Hochmut, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit.

Sie inspizierte die Tische. Wie sie vermutet hatte, war Jay noch nicht da. Sie ging zur Toilette und versuchte vor dem Spiegel ihr Haar zu bändigen. Wegen der Kälte hatte sie den Wagen genommen. Doch die wenigen Meter vom Parkplatz bis zum Eingang hatten dem Wind genügt, um ihre Frisur zu zerstören, als wäre in ihrer Nähe eine Bombe explodiert. Den Friseurtermin hätte sie sich sparen können.

Laut Jay war ihr volles Haar einer ihrer Pluspunkte. Sie hatte ihr in der Vergangenheit oft und gern Komplimente über ihre Mähne gemacht. Darin war Jay richtig gut. Vielleicht sollte sie sich das auch mal angewöhnen.

Doreen bestellte einen Gin Tonic und ergatterte im hinteren Teil des Cafés einen Tisch.

Es war sonderbar, so im Halbdunkel zu sitzen, mit dem Glas in der Hand und die Menschen zu beobachten. Draußen begann der Feierabend. Züge mit Pendlern verließen den Bahnhof, Fußgänger hasteten nach Hause, während der Wind den Regen gegen die Fensterfront des Cafés peitschte.

Niemand hielt sich an das Rauchverbot. Sie lechzte ebenfalls nach einer Zigarette. Seit geraumer Zeit versuchte sie, weniger zu rauchen, trug aber immer eine Packung Marlboro Light mit sich herum und zündete sich nun eine an. Ein junger Mann mit blondem, halblangem Haar bat sie um Feuer. Originelle Anmache, lag ihr auf der Zunge, doch sie hielt sich zurück, als ihr seine zarte, faltenfreie Haut auffiel. Selbst seine Stirn zeigte keine einzige feine Linie, was sie auf eine Botox-Injektion zurückführte. Sie gab ihm schweigend Feuer.

Er beugte sich vor, hielt seinen Kopf leicht schief, sein Haar fiel auf eine lässige Art nach vorn, und sah ihr direkt in die Augen.

Als er die Zigarette zum Glühen gebracht hatte, wanderte ihr Blick zu seinem wohlgeformten, leicht geöffneten Mund. Sie lächelte.

Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Weiter vorn warteten seine Freunde. Er würde sie in Kürze anschubsen und auf den mittelalten Käse am hinteren Tisch aufmerksam machen, der soeben versucht hatte, ihn anzumachen.

Er hielt seine Zigarette hoch. »Vielen Dank!«

Doreen fragte sich, wann sie angefangen hatte, diese unsichtbare Grenze zu überschreiten. Männer erkannten die Signale einer rastlosen Frau sofort, selbst im Halbdunkel. Als würden sie ahnen, dass ihre Fruchtbarkeit nachzulassen begann.

Vielleicht sollte sie ein Baby bekommen. Wenn es mit vierzig überhaupt noch möglich war. Nicht, dass sie Zeit hätte, sich um ein Kind zu kümmern, aber das spielte keine Rolle. Vielleicht sollte sie ihre Vernunft in eine Mülltonne werfen und Platz machen für den primitiven Fortpflanzungstrieb. Was würde der blonde Kerl wohl dazu sagen, wenn sie ihm vorschlug, gemeinsam für den Arterhalt zu sorgen, just for fun? Männer in seinem Alter – sie schätzte ihn auf zwanzig – wollten Sex um jeden Preis; oder galt das für diese Generation mittlerweile auch nicht mehr?

Jay betrat das Café, hob ihre Hand und winkte ihr ausgelassen zu.

---ENDE DER LESEPROBE---