Wofür du lebst - Anne Marie - E-Book

Wofür du lebst E-Book

Anne Marie

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Finn ist Polizist aus Leidenschaft. Sein Trupp bei der Bereitschaftspolizei ist wie eine Familie für ihn. Das hilft ihm auch darüber hinweg, dass seine Freundin ihm den Laufpass gibt. Es kommt ihm gelegen, als er sich um seinen neuen Kollegen Nico kümmern soll, um diesem den Start in der Einheit zu erleichtern. Aber schon bald hadert Finn mit sich, denn Nico weckt in ihm Sehnsüchte, die er seit einiger Zeit zu unterdrücken versucht. Denn seine Erziehung verbietet alles jenseits der heterosexuellen Norm. Doch Nico erweist sich nicht nur als verlässlicher Freund, sondern erwidert auch Finns Gefühle. Mit ihm findet Finn den Mut, sich auf den langen Weg zu sich selbst zu machen. Als Nico auf einem Einsatz lebensgefährlich verletzt wird, verändert das alles. Und für Finn steht plötzlich viel mehr auf dem Spiel, als sich zu ihrer Liebe zu bekennen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 406

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne Marie

Wofür du lebst

Roman

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 203

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© rybindmitriy – stock.adobe.com

© Teodor Lazarev – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-626.5

ISBN 978-3-96089-627-2 (ebook)

Inhalt

Finn ist Polizist aus Leidenschaft. Sein Trupp bei der Bereitschaftspolizei ist wie eine Familie für ihn. Das hilft ihm auch darüber hinweg, dass seine Freundin ihm den Laufpass gibt.

Es kommt ihm gelegen, als er sich um seinen neuen Kollegen Nico kümmern soll, um diesem den Start in der Einheit zu erleichtern.

Aber schon bald hadert Finn mit sich, denn Nico weckt in ihm Sehnsüchte, die er seit einiger Zeit zu unterdrücken versucht. Denn seine Erziehung verbietet alles jenseits der heterosexuellen Norm.

Doch Nico erweist sich nicht nur als verlässlicher Freund, sondern erwidert auch Finns Gefühle. Mit ihm findet Finn den Mut, sich auf den langen Weg zu sich selbst zu machen.

Eine Bemerkung vorab

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank, dass Du mein Buch in den Händen hältst!

In der vorliegenden Geschichte kommen Dinge und Themen zur Sprache, die für einige Menschen belastend und problematisch sein können.

Deshalb habe ich diese Themen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf der Rückseite dieser Seite aufgelistet.

Wenn Du Dir unsicher bist, lies diese Inhaltswarnungen.

Achte beim Lesen des Buches bitte gut auf Dich, unterbrich oder brich ab, wenn es Dir nicht gut damit geht.

Fühl Dich nicht minderwertig oder schlecht, weil Du dieses Buch nicht oder nicht zu Ende liest.

Inhaltswarnungen

Gewalt

Blut

Schmerz

Krankenhaus

Pornografie

Verletzung

Depression

Posttraumatische Belastungsstörung

Suizidgedanken

Todesnähe

Erbrechen

Alkohol

Selbstzweifel

religiöse Ansichten

1. Verlassen

Finn öffnete die Tür. Der Duft von gebratenen Zwiebeln stieg ihm in die Nase. Sein Magen knurrte.

„Bin wieder da!“, rief er und legte den Schlüssel auf den niedrigen Schrank im Flur seiner Wohnung.

„Hallo!“ Silke kam aus der Küche. Er umarmte und küsste sie, nahm das Lächeln in ihrem Kuss wahr.

„Hast du Hunger?“, fragte sie.

„Ja“, antwortete er und sie gab sein verschmitztes Grinsen vielsagend zurück.

„Und, was verführt dich jetzt mehr?“, wollte sie wissen. „Dein Lieblingsessen oder …“

„Natürlich du! – Aber ehrlich gesagt war so viel los, dass ich heute Morgen das letzte Mal etwas gegessen habe.“

„Na, das kann ja keiner verantworten.“ Sie drückte ihn auf einen Stuhl und belud seinen Teller mit Nudeln. Ihn zu beobachten ließ sie die eigene Portion fast vergessen. Bei seinem Lieblingsessen verwandelte sich ihr Freund in einen kleinen Jungen, der selbstvergessen Gabel um Gabel in den Mund schob. In dieser Zeit existierte für ihn nur sein Teller.

Finn ging duschen. Danach setzte er sich zu ihr auf die Couch vor den Fernseher, nackt. Sie blickte ihn von der Seite an und fragte betont gleichmütig:

„Hast du was Bestimmtes vor?“

„Weiß nicht …“

„Na ja, dann …“, sagte sie schulterzuckend, wandte sich wieder dem Fernsehbild zu und schaffte es im Gegensatz zu ihm, eine unbewegte Miene zu behalten. Sekunden später quietschte sie überrascht, weil er sie hochhob und sich über die Schulter legte. Lachend ließ sie sich ins Schlafzimmer tragen. Dort schob er sie auf das Bett.

„Es ist mir wieder eingefallen“, raunte er über ihr; die Arme neben ihrem Kopf abgestützt. Sie schlug unschuldig die Augen zu ihm auf.

„Ach? Ich bin gespannt …“

„Gut so …“

Ihr Kopf hob sich ihm entgegen. Sie erwiderte seinen Kuss, schmiegte sich an ihn, genoss seine streichelnden Hände, die langsam unter ihr Shirt glitten …

So war das vor drei Monaten gewesen. Finn hatte gehofft, dass Silke die Richtige sein könnte. Er war glücklich gewesen. Bis gestern.

Silke hatte die Nacht bei ihm verbracht, war morgens aufgestanden, hatte Brötchen geholt und Frühstück gemacht. Nach dem Essen sagte sie plötzlich: „Finn, wir müssen reden.“

Auf einmal war ihm flau im Magen geworden. Er hatte seine Kaffeetasse mit ins Wohnzimmer genommen. Dort saßen sie auf der Couch, wo Silke ihm mit stockender, dennoch ruhiger Stimme erklärte, dass sie sich von ihm trennen würde.

Finn hörte ihr ungläubig zu. Alles, was er fragen konnte, war: „Warum?“

Sie sah ihn an. Ihre Augen schimmerten feucht, aber sie weinte nicht.

„Weil du mich nicht liebst, Finn.“

„Das … das ist doch totaler Unsinn!“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß, dass du mich magst. Sehr magst. Aber das … ist keine Liebe.“

Er war schockiert.

„Ich verstehe das nicht.“

„Ich kann dir nicht erklären, wie sich Liebe anfühlt. Dafür gibt es kaum Worte. Sie … macht dich verrückt vor Glück, füllt dich aus. Du weißt, dass du lebst, um sie zu fühlen, weil sie vollkommen ist. Das für einen anderen Menschen zu empfinden, ist unbeschreiblich.“

„Wieso glaubst du, dass ich das nicht für dich fühle?“

Silke sah ihn traurig an. „Weil es so ist. Ich habe gehofft, dass es zwischen uns richtig ernst wird. Aber es soll wohl einfach nicht sein. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Doch ich kann nicht mehr länger warten auf etwas, das nicht passiert.“

Er schüttelte den Kopf. Das konnte alles nicht wahr sein!

Silke rollte eine Träne über die Wange. „Ich … wollte dir nie weh tun, du mir auch nicht, ich weiß. Dennoch tun wir es jetzt.“ Sie wischte sich die nächste Träne von der Nase. „Ich liebe dich. Aber ich will jemanden, der mich genauso liebt wie ich ihn. Und das tust du nicht.“

Die eintretende Stille war unwirklich – wie alles andere auch.

Nach einer Weile fuhr sie gefasster fort: „Ich wünsche dir, dass du die findest, die du von ganzem Herzen lieben kannst. Die dich fühlen lässt, was Liebe wirklich bedeutet. Doch ich bin das nicht für dich. – Ich gehe jetzt und komme noch mal her, wenn du arbeitest, hole meine Sachen und lasse deinen Schlüssel da.“

Er starrte vor sich hin. Silke wirkte kurz unentschlossen, erhob sich aber und ging zur Tür. Er hörte, wie sie ihren Mantel überzog, und stand ebenfalls auf. Stumm sah sie ihn an, traurig – dann schloss sich die Tür hinter ihr.

Die Herbstsonne schien, die Blätter strahlten in leuchtenden Farben um die Wette. Er hatte es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten. Sie wohnten nicht zusammen, aber überall fand er etwas von ihr. Jedes Mal schnitt es ihm ins Herz.

Der Park war belebt. Alle genossen die letzte Wärme, bevor die Kälte Einzug halten würde. Seine Schritte trugen ihn in den Wald. Hier war es ruhig. Nach einer Stunde erreichte er den See. Er suchte sich eine Stelle am Ufer im trockenen Gras.

Unablässig kreisten seine Gedanken um Silke und das, was sie gesagt hatte. Wie kam sie darauf, dass er sie nicht lieben würde? Er mochte sie doch, sehr sogar. Er sehnte sich nach ihr, wenn sie nicht da war, genoss ihre Gegenwart, wenn sie zusammen waren. Er war immer treu, ein eher ruhiger Typ, ein bisschen verschlossen, grüblerisch. Vielleicht trug er sein Herz nicht auf der Zunge, aber er war ausgeglichen, sanft und er liebte Zärtlichkeit. Er war kein Sensibelchen, trotzdem einfühlsam. Die Frauen, mit denen er zusammen war, mochten das. Wollte Silke jemanden mit mehr Leidenschaft? Das war eigentlich nicht das Problem zwischen ihnen gewesen. Den Sex hatten sie beide genossen.

In den letzten Jahren hatte er ein paar Freundinnen gehabt. Es war immer eine Weile gut gegangen, dann hatten die Frauen ihn verlassen. Keine Trennung war von ihm ausgegangen. Alle diese Abschiede waren ohne Streit verlaufen – und wehmütig, na klar. Er hatte keine Szene gemacht, sondern sie gehen lassen. Hatte die Traurigkeit mit sich abgemacht, manchmal geweint, allein.

Er fand keine Antwort auf die Frage Warum, so wie er sie bei den anderen Frauen nicht gefunden hatte. Zudem versuchte er, keine Schuldfrage zu stellen, und ging doch mit sich ins Gericht, suchte nach Fehlern, die er vielleicht gemacht hatte. Hätte er es merken müssen? Übersah er irgendwas? War da eine stumme Erwartung, die er nicht erfüllte?

Er zweifelte an sich, an allem, und verzweifelte ein bisschen. Schmerz machte sich breit, Unverständnis, Weltschmerz. Es war zum Heulen.

Am Ende stand Trotz. Albern, aber dennoch. Sollte sie doch gehen und bleiben, wo der Pfeffer wächst! Er brauchte sie nicht. Eine winzige Stimme in seinem Kopf sagte hoffnungsvoll: Vielleicht kommt sie ja wieder? Aber das würde nicht passieren. Er wusste es.

Nach langen Stunden fand er zurück zu innerer Ruhe. Vielleicht hatte er noch nicht die Richtige gefunden. Erst nachdem die Sonne hinter den Bäumen verschwunden war, erhob er sich, wischte sich über die Augen und den Bart, in den ein paar Tränen gelaufen waren, und ging nach Hause.

2. Verwirrt

Die folgenden Tage und Wochen waren zäh. Silke hatte getan, was sie angekündigt hatte. Ihr Schlüssel lag auf dem Küchentisch, ihre Sachen waren fort. Das Endgültige trieb ihm die Tränen in die Augen. Sein Bett hatte er nicht frisch bezogen. Er grub sich auf ihrer Seite in die Bettwäsche, drückte seine Nase auf das Kissen und versuchte, etwas von ihrem Geruch und ihrer Anwesenheit zu finden.

Seinen Kollegen bei der Bereitschaftspolizei blieb nicht lange verborgen, dass er wieder solo war. Aber die Gruppe gab ihm Halt. Sie waren ein familiäres Team, ein eingeschworener Haufen.

Zusätzlich zu ihrem Training ging er häufiger ins Fitnessstudio. Beim Sport konnte er abschalten. Die Anstrengung und die Muskelschmerzen sorgten dafür, dass er müde wurde und nicht grübelte.

Doch er fühlte sich einsam. Die dunkle Jahreszeit begann. Dazu kamen alle langsam in vorweihnachtliche Stimmung. Überall sah er Harmonie, Vorfreude, Familien … Er war allein. Auch die Vorstellung, dass seine Eltern ihn zu Weihnachten erwarteten, stimmte ihn nicht froher.

Der Arbeitstag war hart gewesen. Zum Abschluss hatten sie Selbstverteidigung und Nahkampf trainiert. Weil seine Gedanken ihn ablenkten, hatte er bei seiner Trainingspartnerin Beate nicht fest zugepackt. Daraufhin hatte sie ihn ohne Federlesen auf die Matte geworfen. Sich aufrappelnd blieb ihm nur die Überlegung, wo an seinem Körper es am meisten wehtat.

Zu Hause stand er unter der Dusche, das heiße Wasser lief ihm über den Nacken. In der letzten Zeit, wenn der innere Druck zu groß wurde, hatte er sich hier einen runtergeholt. Dann ließ er sich fallen in wirre Bilder von Silke oder den anderen Frauen vor ihr und vertraute sich den geübten Bewegungen seiner Hand an. Zurück blieb jedes Mal ein schales Gefühl.

Später am Abend saß er dann am Laptop, spielte lustlos irgendein Spiel, auf das er sich nicht konzentrieren konnte. Die Augen fielen ihm zu. Bilder von Silke tauchten auf. Im Dämmer zwischen Wachsein und Traum erwachte die Sehnsucht. Seine Hand bewegte sich automatisch, doch sobald sie seine beginnende Erregung berührte, war er plötzlich wieder hellwach. Keine Bilder von Silke. Was Anderes. Wozu saß er denn am Laptop? Er kam sich vor wie ein pubertierender Teenager. Doch er tippte den Namen einer Pornoseite ein. Er tat es nicht zum ersten Mal. Er hatte sich ein paar Clips angesehen und ja, es hatte ihn erregt. Aber irgendwie war es auch fade und unpersönlich gewesen und er war sich danach einfach nur bescheuert vorgekommen.

Das war an diesem Tag egal. Er wollte die Sehnsucht loswerden, seinem kribbelnden Unterleib die Entspannung verschaffen, nach der er verlangte und eintauchen in das sorgenlose, schwebende Gefühl des Orgasmus’, wenn für ein paar Sekunden alles gut war …

Doch so ganz ließ sich sein Kopf nicht ausschalten. Das Stöhnen der Frau im ersten Clip, den er anwählte, klang unverhohlen gekünstelt und ihre hüftlangen, dunklen Haare sahen fast aus wie bei Silke … Nein. Aber auch die nächsten Paare machten ihn nicht an.

Vielleicht zwei Frauen zusammen, oder drei? Mal sehen … Er entspannte sich, bewegte seine Hand, lehnte sich zurück und sah ihnen zu. Langsam wurde er härter, größer. Er fasste fester zu, rieb energischer, schloss die Augen, hörte die Geräusche der Frauen, konzentrierte sich aber auf sich. Mit der anderen Hand griff er zum Schreibtisch, um sich festzuhalten.

Plötzlich hörte er inbrünstiges Stöhnen in einer tiefen Tonlage – aber es kam nicht von ihm. Er riss die Augen auf. Auf dem Bildschirm räkelten sich zwei Männer. Einer, blond, lag auf dem Rücken, der andere, dunkelhaarig, kniete über ihm. Biss zärtlich in die Brustwarze des unter ihm Liegenden, leckte, küsste …

Was … wie? Finns benebeltes Gehirn suchte perplex nach einer Erklärung. Seine Hand – Schreibtisch – Laptop – Touchpad – Maus. Da musste er wohl drauf gefasst haben.

Seine Augen fixierten weiterhin die beiden Männer. Absurd, dachte er und konnte doch nicht mehr wegsehen, sich nicht mal bewegen. Völlig gebannt sah er dem Knienden zu, wie der langsam küssend und leckend nach unten glitt und den Schwanz des anderen tief in den Mund nahm. Er blies den Blonden im gleichmäßigen Rhythmus. Finn hörte dessen lustvolles Stöhnen und sah zu, wie er die Finger ins Bettlaken krallte. Ganz egal, ob das da vor ihm echt war oder gespielt, es machte ihn an und mit einer erschreckenden Plötzlichkeit geil. Der Blonde zog den Kopf des Knienden nach einer Weile sanft empor. Daraufhin ließ der von dem harten Schwanz ab. Sie küssten sich.

„Fuck me!“, sagte der Blonde.

„Turn around“, erwiderte der Dunkelhaarige leise, lächelnd. Der Blonde lächelte ebenfalls, kniete sich hin, legte seinen Kopf auf ein Kissen.

Finn konnte nicht einmal blinzeln. Er fixierte beide Körper, nahm kaum wahr, dass seine eigene Hand seinen Schwanz wieder umschloss. „Mega Erektion“, murmelte sein Gehirn bewundernd. War er jemals so hart gewesen, so aufgegeilt?

Leise Töne zogen seine Augen zurück auf den Monitor. Der Dunkelhaarige schob die Pobacken des vor ihm Knienden auseinander, küsste dessen Eingang, leckte ihn, fickte den lustvoll Seufzenden vor ihm sanft, wissend und lange mit der Zunge.

Finn wurde schwarz vor Augen. Sein Orgasmus überrollte ihn wie eine Naturgewalt. Er bebte. Immer neues Sperma lief über seine Hand, es schien gar nicht aufhören zu wollen. Keuchend rang er nach Luft. Sein Herz hämmerte und er hörte sich leise wimmern. Er hatte noch nie gewimmert.

Der Rausch war vorbei, sobald er nach Luft schnappte, sich fragte, was er hier um Himmels willen tat. Sein Blut rauschte in den Ohren, bis er einen wohligen Laut hörte.

Im Gegensatz zu ihm waren die beiden auf dem Bildschirm noch lange nicht fertig. Er musste hinsehen. Es war wie ein Zwang. Die Erregung ergriff ihn erneut. Sein Körper schmerzte zwischen Erschöpfung und einer Geilheit, der er keinen Namen geben konnte. Finn kam das nächste Mal mit den beiden zusammen, am Ende des Clips. Der Dunkelhaarige kam aufstöhnend auf den Bauch des Blonden. Finn sah die hellen Spermafäden. Es war der letzte Kick, den er brauchte.

Er sah sich den Clip noch zwei weitere Male an und kam jedes Mal. Die beiden Männer waren professionelle Pornodarsteller – kein Zweifel. Sie wussten, wo sie sich oder den anderen berühren mussten, um die gewünschte Reaktion zu erzielen. Aber sie taten es langsam und genussvoll – zumindest gespielt. Und genau diese Sanftheit der beiden miteinander, war es, die Finn am meisten berührte und erregte. Er mochte liebevollen Sex, Zärtlichkeit, Streicheln – Gefühl.

Er nahm immer mehr Details wahr: wie sie sich ab und an ein Lächeln schenkten, manchmal nur mit den Augen. Sah die Aufmerksamkeit im jeweiligen Blick, die Versicherung, dass das, was sie taten, für den anderen in Ordnung war und dass es ihm gut damit ging. Achtsamkeit, Einvernehmen. Sein Blick saugte sich an den schlanken, muskulösen Körpern fest, an der glatten Haut und der nahtlosen, leichten Bräune. Der Dunkelhaarige war tätowiert. Das verlieh seiner Erscheinung etwas Besonderes, das Gefühl einer möglichen Härte, um die man nur wissen musste, ohne dass er sie ausspielte. Eine Zunge tauchte in einen flachen Bauchnabel, die Bauchmuskeln darum zuckten. Ein heißer Schauer überlief ihn bei dem Anblick. Der Blonde blieb auf den Knien, der andere zog sich ein Kondom über, trug Gleitgel auf und drang langsam in den genießend Stöhnenden vor ihm ein. Sie behielten die Sanftheit bei, trotzdem sie das Tempo steigerten. Finn erschauerte jedes Mal, wenn der Blonde – inzwischen lagen sie hintereinander auf der Seite – zusammenzuckte, die Hand des Dunkelhaarigen griff, die seine Hüfte festhielt und flüsterte: „That‘s the spot!“, woraufhin dieser seinem nächsten Stoß etwas mehr Schub verlieh und mit einem neuerlichen Zucken und tiefem, lautem Stöhnen belohnt wurde. Sie wechselten mehrmals die Stellung. Es war schließlich ein Porno und ging um den Fick.

Irgendwann fiel er ins Bett, völlig erledigt, und schlief ein, noch bevor sein Kopf auf dem Kissen lag.

Am Morgen tat er es ab, kopfschüttelnd, ungläubig über sich selbst grinsend. Zu lange keinen Druck mehr abgelassen. Es war überfällig gewesen. Was soll‘s. Er putzte seinen Schreibtisch und staunte darüber, wie viele Spermareste er fand.

*

Das Abtun hielt wenige Tage. Die Bilder bekam er schon in dieser Zeit nicht aus dem Kopf. Es zog ihn an den Laptop. Er wollte die beiden wiedersehen und alleine der Gedanke daran erregte ihn. Er gab dem Verlangen nach, ließ sich gefangen nehmen, überwältigt von der Heftigkeit seiner Reaktionen. Er sah sich auch andere Clips an, wollte aber nur noch Männer miteinander sehen. Er wählte Filme, in denen der Sex zärtlich und langsam war und lange dauerte. Immer wieder kehrte er dabei zu diesem einen Film zurück.

Das Gefühl einer leisen Verunsicherung breitete sich in ihm aus. Er träumte vom Blonden und dem Dunkelhaarigen, sah sich mit einem oder beiden, nackt, erregt. Beim Aufwachen stellte er des Öfteren fest, dass er nach solchen Träumen gekommen war. Wann war ihm so etwas das letzte Mal passiert?

Er konnte der Sache keinen Namen geben, nicht mal in Gedanken.

Der weihnachtliche Besuch bei seinen Eltern erschien ihm nicht mehr so drückend, sondern eine willkommene Abwechslung. Tapetenwechsel, andere Luft, eigener Reset. Es war schön, die Freude der Eltern über ein Wiedersehen zu erleben, wie sie begeistert seine Geschenke auspackten. Junge, du sollst uns doch nichts schenken! Seine Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihn so lange mit Köstlichkeiten vollzustopfen, bis er kaum noch vom Tisch aufstehen konnte. Wahrscheinlich musste er für zwei essen, da seine Schwester kurzfristig Bereitschaftsdienste in der Klinik übernommen und abgesagt hatte.

Das merkwürdige Gefühl in ihm blieb.

„Du bist so blass. Geht es dir nicht gut?“, fragte seine Mutter.

„Nein, alles in Ordnung. Die Arbeit ist anstrengend.“

Sie legte ihm die Hand auf die Wange.

„Du vermisst Silke.“

Ja und nein. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich fühle mich so… Aber das sagte er nicht. Mütter konnte man schlecht anlügen. So beschränkte er sich auf ein unverbindliches Nicken.

„Wird schon wieder“, fuhr sie fort und strich ihm über die Wange. Normalerweise neigte er nicht zu Sentimentalität, jetzt trieb ihm ihre Geste Tränen in die Augen. Er legte das Wischtuch zur Seite.

„Ich schaue mal, wie Vater mit dem neuen Computerprogramm zurechtkommt.“

Er schlief in seinem alten Zimmer. Inzwischen diente es als Gästezimmer. Es waren aber immer noch die vertrauten Wände, mit Gefühlen von Heimat, Geborgenheit und Halt.

Stundenlang saß er im Wintergarten und sah auf den Schnee. Winterliche Ruhe, friedliche Idylle.

Er dachte an so vieles, wagtees, nachzudenken.

Finn erinnerte sich an die Frauen, mit denen er bisher zusammen gewesen war. Eigentlich hatten alle ihn angesprochen. Er wusste nicht, was ihn in ihren Augen anziehend machte. Vielleicht, dass er Beschützer war. Ruhig, abgeklärt, sich seiner selbst bewusst, dabei feinfühlig, sanft, respektvoll. Er wollte Polizist werden, seitdem er ein Junge gewesen war. Seine Freundinnen waren durchaus selbstbewusste, eigenständige Frauen, aber auch sie liebten seine Schulter zum Anlehnen, seine muskulösen Arme, in die sie sich sinken lassen konnten. Der Sex mit ihnen war schön gewesen, eigentlich immer. Er hatte doch nichts vermisst? Er mochte es, den weichen Körper seiner Freundin an seinem zu fühlen, biegsam, lustvoll. Ihm gefielen das Stöhnen und die Finger, die sich in seine Haut gruben.

Warum hatte er dann plötzlich das Gefühl, der Boden unter ihm gäbe nicht mehr den vertrauten Halt und würde nicht nur ihn, sondern alles um ihn herum zum Schwanken bringen? Im Schaukelstuhl, stellte er sich zum ersten Mal ehrlich die Frage: Stehe ich auf Männer? Der Gedanke allein sorgte dafür, dass sein Herz vor Schreck aussetzte. Der Moment machte seine Handflächen eiskalt und feucht. Er hatte nie an einen Mann gedacht, nie. Er duschte seit Jahren mit seinen Kollegen. Jeder wusste von jedem, wie er nackt aussah. Na und? Er hatte sich nie etwas dabei gedacht. Finn wagte das Gedankenexperiment, sich die Kollegen vorzustellen und sich zu fragen, ob er neben Freundschaft oder Kollegialität noch etwas anderes empfand. Die Antwort war schlicht Nein. Er konnte es sich nicht vorstellen. Sonstige Freunde hatte er keine. Seine Truppe bei der Bereitschaftspolizei war wie ein Teil seiner Familie. Mehr noch: Sie war ein Teil von ihm.

Eine vage, alte Erinnerung schlich sich in seinen Kopf.

Er war zehn, vielleicht elf Jahre gewesen und es war auch im Winter passiert, Januar. Von den Kindern hatte man das Geschehen fernhalten wollen, aber hier, in einem Dorf, blieb nichts verborgen. Man hatte den Jungen im Wald gefunden. Jonas – ja, Jonas hatte er geheißen. Er erinnerte sich an das, was die Kinder sich untereinander weitergegeben hatten; für sie ein surreales Grauen. Steif gefroren hatte ihn einer der Bauern entdeckt. Er hatte sich aufgehängt. Warum? Darüber tuschelten die Erwachsenen nur hinter vorgehaltener Hand. Es hatte geheißen, er sei in einen jungen Mann verliebt gewesen. Der Pfarrer hatte sich geweigert, Jonas auf dem Kirchhof zu beerdigen. Seine Familie war erst vor kurzem hergezogen. Sie hatten nicht zu den alteingesessenen Dörflern gehört, schon gar nicht zu ihrer Dorfgemeinschaft. Sie waren nicht in die Kirche gegangen. Und dann die Geschichte, dass zwei Männer miteinander … Das war widerlich und krank. Die inständige Bitte der Mutter, ihr Kind bei sich haben zu wollen, war unerhört geblieben …

Finn schreckte auf, da ihn eine warme Hand an der Schulter berührte. „Na, so tief in Gedanken?“, fragte sein Vater und hielt ihm eine geöffnete Flasche Bier hin. „Einfach so.“

Peter Schneider ließ sich im anderen Schaukelstuhl nieder. Beide tranken schweigend. Finn war dankbar für die Anwesenheit. Wärme breitete sich in ihm aus. Seinen Blick erwiderte der Vater mit einem Lächeln und einer zum stummen Zuprosten erhobenen Flasche. Nach einer Weile brach Finn das harmonische Schweigen.

„Erinnerst du dich noch an den Jungen, den sie damals im Wald gefunden haben?“

„Was für ein Junge?“, fragte sein Vater überrascht.

„Er hieß Jonas, glaub ich. Ich war zehn oder so. Er hatte sich aufgehängt.“

„Ach so … ja. Der alte Mühlenbauer hat ihn aus dem Wald getragen. Wie kommst du darauf?“

„War so im Nachdenken … Erinnerungen. Warum hatte der Junge das getan?“

Peter Schneider zuckte mit den Schultern, eine Spur Unwilligkeit lag in seiner Bewegung. „Woher soll ich das wissen?“

„Die Kinder haben sich erzählt, er sei in einen Mann verliebt gewesen.“

Nachdenklich wiegte Peter den Kopf. „Wer weiß“, brummte er und schwieg lange. Finn rechnete nicht damit, dass er mehr dazu sagen würde. Aber dann tat er es doch:

„War ’ne komische Familie. Es gab riesigen Ärger, weil der Junge nicht begraben wurde. Aber so einer? Hier? Es hieß, auf seiner Beerdigung sei dieser Mann aufgetaucht. – Na ja, die Leute sind dann auch nicht lange hiergeblieben, sondern wieder weggezogen. Komische Familie, wie gesagt. Passten nicht hierher. – Mach dir keine Gedanken. Ist doch Weihnachten.“

Er erhob sich, nahm seine leere Flasche und verließ den Wintergarten.

Finn blieb sitzen. Die Worte hallten lange in ihm nach.

Auf der Heimfahrt im warmen Auto ein paar Tage später, wollte er in der nahen Kleinstadt zur Autobahn abbiegen. Doch dann setzte er den Blinker in die andere Richtung. Die Autoreifen knirschten im Schnee des nicht geräumten Parkplatzes. Er stieg aus. Seine Fußspuren zerstörten das makellose Weiß.

Das Friedhofstor war nicht geschlossen. Fußstapfen waren zu sehen, vereinzelt hatten Menschen in den Weihnachtstagen Verstorbene besucht. Weihevolle Stille lag über dem Areal. Auf einigen Gräbern brannten ewige Lichter.

Finn blieb vor dem Tor stehen. Er wusste nicht, wo er hätte suchen sollen und war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Aber er stand da, bis seine Füße kalt wurden. Er sah auf die Gräber, den Schnee, die Kerzen und den dämmrigen Himmel. Dabei dachte er an einen Jungen, an den er sich nur entfernt erinnerte, der seinem kurzen Leben ein Ende gesetzt hatte und hier irgendwo lag.

3. Verstört

Das neue Jahr hatte begonnen. Ende Januar rief ihn Henning, der Gruppenführer, zu sich.

„Finn, ist alles okay bei dir?“

„Ja – wieso fragst du?“

„Na komm, wir kennen uns schließlich schon ‘ne Weile. Du wirkst irgendwie bedrückt. Ich meine – brauchst du jemanden zum Reden?“

„Nee. Alles in Ordnung.“

Dass Henning diese Antwort nicht befriedigte, wusste Finn. Er war Hennings Stellvertreter und ihr Verhältnis war gut und vertraut. Ihre Vorstellungen davon, was in diesem Job wichtig war und warum sie ihn machten, waren in den meisten Dingen gleich. Die Chemie zwischen ihnen stimmte, und so waren sie auch privat Freunde geworden. Normalerweise hätte Finn ihm irgendwann bei einem Bier ausführlicher von der Trennung von Silke erzählt. Aber irgendwie war gerade in seinem Kopf so wenig normal und darüber wollte er nicht sprechen, mit niemandem.

Henning sah ihn eine Weile stumm und fast unangenehm durchdringend an. Das war an einer richtigen Freundschaft blöd; man konnte sich schwer verstecken.

Dann sagte er: „Unser Leitwolf hat mich darüber informiert, dass wir einen Neuzugang kriegen. Er kommt in unseren Trupp. Ich hätte gern, dass du dich etwas um ihn kümmerst, ihm den Anfang hier erleichterst. Gut?“

Wolf Behrendt war der Zugführer, zu dessen Zug ihre Gruppe gehörte. Seinen Spitznamen hatte er schnell bekommen.

„Kein Problem.“

„Ich würde ihm auch das zweite Bett in deinem Zimmer hier auf der Dienststelle zuteilen. Es ist das einzige, was noch frei ist.“

„Klar. Hoffentlich schnarcht er nicht.“

„Dann kaufe ich dir Ohropax“, erwiderte Henning grinsend, bevor er noch einmal ernst wurde.

„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, du mal reden willst …“

„Danke, Henning, das weiß ich. Aber ich komme klar. – Oder hast du was an meiner Arbeit auszusetzen?“

„Nein. Doch das soll auch so bleiben.“

Finn nickte. „Vielleicht ist es ein bisschen einsam gewesen in letzter Zeit ...“

Verständnisvoll klopfte ihm Henning kurz auf die Schulter. Schon im Weggehen drehte er sich noch einmal um und zwinkerte. „Geh mal wieder aus! Ich bin sicher, du findest die eine oder andere, die sich dein Schlafzimmer gern näher anguckt.“

Finn rang sich zu einem schiefen Grinsen durch.

„Meine Damen und Herren, ich darf euch einen neuen Kollegen vorstellen: PK Nico Schubert.“ An den Neuen gewandt, ergänzte Henning: „Nico, herzlich willkommen im Trupp Blau!“

„Hallo!“, antwortete der lächelnd und hob grüßend die Hand. Er wirkte groß neben seinem neuen Chef, war geschätzt Mitte 20, sehr schlank, blond, mit dunkelblauen, wachen Augen.

Alle grüßten zurück, dann winkte Henning Finn zu sich. „Nico, das ist Finn. Er ist mein Stellvertreter, wird dir alles zeigen und dir helfen, dich zurechtzufinden.“

Nicos Händedruck war fest.

„Bereit für eine Exklusivführung?“, fragte Finn.

„Na klar!“

Auf ihrem Weg erläuterte Finn den Gebäudekomplex: Sporthalle, Fitnessraum, Umkleidebereiche, Besprechungsräume, Büros, Unterkünfte.

„Wie ist das Essen hier denn so?“, wollte Nico wissen, während sein Blick die Tische in der leeren Kantine überflog.

„Eigentlich gar nicht so schlecht. Aber wenn du’s mal über hast – die Kollegen haben einen ganzen Stapel Prospekte diverser Lieferservices auf den Zimmern.“

„Das ist gut. Essen ist wichtig.“

Finn grinste. Ein Punkt, bei dem man sich offenbar einig war. Nico erwiderte das Grinsen und fuhr fort: „Unser Ausbilder sagte immer: ohne Mampf kein Kampf.“

Lachend gingen sie weiter. Finn zeigte ihm die Gemeinschaftsräume, die die zweckmäßig eingerichteten Doppelzimmer ergänzten, in denen die Belegschaft übernachten konnte. Auf dem Flur blieb Nico plötzlich stehen und deutete auf eine Tür.

„Wer wohnt denn hier?“ Sein Blick galt dem Aufkleber, der auf der Tür prangte: ein kleines, blauhäutiges Männchen mit roter Zipfelmütze und weißem Rauschebart.

„Papa Schlumpf“, erwiderte Finn trocken.

„Hä?“

„Der Chef von Trupp Blau– Henning.“

„Sein Spitzname ist Papa Schlumpf?“

„Besser nicht. Aber den Sticker fand er trotzdem witzig.“

„Wie ist er so als Truppführer?“

„Sehr gut. Absolut zuverlässig. Behält den Überblick. Hab noch keine Situation erlebt, die er nicht im Griff hatte. Allerdings kann er auch unangenehm werden.“

„Wann?“

„Das wirst du heute Nachmittag erleben. Festnahmeübung aus einer Demonstrationssituation heraus. Er liebt es, den renitenten Störer zu geben. – Und hier“, fuhr er fort und deutete zwei Türen weiter, „ist dein Zimmer.“

Finn schloss auf und Nico betrat den Raum. Zwei Einzelbetten an den Seitenwänden, ein Schrank mit zwei Spinden, in der Mitte ein Tisch mit zwei Stühlen.

„Wer ist denn mein Zimmerkollege?“

„Ich.“

„Aha. Dann mal auf gute Nachbarschaft“, sagte Nico und streckte ihm die Hand entgegen. Finn schlug ein. Nicos blaue Augen begegneten ihm. Sein Blick war offen und warm und Finns Finger, die Nicos Hand noch hielten, kribbelten.

Er wandte den Blick rasch ab und zog seine Hand zurück. Alibimäßig blickte er auf seine Armbanduhr.

„Vor der Mittagspause gibt es heute eine Einheit Zugriffstraining in der Sporthalle. Findest Du den Weg dahin?“

„Denke schon.“

„Dann sehen wir uns dort in einer halben Stunde.“

Henning und Mike von Trupp Gelb leiteten das Training in der Halle. Nico erregte schnell Aufmerksamkeit.

„Woher kannst du das denn?“, fragte ein Kollege verblüfft, kaum sah er Nicos blitzschnelle Reflexe.

„Ich habe schon in der Schule mit Taekwondo angefangen. Das hält beweglich und trainiert schnelle Reaktion.“

Es brachte ihm Sympathiepunkte, dass er sein Wissen gern und frei jeder Eitelkeit weitergab.

Auf Wunsch der Übungsleiter nahm Finn Nico für einige Übungen zum Trainingspartner. Beide kämpften absolut fair, aber sie schenkten sich nichts. Am Ende klopfte Nico auf die Matte. Finn stand auf und reichte dem Anderen die Hand. Nico ergriff sie und zog sich hoch. Anerkennend legte er Finn kurz die Hand auf die Schulter. „Das war gut!“

Vor der Nachmittagseinheit winkte Henning Finn zu sich.

„Der Neue ist nicht übel. Fühlen wir ihm mal noch ein bisschen mehr auf den Zahn. Wir machen zwei Durchgänge. Zuerst wird er mich festnehmen müssen. Ich will wissen, was er drauf hat. Beim zweiten Durchlauf kommt Nico in die Störertruppe und du nimmst ihn dir vor. Anschließend sag mir deine Meinung.“

Die Übung leitete Behrendt, der Zugführer. Auch er war gespannt auf die Leistung des Neuen. Finn nahm aus den Augenwinkeln sein zufriedenes Nicken wahr, während er selbst nach dem ersten Durchlauf die Kabelbinder um die Handgelenke der festgesetzten „Störer“ durchschnitt. Viel hatte er von Nico nicht mitbekommen, dafür war er zu sehr mit seiner eigenen Zielperson beschäftigt gewesen.

Nach einer kurzen Pause wurden die Gruppen neu zusammengestellt und Finns neue Zielperson hieß Nico. Überwältigen und festnehmen im Team mit Alex. Nicos blaue Augen leuchteten durch die Schlitze der schwarzen Sturmhaube.

Für einige Sekunden standen sich Polizisten und „Demonstranten“ stumm gegenüber. Dann stürzte Henning mit einem geschrienen „Verfickte Bullenschweine“ los. Nico hatte erstaunt geblinzelt, doch im nächsten Moment grölte er mit den anderen mit und ging zum Angriff über. Er wehrte sich erbittert gegen seine „Festnahme“ und der blitzschnelle Kick, den er Finn aufs Schienbein zimmerte, tat ordentlich weh. Schließlich hatten Finn und Alex ihn zu Boden gerungen. Finn kniete über ihm, fixierte seinen Nacken mit einer Hand. Das Gewicht hatte er auf den Oberschenkel verlagert, mit dem er Nicos Beine in Schach hielt. Immer noch wand der sich unter ihm und keuchte wütend.

„Halt still, verdammt!“, zischte Finn und verstärkte seinen Griff.

„Von wegen, Bulle!“, zischte Nico zurück.

Alex schloss die Handschellen um die auf dem Rücken fixierten Hände. Finn ließ von Nico ab und sie zogen ihn gemeinsam in die Senkrechte.

Wolfs Pfiff ertönte.

„Übung beendet.“

Handschellen wurden geöffnet, Wasserflaschen herumgereicht.

Während die anderen schon zum Duschen gingen, stand Finn mit Henning bei Behrendt.

„Und? Was sagt ihr zum Neuen?“

„Jedenfalls ist er nicht zimperlich“, erwiderte Henning, „Er hat was auf dem Kasten. Ihm fehlt es an Erfahrung, aber er hat sich von mir nicht einschüchtern lassen, als er mich festnehmen musste, sondern seine Sache durchgezogen.“

„Finn?“

„Kann mich nur anschließen. Er lässt sich nicht aus dem Konzept bringen und macht seine Sache ordentlich. Vielleicht schätzt er seine eigene Stärke ein bisschen hoch ein, aber trotzdem ist er ein Teamplayer.“

Henning und Behrendt entließen ihn und er folgte den Vorausgegangenen in die Umkleide.

Nach den Tageseinheiten fühlte er jeden Muskel. Die Arme taten weh, das Schienbein würde für ein paar Tage einen ordentlichen blauen Fleck zieren. Wie alle war er müde, sehnte sich nach einer heißen Dusche, dem Feierabend und der Entspannung. Doch so erschöpft er war, Finn konnte das Gefühl nicht vergessen: Nico unter ihm, wie er sich bewegt und zu wehren versucht hatte. Sein Körper hatte sich an den Innenseiten seiner Oberschenkel gerieben, feste, angespannte Muskeln, kraftvolle Beweglichkeit. Aus dem Nichts hatte ihn von oben bis unten eine Gänsehaut überzogen.

Unter der Dusche ertappte er sich dabei, dass er Nico anstarrte –seinen Körper, den Hintern, seinen Schwanz. Es war kein kurzer, fast reflexartiger, automatischer und möglichst unauffälliger Blick, den man eben warf, wenn man jemanden kollegial nackt sah. Nein. Er bemerkte es erst nach einer Weile, riss seine Augen weg. Sein Herz raste vor Schreck, hämmerte ihm in den Ohren. Der Duschraum war nicht groß, dampfgefüllt und Finn flehte stumm, dass niemand aufmerksam geworden war. Sein Gesicht glühte. Er drückte sich an die Wand, drehte das Wasser mit einem Griff auf kalt und schnappte unter den eisigen Strahlen nach Luft. So schnell wie möglich wusch er sich zu Ende und verließ die Dusche fast fluchtartig.

Egal, was er an diesem Abend tat, er fühlte Nico zwischen seinen Schenkeln. Bei der Erinnerung an das angestrengte, wütende Keuchen wurde er hart. Mit einer Nachhaltigkeit, die Ignoranz ausschloss. Schon bei der ersten Berührung wurde seine Hand feucht. Er bebte, verrieb die Tropfen. Es dauerte nicht lange. Das Bild von Nico unter der Dusche reichte aus. Er bäumte sich auf, schob sich noch einmal tief in seine enge Faust, atmete gepresst. Sein Schwanz zuckte und mit der quellenden, nassen Wärme kam die Entspannung.

Danach hielt Finn sich von Nico fern, so gut es ging. Weiterhin galt, dass er Ansprechpartner für ihn war und ihm zur Seite stand. Aber er vermied jeden körperlichen Kontakt und beschränkte alles Weitere auf ein akzeptables Minimum. Er passte auf, dass Nico möglichst andere Trainingspartner bekam, ging vor oder nach ihm duschen und sah bewusst weg. Doch in seinem Inneren wühlte täglich ein neuer, unbekannter Schmerz.

Drei Wochen später gab Nico seinen Einstand aus. Er hatte den ganzen Zug in ihre Lieblingskneipe eingeladen, ein uriger, gemütlicher Ort mit angenehmer Musik und Atmosphäre. Ein paar Dutzend gut gelaunte Polizisten feierten mit dem Neuen. Nico musste – angefeuert von allen männlichen Kollegen – gegen Nicole am Kicker antreten. Doch auch er schlug die Meisterin nicht.

„Tröste dich!“, sagte einer nach der Niederlage. „Gegen sie hat niemand von uns eine Chance. Keinen Schimmer, wie sie das macht …“ Die Frauen stießen jubelnd auf ihre Siegerin an.

Beim Darts war er ziemlich gut. Nicos Stärke lag jedoch eindeutig am Pooltisch. Der Queue schien eine angewachsene Verlängerung seines Arms zu sein.

„Das gibt’s doch nicht!“ Bernd, der gegen ihn spielte, sah ungläubig auf den grünen Stoff. Nico hatte zwei Kugeln auf einmal versenkt. „Das war Zufall!“

„Können, mein Lieber, Können“, antwortete der und grinste.

Die Stimmung war entspannt. Irgendwann landete Nico an einem Tisch, an dem Finn mit anderen Kollegen beim Bier saß. Einer faltete aus einem herumliegenden Flyer einen Papierflieger.

„Was’n das?“, fragte Heike. Sie nahm dem protestierenden Bastler den Flieger aus der Hand und entfaltete das Papier wieder. „Velspol …“, las sie vor.

„Hä?“, fragte Tom neben ihr durch den Lärm.

„Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter“, erläuterte sie.

„Ach so.“ Tom lehnte sich zurück. „Hamwa nich.“

Heike sah ihn kopfschüttelnd an. „Na und?“ Mit einem Blick auf seinen Bierdeckel fügte sie hinzu: „Du hast ja ganz schön zugeschlagen.“

„Kostet ja heut nix“, erwiderte Tom und deutete in Richtung Nico.

„Okay, ich glaube, wir müssen ihn vor dem sicheren Bankrott retten. Los, wir spielen jetzt ’ne Runde Darts!“

„Das schaffe ich glaube ich nicht mehr so gut …“ Tom richtete sich sichtbar konzentriert und mit merklich Mühe auf.

„Na super, dann gewinne ich!“, gab Heike zurück und stand auf, „Los!“

Tom folgte ihr murrend und die anderen erhoben sich lachend, um das bevorstehende Match aus nächster Nähe zu verfolgen.

Bis auf zwei.

Finn und Nico waren sitzen geblieben. Jeder mit seinem Bier vor sich. Auf der Tischplatte lag der halb entfaltete Papierflieger. Stille senkte sich zwischen sie. Nico begann, eine Ecke des Fliegers umzuknicken. Finn war auf einmal beklommen zumute. Es war peinlich, hier so stumm zu sitzen, aber er war nicht in der Lage, einen Ton hervorzubringen. Er schien sich auch nicht rühren zu können. So saß er da, die Hand um sein Glas gelegt, die Augen auf Nicos Finger geheftet, die die Papierecke umknickten. Knick. Knick. Knick …

Lauter Jubel erscholl und Nico drehte sich, um zu sehen, woher er kam. Er stand auf und ging zu den anderen, die vor der Dartscheibe standen. Allein am Tisch kehrte Leben in Finns Körper zurück. Ihm war heiß, sein Herz raste. Wie lange hatten sie hier gesessen? Er sollte gehen, jetzt, unauffällig und schnell. Aber er tat es nicht.

Irgendwann war nur noch eine Handvoll Leute übrig, die sich in den frühen Morgenstunden voneinander verabschiedeten. Am Ende standen Finn und Nico allein in der Gaststube. Sie nahmen ihre Jacken von den Stuhllehnen und zogen sie an. Nico griff nach dem Papierflieger, entfaltete und glättete ihn.

„Gibt’s bei euch keine?“, fragte er auf einmal in die Stille.

„Was?“

„Schwule Polizisten? Oder lesbische?“

Finn zuckte mit den Schultern. „Ich kenne zumindest keine.“

Sie traten zusammen in die eisklare, kalte Februarnacht.

Nico drehte sich zu ihm und Finn erwiderte die Geste in der Erwartung, sie würden sich voneinander verabschieden.

Doch Nico sagte etwas anderes: „Einen kennst du.“

Finn erstarrte. Er hat etwas gemerkt, er hat etwas gemerkt, rotierte eine Schleife in seinen Gedanken.

„So?“ Das Wort verließ seinen Mund tonlos.

Nico sah ihn an, ganz direkt. Sein Blick war intensiv und voll und traf in Finn einen Punkt, der schmerzte.

„Mich“, sagte er dann ruhig.

Finn wurde schwindlig. Sein Kollege stand abwartend vor ihm. „Okay“, antwortete er mit einer Stimme, die nur ein Krächzen war. Er räusperte sich. „Kein … kein Problem.“

„Gut“, erwiderte Nico leise und hob grüßend die Hand. „Gute Nacht! Oder besser: Guten Morgen!“

„Gute Nacht!“

*

Später im Bett wälzte Nico sich schlaflos von einer Seite auf die andere. Die Szene vor der Bar ging ihm nicht aus dem Kopf. War es richtig gewesen, sich Finn gegenüber zu outen? Dieser Mann löste, seit er ihm das erste Mal begegnet war, eine Faszination in ihm aus, die er nicht leugnen konnte. Sein muskulöser, starker Körper im Zusammenspiel mit dem ruhigen, sicheren und sanften Wesen ergab eine Mischung, die ihn extrem anzog.

Schnell hatte er mitbekommen, wie wichtig Finn für den ganzen Trupp war. Alle vertrauten ihm. Sein Überblick, seine Ruhe und seine taktischen Fähigkeiten bei schwierigen Lagen machten ihn zu einer Art Fels in der Brandung. Die Wertschätzung ihm gegenüber war ähnlich groß wie die für ihren Chef. Nico bewunderte ihn dafür.

Dann fiel ihm der Velspol-Flyer ein, den Heike in der Bar entdeckt hatte. Das Verhalten der anderen hatte dem entsprochen, was er bisher in derartigen Situationen erlebt hatte. Frauen hatten mit Schwulen meistens keine Probleme. Für Männer dagegen schien es zwingend notwendig zu sein, in so einem Fall ihre Heterosexualität zu betonen. Sollten sie doch. Er würde sie nicht daran hindern.

Er drehte sich zum fünften Mal von links nach rechts und boxte gegen das Kissen. Seine Gedanken kehrten zurück zu Finn. Das Kribbeln war sofort wieder da. Er schloss die Lider, sah ihn vor sich. Haselnussbraune, warme Augen unter ebenso dunklen Haaren. Die längeren Strähnen über den kurz geschnittenen Seiten, meist ein wenig verwuschelt, ergaben mit dem Dreitagebart einen Look, der knapp an „gerade aufgestanden“ vorbeischrammte – auf eine ziemlich unwiderstehliche Art. Die definierten Muskeln verrieten, dass er viel Sport trieb. Seine Brust war nur von einem Flaum bedeckt, auch sonst hatte er wenig Körperbehaarung. Im Schwanzvergleich mit den anderen Kollegen belegte er einen Platz unter den Top Five. Der Gedanke an diesen Schwanz hatte Nico schon des Öfteren beschäftigt, genau wie der an Finns Arsch. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie ein Klaps auf diesem knackigen Teil klingen würde. Ebenso, wie sich die Haut unter seinen Fingern und seiner Zunge anfühlte, und nicht nur die von Finns Hintern... Im Gegensatz zu ihm wusste er aber, wie man Blicke verbarg. Der andere hatte nie wahrgenommen, dass er ihn scannte, er wiederum hatte dessen Blicke sehr wohl bemerkt, wenn auch nichts darauf gefolgt war.

Vielleicht war sein spontanes Outing der Faszination für Finn geschuldet und dem Bedürfnis, eine Reaktion von ihm zu bekommen? Denn obwohl ihr dienstliches Verhältnis freundlich und korrekt war, schien der ihn zu meiden, wo immer es möglich war. Da am Tisch, zu zweit schweigend, war Nico sich plötzlich sicher gewesen, dass den anderen etwas bedrückte. Er hatte sich gefragt, ob das mit ihm zu tun hatte. Möglicherweise hatte dies auch zu dem beigetragen, was er vor der Tür preisgegeben hatte. – Doch aus Finns Antwort war nicht viel herauszulesen gewesen.

*

In einem anderen Viertel der Stadt fand Finn ebenfalls keine Ruhe. Er saß auf der Couch, viel zu aufgedreht fürs Bett. Sein Herz raste, es hatte ihn den ganzen Heimweg gejagt. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. Er schwankte zwischen dem Bedürfnis, sich zu übergeben und dem Ekel davor. Was davon Übelkeit war und wie viel dem Schmerz entstammte, der seit Wochen sein Begleiter war, wusste er nicht.

Nicos Outing hatte ihn völlig überrumpelt. In seinem Kopf herrschte Chaos. Er traute weder seinen Gedanken noch seinen Gefühlen, wollte nicht wahrhaben, was sie ihm vermittelten. Doch es gab eine Stimme, die verdammt nach Wahrheit klang, ob er sie hören wollte oder nicht. Sie sagte ihm, dass er Sex zwischen Männern erotisch fand und dass seine Sehnsüchte, spätestens seit er Nico begegnet war, über die Lust am bloßen Zusehen hinausgingen. Sie wusste um seine Angst und seine Unsicherheiten. Seine Erziehung war tief in ihm verwurzelt und seine Eltern hatten ihn gelehrt, dass alles, was jenseits von heterosexuellem Sex und Liebe existierte, nicht normal war.

Solche Menschen waren gestört oder krank. Dass er sich fragte, ob er krank oder gestört war, darüber wusste die Stimme Bescheid. Sie sagte ihm nicht, ob er schwul war oder nicht. Sie sagte ihm auch nicht, ob es lächerlich war, sich mit fast dreißig Jahren diese Fragen zu stellen. Ihre Bestandsaufnahme war nüchtern.

Schließlich stand er vor dem Badezimmerspiegel und sah seinen eigenen Blick: zerrissen, zutiefst verunsichert. Der undefinierbare Schmerz begleitete ihn ins Bett. Am liebsten wollte er sich zusammenrollen, sich schützen vor dem, was ihm Angst machte, für das er kein Wort fand.

Die Erkenntnis, die ihn plötzlich traf, riss ihn aus dem Halbschlaf. Senkrecht saß er da, den Blick ins Dunkle gerichtet. Sein Herz hämmerte, er keuchte.

Sehnsucht und Wollen, daraus bestand der Schmerz in ihm. Er wollte Nico. Er begehrte ihn mit einer Heftigkeit und einem Verlangen, das die hämmernde Frage nach dem Warum, dem Falsch oder Richtig zu einem Nichts zertrat. Er wollte ihn fühlen, alles von ihm, ihn hören, riechen, schmecken, ihm so nahe kommen, wie es nur irgend möglich war; eins sein mit ihm …

Nicos Bild stand ihm vor Augen. Innerhalb von Sekunden wurde er schmerzhaft hart und fasste sich an, musste es einfach tun. Er rieb schnell und fest. Über sein Gesicht liefen Tränen.

4. Verloren

Lähmende Angst sorgte dafür, dass Finn Nico weiter aus dem Weg ging, wo es möglich war. Er würde es nie wagen, ihn anzusprechen, schon gar nicht auf das, was er fühlte. Er kam gegen seine Furcht nicht an. Sie machte ihn hilflos, manchmal wütend, denn so kannte er sich nicht. Vor einigen Tagen hatte er ein paar Kollegen grundlos angebrüllt. Bisher war er nie ausgerastet. Gerade das war eine seiner Stärken.

Ein Gespräch mit Henning war die Folge. Und diesmal ließ der sich nicht so leicht abwimmeln.

„Finn, wenn du nicht mit mir reden willst – musst du ja nicht – dann lass dir doch mal einen Termin beim Bauer geben. Wenn du möchtest, mache ich den auch für dich.“

Stefan Bauer war der für sie zuständige Psychologe, ihr „Seelenklempner“.

„Nicht nötig.“

„Klar, sowas klingt erstmal blöd. Aber er ist gut und hilft. Außerdem erfährt hier keiner was. Ich halte den Mund, das weißt du.“

Finn nickte. „Weiß ich. Danke. Trotzdem: Ich krieg‘s allein hin.“

Henning verbarg seine Skepsis nicht. Er zögerte, bevor er antwortete. „Okay. Ich muss dir nicht sagen, wie wichtig mentale Stabilität für uns ist. Auch nicht, wie wichtig du für das Team bist. Krieg auf die Reihe, was da ist, ja?“

Finn atmete auf. Entschuldigt hatte er sich bei den Kollegen ohnehin sofort. Er wollte nicht mit einem Psychologen sprechen, denn er hatte Angst, dass seine Gefühle ihn überwältigen und er etwas von dem preisgeben würde, was niemand erfahren durfte. Stefan wurde durchaus geschätzt, aber er würde es ohne dessen Hilfe hinbekommen. Er war ein harter Kerl.

Deshalb hängte er sich in die Arbeit, trieb sich beim Training an und über die eigene Grenze, um seinen Gedanken zu entkommen, um den inneren Schmerz mit dem Muskelschmerz zu betäuben. Er redete sich ein, dass alles ein einziger, großer und bescheuerter Irrtum war, er sich da etwas Riesiges zusammengesponnen hatte. Es gab einen Teil in ihm, der ihm deutlich sagte, dass er sich damit in die Tasche log, aber er klammerte sich an den Trugschluss.

Eines Abends ging er aus. Der Plan sah vor, eine Frau kennenzulernen, sich abschleppen zu lassen oder sie seinerseits abzuschleppen und mit ihr im Bett zu landen. Der Sex würde seinen Kopf endlich wieder geraderücken. Er musste es einfach.

Finn war noch nie darauf aus gewesen, mit irgendwem bedeutungslosen Sex zu haben. Etwas in ihm sträubte sich auch jetzt dagegen. Egal.

Es war ganz leicht. Er stand mit einer Flasche Bier in der Hand lässig an die Wand der Bar gelehnt und sah den Tanzenden zu. Keine halbe Stunde später war er in einen angenehm belanglosen Smalltalk verwickelt. Sein weibliches Gegenüber hatte hellblonde Haare, einen schlanken Körper, dessen Kurven elegant von einem schwarzen Cocktailkleid betont wurden und lange Beine, deren Füße in beeindruckenden High Heels steckten. Sie redeten eine Stunde, dann tanzten sie und sollte er bis dahin noch einen leisen Zweifel gehabt haben, die Art, wie sie mit ihm tanzte, sagte ihm deutlich, dass sie das Gleiche wollte wie er.

„Wie wäre es mit einem Schlummertrunk bei mir?“

Er nickte. Sie küsste ihn. Er erwiderte den Kuss und ignorierte das leise Panikgefühl, das sich in ihm ausbreitete. Sie nahm seine Hand und lotste ihn durch die Menge zum Ausgang.

Sie gingen durch die Nacht, ihre Hand in seiner.

„Es ist nicht weit“, hatte sie im Club gesagt. Drei Straßenecken weiter griff sie in ihre Handtasche. Ein Schlüssel klapperte. Sie schob ihn ins Schloss der Haustür, ließ ihn dort stecken und wandte sich zu ihm. Lächelnd legte sie ihre Hände um sein Gesicht und küsste ihn erneut, sehnsüchtig und tief. Er fühlte ihre weiche Zunge in seinem Mund und ihren Körper, der sich an ihn schmiegte, zog sie näher. Doch in ihm geschah nichts. Sie löste den Kuss, sah ihn verführerisch an und drehte sich wieder zur Tür, um aufzuschließen.

Das Panikgefühl überschwemmte ihn. Ich will das hier nicht. Ich kann nicht. Ich muss hier weg.

„Es … es tut mir leid …“

„Was ist denn los?“

„Ich muss gehen.“

„Was? Wieso?“

„Tut mir leid.“ Er rannte los, wie gehetzt, bis nach Hause. Keuchend stützte er sich an der Hauswand ab. Seine Lungen brannten, er zitterte und schwitzte. Das Kartenhaus war eingestürzt.

*

Am darauffolgenden Wochenende hatten sie einen Einsatz bei einem Fußballspiel. Die Stimmung im Bus war angespannt.

„Das wird kein Spaß“, hatte Henning in seinem Briefing gesagt. „Es gibt ’ne Menge Schläger unter den Fans. Auf beiden Seiten, alte Feindschaften und so. Die Kollegen vor Ort sind bemüht, dass einige bekannte Störer gar nicht erst ins Stadion gelangen. Das Potenzial für Krawall ist trotzdem hoch. Deeskalation heißt das Motto der Stunde. Wir setzen alles daran, Konfrontationen zu vermeiden.“