Wolkenschattenspiele - Helmut Manthey - E-Book

Wolkenschattenspiele E-Book

Helmut Manthey

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Beschreibung

Eine alte Dame unternimmt eine Reise in ihre Vergangenheit: „… Ich kam im April 1925 auf Hanswarft zur Welt. Dass ich in die Goldenen Zwanziger Jahre hineingeboren wurde, erfuhr ich Jahrzehnte später. Die Hallig war noch nicht mit der Strom- und Wasserversorgung des Festlandes verbunden. Das war die Ausgangslage. Sie war nicht gerade golden, kam mir aber so selbstverständlich vor wie alles andere - die Warften, die Fennen, der Deich und das Meer …“.
Auf einem Eiland in der Nordsee geraten Fiona Nissen, der wissensdurstige Geschichtsstudent Benno sowie Patty, eine lebenslustige Amerikanerin, in den Strudel der Gezeiten. Das Meer nimmt und das Meer gibt. In der unverwechselbaren Landschaft Nordfrieslands spinnt der Roman die Geschichte der Hallig Hooge in den 30er und 40er Jahren. Leser atmen die Salzluft des Wattenmeeres ein und hören plattdeutsche Wortfetzen.
Fiona Nissen beginnt bei ihrer Kindheit: „… Irgendwann kam Moder, pustete die Kerze aus und sagte: ,Nu sloopt schöön un deep.‘ … „Deine früheste Kindheitserinnerung ist …?“, fragt Benno und Fiona antwortet: „Furcht“.
… „Wie habt ihr auf der Hallig den Kriegsbeginn erlebt?“
„Schwer zu sagen, 1939 war ich vierzehn.“
„Du bist der Historiker, Benno. Das musst du erforschen“, meint Patty.
Die beiden spüren: Das Geschehen hinter dem Horizont, der ‚Zeitgeist‘ des Festlandes, verdüsterte die Wolkenschattenspiele der Halligkinder. Während Fiona hierüber bereitwillig Auskunft gibt, kommen Benno und Patty einem Geheimnis der Friesin auf die Spur. Aber nicht nur Fiona, auch die Amerikanerin scheint etwas zu verbergen …

Helmut Manthey, geboren 1952, war als Volkswirt in der staatlichen Verwaltung tätig. Im Ruhestand verwirklichte er seinen Lebenstraum: einen Roman zu schreiben, der auf der Hallig Hooge spielt - dem Sehnsuchtsort seiner Kindheit. Hier verbrachte er sämtliche Schulferien. Der Autor lebt mit seiner Frau in Norddeutschland.

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Helmut Manthey

W o l k e n s c h a t t e n s p i e l e

Ein Hallig - Roman

© 2021 Europa Buch

europabuch.com

ISBN 979-12-201-0318-3

Erstausgabe: April 2021

W o l k e n s c h a t t e n s p i e l e

Ein Hallig - Roman

Für

Eva - Maria

Vergangenheit hört nicht auf,

sie überprüft uns in der Gegenwart.

Siegfried Lenz

Vor der Groten Mandränke 1362 rasten die Wolkenschatten über weitgehend geschlossenes Land. Bis das Meer beschloss, es aufzubrechen und in Inseln und Halligen zu unterteilen. Nicht alle, die etwas abbekamen, durften es behalten. Etliche zwang das Meer, erhaltenen Besitz wieder zurückzugeben. Manche verloren alles.

Seither hat sich viel verändert. Die Wolkenschatten sind geblieben.

I.

Warms is goot för Lief un Seel

(Wärme ist gut für Leib und Seele)

Das Projekt

‚Ich wuchs inmitten der nordischen Gezeitenströme auf einem Fleckchen Erde auf, den weiträumige Seekarten kaum größer als einen Punkt verzeichnen. Inzwischen achtundachtzig Jahre alt, stelle ich fest, dass dieser Punkt die stärksten Eindrücke in meinem Leben hinterlassen hat. Ich wäre bereit, an Ihrem Vorhaben mitzuwirken. Bei Interesse nehmen Sie bitte Kontakt mit meinem Sohn Roni Finck auf. Er wird Ihnen Unterlagen zusenden. Die Rufnummer lautet …‘

„Spreche ich mit Herrn Finck?“

„Korrekt.“

„Guten Abend! Mein Name ist Benno Harms. Ich habe Mitte Januar in der Nordwest-Zeitung ein Inserat aufgegeben, auf das sich Ihre Mutter Fiona Nissen gemeldet hat. Die Universität Bremen plant für das Sommersemester 2013 ein Forschungsprojekt über das frühere Alltagsleben in abgelegenen Regionen Deutschlands. Wir wollen siebzig bis achtzig Jahre zurückblicken und sind erfreut, dass Ihre Mutter mitmachen will und für Interviews vor Ort zur Verfügung stehen wird.“

„Aha, interessant. Das überrascht mich jetzt. Aber eigentlich kann ich mir das von meiner Mutter lebhaft vorstellen. Sie hat immer viel über ihre Jahre auf der Hallig erzählt - auch später noch bei Kaffeebesuchen an Sonntagnachmittagen. Ich hörte vom Alltag ohne Strom und fließendes Wasser und erfuhr, wie die ‚Ümstänne‘ - so nannte Opa Nissen die damaligen Verhältnisse - das kleine Eiland im Wattenmeer erschütterten. Soweit gewünscht und es mir möglich ist, unterstütze ich das Projekt.“

Eine halbe Stunde später läutet Bennos Telefon. Roni ist am Apparat: „Entschuldigen Sie bitte, Herr Harms, ich habe da noch ein familiäres Anliegen. Vielleicht kann Ihr Projekt mir weiterhelfen. Natürlich nur, wenn es keinen zu großen Aufwand verursacht. Könnten Sie mir hin und wieder Interviewausschnitte über die Freundschaften meiner Mutter mit Jungs und jungen Männern zusenden? Über einige hat sie so viel erzählt, dass sich mir die Frage aufdrängte, ob einer von ihnen womöglich mein wirklicher Vater ist. Beim Sonntagnachmittagskaffee wäre das natürlich eine No-Go-Frage gewesen. Gegenüber einem neutralen Interviewer wird sich meine Mutter vielleicht eher äußern. Ich weiß, das klingt ein bisschen heikel, aber ich bitte Sie um Verständnis, denn die Frage beschäftigt mich seit langem.“

Benno antwortet, er werde der Bitte nachkommen - vorausgesetzt, das Wattenmeer biete Internetzugang. Dann skizziert er seine Zeitplanung. „Im Februar fahre ich zum Biikebrennen und schaue mich schon mal auf der Hallig um. Die Interviews starten im April. Im Spätsommer will ich fertig sein, um meine Seminararbeit rechtzeitig vor dem neuen Semester abzugeben.“

Rußiger Teint

„Blutrote Fackeln werden durch die Lüfte wedeln.“ Die Worte erscheinen Benno so überdreht, dass er sich irritiert nach der Sprecherin umschaut. Er erblickt sie im Halbdunkel am Rand des Platzes. Obwohl er in ihren Augen unter dem lockigen Haar etwas Bestimmtes gesehen zu haben glaubt, wendet er den Kopf gleich wieder zurück, denn der Höhepunkt des Abends steht bevor: Das Petermännchen wird in Flammen aufgehen. Das Männchen ist eine Puppe. Kindsgroß im Rock thront sie an der Spitze des Haufens aus Treibholz und Gestrüpp. Angestachelt vom rhythmisch fordernden Klatschen der Menge hebt auch Benno die Hände und stimmt in den Ruf ein: „Mook de Biike an!“1 Ein Mitglied der Halligfeuerwehr tritt heran und entzündet mehrere Scheite. Nach kurzer Zeit schießt aus einem kleinen knisternden Brandherd eine rote Feuersäule empor. Benno denkt an die ‚blutroten Fackeln‘ und nimmt an, dass die Frau der winterlichen Spröde am Hallig-Deich einen bildhaften Akzent entgegensetzen wollte. Da züngeln die Flammen auch schon am Rock des Petermännchens. Tagelang haben Halligkinder an der Puppe gebastelt, sie mit Stroh ausgestopft und mit Sackstoff umwickelt. Nun gucken sie mit leuchtenden Augen zu, wie sich ihr Werk binnen weniger Sekunden in Rauch und Asche auflöst. Unwillkürlich kommt Benno der Gedanke: ‚Entstehen und vergehen - der ewige Kreislauf im Wattenmeer‘.

Minuten später spürt er hinter seinem Rücken eine Bewegung und im nächsten Augenblick, wie eine Hand über seine Wange reibt. Dazu die Stimme, die erneut geschraubte Worte von sich gibt: „Die Flammen gieren in den Himmel, als wäre da noch mehr zu holen.“ Er dreht sich um, starrt auf die Frau, erkennt sie aber kaum wieder, denn ihr Gesicht ist eingeschwärzt. Unheimlich erscheint ihm der nahe Anblick. Sie lacht ihn an. Greller Feuerschein reißt das Weiß der Zähne aus dem Dunkel und taucht den schwarz getünchten Teint in ein noch tieferes Schwarz. Das ist Ruß, stellt er überrascht fest. Auch ihre Hände, mit denen sie sein Gesicht berührt hat, sind rußig. Wahrscheinlich sehen meine Wangen jetzt genauso schwarz aus, denkt Benno verärgert und fragt sich, ob der Brauch, mit holzkohlegeschwärzten Händen über andere Gesichter zu fahren, nicht eher etwas für Kinder ist. Aus der Entrüstung keimt ein neuer Gedanke: Er will die Frau herausfordern. „Gierende Flammen, blutrote Fackeln“, zitiert er, „offenbar kennen Sie sich mit den Biike-Riten aus. Dann wissen Sie sicher, ob schon Ihre Vorfahren hier zusammengestanden haben. Trieben als erste die Wikinger den Winter und böse Geister mit großen Feuern aus - womöglich vor ihnen schon die Neandertaler? Oder begann der Ritus erst mit dem Walfang als Geleit für die Walfänger beim Start in die neue Fangsaison? Krönten schon Ihre Urväter die Spitze des Holzhaufens mit einem heidnischen Gegenstand?“ Die Frau macht einen Schritt rückwärts, als hätte der Wortschwall ihr einen Stoß versetzt. Auch ihn überrascht seine Redeweise, die ihm auf einmal genauso hochgestochen vorkommt wie ihre. Will er sich spontan anpassen? „Über meine Urväter weiß ich wenig“, hört er sie antworten, während er darüber nachdenkt, was gerade in ihm vorgeht. „Friesische Walfänger waren es sicher nicht, wenn ich den Abstand ihrer Fanggründe zu meinem Geburtsort bedenke.“ „Sie sind nicht von der Hallig?“ „Ich lebe in Kalifornien.“ Bennos Staunen nimmt zu, als die Frau ihn vertraulich am Ärmel packt. „Komm! Fremde an fremden Orten sollten sich zusammentun, lass uns näher an den Haufen treten.“ Verdutzt bleibt Benno stehen. „Woher wissen Sie, dass ich fremd bin?“ „Das sehe ich.“ Die Antwort gibt Benno erneut ein Rätsel auf, doch weil die Frau dem glühenden Haufen bedenklich nahe kommt, eilt er hinterher und umschlingt sie an den Schultern, um sie am Weitergehen zu hindern und ihre Gesichtshaut vor Verbrennung zu schützen. Im selben Augenblick fängt die Menge an zu johlen: „Gruß an die neue Jahreszeit!“, und die Frau johlt mit. Dann plötzlich, als es ringsum immer lauter wird, bleibt es neben Benno merkwürdig ruhig. Die Frau ist im Getümmel verschwunden. „Leider muss ich los“, hört er ihre Stimme aus unbestimmter Richtung, worauf er enttäuscht ins Dunkle starrt. Er hat sie doch zum Tee einladen wollen.

Am Heißgetränkestand denkt er an die Szene zurück. Vergeblich hat er unter den schemenhaften Figuren im Umkreis des Biikehaufens nach der Frau gesucht. Was mag es für Gründe für ihr merkwürdiges Verhalten geben? Ist es vielleicht ein neckischer Trick gewesen, und sie hat ihn in Wahrheit gar nicht verlassen, sondern dazu bringen wollen, nach ihr zu suchen? Eine Idee, die ihn kurz so erregt, dass er erneut nach ihr Ausschau halten will. Da hört er einen Zuruf vom Stand, als hätte die Bedienung seine Verwirrung bemerkt: „Warms is goot för Lief un Seel!“2 Schon gießt sie heiß dampfenden Tee in einen Becher und fragt wie nebenbei: „Mit oder ohne Schuss?“ Weil Benno zu lange mit der Antwort zögert, trifft die Bedienung selbst die Entscheidung: „Also mit, dat wüllt all bi de Küll.“3 Benno schmunzelt über die unbekümmerte Eigenmächtigkeit, mit der hinter dem Standtresen nach einer Flasche Aquavit gegriffen und der Teebecher aufgefüllt wird. ‚Ist das die friesische Art?‘, fragt er sich. Anscheinend gibt es hier draußen, weit vor der Küste, spezielle Gepflogenheiten. „Annelies, Wirtin des Frieslandpesels.“ Benno schüttelt die ausgestreckte Hand und nimmt aus der anderen den Becher entgegen. „Benno Harms, Student. Ich habe für die Nacht ein Zimmer bei Ihnen gebucht.“ „Die Daunendecke liegt schon bereit, Sie werden gut bei mir schlafen“, sagt die Wirtin und ergänzt mit einem Fingerzeig auf den Becher: „Bitoo, wi seggen Köm dor to.“4 Benno nickt und registriert zufrieden den Nutzen seiner Plattdeutsch-Hör-CD, in die er auf der Herfahrt mehrmals reingehört hat. „Was treibt Sie ausgerechnet im kältesten Monat auf die Hallig?“, fragt Annelies. „Ein kurzer Abstecher, morgen geht’s schon zurück“, antwortet Benno. „Aber im Frühjahr komme ich wieder.“ „So sehr gefällt’s Ihnen hier?“ Annelies streicht ironisch mit der Hand über die unwirtliche Szenerie, als müsse sie den im Ton mitschwingenden Zweifel unterstreichen. „Zugegeben“, fährt sie fort, „um diese Jahreszeit zieht es kaum Touristen in unsere Gegend, doch im Frühling werden Sie die Hallig nicht wiedererkennen. Die Fennen blühen, und der Wind treibt weiße Schäfchenwolken über den blauen Himmel.“ Benno blickt in den Dampf über dem Becher. „Darf ich dann wieder bei Ihnen schlafen?“ Kurz zuckt er zusammen, fast hätte er sich am heißen Becherrand die Lippen verbrannt. War die Frage zu forsch? Nein, jedenfalls ist der Wirtin nichts anzumerken. „Wenn im Restaurant die Hauptsaison beginnt, habe ich keine Zeit für Übernachtungsgäste. Ich werde meinen Bruder fragen. Broder vermietet Zimmer auf Ockelützwarft.“

Auf dem Platz treffen weitere Festbesucher ein und drängen an den Teepunschstand. Benno tritt zur Seite, möchte das Gespräch mit Annelies aber fortsetzen. Immerhin hat sie gefragt, ob es ihm hier gefalle. „Der Alltag der Hallig interessiert mich“, ruft er über Köpfe hinweg. „Der Alltag vor siebzig, achtzig Jahren, als Fiona Nissen hier lebte. Vielleicht kennen Sie die Familie…“ Annelies ist viel zu beschäftigt, um weiter zuzuhören. Und die Wartenden schauen unbeteiligt zur Seite. Benno begreift. Warum auch sollte sich jemand ausgerechnet am Biikeabend für ein Uni-Projekt interessieren? Ihn selbst begeistert die Idee, Menschen zu interviewen, die in den zwanziger Jahren geboren wurden. Sie sind die einzigen, die noch leibhaftig über die dreißiger und vierziger Jahre berichten können. Er ist gespannt auf den Menschenschlag hier draußen im Wattenmeer, wo der Spruch „Lever duad as Slav“5 ersonnen wurde - von Menschen, die besonders weit vom Festland wegzogen, weil sie die Freiheit besonders liebten.

Benno umrundet den Biikehaufen. Halligleute stehen in Gruppen zusammen und hauchen wärmenden Atem in ihre Handschalen. Jedes Gesicht, ob jung oder alt, erstrahlt im Widerschein des Feuers. Man mustert Benno, er fällt auf. Überall lebhaftes Gespräch. Frauen, die ihre Wintermäntel ungeknöpft lassen, um stolz die silbernen Brustlatze ihrer Trachten zu zeigen, erregen Bennos Aufmerksamkeit. Der Teepunsch wirkt. Er traut sich, dicht an die Menschen heranzutreten. Vielleicht kann er etwas von ihrem Plattdeutsch verstehen. Annelies’ knappen Sätzen hat er folgen können, aber im Stimmengewirr ist es schwierig. Da hört er Worte auf Hochdeutsch. „Wahrscheinlich muss sie kellnern, im Frieslandpesel werden nachher noch Gäste erwartet“, raunt ihm ein Halligmann zu, der die Szene vorhin offenbar beobachtet hat. ‚Wenn das so ist, werde ich sie im Frühjahr wiedersehen‘, hofft Benno insgeheim. „Mein Name ist Broder Magnus. Annelies sagte, Sie möchten im Frühling ein Zimmer mieten. Kommen Sie nachher mit mir, ich zeige Ihnen eins. Immer gut, wenn man frühzeitig bucht.“

Im April 2013 starten Benno Harms und Fiona Nissen das Hooger Interviewprojekt, für das die Uni ein Gästezimmer auf Hanswarft angemietet hat. Fiona macht es sich in der Sofaecke bequem, Benno sitzt am Tisch vor seinem Notizblock. „Dass ihr jung Lüüd euch für uns Alte interessiert, gefällt mir“, sagt Fiona zur Eröffnung. Sie füllt eine Schale mit Gebäck und stellt zwei Gläser Wasser dazu. „Wenn meine Kindheits-, Jugend- und Jungerwachsenenerinnerungen euren Studien nützen, unternehme ich gern eine Reise in meine Vergangenheit.“

Benno hat ein klares Ziel: Fiona Nissen soll der Hallig das frühere, kaum noch bekannte Gepräge verleihen, indem sie die Zeit vor einem Dreivierteljahrhundert noch einmal im Geist durchlebt. Ganz im Sinne des Professors, der den Seminarteilnehmern die Forderung ‚Achten Sie auf Authentizität!‘ mit auf den Weg gegeben hat. Und er selbst? Wie kann er zum Projekterfolg beitragen? Aufmerksam zuhören will er und versuchen, sich in die Gefühle seiner Interviewpartnerin hineinzuversetzen. Gute Vorsätze, doch als er Fiona zum ersten Interview gegenübersitzt, fällt ihm keine erste Frage ein. Ausgerechnet auf den Einstieg ist er nicht vorbereitet. Fiona bemerkt seine Unsicherheit und räuspert sich verständnisvoll: „Der Anfang ist immer das Schwerste.“ Benno nickt. „Ich wollte spontan beginnen und habe mir nur kurz auf dem Zettel notiert: Fenster in die Vergangenheit der Hallig öffnen.“ Fiona lacht. „Schönes Motto. Aber vielleicht fängst du einfach bei dir an. Wie bist du ins Projekt gestartet?“ „Besten Dank für Ihren Vorschlag. Wäre ich selbst nicht drauf gekommen.“ „Gut, dass du ehrlich bist. Das mag ich. Kannst übrigens ‚Du‘ to mi seggen, dat is gang un geev bi uns.6 Sag einfach Fiona zu mir.“

„Im Februar, vor der ersten Fahrt nach Hooge, habe ich im regionalen Zeitungsarchiv nach Artikeln zwischen 1925 und 1950 gefragt. Ort- und stichwortbezogene Sammlungen lägen erst ab den fünfziger Jahren vor, sagte man mir. Schätzungsweise hätte ich 40000 Seiten in den Zeitungsauflagen eines Vierteljahrhunderts durchblättern müssen, um vielleicht einige wenige Artikel über Hooge zu finden. Davon sah ich ab.“ „Verständlich. Selbst bei diesem Aufwand wärest du nicht unbedingt fündig geworden.“ „Warum?“ „Von Ereignissen auf den entfernten Halligen erfuhren Journalisten selten, oder sie erschienen für das Festland nicht berichtenswert. In den Vierzigern war es sogar verboten, über die Halligen zu berichten, weil sie als vorgeschobene Posten im Krieg galten.“

„Umso wichtiger sind Sie - äh, bist du - als Zeitzeugin. Zusätzlich werde ich manches projektbegleitend recherchieren und als Fußnote vermerken.“ „Na klar. Schließlich bist du Studiosus der Historik.“ „Apropos, die Uni gibt den Zeitplan vor. Mein Manuskript muss dem Professor rechtzeitig zum nächsten Semesteranfang vorliegen.“ „Nimm bitte Rücksicht. Mein Alter verlangt Pausen. Nicht nur das. Ich werde auf ein Labyrinth von Erinnerungen treffen, die ungeordnet nebeneinander liegen. Sicher weiß dein Professor, dass es Zeit braucht, sich durch Labyrinthe zu tasten.“

„Natürlich gönnen wir uns Pausen. Die entstehen automatisch. Ich kann ja nicht Interviews führen und die Notizen parallel im Manuskript verarbeiten. Das mache ich schön nacheinander.“

„Da ist noch etwas. Bestimmte Erinnerungen wie an den Buschemann, der auf dem Grund des Fethings hauste, gehören für deinen Professor wahrscheinlich eher ins Reich der nordischen Mythologie als in eine Seminararbeit.“ „Das macht nichts, ich notiere es trotzdem.“

Benno schmunzelt, denn er hat gerade einen amüsanten Einfall.

„Wer weiß, vielleicht schreibe ich am Ende einen Roman anstelle einer Seminararbeit.“ Beide lachen über den Gedanken.

„Nun denn, fangen wir also an. Was fällt dir zur Zeit deiner Kindheit ein?“

„Ich kam im April 1925 auf Hanswarft zur Welt. Dass ich in die ‚Goldenen Zwanziger‘ hineingeboren wurde, erfuhr ich Jahrzehnte später. Die Hallig war noch nicht mit der Strom- und Wasserversorgung des Festlandes verbunden.7 Das war die Ausgangslage. Sie war nicht gerade golden, kam mir aber so selbstverständlich vor wie alles andere, die Warften, die Fennen, der Deich und das Meer. Meine Generation wurde in eine falsche Zeit hineingeboren, die Zeit der Nazi-Diktatur und des von ihr entfesselten Krieges. Das ist die rückblickende, die erwachsene Perspektive. In der Kindheitsperspektive gab es keine Staatsformen, Hitler hatte sie ‚abgeschafft‘, entsprechend kam der Begriff Diktatur nicht vor. Es gab auch keine Nazis. Richtiger: Sie wurden nicht so genannt. Kindheit war fixiert auf das Leben in der Familie und auf der Hallig.“

„Deine früheste Kindheitserinnerung ist…?“ „Furcht.“ „Du erinnerst dich an ein Gefühl, nicht an ein Erlebnis oder Ereignis?“ „Moder impfte es mir ein. Sie warnte uns unaufhörlich vor ‚gefährlichen Orten‘. Das waren alle Stellen, an denen ein Kind ins Wasser fallen konnte: der Trinkwasserbrunnen vor der Haustür, die beiden Fethinge auf der Warft, Gräben und Priele auf den Fennen und das Meer hinter dem Deich. Die Erzählung vom ‚Buschemann‘8 unterstützte ihre Warnung. Ein Fabelwesen, das auf dem Grund des Fethings hauste und Kinder in die Tiefe riss, wenn sie dem Ufer zu nahe kamen.

Fething im Zentrum der Warft

Vom Buschemann hörte ich erst, als ich laufen konnte. Im Krabbelalter setzte mich Moder meist auf den Tisch am Küchenfenster. Das war kein gefährlicher Ort. Moder platzierte mich so, dass ich ausgucken konnte, während sie am Herd Essen zubereitete. Beschlug die Scheibe, wischte Moder sie mit einem Lappen frei. Mit der Nase am Glas gab es viel zu entdecken. Draußen trieb Vader unsere Kühe zum Melken ins Ack9. Der Trampelpfad führte am Küchenfenster entlang. Eine Kuh blieb stehen. Sie wunderte sich wohl über mein ans Glas gequetschtes Näschen und schob neugierig ihren Kopf an die Scheibe. Plötzlich blickte ich in furchterregend große, schwulstige Nasenlöcher, aus denen nebliger Atem drang, so dass das Glas auf der anderen Seite beschlug. Ich konnte Vader nicht mehr sehen, bekam Angst und fing an zu heulen.“

„Plötzlich war auch der Küchentisch zum gefährlichen Ort geworden“, schmunzelt Benno. Fiona lacht: „Du sammelst Sympathiepunkte, Benno. Nach Ehrlichkeit nun ein Schuss Humor. Wenn du in diesem Tempo weitermachst, laufen dir demnächst sämtliche Halligmädel nach. Du bist doch solo, oder?“

„Äh, ja“, stottert Benno und nimmt sich vor, demnächst im Frieslandpesel nach der Kellnerin zu fragen. „Was erinnerst du außerdem aus der Situation? Gerüche, die vom Herd zu dir herüberzogen? Ich selbst weiß noch, wie mich der metallische Geruch der Modelleisenbahn begeisterte, als mein Vater sie das erste Mal für mich aufbaute.“

„Warte, ich schließe kurz die Augen. Erdiger Duft von Kartoffeln, würziges Petersilienaroma und Moders Schürzengeruch kommen mir in den Sinn.“

„Schürzengeruch?“ „Kennst du nicht, wie?“ Fiona lacht erneut. „Ein Mix aus Essens-, Woll-, Seifen-, Vieh-, Heu- und Rauchgerüchen. Mindestens hundertmal am Tag wischte Moder ihre Hände an der Schürze ab. Und mindestens ein halbes dutzend Mal am Tag gab es Momente, in denen ich mich aus Scheu oder Furcht gegen Moders Schoß presste und die Nase in ihrer Schürze vergrub. Dieser Aromen-Mix brannte sich so sehr in mein Gedächtnis ein, dass ich später beim Bummeln über Bauernmärkte hoffte, den unverwechselbaren Duft noch einmal aufzuspüren. Erfolglos.“ Fiona verstummt und blickt gedankenversunken in ihren Schoß.

„Erzähle mehr über die Eltern und das Zuhause“, bittet Benno.

„Mache ich gleich, aber brauchst du für das Seminar nicht auch ein paar aktuelle Infos zur Hallig?“ „Oh, ja, das wäre ratsam. Gibst du mir einen kurzen Überblick?“ „Zum Beispiel die Einwohnerzahl. Bei der großen Flut 1825 lag sie bei rund 400, heute nur noch bei etwas über 100. Mit Ausnahme des Kaufmanns hat die Hallig kein weiteres Geschäft, keinen Frisör, keine Apotheke und keinen Doktor. Dafür jedoch eine eigene Schule, eine eigene Kirche, mehrere Sehenswürdigkeiten, einen kleinen Hafen und eine Fähranlegestelle. Sogar ein eigenes Kino leistet man sich, das Sturmflutkino. Ein ganzes Haus ist einem früheren dänischen König gewidmet, weil der unsere Hallig besuchte und hier übernachtete. Eine Hauptstraße kennt Hooge nicht, alle Warften sind gleich gut erreichbar. Zu meiner Zeit gab es übrigens keine asphaltierten Straßen, sondern Wege, und keine Betonbrücken über Priele, sondern Holzstege.“

To Huus10

Moder wurde auf Nordstrand geboren, Vader auf Hooge. Sie lernten sich auf dem Festland kennen, als Moder im Husumer Lebensmittelgeschäft Thams & Garfs Tee und Gebäck einkaufte, dem Laden, in dem Vader seine kaufmännische Ausbildung absolvierte. Manchmal kam sie auf diese erste Begegnung zurück, wenn Vader, wozu er neigte, in einer Sache unschlüssig blieb. Das sei schon immer so gewesen, sagte sie mit leisem Spott und schmierte ihm bei passender Gelegenheit die Unentschlossenheit aufs Brot, mit der er im Laden herumgestanden habe - ‚der kleine blasse Lehrling‘. Zu nichts Weiterem sei er fähig gewesen, als ihr in die Augen zu schauen. Letztlich war es an ihr gewesen, die Initiative zu ergreifen, indem sie ihn noch für denselben Abend zu einem Treffen am Hafen einlud.

Familie Nissen: Margarete (Meta) und Karl (Kalli) Nissen mit Kindern (noch ohne Max twee)

Sie verbanden ihr Leben auf traditionelle Weise durch Heirat. Die Hooger scherzten, in Moders Art lebe die alte Zeit des Walfangs fort, als die Frauen über alles bestimmten, weil die Männer monatelang auf See waren. Frauen übten das Wahlrecht in den Kirchen aus und entschieden sogar über den Kauf von Häusern und die Vermessung und Aufteilung von Land. So weitgehende Rechte beanspruchte Moder zwar nicht für sich, aber sie wollte die Fäden in der Hand behalten, nicht nur am Spinnrad. Das hatte Vader gleich beim ersten Zusammentreffen begriffen. Wegen ihrer vielen vortrefflichen Fähigkeiten stand Moder die Rolle des ‚Familienoberhauptes‘ wahrhaftig zu. Konnte sie doch an ein und demselben Tag Kühe melken, kochen, ein Huhn schlachten, Wäsche waschen, den Garten pflegen, Kleidernähte ausbessern und darüber hinaus sogar noch Karamell-Bonbons auf dem Herd herstellen. Wie sie neben dem Bilegger11 am Spinnrad sitzt und aus geschorener Schafwolle Wollfäden gewinnt, wird mir ewig im Gedächtnis haften bleiben. Bevor sie die Wolle zu Unterhosen, Leibchen und Strümpfen verarbeitete, sorgte sie für Weiße und Weichheit, indem sie das Rohmaterial mit Fethingwasser wusch. Pflanzliche Zutaten zu Mahlzeiten oder zum Einwecken entnahm Moder unserem kleinen Vorgarten. Sie züchtete Sellerie und Petersilie, legte ein Erdbeerbeet an, versuchte sich an Tomaten und Blattsalat und pflegte gemeinsam mit einer Nachbarin eine Stachelbeerhecke auf der Grundstücksgrenze. Gedüngt mit Rinderdung konnten sich die Ergebnisse sehen lassen. Jedes Gemüsebeet fasste sie mit Schnittblumen wie Pfingstrosen, Nelken und duftendem Phlox ein. In der Mitte stand ein Apfelbaum. Moder verlangte, dass wir mit den Äpfeln sparsam umgingen und die mit Stellen zuerst aßen. Das gefiel Max twee, unserem Brüderchen, überhaupt nicht. Er schimpfte: Dann kom ik ja nie nich an de Nee’n ran!12

Im Grunde unterwarf Moder jedwede Tagesangelegenheit einem strengen Pragmatismus, ihr Äußeres eingeschlossen. So band sie ihr ungekürztes Haar im Nacken zu einem Dutt zusammen, damit es ihr bei der Arbeit nicht vor die Brust fiel. Kleider trug sie ausschließlich an Festtagen. In Erinnerung habe ich sie eigentlich nur mit Schürze.

Benno erinnert sich an das Motiv: Meta Nissen mit Schürze, umringt von ihren Hühnern. Es gehört zu den Fotos, die Fiona zum Projekt mitgebracht hat.

Meta Nissen bei ihren Hühnern

Nach dem ersten Interview zieht er einige Schwarzweiß-Aufnahmen hervor. Allesamt haben diesen unverwechselbaren Touch: gewellt, verblichen, gelb- oder braunstichig, manche mit gezacktem Rand. Sie sehen nicht nur retromäßig aus, sie sind es. Benno fühlt sich in seinem Faible für die alte, analoge Fototechnik bestätigt. ‚Streng analog‘ waren, wenn man so will, auch viele Alltagsgegenstände zu Fionas Zeit. Zum Beispiel die Petroleumlampen. Wie es wohl gewesen war, in ihrem blakenden Schein Schularbeiten zu erledigen? Das könnte er eigentlich mal ausprobieren. Er leiht sich von Broder eine alte Petroleumlampe aus, die er in dessen Vitrine in der Stuv gesehen hat. Broder füllt Brennstoff in den Tank, und Benno lässt sich die Bedienung zeigen: erst den Docht mittels des Einstellrades in eine angemessene Höhe drehen und dann mit einem Streichholz anzünden. Augenblicklich vermittelt das Licht im Glaszylinder eine heimelige Atmosphäre. Benno setzt sich mit Papier und Stift an den Tisch neben die Lampe. Die Flamme flackert, die Helligkeit im Lichtkegel findet Benno zu gering - konzentrieren kann er sich dabei nicht. Der Versuch, eine Impression aus früherem Halligleben zu gewinnen, scheitert schon nach kurzer Zeit an Bennos Ungeduld. Ihm wird bewusst, dass er ohne Strom nicht leben kann. Papier und Bleistift legt er zur Seite, greift sich den Laptop und gibt das Stichwort ‚Vader Nissens labiler Kreislauf‘ ein. Darüber hatte Fiona zuletzt berichtet.

Vader wollte seine kaufmännische Ausbildung nutzen, um auf Hanswarft eine Verkaufsstelle für Kurzwaren und Alltagsbedarf einzurichten. Ein Mann von Backenswarft kam ihm jedoch zuvor. Für zwei Verkaufsstellen war die Hallig nicht groß genug. So wurde Vader Kleinbauer. Leider mochte er kein Blut sehen - ein Manko, das sich schwerlich mit den Aufgaben eines Viehhalters vertrug. Bat Moder ihn, ein Huhn zu schlachten, nahm er Reißaus. Sie musste selbst zum Beil greifen und dem Tier den Kopf abschlagen. Moder schätzte Vader vor allem wegen seiner Verlässlichkeit. Sämtliche Tagesverpflichtungen erledigte er nach festem Rhythmus, sei es der Abtransport von Kuhmist aus dem Stall noch vor dem Frühstück, die Fütterung des Viehs mit Heu vom Dachboden oder das Handpumpen von Fethingwasser in die Viehtränken. Wir Kinder hätten die Wanduhr in der Stuv danach stellen können. ‚Harmonie und Umsicht‘ lautete Vaders Lebensmotto. Sobald zwei Menschen uneins waren, präsentierte er in aller Eile einen Kompromiss. Der musste nicht immer einen Sinn ergeben, sicherte aber den Frieden, und das war ihm das Wichtigste. In Rage geriet er eigentlich nur über die ‚Ümstänne‘, die das Friesentum bedrohten. Dass er uns liebhatte, sagte Vader nie. So weit waren Väter damals noch nicht. Er zeigte es aber. Beim Wettlauf mit den Wolkenschatten lief er ein Stück mit, begleitete uns zum Baden und nahm sogar am Gegenseitig-Nass-Spritzen und Unterduckern teil. So albern konnte er sein. Gewiss fand er es schade, dass er seine kaufmännischen Fähigkeiten nicht in einem eigenen Geschäft zur Geltung bringen konnte. Letztlich brachte ihm die Ausbildung aber doch etwas ein. Das Husumer Wasserbauamt wurde auf ihn aufmerksam, ernannte ihn zum nebenamtlichen Deichbeauftragten und erwartete, dass er gegen Entgelt ‚besondere Vorkommnisse am Wasser‘ protokollierte und ans Amt meldete. Auch Nachbarn nutzten seine Schreibfertigkeit, indem sie ihn Briefe schreiben ließen. Meist ging es um Widerstand gegen eine Behörde auf dem Festland: Du Kalli, ik vertell di dat gau, un dann schriffst du för mi ’n Breef na Husum. Du weetst am besten, wie dat geiht.13 Selten folgte Vader einer Bitte nicht. Sein Maßstab war das sogenannte ‚vertretbare Maß‘. Ging ein Ansinnen über dieses, von ihm selbst in geheimnisvoller Weise festgelegte Maß hinaus, beispielsweise in Form eines kompletten Steuererlasses, zitierte er den Unterschied zwischen Soll und Haben (aus seiner kaufmännischen Lehre) und lehnte es ab, die Petition zu schreiben. Im Kreis der Familie verspottete er Leute mit derart überzogenen Ansprüchen. Überhaupt nahm er seine Umwelt gern auf die Schippe. Sich selbst übrigens auch, wenn er zum Beispiel sagte: Ik fier geern, dat dörf aver nich to veel warrn!14 Vader lehrte uns, auf die Naturgesetze zu achten. So sei es für Kälber besser, wenn sie bei Flut oder auflaufendem Wasser geboren werden. Meist sorge die Natur selbst für den richtigen Zeitpunkt, meinte er, achtete aber doch penibel auf den Gezeitenstand, wenn eine Geburt anstand. Die bei Ebbe oder ablaufendem Wasser geborenen Kälber nannte er ‚Brüllkälber‘. Ihr Leben lang waren sie lauter als bei Flut geborene. Je nach Tide sagte Vader zu Moder: Meta, wi könt uns ruhig noch ’n Stünn henlegen15, oder: Oh, oh, wenn dat man nich ’n Brüllkalf warrd.16 Auch über Pferde und Wetter wusste Vader schwer Bescheid. Galoppierte plötzlich ein Pferd scheinbar grundlos über die Fenne, zeigte es einen aufkommenden Sturm an. Vader riet uns auch: Studiert den Himmel, dann wisst ihr viel über den nächsten Tag!

Auf fröhliche Nachbarschaft!

Am fünften Tag nach Beginn der Interviews redigiert Benno am Tisch unter seinem Fenster, wo er sich ein Mini-Büro mit Laptop und Drucker eingerichtet hat, den Abschnitt ‚To Huus‘. Wenn er aufs Meer schaut, spürt er die inspirierende Wirkung des weiten Blicks, bezweifelt aber, ob er jemals wird nachvollziehen können, wie einsam es auf der Hallig zu Fionas Zeit gewesen sein muss. Heute sind regelmäßige Schiffsverbindungen, das Internet und in schweren Fällen selbst Krankentransporte per Hubschrauber selbstverständlich. Damals waren die Halligmenschen sich selbst überlassen. Sogar in der Not, wenn Hilfe wichtig gewesen wäre.

Zwei Stimmen unterbrechen Bennos Gedanken. Eine gehört Broder, die andere erkennt er ebenfalls sofort. Sie gehört der Frau mit dem gelockten Haar, der Kalifornierin. Nachdem es wieder still geworden ist, traut er sich aus dem Zimmer. Die benachbarte Tür ist nicht ganz geschlossen. Ein Lichtstrahl fällt in den Flur. Unbemerkt bleibt Benno hinter dem Spalt stehen und lugt in das Zimmer. Die Frau vom Biikebrennen steht vor dem Schrankspiegel und betrachtet ihren sportlichen Körper. Erstmals sieht er ihr Gesicht unverdeckt, wenn auch nur von der Seite. Sie wohnen im selben Haus. Tür an Tür! Benno kann es nicht fassen.

Verwundert fährt sein Blick über die plüschige Einrichtung. Im Augenwinkel bemerkt er, dass seine Nachbarin Bluse und BH auszieht. Sie ist hübsch.

Kurz überlegt er, ins Zimmer hinein zu grüßen, aber um diese Zeit und sie halb ausgezogen - das würde sie erschrecken. Plötzlich spürt er Schamröte aufsteigen, weil er sie beobachtet hat. Er geht in sein Zimmer zurück, legt sich aufs Bett und stellt sich vor, wie sie sich in die fluffigen Kissen ihres Plüschsofas setzt, die Beine übereinander schlägt und sich vor dem Zubettgehen eine Zigarette anzündet, die sie nach wenigen Zügen ausdrückt, um sich auszukleiden. Vielleicht hat sie beim Kellnern ein Cocktailkleid im Stil der dreißiger Jahre getragen, mit Fransen und Pailletten, passend zu Fionas Zeit? Er malt sich aus, wie das Kleid zu Boden fällt, während er hinter ihr steht und den Duft von Seife und Tabak einatmet. Wie er sie dann umarmt und ihren Hals küsst. Sein Körper spannt sich und zeigt ihm, wie sehr er sich eine neue Begegnung herbeiwünscht.

Meist kommt sie gegen Mitternacht von der Arbeit. Dann ist er noch wach, hört, wie sie das Fahrrad im Vordergarten abstellt und die Haustür öffnet. Seine Ohren folgen ihren leisen Schritten durch den Flur. Erneut ist er zu schüchtern, aus dem Zimmer zu treten und sie zu grüßen. Er sieht wieder den Augenblick am Biikeabend vor sich, als sie ihn unvermittelt stehen ließ. Er hat Angst, dass sie ihn wieder stehen lassen würde.

Zwei Tage später begegnet er ihr endlich im Flur.

„Hej man!“, ruft sie aus, „was machst du hier?“

Obwohl ihn große Freude durchströmt, vermeidet Benno, sie zu zeigen. Er wüsste auch gar nicht so schnell was zu sagen. Gut, dass immerhin sie es weiß.

„Bist du Broders neuer Mieter?“

Benno nickt.

„Great. Dann sind wir Nachbarn! Neue Nachbarn sollten einander vorstellen.“ Lächelnd streckt sie ihm die Hand entgegen: „Patty Mattis. Ohne Umlaut schreiben, aber mit sprechen!“

Beinahe hätte Benno aus jäh aufwallendem Frust über ihr Verschwinden am Biikeabend gesagt: ‚Gelegenheit zum Vorstellen hätten wir bereits gehabt.‘ Er beißt sich jedoch auf die Zunge und sagt: „Benno Harms. Spricht sich, wie man schreibt. Du bist Amerikanerin, nicht wahr?“

„Ich erwähnte es beim Biikebrennen.“

„Woher sprichst du so gut Deutsch?“

„Habe es studiert. Schon während der Schulzeit schickte meine Mutter mich zu Kursen.“

„Warum? Hat sie Beziehungen zu Deutschland?“

Patty schweigt, was bei Benno den Eindruck hervorruft, sie wolle nicht zu viel über sich preisgeben. Nun gut, sie haben sich ja gerade erst vorgestellt.

„Einige deiner Worte am Biikeabend waren kein Alltagsdeutsch.“

„Ich liebe Goethe und Lessing. Ich lese mir ihre Texte laut vor. Manchmal versuche ich, selber entsprechende Sätze zu formen. Nur so aus Spaß. Und du, was machst du hier?“

Benno erläutert das Projekt.

„Wozu braucht man das?“

„Traditionell behandelt das Fach Geschichte sogenannte große Themen. Unser Projekt fragt, wie Menschen ihren kleinen Alltag erlebten.“

„Ihr könnt doch nicht Millionen Einzelschicksale erforschen.“

„Das haben wir auch nicht vor. Man kann aber versuchen, aus Einzelerfahrungen das sich Wiederholende herauszufiltern. Unsere Frage lautet: Haben Menschen in abgelegenen Regionen die Zeit anders erlebt als in Städten? Darüber kann ein Kleinod wie eine Hallig durchaus Auskunft geben.“

„Warum?“

„In einem Mikrokosmos bilden sich die allgemeinen Verhältnisse oft besonders authentisch ab.“

„Klingt ziemlich abstrakt. Vielleicht hättest du Philosophie studieren sollen.“

„Ist aber das Gegenteil, nämlich sehr konkret. Was Fiona über die alte Zeit erzählt, werde ich als Material ins Seminar einbringen.“

„Wo seid ihr noch aktiv?“

„Zum Beispiel in Dörfern der Rhön und des Bayerischen Waldes, auch in der Lausitz und im Harz. Ich habe mir die Hallig vorgenommen. Alle sind begeistert dabei. Das Projekt bietet ja nicht zuletzt die Chance, einmal für länger dem tristen Uni-Betrieb in fensterlosen Betonsälen zu entfliehen.“

„Also dann, auf fröhliche Nachbarschaft!“, verabschiedet sich Patty und wendet sich ihrer Tür zu.

Benno ist erneut, wie schon am Biikeabend, enttäuscht, dass sie den Kontakt plötzlich abbricht. „See you later“, flüstert er hinter ihr her. Patty hat es wider Erwarten gehört, dreht sich um und lacht ihm ins Gesicht: „Nix verstahn!“

‚Solo‘, hat Fiona vermutet, und es stimmt. Er hat keine Beziehung. Die letzten liegen schon eine Weile zurück. Eigentlich ist ihm nie richtig klar gewesen, woran sie gescheitert waren. Alle Freundinnen hatte er sehr gemocht. Doch jetzt weiß er, dass ihn noch keine Frau so fasziniert hat wie Patty. Schon am Biikeabend hatte er sich in ihre Stimme verknallt. Nach dem Blick durch den Türspalt ist es um ihn geschehen. Erstmals hat er ihr Gesicht gesehen, und nicht nur das.

Benno geht in sein Zimmer, setzt sich ans Fenster und nimmt sich das Manuskript vor. Er versucht, sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken wandern immer wieder zu Patty. Es hat keinen Zweck weiterzuschreiben. Nur seine wöchentliche To-do-Liste bekommt er zusammen. Er notiert:

- Spaziergang mit Fiona machen (vielleicht erkennt sie jemand),

- an einer Sitzung der Gemeindevertretung teilnehmen (falls erlaubt),

- Annelies für die Vermittlung des Zimmers danken (bei der Gelegenheit den Frieslandpesel kennenlernen),

- auf Warften nach Zeugnissen aus alter Zeit suchen (diskret),

- Brief an die Eltern.

Danach legt er sich aufs Bett. Von Broder weiß er, dass Patty siebenundzwanzig ist, vier Jahre älter als er. Kleine Fältchen hat er bemerkt, aber sie machen ihm nichts aus.

Am folgenden Abend sitzt er wieder mit dem Laptop am Fenster. Er hebt den Blick und guckt nach Backenswarft. Gegen Mitternacht wird er ein Fahrradlicht erkennen und wissen, dass Patty von der Arbeit kommt. So lange will er schreiben.

Winters im Alkoven - Sommers im Stall

Nach ihrem ersten Kind, Tochter Jannika, wünschte Moder sich einen Jungen, der Max heißen sollte, brachte aber erstmal zwei weitere Mädchen zur Welt: Wiebke und mich. Unterdessen gebar eine Nachbarin einen Jungen und gab ihm den Namen Max. Als Moder schließlich ihr viertes Kind, einen Sohn, bekam, ließ sie nicht davon ab, ihn, wie von Anfang an geplant, Max zu nennen. Das ging gut, solange sich die Kleinen in den Familien aufhielten. Sobald sie aber anfingen, durch die Warft zu laufen, und man nach ihnen rief, wurden sie so oft verwechselt, dass unser Max alsbald den Namen Max twee erhielt.

Das Brüderchen wurde unser aller Liebling. Wir Schwestern wetteiferten, ihn nach Strich und Faden zu verwöhnen, und gaben uns die allergrößte Mühe, ihn vor eingebildeten oder wirklichen Unbilden des Daseins zu schützen. Erst schoben wir ihn abwechselnd in der Karre durch die Warft. Sowie er laufen konnte, bildeten wir zu dritt einen Kordon an der Fethingkante, damit er nicht ins Wasser plumpste. Früh entwickelte Max twee handwerkliches Geschick. Mit seinem scharf gescheitelten Haar sah er nicht nur schneidig aus, darunter agierte ein überaus helles Köpfchen. Tauchte ein technisches Problem auf, werkelte er so lange daran herum, bis er eine passende Lösung präsentieren konnte. Mir schenkte er ein selbstgebasteltes, mit Muscheln verziertes Kästchen, das einen zweiten Boden aufwies, der sich später als Versteck bezahlt machen sollte. Als junger Mann ersetzte Max twee sogar den Zahnarzt, den es auf der Hallig nicht gab, indem er Jonte Delfsen eine herausgefallene Zahnkrone mit Hilfe eines einfachen Klebstoffes wieder einsetzte. Der Kleber, den er verwendete, war für alles Mögliche bestimmt, aber ganz bestimmt nicht für Zähne. Die Krone hielt trotzdem. Fortan waren wir überzeugt, unser Bruder könne jeden Schaden reparieren, egal, ob ein Zaun oder ein Zahn wackelte.

Während Wiebke mit ihrem strohblonden Haar und dem sommersprossigen Teint wie eine waschechte Friesin aussah, wirkte Jannika mit ihrer dunklen Haarfarbe fast südländisch. Manche fanden, sie sei das genaue Gegenteil von Wiebke. Sie war aber nur ein Drittel anders, ein Drittel kleiner, ein Drittel witziger und ein Drittel schneller auf der Palme, wenn ihr etwas nicht passte. Heimlich nannte ich sie Drittel-Jannika, aber das behielt ich lieber für mich, da sie ziemlich fuchtig17 werden konnte. Besonders, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie es wollte. Das begann schon bei der Einschulung. Auf der Hälfte des Schulweges setzte sie sich auf einen Steg und entschied, nicht zur Schule zu gehen. An diesem Tag nicht und auch an keinem anderen. Sie blieb einfach sitzen und verpasste die Einschulung. Trotz ihrer Widerspenstigkeit schaffte sie es, fast jeden mit Humor auf ihre Seite zu ziehen. Jede Woche hatte sie einen neuen Witz auf Lager; weiß der Himmel, woher sie die alle kannte. Sie selbst amüsierte sich am meisten über sie. Fing sie schon während des Erzählens an zu glucksen, ging das Ende mit Sicherheit im eigenen Lachen unter. Jannika teilte sich einen Alkoven mit unserem Liebling, Wiebke und ich uns den zweiten. Der Alkoven war ein gemütliches Nest. Er hätte nur etwas breiter sein dürfen. Frag nicht nach Sonnenschein, wenn Wiebke sich abrupt umdrehte und mir zwei lange Zöpfe ins Gesicht schlugen.

Wiebke und ich redeten vor dem Einschlafen kaum miteinander. Es war viel unterhaltsamer, den Witzen zu lauschen, die Jannika nebenan Max twee erzählte. Am nächsten Tag gab er die Witze an Wiebke und mich weiter, verriet aber nicht, von wem er sie hatte. Er war zu jung, um zu begreifen, dass wir ihn durchschauten. Wir behielten die Alkoven-Vorhänge immer einen Spalt breit offen, um noch eine Weile am tagesabschließenden Eheleben teilzunehmen. Ließ Moder das Schwungrad des Spinnrades ruhen, um neu einzufädeln, konnten wir hören, wie Vader seinen Zeigefinger vor dem Umblättern der Zeitung an der Unterlippe befeuchtete. Hin und wieder auch das Kratzen des Bleistifts, mit dem er einen Artikel ankreuzte.

Meta Nissen am Spinnrad, rechts: Bilegger

Das Schnurren des Spinnrades wiegte uns unweigerlich in den Schlaf. Weil Max twee aber verlangte, dass Moder die Kerze auf dem Tisch immer erst auspustete, wenn er eingeschlafen war, blieben alle so lange wach, bis sein regelmäßiges Atmen durch die Stuv klang.

Ab Mai wich die winterliche Ruhe dem Schwung, den Sommergäste vom Festland in unser Leben brachten. Ob der in jeder Hinsicht gewünscht war, interessierte die Besucher nicht unbedingt. Manch männlicher Gast sah sich als Hobbybauer auf Zeit und ging wie selbstverständlich mit ins Heu, wo er nicht selten im Weg stand. Frauen nahmen Moder eigenmächtig das Küchenmesser aus der Hand mit der Begründung, sie habe bestimmt Wichtigeres zu tun als Gemüseschneiden. Die Augen strahlten, wenn es ihnen gelang, bei der Vorbereitung von Porrenpann eine einzelne Krabbe unversehrt aus ihrem durchsichtig-brüchigen Panzer zu ziehen. Viele Gäste entstammten intellektuellen Milieus und wollten in der Abgeschiedenheit der Hallig malen, studieren oder dichten. Aber auch Kaufleute und öffentliche Angestellte verließen ihre sterilen Büros, streiften den gleichförmigen Trott des Alltags ab und schlüpften in die Rolle ambitionierter Vogelkundler und Watterkunder. Gäste aus Städten nahmen Umstände in Kauf, die ihnen vollkommen fremd sein mussten - nicht nur fehlendes elektrisches Licht und fließendes Wasser aus dem Hahn, auch herbe Ausdünstungen, die in der häuslichen Einheit aus Wohn- und Viehherberge unvermeidlich waren. Einmal hörte ich jemanden zu Moder sagen, wie sehr er den Kontakt mit der ‚archaischen Natur‘ liebe. Mir gefiel der Klang des unbekannten Wortes und so fragte ich nach, was genau er meine. Er genieße es einfach, wenn das einzige Geräusch, das er wahrnehme, seine Füße hervorriefen, wenn sie schmatzend im Schlick versanken.

Da die Alkoven in der Stuv den Gästen vorbehalten waren, wechselten wir Kinder in der Sommerzeit auf die Vieh-Schlafplätze im Stall, die uns die Kühe und Ochsen frei machten, weil sie bis zum Herbst auf den Fennen weideten. Der Liegeplatz einer Kuh war breiter als ein Alkoven. Wir brauchten nicht mehr Schulter an Schulter zu liegen - ein wahrhafter Vorteil. Natürlich war es kein Vergnügen, wenn Gäste nachts das Plumpsklo in der hinteren Ecke aufsuchten. Was war das aber gegen das ungezwungene Zusammensein mit den Kindern der Gäste, die uns im Stall besuchten. Dialekte prallten aufeinander wie zwischen dem kleinen Herbert Butzek aus Berlin und Max twee. Herbert sprach von ‚joddwedee‘ und unser Bruder von ‚buten un binnen‘.

Wat haste jesacht?18 fragte Herbert und Max twee schmollte: Segg mi dat so, dat ik dat verstahn kann!19 In der Dämmerung, wenn Bettgehzeit war, steigerte eine Kerze im Fenster noch einmal die Stimmung, weil das fahle Licht die hinteren Stallwinkel gespenstisch ausleuchtete. Instinktiv sprachen wir leiser miteinander. Irgendwann kam Moder, pustete die Kerze aus und sagte: Nu sloopt schöön un deep.20 Heute staune ich darüber, wie problemlos ich einschlafen konnte - mit dem bisschen Stroh unter dem Hintern auf hartem Stallboden. Weniger gewöhnungsfähig war das lärmende Gezwitscher, mit dem uns die Schwalben in aller Frühe aus dem Schlaf rissen. Während der Fütterungszeit flogen sie im Sekundentakt durchs Stallfenster rein und raus. So sehr wir am Tag ihre einzigartigen Sturzflugkünste bewunderten, so gern hätten wir morgens länger geschlafen.

Haye - Spielgefährte des dänischen Königs

Wenn ich das Familienleben beschreibe, sollte ich gewisse Umstände nicht verschweigen, die mich zu meinen Geschwistern auf Distanz hielten und dazu führten, dass ich mich früh einem Jungen aus der Nachbarschaft zuwandte. Zum einen die Enge im Alkoven, da war kein Abstand möglich. Zum anderen die Unterwäsche meiner Schwestern, die ich als Drittgeborene auftragen musste. Obwohl Moder mittels Flicken und Stopfen alles tragfähig hielt und die Sachen stets sauber waren, wenn ich sie übernahm, keimten bei jeder Übergabe feindselige Gefühle in mir auf. Max twee ging sowieso bald seine eigenen Wege. So kam es, dass ich mehr Zeit mit Haye, dem gleichaltrigen Sohn von Berde und Harlie, seinem Stiefvater, verbrachte, als mit meinen Geschwistern. Eigentlich war es umgekehrt, jedenfalls am Anfang. Nicht ich wandte mich ihm zu, sondern er sich mir. Ich erinnere mich noch gut an den Tag unserer Einschulung, als Moder beim Frühstück plötzlich sagte: Haye sit buten mit Storm op de Brunnendeckel.21 Erst glitt mir der Eierlöffel aus der Hand, dann dachte ich, sie mache einen Scherz, und schließlich ging ich ans Fenster, um nachzusehen. Der Bursche saß tatsächlich draußen auf dem Rand unseres Regenwasserbrunnens, als wären wir verabredet. Das waren wir zwar nicht, andererseits hatte ich nichts dagegen, abgeholt zu werden. Neben Haye hockte der Hund, den seine Eltern ihm letzte Weihnachten geschenkt hatten. Ein rotbrauner Mischlingsrüde namens ‚Storm‘ - ob nach dem Dichter oder nach dem plattdeutschen Wort für Sturm benannt, erfuhr man nicht. Storm begleitete uns zur Schulwarft und trottete anschließend nach Hanswarft zurück.

Auf diesem Brunnenrand wartete Haye auf Fiona.

Unsere Schulaufgaben erledigten Haye und ich gemeinsam im Haus seiner Tante Minna, genannt ‚Königsstuv‘. Im Jahr 1776 von einem Kapitän errichtet, hatte es 1825 dem dänischen König als Übernachtungsstätte gedient und war zu einem Museum geworden, das Minna verwaltete. Sie lebte allein. Weil sie hoffte, dass ihr Neffe einmal ihr Nachfolger werde, ließ sie ihn an ihren Führungen teilnehmen und bot ihm den Raum außerhalb der Öffnungszeiten für seine Schularbeiten an. So oft wie möglich gab sie ihm Gelegenheit, sich die Geschichte der einzelnen Ausstellungsstücke einzuprägen. Ich durfte dabei sein.

Sobald wir unsere Schulaufgaben erledigt und den Tisch freigeräumt hatten, half ich Haye, in seine künftige Aufgabe hineinzuwachsen. Ich schlüpfte in die Rolle von Friedrich VI., der 1825 in dem Haus übernachtet hatte. Haye mimte den Kapitän, der dem König Gastfreundschaft gewährte. Wie ein richtiger Museumsleiter postierte Haye sich in der Raummitte und begrüßte mich, Friedrich VI., König von Dänemark: Ik bün Antiquitätensammler ut Paschoon, mien König. Hier ton Bispeel hebbt wi brennte Tellers ut de 11. Johrhunnert mit Motiven vun de Slacht bi Hastings 1066.22

Haye war kein eingebildeter Fatzke wie andere Jungs. Aber an diesem Ort tat er wahrhaftig so, als sei er es persönlich gewesen, der über die Weltmeere fuhr und Jahr für Jahr Kostbarkeiten aus fernsten Ländern mit nach Hooge brachte.

Oh, wat scheun, leve Kaptein!23 hauchte ich und senkte anerkennend mein königliches Haupt. Anscheinend spürte Haye meine Verzückung, denn er sprach mit stolzgeschwellter Brust weiter: Hier sühst du Delfter Wandkacheln mit över 350 verschedene Bibelmotive.24

Haye beeindruckte mich. Von den Führungen seiner Tante war eine Menge hängen geblieben. Bald war der Vortrag zu Ende, und Haye, der Kapitän, fasste fürsorglich meine königliche Hand, führte mich zu dem prächtigen Alkoven, in dem seinerzeit Friedrich VI. übernachtet hatte, und sprach: Gode König, du sühst bannig mööd un beet ut. Ik glööv, du schallst nu gau to Bett. Hier is mien Alkoven, wo du goot sloopen warrst. Ik sloop hüüt Nacht op de Böhn un warr di helpen, in’t Bett to komen.25 Damit ich hineinsteigen konnte, nahm er den Alkoven-Vorhang zur Seite. Anschließend legte er mir eine goldfarben bestickte Decke über den monarchischen Leib und flüsterte zärtlich: Gode Nacht, mien König.26 Ein zweites Mal hauchte ich: Oh, wat scheun, leve Kaptein!

Auch außerhalb des Museums bildeten Kapitän und König ein Team, das bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen auftrat. Zum Beispiel beim Rummelpottlaufen zu Silvester. Einer beliebten Tradition, weil es an den Haustüren Kekse und andere Dankesgaben gab, die von Weihnachten übrig geblieben waren.

Während ich den Topf schlug, sprach Haye den überlieferten Text:

‚Mok de Dör op, de Rummelpott will rin,

hau de Katt den Schwanz aff,

hau em nich to lang aff,

lot’n lütten Stummel stohn,

denn wi wüllt noch wiedergohn.‘27

Er trug es singsangmäßig vor, nicht so tonlos wie andere. Das war geschickt von ihm, denn auf diese Weise sackten wir überdurchschnittlich viele Süßigkeiten ein.

Solch kleine Dankesgaben gab es auch beim Rundsagen. Heute kennen Kinder diverse Kommunikationsmittel. Damals waren wir selber welche, liefen von Warft zu Warft und übermittelten Nachrichten. Immer ging es um Geburt oder Tod. Natürlich nicht bei Tieren: ob ein Kalb oder Lamm zur Welt kam oder starb, interessierte höchstens ein paar Nachbarn. Bei Menschen betraf es die ganze Hallig. Wir warteten keine Begrüßung ab, sondern legten sofort los, sobald sich die Tür öffnete.

Wi schullen schön gröten vun Tante Minke und Onkel Paul.28 Man hielt die Luft an.

Se hebbt hüüt Nacht um twee en lüttje Deern kregen.29 Freudiges Ausatmen und fröhliche Gesichter.

Ne, is dat scheun!30

Bei einigen löste die Nachricht so heftige Erregung aus, dass sie uns an die Brust zogen und herzten, als hätten sie gerade selbst ein Baby zur Welt gebracht. Was emotional genau die richtige Stimmung ausmachte, um den mitgebrachten Korb nach vorn zu schieben und die Belohnung einzusammeln: meist Sachspenden wie Äpfel, Kekse, Bonbons, hin und wieder einen Groschen.

Wie schall se denn heten? ging es weiter.

Dat weet wi nich.

Ach, dat weet jem nich?

Ne, dat weet wi nich.31

Mir war es immer peinlich, die Frage nach dem Namen nicht beantworten zu können. Aber als ich Moder einmal darauf ansprach und sagte, ich würde mich besser fühlen, wenn ich bereits einen Namen mitbrächte, meinte sie nur lachend: De Öllern weten doch vörher nich, ob se en Jung oder en Deern kriegen, un könt sik nich över Nacht en Namen utsöken.32

Sterben verkünden war unendlich viel schwerer. Um einen angemessenen Gesichtsausdruck verlegen, versuchten wir, so neutral wie möglich zu gucken. Trotzdem sah man uns sofort an, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Diesen Moment auszuhalten, in dem es mucksmäuschenstill war und manche Augen schon feucht wurden, bevor ein einziges Wort gefallen war, fiel besonders schwer. Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht. Zum Glück geboten Anstand und Würde, sich kurz zu fassen und uns auf das Allernötigste zu beschränken. Wir wechselten uns ab. An jeder zweiten Tür war ich dran. Grußlos öffnete ich meine schmalen Lippen und brachte verstockt hervor: Wi schullen seggen, dat…letzte Nacht doot bleven is.33 Keinesfalls durften wir uns in beschämenden Worten verheddern, weshalb wir auf jeden Versuch verzichteten, Gefühl zu zeigen.

Ein Hinweis auf das weitere Procedere schloss den knappen Auftritt ab: Dat Upboarn schall övermorgen af Klock negen sien.34

Einen Korb hatten wir in Todesfällen selbstverständlich nicht dabei, trotzdem kam es vor, dass jemand Tööv mol!35 hinter uns herrief, im Flur verschwand und mit einem Keks zurückkehrte, den wir mit einem braven Dank ook! in die Jackentasche gleiten ließen.

Unverhoffte Sympathie

Am Anfang des nächsten Interviews steht überraschend Patty in der Tür. Wie zufällig, könnte man annehmen. Oder ist es Absicht?

„Entschuldigung!“

„Kommen Sie gern herein und setzen Sie sich! Sie sind Patty, nicht wahr?“

Mit ihrer Reaktion kommt Fiona Benno zuvor, dem eigentlich die Regie für die Interviews obliegt. „Ich habe schon von Ihnen gehört. Auf der Hallig spricht sich ein längerer Besuch schnell herum.“

Patty blickt unsicher auf Benno, der anders als Fiona verärgert wirkt.

„Ich bin früher als gewöhnlich aufgewacht, konnte nicht wieder einschlafen und dachte, wenn ich ein bisschen zuhöre, kann ich die Zeit bis zur Öffnung des Frieslandpesels überbrücken.“

Fiona nickt. „Ich habe nichts dagegen. Sonst bestimmt auch niemand, oder Benno?“

„N-nein, warum sollte ich?“, antwortet Benno leicht reserviert.

Welches Ziel verfolgt Patty? Will sie ihn bei der Arbeit beobachten? Dagegen hätte er entschieden etwas einzuwenden.

Benno betrachtet Pattys taillierten Rock und ihre hübschen Beine. Als er aufblickt, wundert er sich über das gegenseitige Lächeln der Frauen, das offenbar spontane Zuneigung zum Ausdruck bringt. Der Sympathiefunke schlägt sich in jeder Geste nieder, egal, ob von Pattys oder Fionas Seite. Dem kann Benno sich eigentlich nur noch unterordnen, so dass er sagt: „Wenn ihr meint, dass wir das Interview auch zu dritt führen können, beginne ich wie gewohnt.“ Doch er braucht einige Sekunden. Und auch die Frauen benötigen etwas Zeit, um sich auf die veränderte Situation einzustellen.

„Wir müssen uns wohl erst zurechtruckeln“, meint Fiona.

Patty lacht. „Entschuldigen Sie, ich lache nur, weil ich das Wort noch nie gehört habe.“

„Du musst dich nicht ständig für etwas entschuldigen. Nun, ich denke, wir fangen jetzt endlich an. Ich erzähle euch, warum ich mit elf Jahren plötzlich Angst um mein Leben hatte.“

Pranken über dem Reetdach

Im Tagesrhythmus der Familie nahm das Mittagessen um halb eins einen unverrückbaren Platz ein. Kamen wir früher aus der Schule zurück, überbrückten wir die Zeit mit Versteckspielen zwischen den Schilfbüscheln am Fethingrand. Bis zur Küchentür waren es nur wenige Schritte - so saßen wir schnell am Tisch, wenn Moder uns hineinrief.

Auch an diesem Oktobertag 1936 hallte um die Mittagszeit der Ruf ‚Ecksteen, Ecksteen, allns mutt verstekt sien. Eeen, twee, dree - ik komme!‘ durch das Schilf. Dass das Herbstlaub in der Silberpappel über uns zu flirren begann, kümmerte uns nicht. Ahnungslos spielten wir weiter. Erst als Seevögel in zunehmender Anzahl vom Meer heranflogen und Dachsimse und Zaunpfähle besetzten, verließen wir die Böschung, um nachzusehen, was los war. Der Blick zum Horizont offenbarte einen fast schwarzen Himmel. Vereinzelt traten Sonnenstrahlen zwischen den dunklen Wolken hervor und brachten die Gischt über der See zum Leuchten. Weiß bekränzte Wellenketten rollten auf die Hallig zu. Wahrscheinlich war ich mit elf Jahren noch zu naiv, aber ich fand das Bild schön - wie auf Ole Heins Seegemälde. Wohl wegen dieses Eindrucks fühlte ich mich später, wenn ich an den Tag zurückdachte, von der Natur hintergangen. Die Älteren hatten die Idylle von Anfang an als Täuschung erkannt. Sie hatten gespürt, dass das Blattwerk der Pappel diesmal anders flirrte. Hatten gehört, dass das Gekreisch der Möwen wie eine grelle Warnung klang. Spätestens, als die Pferde auf den Fennen anfingen zu galoppieren, wussten die Alten, es braut sich etwas zusammen.

Der Wind nahm zu, auf einmal bogen sich sämtliche Zweige der Silberpappel unter den Böen. Moder rief uns mit ungewohnt lauter und besorgter Stimme herein. Zugleich hetzten aus allen Häusern Männer, um Pferde und Kühe von den warftnahen Fennen zu holen - nach den deichnahen Fennen zu laufen, war bereits zu gefährlich. Andere sicherten Fensterläden und sammelten lose Gegenstände ein, um sie in Ställe zu verfrachten oder an Viehringen in Hauswänden festzubinden. Frauen schöpften Trinkwasser aus Fethingen und Hausbrunnen in Töpfe, bevor es von der Nordsee versalzen wurde. Auch Moder lief hinaus. Jede Hand wurde gebraucht. Das Mittagessen auf dem Herd war fertig, fiel aber aus. Wir standen am Küchenfenster und sahen abwechselnd dem Treiben auf der Warft und dem Treiben des Meeres hinter dem Deich zu. Als die Sonne sich endgültig hinter den dunkler werdenden Wolken verkroch, wollte Jannika unbedingt einen Witz darüber machen: Dat süt ut, as wull de Nacht torückkehren36, lachte sie.