X -  - E-Book

X E-Book

0,0

Beschreibung

Noch nie hat ein X irgendwo, irgendwann einen bedeutenden Punkt markiert. Vielleicht nicht, aber dieses X markiert die 10. Anthologie der Münchner Schreiberlinge. 10 Finger, 10 Gebote, 10 biblische Plagen. Eine Dekade. Dinge dezimieren. Number 10, Downing Street. 1 und 0. Binarität. Dezember. Überall in Mythologie, Geschichte, Sprache und Alltag ist die 10 präsent. Siebzehn Autor*innen zeigen in ganz unterschiedlichen Szenerien, welche ze(h)ntrale Rolle das X spielen kann. Begebt euch mit uns auf die Reise und erforscht die Bedeutung der 10.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 259

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



X

»Noch nie hat ein X irgendwo, irgendwann einen bedeutenden Punkt markiert.«

Vielleicht nicht, aber dieses X markiert die 10. Anthologie der Münchner Schreiberlinge. 10 Finger, 10 Gebote, 10 biblische Plagen. Eine Dekade. Dinge dezimieren. Number 10, Downing Street, 1 und o. Binarität. Dezember. Überall in Mythologie, Geschichte, Sprache und Alltag ist die 10 präsent.

Siebzehn Autorinnen zeigen in ganz unterschiedlichen Szenerien, welche ze(h)ntrale Rolle das X spielen kann. Begebt euch mit uns auf die Reise und erforscht die Bedeutung der 10.

Die Münchner Schreiberlinge e. V.

sind ein Verein von engagierten, aufgeschlossenen Autorinnen.

Kennengelernt haben wir uns in Schreibkursen, Leserunden, Buchveranstaltungen und treffen uns seit Anfang 2017 regelmäßig einmal die Woche zum gemeinsamen Austausch, Schreiben und Lesen.

Einige von uns haben bereits Bücher veröffentlicht, andere schreiben nur für sich und genauso vielfältig wie wir sind auch unsere Texte und Genres.

Mehr zu uns und unseren Aktivitäten findest du in den Social Media.

Hast du einen Bezugzu München und möchtest dich uns anschließen oder uns unterstützen?

Hier findest du alle Informationen zu unserem Verein:

www.muenchner-schreiberlinge.de

Dieses Buch enthält Inhaltswarnungen / Content Notes auf der letzten Seite gegenüber der Deckel-Innenseite. Siehe auch:www.muenchner-schreiberlinge.de

Inhaltsverzeichnis

Dani Aquitaine

Das zehnte Kind

E. B. Branger

Der Sprung

R. F. Krammer

Sprengkraft

Jassi Etter

Ärger in Utopia

Katrin Biasi

Zwischen Bäumen und Asche

Andreas Jung

Die zehnte Welt

Tino Falke

Laika

Roxane Bicker

Oma Lisbeth und die verlorenen Zehne

Saskia Dreßler

Regeln

Maria E. Seychaska

HAUPTQUEST PART X

Nebenquest: Fange den Mardukdrachen

Marie Teres

Ein Zehnt zu tragen

Sarah Malhus

Nicht genug

Paul Liedvogel

Die Glücklichen

Lena Hepting

Zehn Phasen für das schlimmste Date (garantiert)

Nadja Kasolowsky

Nachtfalter

Diana Menschig

Groschengrab

Marina K. Wolf

Schwabinger Ziegenjagd

Danksagung

Die Autor*innen

Noch mehr von den Münchner Schreiberlingen

Tags zu den einzelnen Geschichten

Inhaltswarnungen / Content Notes

Dani Aquitaine

Das zehnte Kind

Ichsterbe, denke ich.

Ich verfluche meine Mutter. »Wird schon nicht so schlimm werden« ist ihr Mantra, und ich habe ihr geglaubt, als das positive Testergebnis vor mir lag.

Ich verfluche Harbert, der rechtzeitig das Weite gesucht hat.

»Ich kann das nicht«, hat er behauptet. »Wenn es das Zehnte ist, ertrage ich es nicht, es wegzugeben.«

Ich verfluche mich. Nie wollte ich Kinder haben. Wer, der bei Verstand ist, will schon Kinder haben in Thal?

Als ich ungeplant schwanger wurde, war ich entsprechend wenig begeistert undbeschloss: »Ich gebe es einfach weg.«

Etwa im sechsten Monat habe ich erfahren, dass mein Kind tatsächlich das Zehnte im Ort werden würde. Also habe ich tief durchgeschnauft und mir gesagt: »Wird schon nicht so schlimm werden.«

Und da krümme ich mich nun auf dieser Liege und denke: >Scheiße noch mal, es ist noch viel schlimmer als schlimm.‹ Ich rufe es sogar aus, schrei die in Erdtöne gehüllte Hebamme an, die sich eben lächelnd eine Kräuterzigarre angesteckt hat, um die Aura von negativen Schwingungen zu befreien. Ich brülle es hinaus in die Welt, als eine neue Wehe heranwogt, die mich der Urgewalt ausliefert.

Am Rande meines Bewusstseins nickt die Hebamme. »Gut, gut.« Sie hilft mir null. Harbert hilft mir null. Ich bin allein.

Schmerz schlägt zum hundertsten Mal über mir zusammen, raubt mir, während ich schreie und presse, die Sinne. Mit einem Mal lässt der abartige Druck nach.

Schwer atmend blinzle ich die Tränen weg und sehe auf der Gummiunterlage zwischen meinen Beinen bäuchlings ein rosa Wesen liegen.

Ich lebe! Diese Tatsache überrascht mich so, dass ich nicht anders kann, als mich vorzubeugen und das Kind hochzunehmen. Die Hebamme ist dabei, die Zigarre auszudrücken, sie bekommt mein Tun gar nicht mit, und als sie sich zu mir umdreht, liegt mein Kind bereits in meinem Arm. Es schreit wie am Spieß, sein Körper ist knallrot, sein Gesicht knautschig. Liebe durchströmt mich heiß von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen, und das Glück, das ich fühle, lässt mich neue Tränen wegblinzeln.

Die Hebamme macht Dinge mit der Nabelschnur, die ich nicht sehen will, und fragt wie nebenbei: »Wollten Sie sie nicht abgeben?«

»Auf keinen Fall!«, schnappe ich.

Und zugleich schnappt die Realität mit eisernen Zähnen zu, beißt sich durch meinen seligen Hormonrausch.

Das Zehnte. Dieses perfekte rosa Wunder ist das Kind, das dem Drachen geschickt werden soll.

Mit hämmerndem Herzen drücke ich mein Baby an mich und küsse fieberhaft sein Köpfchen, seine Finger, seine kleinen, weichen Ohren.

»Er kriegt dich nicht«, flüstere ich, doch ich lüge. Noch nie ist ein zehntes Kind entkommen. Die nächsten neun dürfen nun friedlich unter dem angeblichen Schutz des Drachen aufwachsen. Das Zehnte gehört dann wieder der Bestie.

Klar, dass die Geburtenrate in den letzten Jahrhunderten stark zurückgegangen ist. Klar, dass Verhütungsmittel bei uns verboten sind. Klar, dass niemand das Tal verlassen darf – der Drache braucht Nahrung.

»Wir sind dankbar«, betont der Bürgermeister stets salbungsvoll, »dass Sigurd der Tapfere diese Abmachung mit dem Drachen ausgehandelt hat. Früher flog das Untier frei herum. Jetzt erhält es ab und an einen besonderen Leckerbissen und lässt uns in Ruhe. Und in Thal herrschen Frieden und Wohlstand.«

Klar, dass sich die umliegenden Städte mit uns gut stellen wollen. Wir sind die mit dem Drachen, dem verdammten Ehrenbürger unseres Ortes. Drecksdrache.

Das Kind hat sich beruhigt, doch jetzt fallen meine Tränen auf die zarte, schrumpelige Babyhaut, und Verzweiflung schüttelt mich. Als die Hebamme nach meiner Tochter greift, um sie mir abzunehmen, kreische ich auf. Ich bin drauf und dran, meine Zähne in den Arm der Frau zu schlagen, da geht die Tür auf. Viel zu spät stürmt die Ärztin herein, die für meine Entbindung vorgesehen war.

»Oh, ich sehe, Sie haben alles wunderbar allein hinbekommen! Ich habe es leider nicht rechtzeitig zu Ihnen geschafft, ein Notkaiserschnitt kam dazwischen.«

»Notkaiserschnitt?«, krächze ich.

Die Ärztin lächelt. »Eine ›überraschendes Schwangerschaft, mal wieder. Die Mutter hat versucht, sie geheim zu halten, aber das Kind lag falsch.« Sie missdeutet meinen Blick. »Es ist alles in Ordnung. Der Mutter geht es gut, und das Kind wird ein prächtiges Opfer für unseren Drachen.«

»Ein prächtiges Opfer ...«, wiederhole ich die herzlosen Worte leise. Dann sickert die Erkenntnis in mein Bewusstsein, und Erleichterung erfüllt mich. Mein Kind darfleben. Das ist alles, was zählt.

Himmel,das ist nicht alles, was zählt, stelle ich ein paar Stunden später fest. Ich kann nicht schlafen. Wütend auf mich selbst, dass ich es nicht gut sein lassen kann, rapple ich mich auf. Schwester Ludmilla hat mir untersagt, allein aufzustehen, aber die kann mich gern haben. Langsam watschle ich, die schlafende Ada im Arm, in den düsteren Krankenhausgang hinaus, und klopfe nebenan.

»Herein«, ertönt eine brüchige Stimme, und ich trete ein. Plötzlich wünschte ich, ich hätte die Kleine im Zimmer gelassen; mein Handeln scheint mir taktlos. Die Mutter des Zehnten ist bleich und starrt mir aus verquollenen Augen entgegen. Angstvoll drückt sie ihr Baby bei meinem Anblick an sich. Drei Tage darf sie es liebhaben, dann wird es abgeholt.

Ich suche nach Worten. »Ich dachte, mein Kind wäre das zehnte«, bringe ich hervor.

»Tja. Glückspilz«, stößt die andere bitter aus.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die letzten Stunden haben etwas mit mir gemacht, ich ertrage die Düsternis in den Augen der Frau kaum; fürchte, unter ihrem Schmerz zusammenzubrechen.

Und ihr geht es anscheinend ähnlich. Sie erkennt mein Mitleiden, und ihr Blick wird milder.

»Ich bin Neiru«, sage ich.

»Mia«, murmelt sie und dreht ihr Kind herum, sodass ich einen Blick auf sein zerknautschtes Gesicht erhaschen kann. »Und das hier ist Theo.«

Unser beider Mutterliebe erfüllt den Raum, so schwer und heiß, dass ich kaum atmen kann.

Erschöpft rutscht Mia tiefer in die Kissen. Ihre Miene wirkt schicksalsergeben, wohingegen ich mit jeder Sekunde wütender werde.

»Wir dürfen das nicht länger hinnehmen. Die Vereinbarung ist grausam und böse«, stoße ich aus.

Es dauert, bis ich Mias Krächzen als Lachen identifiziere. »Ach ja? Denkst du, du bist die Erste, die keine Lust mehr auf Ausbeutung hat? Du hast keine Chance. Hast du in der Schule nichts von den stolzen Recken gehört, die nie wieder vom Drachenberg zurückgekommen sind?«

»Pff. Ich glaube, die waren nicht wütend genug. Aber ich bin es.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Wütend genug wofür?«

Mein Blick fliegt von ihr zu Ada, und mein Mutterherz trommelt eisern in meiner Brust. »Um den Scheißdrachen zu töten.«

»Ich komme mit«, beschließt Mia.

Wir warten zwei Tage ab, in denen Mia ihrem Körper Ruhe gönnt. Ich nutze die Zeit. Harbert war überglücklich, als ich ihn darüber informiert habe, dass Ada leben darf. Ich tue so, als hätte ich ihm verziehen, dass er mich im Stich gelassen hat, und er rückt mit Sack und Pack an. Wir ziehen in einen Familienraum, der praktischerweise näher am Stationszimmer liegt. Dort entwende ich, als Schwester Ludmilla Harbert das Wickeln beibringt, Schmerzmittel und den Schlüssel für die Klinikgarage.

Am zweiten Abend nach dem Schichtwechsel um 23 Uhr gebe ich Ada einen Kuss auf die Stirn und sehe sie mit brennenden Augen an. »Ich tu’s für dich«, flüstere ich heiser. »Für deine Kinder. Wenn’s schiefgeht, kannst du mir hoffentlich verzeihen.«

Harbert steht unter der Dusche, ich muss mich beeilen. Ich schlüpfe in meine Kleidung, ziehe mir die Stiefel an, schultere meinen Rucksack. Bei derGeburt scheinen mirdiverse Muskeln abhandengekommen zu sein, es ist mühsam.

Muss kurz Luft schnappen, schreibe ich auf einen Zettel. Mit Mia. Kümmere dich um Ada und Theo!

Mit einem entwendeten Rollstuhl hole ich Mia ab und drücke ihr Schmerztabletten in die Hand. Auf den Gängen herrscht Stille, nur aus dem Stationszimmer ertönen gedämpft die Lacher einer Sitcom. Ungesehen fahren wir mit dem Lift in die Kelleretage. Mich interessieren weder die Sankas noch die funkelnden Dienstwagen der Oberärzte, denn damit kämen wir auf den schmalen Bergpfaden nicht weit. Stattdessenhelfe ich Mia auf die Sitzbank eines schnittigen Elektromobils, das normalerweise an Reha-Patienten verliehen wird. Ich setze mich vor meine Mitstreiterin und betätige den Startknopf. Die Schranke öffnet sich automatisch, als wir darauf zufahren, und schon sausen wir lautlos durch die Nacht.

Zum Drachenberg ist es nicht weit, doch ich habe einen Zwischenstopp eingeplant. Mein Cousin Rio arbeitet bei der Feuerwehr und wartet schon vor dem Spritzenhaus mit Schutzkleidung und Helmen auf uns.

Er ist blass. »Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut.«

Ich antworte lieber nicht, und Mia, benommen vom Schmerzmittelcocktail, kichert nur leise.

»Ich danke dir. Pass auf Ada auf«, schärfe ich Rio ein und ringe mir ein Lächeln ab. »Sie wird bestimmt eine super Feuerwehrfrau.«

Bald holpern wir aufwärts durch den dichten Bergwald. »Aufstieg auf eigene Gefahr«, »Wege nicht geräumt«, »Obacht, Drache!« - alle paar Kilometer warnen uns Schilder.

Ich weiß nicht genau, wo die Drachenhöhle liegt, aber beim Ritus des Zehnten Kindes reitet der Bürgermeister samt Delegation und dem armen Säugling immer diesen Weg hinauf. In der Zeitung habe ich Bilder gesehen, die die feierliche Ablage des Babys auf dem Drachenstein dokumentieren, einem flachen Findling vor einem Loch im Felsen.

Nebel steigt auf, und seine fahlen Schwaden dringen im Mondlicht auch durch Mias eingeschränkte Wahrnehmung. Sie klammert sich fester an mich.

»Da ist was.« Ihr heiseres Hauchen jagt mir einen solchen Schreck in die Glieder, dass ich fast in den Abgrund lenke.

»Himmel, Mia! Ich hab’s auch gesehen. Das war ein Uhu oder so was.«

»Nein, nicht da vorne. Hinter uns.« Ihr heißer, gehetzter Atem kriecht mir am Kragen vorbei in den Nacken. Fröstelnd ziehe ich die Schultern hoch und trete auf die Bremse. Unbeholfen dank Schutz-kleidung und der dicken Einlagen in meiner Wöchnerinnennetzhose, klettere ich vom Elektromobil.

Der Wald ruht vollkommen still; der Weg hinter uns ist vom Nebel verschluckt worden.

»Was ist eigentlich mit den Glimmerschergen?«, fragt Mia.

»Da ist nichts dran.« Der Drache wird angeblich von gnadenlosen Wesen in schimmernder Rüstung bewacht. »Das ist nur eine Sage.«

»Sagen haben einen wahren Kern.«

»Warum sagst du so was?«, zische ich.

Sie atmet tief durch. »Verdammt, sind wir jetzt Heldinnen oder machen wir uns in die Hose?!«

Ich komme nicht umhin, an den Zustand meines Beckenbodens zu denken. »Beides. Schätze ich. Erst retten wir das Dorf, dann melden wir uns zum Rückbildungskurs an.«

»Deal? «

»Deal.«

Ich will eben auf das Fahrzeug klettern, da höre ich es. Und Mia auch, so wie sie sich neben mir anspannt.

Wispern, Raunen, Flüstern.

»Die Glimmerschergen.« Mein Herz klopft wie wild. Hektisch nestle ich in meinem Rucksack nach dem längsten Messer. Ich habe Harbert angewiesen, alle Messer aus meiner Küche mitzubringen, angeblich, weil die im Krankenhaus nichts taugen. Es sind unsere einzigen Waffen. Mein Plan war, in die Höhle zu schleichen und dem Drachen das Messer durch das offen liegende Trommelfell direkt in den Schädel zu stoßen. Der Rest der Kreatur ist der Legende nach von undurchdringbaren Schuppen bedeckt, da hätte ich sowieso keine Chance, selbst mit Lanze oder Panzerfaust. Es war ein guter, schlichter Plan. Bis eben. Ich erstarre, besten japanischen Stahl in der verkrampften Faust, während Mia fluchend in meinem Rucksack nach einem weiteren Messer kramt. Dunkle Silhouetten treten aus dem Nebel heraus.

Mein Atem geht stoßweise.

Die Gestalten nähern sich. Sie wirken überraschend unätherisch mit ihren klobigen runden Köpfen. Unförmig. Keine ist von einem glänzenden Panzer bedeckt, nur hier und da blitzt etwas im Mondlicht auf... ein Reflektorstreifen? Und ihre Waffen ... eine Zaunlatte, ein Hockeyschläger, ein Tablett mit Apfelmuster?

»Mama?«, frage ich mit brüchiger Stimme.

»Himmel, ihr seid flott unterwegs«, schnauft meine Mutter und schiebt ihr Visier hoch.

»Das sind keine Glimmerschergen«, begreift nun auch Mia. »Das sind Dörfler! In Feuerwehrkluft!«

Meine Mutter umarmt mich und klopft Mia auf die Schulter. »Habt ihr etwa gedacht, ihr könnt es allein mit dem Untier aufnehmen?«

Hinter ihr treten mehr und mehr Menschen aus dem Nebel. Die Bäckerin. Tante Hedwig. Die Schulweghelferin mit den roten Locken. Der Briefträger und seine sieben Söhne. Die erdfarbene Hebamme. Und unzählige andere. Eltern, Großeltern und Geschwister der Zehnten Kinder.

»In Thal kann man einfach nichts geheim halten.«

Rio lächelt verlegen hinter Mama hervor. »Sorry.«

»Harbert hat mich ebenfalls informiert«, berichtet meine Mutter. »Der Bürgermeister ist in seinem Haus eingesperrt, die Telefonleitungen sind gekappt, die Bürgerwehrler dank Oma Heidis Eierpunsch außer Gefecht gesetzt, die Tore der Polizeiwache blockiert.«

Mia hat wie ich staunend gelauscht. Nun strafft sie ihre Haltung, was ihrer schmerzverzerrten Miene nach nicht angenehm für ihren Bauchschnitt sein kann. Doch sie blickt entschlossen in die Runde. »Wollen wir jetzt den Drachen töten?«

»Wird schon nicht so schlimm werden«, meinen Mama und ich unisono. Fast glaube ich es.

Mia fährt auf dem Elektromobil, ich laufe mit dem Rest der Truppe hinterher, bis sie plötzlich stoppt. Alle Gespräche verstummen, alle Augen richten sich auf den großen Stein und den Höhleneingang dahinter, ein dunkler Schlund im mondgrauen Felsen.

»Hat jemand von euch den Drachen schon mal gesehen?«, flüstere ich.

»Der Bürgermeister legt die Kinder nur ab und sieht zu, dass er den Berg wieder runterkommt«, raunt Hannelore, die erste Vorzimmerkraft im Rathaus. »Eine persönliche Übergabe findet nie statt.«

»Okay. Was soll’s?« Sein Trommelfell wird sich schon finden. Mit zitternden Händen ziehe ich meine Filmkamera aus dem Rucksack. Sie hat eine Nachtsicht-Funktion, mit der ich hoffe, den schlafenden Drachen im Dunkeln ausfindig zu machen. Ich halte sie mit der linken Hand, die rechte packt das Messer.

»Ihr wartet hier. Wenn was schiefläuft, könnt ihr versuchen, mich zu retten. Vorher nicht.« Ihre seelische Unterstützung tut mir gut, doch ich möchte nicht, dass das halbe Dorf hilflos durch die Höhle stolpert und mit seinem Radau die Bestie weckt.

Sie nicken, nur meine Mutter und Mia wollen widersprechen, aber unter meinem unnachgiebigen Blick wagen sie nicht, den Mund zu öffnen.

Wachsam schleiche ich ins pechschwarze Maul des Berges. Ein Felsengang weitet sich nach wenigen Schritten zu einer enormen Höhle aus. Ich schwenke die Cam langsam herum, den Blick starr auf das Display gerichtet: Geröll, Tropfsteine, ein Haufen abgenagter Knochen – ich unterdrücke ein Keuchen, als ich das Tier sehe. Es ist etwa vier Meter lang. Ein kräftiger Schwanz ringelt sich um seinen Körper. Spitze Ohren hängen auf halbmast, segelgroße fledermausartige Flügel sind an den schuppigen Leib angelegt. Sein immenser Kopf ruht mit geschlossenen Augen auf Echsenarmen mit rasiermesserscharfen Klauen, Rauchwolken steigen bei jedem Atemzug aus seinen Nüstern. Zentimeterweise rücke ich vor, um nicht zu stolpern oder einen Stein ins Rollen zu bringen. Schweiß rinnt mir in die Äugen, ich wage kaum, Luft zu holen. Dann ist meine Messerspitze nur noch wenige Zentimeter vom Gehörgang des Kinderfressers entfernt. Mir graut vor mir selbst, als ich das Messer mit aller Kraft packe, aushole und -

»Na, na, na!«, schnaubt da der Drache dröhnend und öffnet ein grün funkelndes Auge.

Ich erschrecke dermaßen, dass ich zurückfahre und über seine Schwanzspitze stolpere. Hart lande ich auf dem Hintern und reiße sofort das Messer in die Höhe. Kampflos kriegt er mich nicht.

Ein Feuerstoß erhellt die Höhle, und ein Ast, der auf dem Boden liegt, fängt Feuer. Jetzt kann ich auch ohne Nachtsichtkamera sehen, wie sich das Untier aufrichtet und erneut das Maul aufreißt. Ich erstarre und weiß, der nächste Atemzug wird mich rösten oder zumindest meine Schutzkleidung einem Extremtest unterwerfen ... Aber der Drache gähnt nur.

»Bist du zum Putzen gekommen?« Er kratzt sich mit einer Kralle am Hals und setzt sich auf die Hinterbeine. Seine Schuppen glitzern irisierend im Licht der Flammen,

»Putzen?« Ich bin so verblüfft, dass ich vergesse, mich zu furchten. »Was denn noch? Reicht es dir nicht, dass du uns jedes zehnte Kind wegnimmst?«

Der Drachenkopf schießt nach vorne, seine Schnauze schwebt knapp vor meinem Visier.

»Wie bitte?« Jetzt klingt er angepisst. »Seit Jahr und Tag setzt ihr hier die Bälger aus, die ihr nicht mehr haben wollt, und plötzlich bin ich der Böse? WEISST DU EIGENTLICH, WAS DAS FÜR EINE SCHEISSARBEIT IST, EIN KIND AUFZUZIEHEN!?! Seit 500 Jahren mach ich das nun! Siehst du meine Augenringe?! Ich war nicht mehr im Urlaub seit... keine Ahnung, 1474 oder so.« Die Höhle bebt unter seiner Rage, Staub rieselt von der Decke.

Sein Gebrüll hat die Dörfler auf den Plan gerufen, eilig stolpern sie mit erhobenen Schürhaken und Schaufeln hinter Mias Elektromobil in die Höhle. Und auch hinter dem Drachen tauchen auf einmal Gestalten auf, junge und alte, alle unbewaffnet, alle in Rüstungen aus Leder und Drachenschuppen gekleidet, auf denen der Feuerschein tanzt.

»Die Glimmerschergen«, flüstert Mia ehrfurchtsvoll.

»Ich glaub, hier liegt ein Missverständnis vor«, stammle ich, lasse das Messer sinken und rapple mich auf. »Was genau hast du mit Sigurd dem Tapferen vereinbart?«

»Mit Sigurd? Der Knalltüte?« Abfällig stößt der Drache kleine blaue Flammen aus. »Kam hier angekrochen und hat mich kaum zu Wort kommen lassen, so wild war er drauf, eine Abmachung auszuhandeln, die sein Leben schont. Das übrigens nie in Gefahr war. Warum soll ich einen zähen Menschen essen, wenn mich der Wald mit fettem Wild versorgt?«

»Was habt ihr denn ausgehandelt?«, fragt Mia.

»Ob ich Jungfrauen will, hat er gefragt, und ich so: >Putzfrauen wären besser. Das Alter ist mir egal. Nur nicht mehr als zehn Stück gleichzeitig schicken, sonst ist mir das Geschnatter der Damen zu lästig.‹ Die Höhle sauber zu halten, ist nicht mein liebstes Hobby, und Unterstützung wäre fein gewesen.« Er zuckt mit den Schultern. »Sigurd hat alles mitgeschrieben, aber er hat so gezittert, dass man wahrscheinlich kein Wort lesen konnte. Was hat er denn nach seiner Rückkehr berichtet?« Der Drache schaut fragend in die Runde.

Meine Mutter räuspert sich. »Sigurd kam nie im Dorf an, heißt es. Nur das reiterlose Ross mit Sigurds Notizen. Seither schicken wir dir blutenden Herzens jedes zehnte Kind.«

Der Drache fasst sich an die Stirn. »Was für ein Schlamassel.« Sein Blick wird weicher, als er die Glimmerschergen streift, die sich um ihn scharen und uns teils staunend, teils misstrauisch anstarren.

»Was hast du mit den stolzen Recken angestellt, die dich zum Kampf herausgefordert haben?«, bohre ich nach.

»Meinst du die armen Teufel, die hier alle paar Jahrzehnte den Berg hochgekeucht kamen? Denkst du, die wollten kämpfen?« Er lacht. »Die haben spitzgekriegt, dashier der einzige unbewachte Grenzübergang liegt, und sind abgehauen aus eurem feinen Dörfchen.«

»Klingt einleuchtend«, findet Mia.

Da gellt ein Schrei durch die Höhle. »Der sieht aus wie mein seliger Willi! « Die Bäckerin zeigt mit bebendem Finger auf einen der Glimmerschergen. Der neigt fragend den Kopf.

»Nur zu. Auf, auf. Lernt euch kennen. Versöhnt euch. Tränenreich, wenn es sein muss. Hauptsache, ihr lasst mich in Zukunft mit plärrenden Neugeborenen in Ruhe und schickt mir regelmäßig eine Putztruppe hoch«, knurrt der Drache.

Plötzlich liegen sich alle in den Armen, und die Höhle ist erfüllt von Weinen und Lachen. Der Drache schnaubt gerührt.

Erst im Morgengrauen machen wir uns an den Abstieg. Die Glimmerschergen, unsere verlorenen, wiedergefundenen zehnten Kinder bleiben bei ihrem Ziehvater. Der Drachenberg ist ihr Zuhause.

»Wir müssen die Polizeigarage aufsperren«, fällt mir ein.

»Und die Bürgerwehrler ausnüchtern«, ergänzt Mia, die mit Mama auf dem Elektromobil bergabholpert.

»Die Telefonleitungen reparieren.«

»Und den Bürgermeister befreien.«

»Wird schon nicht so schlimm werden«, sagt Mama. Und diesmal hat sie recht.

E. B. Branger

Der Sprung

Sebastian sah nach unten. Sein Herz klopfte heftig, und das Blut rauschte in seinen Ohren. Zehn Meter. Ein Meter für jedes Jahr, das er alt war.

»Ich bin nicht mutig«, sagte er zu der Krähe, die auf dem Geländer saß und ihn beobachtete.

Am Kopf, am Schwanz und an den Flügeln war ihr Gefieder schwarz, der Rest des Körpers war grau. Schnabel, Augen und Krallen glänzten ebenfalls schwarz. Opa hätte gewusst, was für eine Art Krähe das war. Opa hatte sich gut ausgekannt mit Vögeln und sogar an einer verlorenen Feder erkennen können, zu welchem Vogel sie gehörte. Die mit blau-schwarzen Streifen stammten von einem Eichelhäher, das hatte Sebastian sich gemerkt. Aber Opa lebte nicht mehr. Er war lange vor den anderen gestorben, an einem Herzinfarkt.

Sebastian trat einen Schritt vom Rand zurück, drehte sich um und kniete sich neben das Radio. Es gehörte nicht ihm, er hatte es im Lehrerzimmer gefunden, aber es war nicht gestohlen, nur geborgt. Er bewegte den Drehknopf und richtete die Antenne neu aus, doch nur statisches Rauschen war zu hören. An den Batterien lag es nicht. Vielleicht wurde nicht mehr gesendet. Das war schade. Während der letzten Tage war das Radio seine einzige Gesellschaft gewesen.

Außer der Krähe. Die war seit gestern da, und sie hatte keine Angst vor ihm. Sie hatte sogar Geschenke gebracht: eine Schraube, ein gebogenes Metallstück und eine Münze. Über die freute sich Sebastian am meisten, obwohl sie nutzlos war. Er konnte sie nirgendwo ausgeben.

»Ich muss mutig sein. Es geht nicht anders«, erklärte er der Krähe. Ihm fiel auf, dass er ein wenig heiser klang. Er hatte seine Stimme in den letzten Tagen kaum verwendet.

Er seufzte, als er daran dachte, wie tief es runterging, und sein Magen fühlte sich seltsam an, als drehte er sich im Kreis, wie das Innere einer Waschmaschine. Seine Finger, die noch am Radio herumhantierten, zitterten ein wenig.

Schon immer wich er Problemen lieber aus oder lief davon. Das war oft nicht die schlechteste Taktik.

»Vielleicht bin ich einfach ein Feigling«, sagte er. »Aber das ist gar nicht so schlecht. Immerhin lebe ich noch.«

Die Krähe sah ihn an und neigte den Kopf.

»Ich bin nämlich weggelaufen und habe mich versteckt. Zuerst in der Schule. Dann auf dem Dach der Schule. Und jetzt hier, auf dem Zehnmeterturm.«

Ja, er war weggelaufen. Hatte sich gerettet. Währenddessen schlurften viele der Mutigeren da unten als Zombies herum und verzehrten sich nach seinem Gehirn.

Zombies, Infizierte, Wiederkehrer ... was auch immer diese Kreaturen waren. Niemand wusste, wie es angefangen hatte. Mancherorts hatte man sie gestoppt, aber in dieser Stadt waren sie noch außer Kontrolle. Das hatte er im Radio gehört.

Auf den Sprungturm des Freibads waren sie noch nicht gekommen. Zombies waren keine guten Kletterer. Einige hatten es auf die unteren Ebenen geschafft. Dazu war nicht viel Geschicklichkeit erforderlich. Breite Metalltreppen führten vom Boden zum Dreimeter- und Fünfmeterbereich. Das letzte Stück aber, hoch zum Zehnmeterturm, war nur über eine senkrechte Leiter zu erreichen.

Sein Klassenkamerad Kevin war einer von den Mutigen gewesen. Er war vom Zehnmeterturm gesprungen, ohne zu zögern. Das war natürlich vor den Zombies gewesen. Und in der Turnhalle war er am Seil bis ganz nach oben geklettert. Als die Berichte von den Zombies eingetroffen waren, hatte er gesagt: »Die sollen nur kommen, ich werde ihnen den Kopf abhacken.«

»Mein Freund Kevin war mutig«, erzählte Sebastian der Krähe. »Aber jetzt ist er tot. Mein Opa ist auch tot. Aber er ist eingeschlafen und dann nicht mehr aufgewacht, hat Mama gesagt. Ganz friedlich.«

Kevin war nicht friedlich eingeschlafen.

»Manchmal ist es ganz gut, wenn man feige ist«, sagte er zur Krähe. »Dann macht man nichts Dummes oder Leichtsinniges.«

Die Krähe antwortete mit einem leisen »Krah«.

»Wir waren nämlich in der Turnhalle. Sie haben gesagt, dass sie uns besser beschützen können, wenn wir alle zusammen bleiben. Wir haben in Schlafsäcken auf Turnmatten geschlafen. Die Erwachsenen sind mit Waffen auf Patrouille gegangen und haben Wache gehalten. Aber Kevin hat sich rausgeschlichen aus der Halle und in der Kammer vom Hausmeister eine Axt gefunden.«

Sebastian setzte sich und lehnte sich ans Geländer. Er drehte noch ein paarmal an den Radioknöpfen, aber es war vergebens. Der Sender, auf dem zuletzt eine Dauerschleife mit Evakuierungsinstruktionen abgespielt worden war, war nicht mehr zu empfangen.

»Kevin ist mit der Axt zurückgekommen und dann die Sprossenwand hochgeklettert. Dort oben sind nämlich Fenster. Er wollte runterspringen, um draußen den Zombies den Kopfabzuhacken, mit der Axt. Ich habe ihm gesagt, dass das keine gute Idee ist.«

Sebastian und ein paar seiner Klassenkameraden waren auch auf die Sprossenwand geklettert, um durch das Fenster zuzusehen. Kevin war gar nicht erst dazu gekommen, die Axt zu schwingen. Beim Sprung nach unten hatte er sich verletzt, vor Schmerzen geschrien und eine ganze Horde Zombies angelockt. Kaum eine Minute später hatten die Erwachsenen die Stelle erreicht, doch es war zu spät gewesen.

»Jedenfalls... die Zombies sind gekommen und haben ihn getötet. Er hat sicher bereut, dass er nicht so feige war wie ich.«

Zumindest war Kevin ein Schicksal als Zombie erspart geblieben, im Gegensatz zu vielen anderen. Ob es seinen Eltern und seinen Freunden noch gut ging? Sie hatten einander verloren in dem ganzen Durcheinander. Als die ersten Zombies in die Schule gestürmt waren, war er in Panik weggelaufen und hatte sich versteckt. Zuerst im Handarbeitsraum, denn dort gab es besonders viele Schränke und Kästen. Dann im Sammlungsraum mit den ausgestopften Tieren, die manchmal im Biologieunterricht gezeigt wurden. Das war gruselig gewesen. Tote Igel und Hasen und Dachse, die aus regungslosen Augen ins Leere starrten. Eine ausgestopfte Krähe gab es dort auch, aber das wollte er besser nicht erwähnen.

Sebastian hatte die Lautsprecherdurchsagen mit den Aufrufen zur sofortigen Evakuierung gehört. Er hatte auch die schlurfenden Schritte vor der Tür gehört, das Stöhnen und Röcheln und Grunzen. Als es endlich still geworden war und er sich aus dem Raum gewagt hatte, waren alle schon weg gewesen.

Dann waren Hubschrauber gekommen. Aber als er endlich einen Weg auf das Dach gefunden hatte – von einem Klassenraum im ersten Stock auf das Vordach des Fahrradabstellraums und von dort über eine Feuerleiter auf das Schuldach -, waren die Hubschrauber schon wieder weg gewesen.

Man hatte ihn vergessen. Niemand war zurückgekommen, um nach ihm zu suchen. Vermutlich hielten sie ihn für tot.

Sebastian blickte vorsichtig an der Leiter nach unten. Er hatte die Sprossen mit Sonnencreme eingerieben, damit die Zombies abrutschten, falls sie hochzuklettern versuchten. Außerdem hatte er mit einem breiten Klebeband zwischen Leitersprossen und der untersten Stange des Geländers eine zusätzliche Barriere errichtet. Er war stolz auf seine Konstruktion und hätte gerne gewusst, ob sie ihren Zweck erfüllte, doch das hätte erfordert, dass ein Zombie versuchte, sich den Weg nach oben zu bahnen, und das wollte er nun wirklich nicht.

Bisher hatte keiner der Zombies versucht, zu ihm raufzuklettern. Die wussten nicht, dass er hier war, und das konnte gern so bleiben. Der Turm war ein gutes Versteck, von unten konnten sie ihn nicht sehen. Die meisten schlurften nur gemächlich rum und blickten geradeaus. Richtig gefährlich wurde es erst, wenn sie etwas entdeckten, das sich bewegte. Dann waren sie schnell.

Natürlich saß er hier oben fest – komplett in der Falle. Besonders bequem war es auch nicht. Der Boden war hart, und in der Nacht wurde es kalt, aber es gab auf allen Seiten ein Geländer, sodass er nicht runterfallen konnte. Ein bisschen Wasser hatte er auch noch. Er hatte seine Regenjacke zwischen dem linken, rechten und hinteren Geländer festgebunden, sodass sich das Regenwasser in einer Mulde in der Mitte sammelte.

Sebastian griff in seinen Rucksack. Die Krähe beobachtete seine Bewegungen aufmerksam. Er nahm den letzten Keks aus der Verpackung und biss ab. Ein wenig trocken war er schon. Ein Stück brach er ab und warf es der Krähe hin. Sie hüpfte vom Geländer und pickte es auf.

»Warum teile ich bloß mit dir?«, fragte er.

Der Krähe etwas von seinem letzten Vorrat zu überlassen, war dumm. Die konnte ja wegfliegen und sich was anderes suchen. Trotzdem war er froh, dass sie hier war. Sonst leistete ihm niemand Gesellschaft.

Sicherer war es für die Krähe hier oben auch, denn die Zombies jagten auch Tiere. Wenn sie einen Hund erwischten, war es besonders schlimm. Hunde jaulten laut und jämmerlich, und man konnte es weithin hören.

»Ich sollte dir einen Namen geben«, sagte Sebastian.

Die Krähe sah ihn aufmerksam an.

»Du heißt jetzt Edgar«, sagte er.

Der Name stammte aus einem Gedicht von jemandem, der Edgar Irgendwas hieß und in dem es um eine Krähe ging. Oder war es ein Rabe gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Gab es überhaupt einen Unterschied zwischen Krähen und Raben? Opa hätte das sicher gewusst.

Sebastian stand wieder auf, ging zum Rand und blickte nach unten. Zombies, so weit das Auge reichte. Selbst auf der Wasseroberfläche des großen Sportbeckens unter ihm trieben Zombies. Sie machten keine Schwimmbewegungen, gingen aber trotzdem nicht unter. Einige bewegten sich, als ob sie in eine Richtung gehen wollten. Manche hatten den Kopf unter Wasser, aber sie konnten nicht ertrinken, sie waren ja schon tot.

Ein paar erkannte er wieder, von früher, bevor sie Zombies geworden waren. Sebastian war sicher, dass einer von denen, die auf der Wiese herumschlurften, der Bademeister war, obwohl er gar nicht seine Badehose anhatte wie sonst immer, sondern Jeans. Und eine Lehrerin aus den oberen Klassen hatte er auch erkannt. Aber jetzt sahen sie anders aus, hatten fleckige Haut und eingefallene Augen. Sie stanken fürchterlich. Auf dem Turm, zehn Meter über den Zombies, war der Geruch nicht ganz so schlimm.

Am anderen Ende des Beckens standen Liegestühle und große Sonnenschirme. Einige waren umgefallen. Und direkt dahinter lag die Kantine, in der er manchmal Pommes oder ein Eis gekauft hatte. Was gäbe er jetzt für eine Portion Pommes!

»Siehst du das Gebäude dort hinten?«, fragte er die Krähe und zeigte auf die Schule. »Von dort bin ich gekommen.«

»Krah«, sagte die Krähe.

Sebastian deutete das als Zeichen, dass sie mehr erfahren wollte.