Yangalia - Martha Kassat - E-Book

Yangalia E-Book

Martha Kassat

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Beschreibung

Anlässlich der Afrikanischen Davos Wirtschaftskonferenz prallen die unterschiedlichsten Charaktere und Welten aufeinander. Die von ihrem privilegierten Leben desillusionierte Helene, Gattin des deutschen Botschafters Philippe Garwehn, begleitet eine exquisite Gruppe von eigens aus Europa angereisten Spendern, welche ihre Projekte vor Ort in Augenschein nehmen möchten. Gleichzeitig hat sie alle Hände voll zu tun mit den lokalen korrupten Polizisten und den potentiellen Abgründen des diplomatischen Korps zu jonglieren.

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Das Leben in Afrika ist wie ein Marathon, wenn Du Dich auf den ersten Kilometern verausgabst, kommst Du nie an.

Inhaltsverzeichnis

Alhamdulilah

Tag 1, vormittags

Leïla’s Palace

Tag 1, nachmittags

Muzungus

Tag 2, vormittags

Avancen

Tag 2, nachmittags

SOS: Spouses and Significant Others

Tag 3, vormittags

Neopatrimonialisten

Tag 3, abends

Afrikanische Renaissance

Tag 4

Der weiße Elefant

Tag 5, vormittags

Mama Afrika

Tag 5, nachmittags

Tam Tam

Tag 6

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

Tag 7 und Epilog

Alhamdulilah

Rasant wachsende Berge aus weißen Kumuluswolken türmten sich drohend vor einem dunkelgrauen Himmel am Horizont auf. Das sind unmissverständliche Vorboten eines herannahenden Tropengewitters, die so schnell herannahen, als würde man mit Vollgas auf sie losfahren... Helene kurbelte das Fenster ihres Land Rover Defenders hoch und schaltete die Klimaanlage an. Es ertönte ein lautes Klack und aus der Lüftung strömte warme feuchte Tropenluft in den Innenraum ihres Wagens. „Ach Archie, was ist denn schon wieder los? Immer irgendetwas, was nicht funktioniert...“ brummte sie vor sich hin, legte den ersten Gang ein und wollte soeben anfahren, als ein mit bunten Schriftzügen reich verzierter gelber Minibus aus einer Seitenstraße schoss und ihr die Vorfahrt nahm, nur um sich anschließend wenige Zentimeter vor ihr durch die chronisch verstopften Straßen zu quälen.

So ein Mistkerl! Allein die schwarze Abgaswolke deines Busses würde ausreichen, alle Klimaziele einer mittelgroßen europäischen Stadt zunichte zu machen! Abgesehen davon war dieser Stadtbus – genauer betrachtet - ein Gesamtkunstwerk: Generationen von stolzen Eigentümern hatten ihn über die letzten 50 Jahre nicht nur am Leben erhalten, sondern mit handgemalten Bildern und bunten Bändern reich verziert. Ausschließlich das geübte Auge vermochte inmitten der vielen Farbschichten überhaupt das Fahrtziel auszumachen, die kleinen Buchstaben über der zersprungenen Windschutzscheibe waren nur schwer zu identifizieren. Die zerschlissenen vergilbten Gardinen im Inneren flatterten im Fahrtwind, die Seitenfenster gab es schon lange nicht mehr. Auf dem Dach des Busses türmten sich Jutesäcke undefinierbaren Inhalts neben vier Fahrrädern, einem Moped und einer geknebelten Ziege, deren Kopf ohnmächtig von dem Dach des Busses baumelte. Zwei junge Männer standen auf einen Trittbrett am hinteren Ende des Busses, hielten sich lässig mit jeweils einer Hand am Türrahmen fest und plauderten unbekümmert miteinander.

ALHAMDULILAH stand in unübersehbaren schwarzen Druckbuchstaben über der Heckscheibe – eine gehörige Portion Fatalismus mussten die zahlreichen Fahrgäste tatsächlich aufbringen, um sich diesem Vorzeitvehikel anzuvertrauen, dachte Helene bei sich.

An Fatalismus schien an diesem Septembermorgen in Tahoua, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes Yangalia, ohnehin kein Mangel zu herrschen. Helene wunderte sich stets, aus welcher spirituellen Quelle die zahllosen Fußgänger, Fahrrad-, Moped - und Taxifahrer, die Eselkarrentreiber, Buschauffeure und Lastwagenwagenfahrer ihr Vertrauen in die Umsicht ihrer Mitmenschen und Verlässlichkeit ihrer Fahrzeuge nahmen. Was auch immer der Quell dieser Zuversicht war - oft genug belegten die am Straßenrand zurückgebliebenen Trümmerhaufen den offensichtlich weit verbreiteten Irrglauben an das Können von Mensch und Maschine.

Jenseits der imposanten hellblauen Moschee, welche die Republik Yangalia als nur eine von vielen Moscheen als muslimisch geprägtes Land auswies, lichtete sich das Treiben ein wenig. Zielstrebig steuerte Helene ihren Land Rover auf den nächstgelegenen Stadtautobahnzubringer zu, der sie aus diesem Hexenkessel über die Maut-Autobahn zum Flughafen bringen würde. Gestützt auf Betonsäulen schwang sich die Stadtautobahn in die Luft, ließ die Mehrzahl an Verkehrsteilnehmern unter sich zurück und teilte so Tahoua in eine Ober- und Unterwelt, denn diese freie Fahrt konnten sich nur die wenigsten der Bewohner Yangalias leisten.

Von allen Zwängen befreit schaltete Helene in den selten gebrauchten vierten Gang – nur das Fliegen selbst konnte schöner sein - doch ein Blick auf ihre Armbanduhr ließ sie zusammenzucken: es gab tatsächlich keine Zeit mehr zu verlieren, die Maschine aus Paris sollte in einer halben Stunde landen, sofern der unaufhaltsam herannahende Tropensturm die planmäßige Landung des Flugzeugs nicht unmöglich machen würde.

Helene parkte ihren Land Rover auf dem weiträumig angelegten Parkplatz direkt vor dem stolz schimmernden vierstöckigen Ilorin Nioro Hauptstadtflughafen, errichtet aus Stahl und Glas, spannte sich ihre Gesichtsmaske über Mund und Nase und machte sich entschiedenen Schrittes auf, die Ankunftshalle des Terminals 2 zu betreten, denn die Atmosphäre auf dem baumlosen Parkplatz glich der einer Dampfsauna. Helene spürte deutlich , wie sich an ihren Schläfen klebrige Schweißperlen zu einem Rinnsal vereinigten und sich einen Weg durch das sparsam aufgetragen Make-up bahnten. In wenigen Augenblicken sehe ich aus wie eine Eule.

Das vor sechs Monaten fertig gestellte Ankunftsgebäude des Hauptstadtflughafens wies zu Helenes Erstaunen hingegen noch keinerlei Anzeichen des Verfalls auf, welche ansonsten so typisch sind für Länder am Äquator: Weder grüner Schimmelpilz noch schwarze Wasserspuren verunstalteten die makellos weiß gekalkten Wände, kein herabgefallener Putz an der Decke und keine zersprungenen Kacheln am Boden störten das Image von zukunftsweisender Effizienz. Der jungen westafrikanischen Republik Yangalia war es gelungen, sich nach einem fünf Jahre andauernden Bürgerkrieg eine zumindest nach außen hin funktionierende Regierung zu geben, die mittels großzügig ausgeteilter Kredite der Chinesen diesen imposanten Flughafen in nur zwei Jahren Bauzeit durch eigens dafür angesiedelte ausschließlich chinesische Baufirmen errichtet hatte.

Zwei stattliche Soldaten in dunkelgrünen Militäruniformen stellten sich Helene unvermittelt in den Weg, ihre Schnellfeuergewehre hielten sie vor dem Körper fest in beiden Händen, während sie Helene unverblümt von Kopf bis Fuß musterten. In ihren strengen Gesichtern stand deutlich zu lesen, daß mit ihnen nicht zu spaßen war – schon gar nicht als weiße Frau.

Helene kannte diese Blicke nur zu gut, nach mehr als zwei Jahren Aufenthalt in Yangalia hatten bewaffnete Männer für sie allerdings erheblich an Schrecken verloren, wichtig war es nur, sich nicht einschüchtern zu lassen. Sie blieb vor dem älteren der beiden Männer stehen, blickte ihm geradewegs in die dunkelbraunen Augen und zwang sich, einem fröhlichen Ton anzuschlagen: „Hallo, guten Morgen, ich möchte gerne in die Besucherlounge, ich hole Gäste ab“. Sie kramte ein wenig umständlich in ihrer Handtasche und hielt dem Mann, der vollkommen regungslos vor ihr stand, ihren Besucherausweis vor das Gesicht, welcher sie als Mitglied des diplomatischen Korps auswies und sie damit zum Zugang zu dieser Lounge berechtigte. Der ältere der beiden warf einen Blick auf das Foto, musterte Helene noch einmal unverhohlen und trat wortlos zur Seite.

Helene liebte Momente wie diesen, in denen sie schamlos vor selbstgefälligen männlichen Autoritäten von ihren diplomatischen Privilegien profitieren konnte. Eines ihrer Privilegien bestand eben genau darin, exklusiven Zugang zu der auf 18°C Grad gekühlten Besucherlounge zu haben, welche dem normalsterblichen Rest der Welt verschlossen war.

Übergroße cremefarbene Ledersessel bildeten vier Sitzecken in verschiedenen Nischen des nicht allzu großen Raumes, jeder Sessel groß genug für zwei Personen. Üppige Blumenbouquets aus Stoff auf messingfarbenen Beistelltischen bildeten einen, wenngleich nicht den einzigen Blickfang: hinter dem schwarzen Marmortresen entlang der Wand zu ihrer linken Seite standen zwei perfekt zurechtgemachte Stewardessen in roten Uniformen, die in ein anregendes Gespräch vertieft zu sein schienen. Sie nickten Helene bei Eintreten freundlich zu, fuhren aber nach einem kurzen Zögern in ihrer eigenen Sprache mit der Konversation fort. Helene verstand davon kein einziges Wort.

Wenn die Beschränkungen durch die Corona Pandemie nicht bald aufhören, werde ich nur noch knapp in so einen Sessel hineinpassen. Sie ließ sich mit einem leichten Seufzen genüsslich in eines der weichen Sitzmöbel fallen. Ihr sorgloses Diplomaten-Gattinnen-Dasein würde in wenigen Minuten enden, zumindest für die nächsten 7 Tage. Helene schloss die Augen, erfahrungsgemäß brachten kurze Stoßgebete ihr ein wenig Erleichterung in solch schweren Momenten: „Bitte Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann ...“

Eine unbekannte Stimme antwortete ihr wie aus dem Nichts: „Madame, kann ich ihnen etwas zu trinken bringen?“ Irritiert zuckte Helene zusammen und blickte direkt in zwei dunkelbraune Augen, die unter überdimensionalen falschen Wimpern freundlich hervorblitzten.

Faszinierend, der gute Herrgott sieht aus wie „Daisy Duck“. Geistesgegenwärtig antwortete sie in möglichst unbeteiligtem Ton: „Nein Danke, ich warte nur auf die Maschine aus Paris“.

„Oh la la, da müssen sie aber noch länger warten, ich bringe ihnen gerne einen Kaffee ...“. Helene stand mit einen Ruck auf.

„Wie bitte“? Ihre Stimme klang schriller, als sie es beabsichtigt hatte.

„Es ist der Tropensturm, schauen Sie aus dem Fenster, die Maschine musste ihren Kurs ändern und wird wohl erst in 30 Minuten landen...“. Der Gesichtsausdruck der Stewardess verriet keinerlei Gemütsbewegung.

Helene war klar, daß das Konzept von „Zeit“ in diesem Teil der Welt eine andere Bedeutung hatte, sie schien nicht wirklich zu existieren. Hingegen konnte man, ohne sich besonders anzustrengen, den allgegenwärtigen Verfall und die unaufhaltsame Vergänglichkeit aller weltlichen Dinge beobachten. Helene schaute aus dem Fenster, der Asphalt der Landepiste begann zu dampfen, als die ersten großen Regentropfen in unregelmäßigen Abständen aus nunmehr schwarzen Wolken fielen. In Kürze würden sintflutartige Wassermassen das gesamte Flughafenareal unter sich begraben.

*

Der nach modernen Maßstäben des 21. Jahrhunderts großzügig angelegte Flughafen mit seinen zwei sich überkreuzenden Start- und Landebahnen war von der ehrgeizigen Regierung Yangalias mit Blick auf eine glorreiche Zukunft ihres Landes errichtet worden, die genau wie die Maschine aus Paris in einer Warteschleife feststeckte. Den sonnenhungrigen Touristen, die vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges die weißen Sandstrände des Landes wie eine Heuschreckenplage heimgesucht hatten, war die Einreise bedingt durch die Corona Pandemie immer noch verwehrt. In überraschender Einmütigkeit hatten gleich zu Beginn der ersten weltweiten Covid-19 Welle alle westafrikanischen Staaten beschlossen, ihre Landesgrenzen für Ausländer zu schließen, galten diese doch gemeinhin als Ursache und Hauptüberträger jenes Virus. Allerdings betraf das generelle Einreiseverbot nicht alle Ausländer gleichermaßen. Anlässlich des unmittelbar bevorstehenden „Wirtschaftsforum Afrika“ oder „African Davos“ wie Kenner es nannten, waren ausländische Staatsoberhäupter, hochrangige Minister, gut vernetzte VIPs, sowie umtriebige Geschäftsleute und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen derzeit gern gesehene Gäste in Yangalia.

Eine Lautsprecheransage riss Helene aus ihren Tagträumen, die Maschine des Fluges AF 535 aus Paris war gelandet. Helene spürte, daß ihr olivenfarbenes Leinenkleid trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage wie eine zweite Haut an ihrem Körper und dem Sessel klebte. Jetzt heißt es, sich elegant, ohne viel zu strampeln, aus den Fängen dieses Ledersessels befreien. Verstohlen sah sie sich in der Lounge um und bemerkte, daß niemand der wenigen Anwesenden außer ihr eine Gesichtsmaske getragen hatte. Sie denken tatsächlich, dieses Virus sei nur für Ausländer ansteckend.

In der beinahe menschenleeren Ankunftshalle schaute sich Helene suchend nach Inoussa, dem Fahrer ihres Ehemannes, des Herrn Botschafters Philippe Garwehn, um. Zu besonderen Anlässen – und heute war so ein besonderer Anlass – durfte Helene von Inoussas Präsenz profitieren und seine Dienste in Anspruch nehmen. Doch konnte Helene ihn nirgends erblicken.

Bei Philippe hätte er sich nie getraut, so unpünktlich zu sein. Helene spürte eine leise Wut in sich aufsteigen. Männer - ich lebe in einer Männerwelt! Die in kurzen Abständen an den Wänden der Ankunftshalle postierten Soldaten mit ihren Maschinengewehren in den Händen trugen nicht dazu bei, ihren latenten Groll gegen das männliche Geschlecht zu schmälern, tatsächlich erblickte sie nicht ein einziges weibliches Wesen unter den Uniformierten.

Es würde noch wenigstens eine weitere halbe Stunde dauern, bis die ersten Priority- und Businessclass Fluggäste aus Paris die umfangreichen Pass-, Sicherheits- und Impfpasskontrollen hinter sich gebracht hätten. Helene schlenderte ziellos in der Ankunftshalle umher, während sie, selbst gut verborgen hinter Gesichtsmaske und Sonnenbrille, die Fluggäste anderer Flüge neugierig beobachtete. Was sie nach zwei Jahren Corona bedingter Isolation erblickte, gefiel ihr gar nicht. Reisende jeglichen Geschlechts und aller Altersgruppen haben aufgehört, sich vernünftig zu kleiden, bevor sie sich auf den Weg machten, und offenbar hat der Pyjama den Jogginganzug abgelöst, um sich als Reisebekleidung durchzusetzen. Sollte dies ein Indiz dafür sein, daß die Menschen langsam beginnen, die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen?

Endlich erblickte sie die Person, mit der sie die kommende Woche gemeinsam in Yangalia verbringen würde: Marnie Schwartz. Stets umgeben von einem knisternden Energiefeld schien Marnie permanent zu vibrieren wie ein Stromgenerator. Ihre Mitmenschen reagierten auf diese Aura wie zwei Magneten, entweder wurden sie angezogen oder abgestoßen, es gab nichts dazwischen. Marnie war unmöglich zu übersehen, mit ihrem extrem blassen Teint, den schwarzen glatten Haaren zu einem strengen Bob frisiert und dem wallenden roten Kleid ähnelte sie ein wenig einem in die Jahre gekommenen Schneewittchen.

Helene erinnerte sich noch gut an den ersten Augenblick, in dem sie Marnie anlässlich der Einweihung einer neuen Grundschule in Yangalia erblickt hatte. Vom ersten Moment an fühlte sie sich in den Bann dieser Frau gezogen, drei Jahre war das nun her. Wie alt mochte Marnie wohl sein? Sicherlich schon im letzten Drittel ihres Lebens, aber Helene fürchtete insgeheim Marnies spitze Zunge und hatte sich nie getraut, genauer nachzuhaken.

Und da stand sie nun, suchte die Ankunftshalle mit zusammengekniffenen Augen ab, erblickte Helene und stürzte ihr mit theatralisch weit geöffneten Armen entgegen.

Sie braucht immer den großen Auftritt. „Marnie, wie schön Dich nach so langer Zeit wieder hier bei uns in Yangalia begrüßen zu dürfen, wie war der Flug? Hatten sie ausreichend Champagner an Bord?“ Helene machte mit diesen Worten einen entschiedenen Schritt zurück.

Marnie blieb abrupt einen Meter vor ihr stehen. Demonstrativ rückte Helene ihre Gesichtsmaske zurecht. Diese ganze Küsserei – sowohl unter Freunden, aber schlimmer noch mit Menschen, die sie kaum kannte - hatte Helene schon vor dem Ausbruch der Corona Pandemie als unappetitlich empfunden. Einen verschwitzten Menschen in ihre Arme zu schließen, der zuvor wenigstens sechs Stunden in einem Flugzeug im eigenen Saft geschmorrt hatte, rief in ihr zusätzlich ein leichtes Gefühl der Übelkeit hervor. Damit war jetzt endgültig Schluss – vielleicht die einzig gute Konsequenz von Covid-19.

„Oh Liebes, lass Dich mal anschauen ...“ Marnies grüne Augen wanderten prüfend an Helenes Körper auf und ab.

„Wie denn, keine Umarmung nach der langen Zeit?“ Ihre Stimmung hatte augenblicklich an Enthusiasmus verloren. „Wir sind doch aber alle mehrfach geimpft und getestet worden, liebe Helene, du reagierst ja vollkommen überzogen...“. Marnie warf beleidigt den Kopf kurz zurück und strich sich mit der rechten Hand eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Mit einem leisen Anflug von Schadenfreude konstatierte Helene, daß auch Marnies Make-up der Tropenhitze nicht stand hielt.

„Ach Marnie, ich bitte Dich, wie Du weißt, haben wir hier in Yangalia kein gut funktionierendes Krankenhaussystem - wenn du das Virus aus dem Flugzeug mit dir rumträgst, kann das für mich sehr unangenehme Folgen haben.“

Marnie zuckte nur verächtlich mit den Achseln, ihre Augen sprühten giftige Funken. „Du lebst hier mit weitaus tödlicheren Krankheiten wie Ebola und Malaria, anscheinend bist Du während der zwei Pandemiejahre hysterisch geworden!“

Helene brach in schallendes Gelächter aus, dieser erste Auftritt einer doch beträchtlich in die Jahre gekommenen Diva war einfach zu köstlich. „Schön, daß wir das schon mal geklärt haben. Wo ist überhaupt Dein Gepäck? Ich hoffe, daß unser Chauffeur Inoussa hier irgendwo rumsteht und sich um Deine Koffer kümmert - und Du bringst noch Freunde mit, sagtest Du? Wo sind die denn?“

Helene befreite sich aus Marnies Magnetfeld und bewegte sich zurück in Richtung der Gepäckausgabe, wo unsichtbare Kräfte inzwischen begonnen hatten, Gepäckstücke aller Art auf ein quiekendes Förderband zu werfen. Trotz des Mark und Bein durchdringenden Geräusches drängelten sich die Fluggäste mit weit aufgerissenen Augen zwischen Bergen von gestrandeten Koffern nicht nur des heutigen, sondern auch der vorherigen Tage. Irgendwo in diesem Chaos musste doch auch Inoussa zu finden sein, eigentlich war es seine Aufgabe, die Koffer der Gäste zusammenzusammeln und ins Auto zu befördern. Wo steckte er nur wieder? Wahrscheinlich betet er in einer Ecke des Gebäudes zu Allah – oder er trinkt Tee mit den anderen Fahrern?

Endlich erblickte sie Inoussa mit einem Gepäckwagen, auf dem sich drei identische rote Koffer stapelten, die mit Gurten aus blauem und gelbem Stoff umwickelt waren. Wie passend, natürlich kommt Marnie mit Koffern in den Nationalfarben Yangalias angereist, was sonst? Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Marnie, Du meine Güte, Du kommst mit drei Koffern hierher, willst Du nach Yangalia auswandern?“

Marnie schaute an Helene vorbei und fing plötzlich an, wild mit den Armen zu fuchteln. „Das könnte Dir so passen, nein nein meine Liebe, wie Du weißt habe ich ja noch Louis und Christine mitgebracht, da kommen sie auch schon!“

Mit lauten HuHu-Rufen und rudernden Armbewegungen brachte es Marnie fertig, daß nicht nur alle Fluggäste, sondern auch die Soldaten sich alarmiert zu ihr umdrehten. Ach herrje, diese Frau ist bisweilen so peinlich. Plötzlich erstarrte Helene und traute ihren Augen nicht: vor ihr standen leibhaftig Barbie und Ken!

*

Niemand bei klarem Verstand würde Yangalias Hauptstadt Tahoua als eine schöne Stadt bezeichnen. In Helenes Augen gab es südlich der Sahara ohnehin keine schönen Städte auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Lediglich die dramatischen Landschaften, in denen die Städte planlos wucherten, waren oft atemberaubend schön – allerdings nicht in Yangalia. Immerhin war Tahoua am Atlantik gelegen, so daß -außer in den tropisch-feuchten Regenmonaten Juli bis Oktober - zu jeder Tages- und Nachtzeit eine sanfte Meeresbrise durch die löcherigen Asphaltstraßen und unwegsamen Sandpisten wehte, die den ambienten Geruch von Fäkalien, Verwesung und Autoabgasen vertrieb. Nach dem Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft waren in den 60-iger Jahren im alten Stadtzentrum gesichtslose Hochhäuser im besten Sowjet-Stil aus bizarren Betonelementen rasant in den Himmel geschossen, die in der Folgezeit in raschem Tempo unaufhaltsam entweder dem unbarmherzigen Klima oder dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen waren.

Seit dem Ende des Krieges vor drei Jahren aber hatte eine Ära begonnen, in der ein Monumentalwerk nach dem anderen ausgeschlachtet und entkernt wurde, um es anschließend unter Einsatz von Stahl und Glas neu auferstehen zu lassen. Folglich hatte sich Tahoua, von jeher als Handels- und Hafenstadt am Atlantik von einem gewissen Durcheinander geprägt, in ein unaufhörlich wucherndes Geschwür aus Stahlbeton, Sand und braunem Abwasser verwandelt, welches sich während der Regenzeit in den unebenen Straßen der Stadt ansammelte und einfach nicht abfließen wollte.

„... daß du hier leben kannst ... man fühlt sich ja wie auf einem anderen Stern ...oh Gott und dieser Gestank!“ schrie „Barbie“ vom Rücksitz des Land Rovers in einen erneuten Versuch, sich gegen den Lärm des ratternden Dieselmotors bemerkbar zu machen.

Helene saß am Steuer und warf ihr im Rückspiegel einen strengen Blick zu. „Barbie“ hieß eigentlich Christine Legrand und hatte erst vor wenigen Jahren ihre Modelkarriere an den Nagel gehangen. Die langen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, die veilchenblauen Augen unter den langen Wimpern schienen ihre Umgebung ein wenig entrückt zu beobachten, als wäre sie selbst nicht Teil dieser Welt, sondern eine außerirdische Abgesandte des Planeten Venus. In ihrem sandfarbenen figurbetonten Sommerkleid mit dazu passendem Strohhut hätte sie auf der Stelle die Hauptrolle in einer Neuverfilmung von Sydney Pollacks Film „Jenseits von Afrika“ übernehmen können, zudem schien ihr die Tropenhitze nichts auszumachen, wie Helene verärgert konstatierte.

Neben ihr hatte es sich „Ken“ auf der Rücksitzbank bequem gemacht, der mit bürgerlichem Namen Louis Maywald hieß und sich als „Privatier“ vorgestellt hatte. So alt konnte er doch noch gar nicht sein, ein nicht mehr ganz so junger Adonis mit kurzem dunkelbraunem Haar, hellbraunen lachenden Augen und den schönsten weißen Zähnen, die Helene je bei einem Mann gesehen hatte. Zumindest äußerlich passte er perfekt an Christines Seite. Im Gegensatz zu ihr litt er sichtbar unter dem heiß-feuchten Wetter und wischte sich mit einem seidenen Taschentuch in kurzen Abständen den Schweiß von der Stirn.

„Hat diese verdammte Kiste eigentlich keine Klimaanlage? Das sind doch über 30 °C da draußen!“ Marnie schien ihre Fahrt auf Beifahrersitz des Land Rovers nicht zu genießen.

„Es gibt sie, aber sie funktioniert nicht, hat sich auf der Fahrt zum Flughafen verabschiedet ...“ gab Helene trocken zurück und versuchte, so dicht wie möglich an Inoussas Toyota Land Cruiser dran zu bleiben, während sie einem Pferdekarren auswich und dabei um ein Haar einen Mopedfahrer umgehauen hätte, der sich links an ihr vorbeizuschlängeln versuchte.

„Was passiert eigentlich, wenn Du mal einen umfährst?“ ertönte Louis Stimme von hinten.

„Dann verbringe ich einige Zeit im Gefängnis, so erging es vor wenigen Wochen einem Mitarbeiter meines Mannes und der hatte nicht mal Schuld! Der arme Teufel. Ausländische Weißnasen werden sofort mit zur Wache genommen, allein schon um zu zeigen, wer hier die Hosen anhat. Inzwischen wurde er auf Kaution frei gelassen und hat sofort das Land verlassen, den sehen wir hier nie wieder. “ gab Helene zurück und musste mit aller Kraft bremsen, um nicht auf das verrostete, ursprünglich einmal grün lackierte Taxi vor ihr aufzufahren, dessen Bremslichter nicht mehr existierten.

„Hier geht ja gar nichts mehr...“ stöhnte Marnie neben ihr und fächerte sich mit ihrem Handfächer spanischem Ursprungs mit hektischen kurzen Bewegungen die feuchte Tropenluft durch das geöffnete Fenster zu.

„Mußtest Du uns auch mit diesem Dinosaurier abholen, warum sitzen wir nicht in dem Toyota Deines Mannes?“ quengelte Christine indigniert vom Rücksitz.

Das fängt ja schon mal gut an, die nächsten 7 Tage mit dieser verwöhnten Truppe innerhalb und außerhalb Tahouas die von Marnies Großpendern finanzierten Hilfsprojekte zu besuchen, kann mal sportlich werden.

„Nur die Ruhe, sie haben die Kreuzung vor uns gesperrt, da kommt gleich der Konvoi eines ausländischen Staatsgastes vorbei, oder vielleicht ist es sogar der Präsident Edmond Dedieu höchstpersönlich, geht gleich weiter! Ich wollte euch ein wenig auf Afrika einstimmen – this is Africa!“ Helene verspürte einen leichten Unmut in sich aufsteigen, hoffentlich dauerte die Fahrt bis ins Leïla Palace Hotel nicht mehr allzu lange. Insgeheim hatte sie sich ein wenig mehr Abenteuerlust von Marnie und ihren Freunden erwartet.

Das Leïla Palace Hotel war Mitte der 70iger Jahre Dank freigiebiger US $ Spenden des damaligen libyschen Herrschers erbaut worden, welcher zu jener Zeit, hartnäckigen Gerüchten zufolge, meterhoch gestapelte US $ Noten auf Europaletten in befreundete afrikanische Nachbarstaaten ausfliegen ließ. Repräsentative Luxusgebäude wie dieses Hotel sollten nach dem Willen von Muammar Muhammed Abu Minyar al-Gaddafi als Symbole für die Revolution, Befreiung und Neuordnung des gesamten afrikanischen Kontinents stehen – selbstverständlich unter seiner alleinigen Führung.

Knapp fünfzig Jahre später war von dem ursprünglichen Gedanken des „Aufbruchs“ nichts mehr zu sehen, der 12-stöckige blass-gelbe Plattenbau rief vielmehr den Wunsch nach „Abbruch“ hervor. Die Fassade mit ihren tiefen Rissen hätten dringend eines neuen Anstrichs bedurft, die rechteckigen Balkone auf jedem Stockwerk erweckten den Anschein, als würden sie allein beim Anblick wie überreifes Obst vom Baum abfallen. Allein die tropische Blütenpracht der leicht verwilderten Parkanlage, die das Hotel mit seinen zahlreichen niedrigen Nebengebäuden umgab, versöhnte das beleidigte Auge. Rot blühende Flamboyants säumten die Auffahrt zum Haupteingang, an dessen gelb-weiß gestreifter Marquise letzte Regentropfen des durchgezogenen Tropenunwetters in der Sonne glitzerten. Unter den Bäumen eiferten rosafarbene Hibiskus- und Oleanderbüsche dem Licht entgegen. Die in Yangalia ihrem Ende entgegen gehende Regenzeit hatte auf den großzügig angelegten Rasenflächen ein Meer aus gelben Blüten zum Leben erweckt.

Gut abgeschirmt durch drei Meter hohe Steinmauern, überwuchert mit leuchtend pinkfarbenen Bougainvillea, war der Eintritt in diese märchenhafte Parkanlage nur denen gestattet, die an den zwei bewaffneten Torwächtern in schwarzen Uniformen vorbeikamen, die sich vor den schmiedeeisernen Eingangstoren postiert hatten.

„Die werden uns doch nicht gleich erschießen ...?“ wisperte Louis von hinten in Helenes Ohr, die den Land Rover anhielt, ihr Fenster komplett herunterkurbelte und den Motor weiter laufen ließ. Mit kleinen Spiegeln, die an dünnen Holzstäben befestigt waren, suchten die Uniformierten nach Sprengsätzen, die unter der Karosserie hätten versteckt sein können.

Einer der Männer warf einen finsteren Blick ins das Innere des Wagens und streckte die rechte Hand aus: „Pässe, Papiere, Impfnachweise und die Hotelreservierungen!“

Helene drehte sich zu ihren Insassen um: „Ihr habt den Mann gehört, Eure Papiere, bitte.“

Umständlich blätterte der Wächter wenige Augenblicke später in den ihm dargebotenen Ausweisen und Dokumenten, wobei Helene amüsiert beobachtete, daß er die Reisepässe falsch herum einsah, offensichtlich konnte er nicht lesen. Ohne Helene auch nur einmal angesehen zu haben, gab er ihr die Papiere zurück und nickte seinem Kollegen kurz zu, worauf sich wie durch Geisterhand die schweren Eisentore lautlos öffneten.

Helene fuhr den Wagen die asphaltierte Auffahrt zum Haupteingang des Hotels hinauf und schaute sich suchend nach Inoussa um, den sie auf der Rückfahrt vom Flughafen aus den Augen verloren hatte. Entgegen ihrer vorherigen Absprache hatte er sich im Alleingang durch die sich täglich ändernde Straßenführung gemogelt und einen schnelleren Weg gefunden als sie, der schwarze Toyota parkte im Schatten einer Allee bestehend aus violett blühenden Jacaranda Bäumen, eingekeilt zwischen einem Dutzend überdimensionaler schwarzer SUV Limousinen mit den auffallend grünen CD Diplomatenkennzeichen. An den ersten zwei Ziffern der Nummernschilder erkannte Helene, daß es sich um eine chinesische Delegation handeln mußte - die African Davos Konferenz warf ihre Schatten unübersehbar voraus.

So trostlos die Fassade des Leïla Palace Hotels von außen wirkte, so verschwenderisch dekoriert war das Hotel im Inneren: Eine gewaltige Drehtür aus Messing, die von einem livrierten Angestellten des Hotels auf Knopfdruck betätigt wurde, gab den Weg frei in eine klimatisierte Eingangshalle, die mit weißen Marmorfliesen ausgelegt war. Die mit Seidentapeten verkleideten Wände waren mit Spiegeln in massiven Goldrahmen verziert, üppige Blumenarrangements standen auf niedrigen Marmortischen aus rosafarbenem Marmor, umrundet von schwarzen Ledermöbeln.

Helene überkam ein leichtes Frösteln, als sie zu der vier Meter hohen Stuckdecke emporblickte, dennoch versuchte sie, fröhlich zu klingen: „Ihr Lieben, willkommen in Leïla‘s Palace!“

Louis stand mit offenem Mund neben Helene, die nicht umhin kam zu bemerken, daß er inzwischen recht streng nach Schweiß roch. „ Oh wow - das nenne ich BLING BLING!“ gab er gut gelaunt zurück.

Helene rückte vorsichtig ein paar Schritte von ihm ab. „Ah, da vorne steht Inoussa mit Eurem Gepäck.“

Sie winkte Inoussa zu sich herüber, der sich jedoch keinen Zentimeter von den ihm anvertrauten Gepäckstücken fortbewegte und sichtlich erleichtert wirkte, als er Helene und ihre Gäste auf sich zukommen sah. „Frau Garwehn, Ihr Mann erwartet mich bereits, ich würde dann abfahren?“

„Ja, natürlich, und das nächste Mal schauen Sie bitte ab und zu den Rückspiegel, wenn wir ausmachen, im Konvoi zu fahren.“ Helene hatte versucht, ihrer Stimme einen strengen Ton gegeben, doch Inoussa hatte sich bereits umgedreht und vermutlich nicht einmal zugehört.

*

Leïla’s Palace

Der Eingangsbereich des Hotels hatte, bedingt durch seine Größe, die Akustik einer Bahnhofshalle und war erfüllt von dem Stimmengewirr der chinesischen Delegation mitsamt ihren Dolmetschern, welche die Rezeption belagerten und in einem Kauderwelsch, was vermutlich Englisch sein sollte, auf die sechs Rezeptionisten einredeten. Diese wiederum, gut abgeschirmt durch fingerdicke Plexiglasscheiben, ließen sich nicht aus der Ruhe bringen, schauten sich Ausweise, Impfpässe und Kreditkarten Seite um Seite seelenruhig an.

Helene schüttelte den Kopf, diesen administrativen Irrsinn hatten sich die Afrikaner von ihren ehemaligen portugiesischen Kolonialherren abgeschaut und bis ins kleinste Detail weiter verfeinert. „Ich warte auf der Terrasse auf euch, macht euch ruhig erstmal frisch!“ Helene überließ Marnie, Christine und Louis ihrem Schicksal, den Weg zu ihren Zimmern würden sie auch ohne sie finden, sofern nichts mit der Zimmerreservierung schief gegangen war. Dann würde sie improvisieren müssen. Jetzt bloß nicht den Teufel an die Wand malen - in diesem Teil der Welt erscheint er sowieso allzu oft.

Gemächlichen Schrittes schlenderte Helene zum hinteren Ende der Eingangshalle, die in schummriges Dämmerlicht getaucht war. Die hohen Fenster waren mit schweren Gardinen aus violett schimmerndem Samtstoff verhangen, die Mehrzahl der Glühbirnen der Deckenlüster aus Muranoglas flackerten traurig, etwa ein Drittel hatte angesichts der ständigen Stromschwankungen kapituliert und war erloschen. Was für ein kalter und lichtloser Ort dies doch ist, unmöglich zu sagen, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man in diesen Gängen wandelt.

Eine größere Gruppe Männer in weiten Gewändern aus weißem Baumwollstoff mit den dazugehörigen weißen Turbanen und langen Bärten hatte es sich offensichtlich schon seit längerem in einer der Sitzecken gemütlich gemacht. Auf den Marmortischen stapelten sich gläserne Teetassen, etwa ein Dutzend der Männer waren in eine angeregte Diskussion in einer arabischen Sprache vertieft, die Helene nicht verstand. Keiner dieser Männer würdigte Helene auch nur eines Blickes, als sie vorbeischritt. Sind diese Typen auch für die African Davos Konferenz angereist? Wäre interessant zu erfahren, welche Art von wirtschaftlicher Zusammenarbeit ihnen vorschwebt.

Die zwei Terrassen des Leila Palace Hotels waren auf Sandsteinklippen errichtet worden, die über dem Atlantik zu schweben schienen. Auf der ersten dieser Terrassen befand sich ein Teil des Restaurants „Chez Leila“, dessen Fußboden aus Waschbetonplatten bestand, die im Verlauf der Jahre durch das Wurzelwerk der in die Terrasse integrierten Jacaranda Bäume in alle vier Himmelsrichtungen verschoben worden waren. Schmiedeeiserne Eßtische und – stühle waren auf dem unebenen Fußboden in so geringen Abständen positioniert worden, daß jedermann mühelos das Gespräch der Tischnachbarn mitanhören konnte.

Eine Steintreppe, die genauso uneben war wie der Boden der Terrasse, führte einige Stufen hinab zur zweiten Terrasse mit ihrem hellblau gefließten Pool, dessen Dimensionen mit 5 x 30 Meter Bahnen großzügig gedacht waren für ein Land, dessen Bewohner überwiegend nie schwimmen gelernt hatten. Der von bunten Liegestühlen gesäumte Pool sah überraschend einladend und sauber aus, dahinter fiel das Gelände steil ab zum Meer und bildete eine natürliche Barriere für eventuelle Eindringlinge. In etwa einer Stunde würde die Sonne über dem Meer untergehen und die Hotelgäste den unaufhörlichen Verfall ihrer Umgebung im orangen Dämmerlicht vergessen lassen.

Was hat mich eigentlich geritten, diese verwöhnten Personen bei ihrer Projektarbeit in Yangalia zu unterstützen? Es waren keine altruistischen Beweggründe, da brauchte sie sich nichts vorzumachen, Altruismus gab es in Helenes Denken und Handeln nicht. Es war eher eine höchst persönliche Abmachung mit einer vielleicht ja doch existierenden höheren Macht: der Erhalt des eigenen privilegierten Daseins im Tausch gegen ein paar gute Taten gegenüber den armen Teufeln, die es nicht so gut getroffen hatten im Leben. Deren Dankbarkeit wiederum tat ihr gut und erfüllte sie mit tief empfundener Zufriedenheit. Helene lehnte sich über das Geländer der Terrasse und schaute versonnen aufs Meer hinaus. Was kann es Schöneres geben, als glücklich mit sich selbst zu sein?

Sie blickte auf ihre Uhr.