Ypern - Daniel Neufang - E-Book

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Daniel Neufang

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Beschreibung

WINTER, ANFANG 1915. Seit einem halben Jahr tobt der Erste Weltkrieg. Jeglicher Versuch, Boden zu gewinnen, ist fehlgeschlagen. Angeheizt durch die Stimmung im Land, melden sich die hessischen Freunde Oskar, Reiner, Alexander und Thomas freiwillig zum Dienst an der Waffe. Doch die deutschen Soldaten ahnen nicht, welches Grauen sie im Westen erwartet. Auf britischer Seite stehen die Offiziersanwärter Ronnie, James und William bereit, ihrem Königreich zu dienen. Auch sie ziehen gemeinsam in die 2. Ypernschlacht, in der zum ersten Mal die teuflische Waffe Gas eingesetzt wird. Schmerz, Verlust, Leid und der Wahnsinn des Krieges gehören fortan zu ihrem Alltag in der Hölle Belgiens. Doch es ist der lautlose Tod, der sie am stärksten mit Angst erfüllt.

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WINTER, ANFANG 1915.

Seit einem halben Jahr tobt der Erste Weltkrieg. Jeglicher Versuch, Boden zu gewinnen, ist fehlgeschlagen. Angeheizt durch die Stimmung im Land, melden sich die hessischen Freunde Oskar, Reiner, Alexander und Thomas freiwillig zum Dienst an der Waffe. Doch die deutschen Soldaten ahnen nicht, welches Grauen sie im Westen erwartet.

Auf britischer Seite stehen die Offiziersanwärter Ronnie, James und William bereit, ihrem Königreich zu dienen. Auch sie ziehen gemeinsam in die 2. Ypernschlacht, in der zum ersten Mal die teuflische Waffe Gas eingesetzt wird. Schmerz, Verlust, Leid und der Wahnsinn des Krieges gehören fortan zu ihrem Alltag in der Hölle Belgiens.

Doch es ist der lautlose Tod, der sie am stärksten mit Angst erfüllt.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Weitere Romane

1. Kapitel

Februar 1915. Der Krieg dauerte nun schon sieben Monate an. Niemand wagte es auch nur zu ahnen, mit welch unmenschlicher Grausamkeit die zukünftigen Schlachten geführt werden sollten. Die deutschen Streitkräfte waren an der Marne zurückgeschlagen worden und hatten bereits eine verheerende Schlacht in Belgien hinter sich. Das Ziel bestand darin, die Anhöhen zu nehmen und einen Befestigungsgürtel zu ziehen, welcher bis zu Nordsee reichte. Dadurch wollten die Heeresführer die Landung der Engländer samt Nachschub, insbesondere in Nieuwpoort, zum Erliegen bringen. Während der Winter seine eiskalten Fäuste zeigte, das Land mit einem dicken Eispanzer umschloss, fanden sich zwei Freundeskreise, die schworen durch dick und dünn zu gehen. In Bettenhausen, nicht weit von Kassel entfernt, trafen sich vier alte Schulfreunde, die unterschiedlicher nicht sein konnten, nach ihrer Arbeit in einem kleinen Wirtshaus, welches am Ortsrand gelegen war. Das Gebäude lag in einem Wohngebiet und bot für die arbeitende Bevölkerung eine gemütliche, heimische Ablenkung von dem harten Alltag. Als die jungen Männer ins Gasthaus eintraten, standen sie wie angewurzelt da. Der Geräuschpegel schien ihnen eine Gänsehaut auf den Körper zu treiben. Unzählige gestandene Männer hoben die biergefüllten Krüge in die Höhe, während sie mit dröhnenden Stimmen die alten Kaiserlieder schmetterten. Einer von ihnen kam auf sie zu. Lächelnd verbeugte er sich vor den Jungen und rief lautstark: „Sie sind unsere Zukunft. Diese strammen Burschen werden unserem geliebten Kaiser den Sieg bringen.“ Er erntete donnernden Applaus für seine heroischen Worte. Die Freunde bahnten sich verlegen den Weg zu einem Ecktisch, welcher fernab von all dem Tumult stand. Eingeschüchtert nahmen sie auf der zum Fenster gelegenen Bank Platz. Da waren der blonde, großgewachsene und kräftige achtzehnjährige Oskar Breitner. Er stammte aus gutem Hause, doch bekam von seinen Eltern schon in jungen Jahren einen starken Nationalstolz eingeimpft, der nun Früchte trug. Er hatte eine überhebliche Art, die von den meisten Mitmenschen als Schwäche gedeutet wurde. Aber im Kreise seiner Kameraden bot er ein völlig anderes Bild. Für sie hätte der Sohn eines Gemischtwarenhändlers sein Leben gegeben. Neben ihm saß Reiner Fröhmer. Der älteste Sohn eines Stahlarbeiters und Bruder vierer jüngerer Schwestern, war verhältnismäßig groß, hatte einen drahtigen Körperbau, was durch das Turnen gefördert wurde sowie braunes, lockiges Haar. Schon seit seiner Kindheit tat Reiner, was Oskar ihm sagte. So schob der Junge sämtliche Entscheidungen seinem Freund zu. Zwar war er, wie all die anderen, loyal der Gruppe gegenüber, aber seine Meinungen gingen meist unter. Neben dem ruhigen Reiner nahm Alexander Freund Platz. Er wuchs in direkter Nachbarschaft zu den beiden auf. Der einzige Sohn eines Schreiners wirkte eher ruhig und überlegt. Konnte allerdings seine Ansichten in der Gruppe kundtun, so dass er selbst Oskar oft überzeugen konnte. Auch Alex hatte kurzgeschnittenes, blondes Haar, jedoch tiefbraune Augen, während er nur über eine mittelmäßige Körpergröße verfügte. Als Letzter gesellte sich Thomas Winkler dazu. Er hatte gerade sein neunzehntes Lebensjahr vollendet. Thomas wuchs als Sohn eines Fabrikarbeiters auf, war durchschnittlich groß, hatte braunes, kurzes Haar und einen kräftigen Körperbau, da er als Hilfsarbeiter über eine gewisse Stärke verfügen musste. Im Gegensatz zu all seinen Freunden hatte der Bursche Tugenden, von denen seine Kameraden nur träumen konnten. Winklers Uneigennützigkeit, Rechtschaffenheit und kompromisslose Freundschaft machten ihn zu einem ganz besonderen Menschen. Daher trat er auch für diejenigen ein, die sich nicht gegen Lehrer oder Vorgesetzte zu wehren vermochten. Sie hatten kaum an den kleinen Ecktisch Platz genommen, da erschien bereits der Wirt. Ein unscheinbarer Mann, der durch seine ruhige Art bestach und auf diese Weise jeglichen Streit aus seiner Kneipe fernhielt. Mit wohlwollendem Blick trat er an die jungen Männer heran, strich sich über den dichten Vollbart und nahm seine Schreibutensilien zur Hand.

„Was darf ich euch bringen?“, fragte Herr Greiss zuvorkommend, während er die ihm bekannten Burschen anschaute. Die Freunde trugen noch ihre Arbeitskleidung und den Geruch des harten Tages konnten sie nicht leugnen. Oskar sah sich um, ehe er das Wort übernahm.

„Für jeden ein frisches Bier.“

„Wollt ihr noch einen Schnaps dazu?“, murmelte Anton Greiss, der flink die Bestellung aufschrieb. Ohne sich die Meinung der anderen anzuhören, erwiderte Breitner selbstsicher: „Warum nicht? Wahrscheinlich ist es unser letzter Klarer, den wir hier zu uns nehmen können.“

Der Wirt hatte für dieses überhebliche Gehabe nichts übrig und strafte den Jungen, dessen Eltern für ihre Kaisertreue bekannt waren, mit Verachtung. Dennoch zeigte er Respekt für die Entscheidung der Burschen. Nachdem Greiss verschwunden war, schaute sich Reiner um. Wie versteinert sah er in die wütenden Augen eines Mannes, der nicht viel älter sein konnte als sie selbst. Der Fremde schien sie förmlich hypnotisieren zu wollen. Er trug eine aufgescheuerte Uniform und einen ungepflegten, braunen Vollbart.

„Ich freue mich auf dieses Abenteuer. Was meint ihr, wo unser erster Einsatz sein wird?“, fragte Oskar mit einem breiten Grinsen, doch er erntete nur ein unsicheres Schulterzucken. Nach kurzem Schweigen erschien der Wirt mit dem kühlen Gerstensaft.

„Kommt schon. Immerhin haben wir uns alle freiwillig gemeldet“, versuchte Freund seine Ängste zu überspielen und nahm einen kräftigen Schluck kühles Bier. „Eure Vorgesetzten haben euch alle freigestellt, um diese heroische Schlacht gegen den Rest der Welt zu schlagen. Also lasst uns diesen Tag feiern.“ Während sie anstießen, galt Reiners Blick dem Veteranen am entgegengesetzten Tisch. Immer euphorischer wurde die Stimmung, das Gelächter der angetrunkenen Jugendlichen lauter, bis es dem Fremden reichte. Diese Freude und die alten Schlachtengesänge der gestandenen Herrn gaben ihm den Rest. Wuchtig schlug er einige Münzen auf den Tisch, nahm seine Krücke und stieß die jubelnden Herrn zur Seite. Ein letztes Mal drehte sich der Soldat zu ihnen um. Mit ernster Stimme rief er lautstark: „Gebt bloß auf euch acht! Dies ist weder ein Spiel noch ein aufregendes Abenteuer. Ihr werdet dem Tod in die hässliche Fratze schauen und ich hoffe, dass ihr dafür Manns genug seid.“ Unter lauten Buhrufen, gepaart mit Hasstiraden, spuckten ihm die Alten vor die Füße, bis der Veteran eilig die Pforte hinter sich schloss. In diesem Augenblick kamen Reiner und selbst Alexander Bedenken, ob ihre Entscheidung die Richtige war. Aber Breitner wusste ihnen die Furcht zu nehmen. Ohne weiter auf die Ängste seiner Mitstreiter einzugehen, blieb er ruhig, ehe sein Blick Thomas Winkler galt, welcher auch eine poetische Ader hatte.

„Los, Thomas“, sprach er ihn lautstark an, so dass seine Stimme den Tumult unterbrechen konnte. „Hast du nicht ein aufbauendes Stück Lyrik für uns? Etwas, das aus deiner Feder stammt.“ Winkler erhob sich, nahm ein kleines Lederbüchlein aus der Jackentasche und sah sich unsicher um. Plötzlich herrschte Stille. Gespannt schaute ihn die Menge an. Nach einem lauten Räuspern las er sein Gedicht vor.

„Unter den wehenden Fahnen, Schritt für Schritt erbebt die Erde, niemand soll auch nur erahnen, welche Macht ihm draußen droht. Während wir die Schlacht nun tragen, fließen dabei Blut und Tränen. Doch vielleicht will uns der Tod dann holen, mit Kühnheit, Stolz und unsrem Gewehr, auch wenn es einen von uns soll treffen, wir werden schlagen jedes Heer.“ Auf ein gerührtes Schweigen hin, applaudierten die gestandenen Herrschaften den Versen. Durch diese kurzen Reime brachte Thomas seine Freunde wieder auf Kurs, bis diese alle Sorgen vergaßen und auf den Kampf anstießen.

„Denkt dran“, mahnte Oskar. „Morgen in der Früh müssen wir los. Der Zug wartet nicht auf uns. Packt eure Taschen, geht schlafen und bei Büchsenlicht werden wir für unser Land alles geben.“ Noch einmal prosteten sie sich zu, bevor auch sie sich auf den Heimweg machten und mit pochendem Herzen zwischen den Häuserreihen verschwanden.

An diesem Abend trafen sich ebenfalls drei Kameraden vor den Kasernen im englischen Portsmouth. In der klirrenden Kälte standen sie zusammen, zündeten sich zitternd eine Zigarette an und schauten in Richtung des Städtchens, welches nur wenige Kilometer von ihnen entfernt lag. Der Himmel war durch schwarze Wolken verhüllt. Kein Mondlicht erhellte ihr geliebtes Heimatland und ein frischer Wind schien sie auf die Ereignisse, welche da draußen warteten, vorbereiten zu wollen. Die strammen Burschen, welche nicht älter als neunzehn Jahre waren, entstammten Militärfamilien. Aus diesem Grund und um der Tradition Folge zu leisten, ließen auch diese Freunde sich auf Zeit einschreiben. Doch die jungen Männer wussten, worauf sie sich einließen. Unter ihnen war James Morgan. Der Älteste von fünf Geschwistern wirkte selbstbewusst, zielstrebig und hatte die Eigenschaften eines Anführers. Seine große, stattliche Statur sowie der drahtige Körperbau hatten eine imposante Wirkung und wurde von seiner Ernsthaftigkeit unterstrichen. Im Gegensatz zu den anderen, die ihre Freizeit mit Billard oder Darts verbrachten, um ein wenig Ablenkung zu finden, saß James jede freie Minute über historischen Büchern. Er beschäftigte sich leidenschaftlich gerne mit den Aufzeichnungen großer Feldherren, wie zum Beispiel Julius Caesar. Sein Zimmergenosse hieß William Jones. Auch dieser hatte das neunzehnte Lebensjahr vollendet, war eher von kleinerer Körpergröße, kräftig gebaut und bestach durch seine tiefbraunen Augen. Der zurückhaltende junge Mann hielt sich eher im Hintergrund, doch ein immenses Durchhaltevermögen und seine zielstrebige Verbissenheit machten ihn zu einem guten Soldaten. Zu guter Letzt reihte sich Ronald Wilkinson in den Kreis ein, der von allen nur Ronnie genannt wurde. Als Sohn eines Admirals der Royal Navy lernte der blonde, blauäugige, drahtige Bursche schon früh Gehorsam, Ordentlichkeit und Loyalität gegenüber den Vorgesetzten. Seine einzige Schwäche bestand darin, dass er meist schwieg und nie etwas hinterfragte, sondern alle ihm gegebenen Befehle gewissenhaft ausführte. Die jungen Männer einte jedoch die Liebe zu ihrem Vaterland und die patriotische Einstellung gegenüber ihrem König. James nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette und blies den weißlich grauen Rauch in die Luft. Leichte Schneeflocken fielen auf den Betonboden hinab und die Grimmigkeit dieses Winters wurde ihm erneut bewusst. Er konnte die Finger nicht mehr krümmen. So kalt war es an diesem Abend. Morgans Miene erhellte sich erst, nachdem Ronnie endlich auftauchte. Zuversichtlich gaben sie sich die Hand. Während James und Ronnie erneut eine Zigarette rauchten, stand ihr Anführer mit verbissenem Blick neben ihnen. Regungslos übergab er Wilkinson den Umschlag, welcher ihr Leben grundliegend verändern sollte.

„Der Marschbefehl?“, wisperte er leise, öffnete das Couvert und las im dumpfen Licht der Laterne, was das Königreich von ihnen verlangte. Danach übergab er das Schreiben an William und flüsterte. „Das ist unser letzter Abend in der Heimat. Ich würde sagen, wir genießen ihn im nahegelegenen Pub.“ Die beiden Kameraden nickten zustimmend.

„Ein wenig Ablenkung wird uns nicht schaden, bevor morgen der Ernst des Lebens beginnt. Immerhin werden wir schon um Acht eingeschifft.“ James und William pflichteten bei.

„Wer weiß, was uns da drüben erwartet. Also machen wir uns auf den Weg.“ An diesem eisigen Abend schritten die Freunde in Richtung der Innenstadt von Portsmouth. Je näher sie ihrem Ziel kamen, umso kälter wehte der Wind in ihre Gesichter, der sich durch die dichten Häuserschluchten noch verstärkte. Nach einer gefühlten Ewigkeit standen sie vor dem Lions Pub. Dumpfes Licht drang durch die Fenster heraus sowie die glorreichen Volkslieder.

„Lasst uns eintreten“, wisperte Morgan nachdenklich, drückte die Türklinke nach unten und sie betraten das Etablissement. Nachdem die drei in dem gefliesten, mit Tischen bestückten Gastsaal standen, schien ihr Herz plötzlich stillzustehen. Obwohl der Raum bis zum Anschlag gefüllt war, durchflutete ihn ein unbehagliches Schweigen. Jeder der Anwesenden wusste um das Opfer, welches diese jungen Männer für ihr Land erbringen sollten. Auf einmal erhob sich ein graubärtiger, kleiner, stämmiger Mann, reckte seinen Krug in die Höhe und stimmte „Oh, Danny Boy“ an. All die Gäste schlossen sich ihm an. Ein Fremder begleitete sie mit seiner Geige. Als die Soldaten in ihrer Uniform zu einem freien Tisch gingen, ernteten sie Schulterklopfen, ein zuversichtliches Lächeln und von den Frauen eine liebevolle Umarmung. Gefesselt von diesen mutmachenden Gesten, nahmen die Kameraden an einem der freien Tische Platz. Binnen weniger Minuten beruhigte sich die Lage wieder, denn jeder der Männer, die selbst schon gedient hatten, ahnte, was den Burschen bevorstand. Ohne ein Wort zu verlieren, brachte der Wirt des „Lions“, John Maguire, eine Runde Ale sowie einen Whiskey, den die Alten ihnen aus Respekt spendierten. Zuvorkommend wandten sich die Männer an die Bevölkerung, prosteten ihnen zu und bedankten sich für diese Freundlichkeit. Doch schnell kamen die jungen Soldaten auf den Ernst der Lage zurück. Begleitet durch die Geigenmusik, fragte James, ob sie sich alle im Klaren waren, was ihrer Einheit bevorstand. Er erntete ein stilles Nicken. Nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, zog Morgan eine kleine Landkarte aus der Tasche und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle.

„Die Deutschen haben sich vor Ypern eingegraben. Wir werden unsere Kameraden des britischen Expeditionskorps unterstützen, so dass die kaiserliche Armee nicht weiter vordringen kann.“

„Wir wissen, dass es kein Spaziergang wird“, antwortete William. „Doch lass uns diese letzten Stunden in der Heimat genießen.“ Natürlich verstand James, worauf sein Freund hinauswollte. So steckte er die Karte zurück. Aber egal welches Gespräch sie begannen, ob über ihre Familien oder Sonstiges, immer wieder kamen sie auf den kommenden Tag zu sprechen. Als die Tür aufsprang und weitere Kameraden eintraten, wandte sich Ronnie Willi zu.

„Lasst uns gehen“, flüsterte er. „Sonst nimmt der Abend kein gutes Ende.“ Jones schaute überrascht, denn er hatte Verständnis für die Burschen, die die verbleibende Zeit in der Heimat voll auskosten wollten. Derweil schaute sich Morgan um und verstand, worauf Wilkinson hinauswollte. Also stand ihr Anführer auf, legte ein paar Pennys auf den Tisch und sprach: „Er hat Recht. Wir werden gehen.“ Nachdem die hellen Straßen hinter ihnen verschwunden waren, schloss William zu Morgan auf, legte die Hand auf seine Schulter und zischte: „Warum musstest du aus heiterem Himmel aufbrechen?“ Plötzlich blieb James stehen.

„Denkst du etwa es wären nüchterne Stunden geworden? Unsere Pflicht ist es, morgenfrüh bei klarem Verstand zu sein, um unserem Land zu dienen. Oder siehst du das anders?“ Für einen Augenblick schwieg der Neunzehnjährige, ehe er den Kopf schüttelte. „Dann lasst uns endlich gehen. Ich friere und kann die Eiseskälte kaum noch aushalten.“

In dieser Nacht war an Schlaf kaum zu denken. Einem jeden schwirrten die Gedanken durch den Kopf, was sie erwarten und ob er dieses Wagnis überleben würde. Aber die Freunde verdrängten die Furcht, denn sie hatten eine Verpflichtung gegenüber ihrem Königreich. Endlich brach die Morgensonne durch die dichte Wolkendecke. Ein leichter, kühler Wind wehte, während sich eine dünne Schneeschicht über den Sammelplatz legte.

„Habt ihr beiden fertig gepackt?“, erkundigte sich Morgan, als sie zusammen mit dem Rest der Truppe in Reih und Glied standen. Keiner von ihnen wagte es nur ein Wort zu sprechen, da der Kommandeur die Abmarschbereitschaft überprüfte. So erntete er nur ein stummes Nicken. Nachdem Generallieutenant Gregory Singer die Inspektion seines Infanteriebataillons vollzogen hatte, ließ dieser zum Sammeln blasen. In aller Stille nahmen die jungen Männer Aufstellung und auf einen schrillen Pfiff hin, setzten sich die fünfhundert Mann in Bewegung. Ihre Stiefel schlugen im gleichen Takt auf die marode, schneebedeckte Straße. Allmählich wurde selbst den sonst so Großspurigen die Tragweite des Unterfangens bewusst. Dies fiel auch schnell den Kommandeuren auf. Um die Moral aufrecht zu halten, ließen sie alte Lieder anstimmen. Nach fast fünf Kilometern des Marsches erreichten die Soldaten den Hafen von Portsmouth, wo es ihnen den Atem verschlug. Wie gebannt stierten sie auf die sechs riesigen Frachter, welche wie stählerne Ungetüme an den Kaimauern mit armdicken Tauen befestigt waren.

Nacheinander trafen weitere Truppen ein, so dass schließlich ihre Stärke fünftausend Mann betrug. Schnell verschwanden die Einheiten auf den Schiffen. Das Signalhorn ertönte, die Leinen wurden gelöst und aus den mächtigen Schornsteinen stieg der pechschwarze Rauch in den klaren Himmel empor. Unter den jubelnden Menschenmassen verließen sie den Hafen. Ronnie, James und William sahen wehmütig zu, wie ihr geliebtes England langsam am Horizont verschwand. Selbst das Gewicht ihrer Ausrüstung, Tornister und Gewehre, ließ die drei Freunde völlig kalt. Morgan wollte sie gerade auffordern ihm ins Innere zu folgen, da wies Wilkinson plötzlich zitternd zur Backbordseite.

„Was ist denn, Ronnie?“, fragte er echauffiert, als auch er für einen Augenblick innehielt. Von rechts und links nahmen gepanzerte Fregatten der Royal Navy die besondere Fracht unter ihre Fittiche.

„Weißt du, warum dies von Nöten ist, James? So wichtig können wir schließlich nicht sein“, flüsterte Ronnie in seiner naiven, gutmütigen Art. Doch nicht Morgan, sondern Jones gab ihm die Antwort.

„Es ist der Geleitschutz vor deutschen Ubooten. Ohne ihre wachsamen Augen, wären wir ein leichtes Ziel.“ Wie versteinert starrten die drei noch eine kurze Weile zu ihren Begleitern, ehe sie in den Rumpf des Schiffes gingen.

An diesem fraglichen Morgen war auch Oskar Breitner schon früh auf den Beinen. Voller Euphorie verabschiedete er sich von seiner Familie. Im Gegensatz zu seinem Vater, fiel es Frau Breitner sichtlich schwer, ihren Sohn in den Krieg zu schicken.

„Hast du alles?“, wisperte sie voller Sorge und strich ihrem Burschen liebevoll über die Wange.

„Ja, Mama. Ich habe mein Bündel gepackt und bin bereit.“

„Mach mich stolz, mein Sohn“, sprach der alte Breitner. Während seine Mutter ihn umarmte, reichte der Vater ihm nur die Hand. Allerdings bedeutete diese Geste Oskar alles. Mit einem Lächeln schulterte er sein Gepäck, bevor er nach hundert Metern an der Straßenecke verschwand. Noch immer herrschte der grimmige Winter. Ein starker Wind wehte dem Burschen den gefrierenden Regen ins Gesicht. Binnen kurzer Zeit hatte er schon Schmerzen beim Atmen. Je näher Oskar dem Ortsrand kam, umso schwerer wurde es, aufgrund der Schneeverwehungen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

„Da kommt er“, rief Reiner aus einiger Entfernung.

„Sind wir vollzählig?“, erkundigte sich Breitner neugierig, als er sich erschöpft umschaute.

„Natürlich, Oskar. Einer für alle, alle für einen.“

„Das freut mich. Aber wir müssen los. Es ist noch ein beschwerlicher Marsch bis nach Kassel.“ Zusammen machten sich die vier Freunde auf den beschwerlichen Marsch. Nach zwei Stunden blieb Alexander plötzlich stehen. Seine Lippen waren blau und er bekam kaum noch Luft.

„Ich kann nicht mehr“, wisperte der Achtzehnjährige, vor Kälte am ganzen Körper zitternd. „Meine Kleider sind völlig durchnässt.“ Ohne ein Wort zu verlieren, nahmen ihn Thomas und Reiner an den Armen und stützten ihren Freund, obwohl die beiden ebenso mit der Witterung zu kämpfen hatten. Oskar schenkte diesem Kameradschaftsdienst keinerlei Beachtung. Für ihn gab es nur eine Richtung. Nämlich vorwärts.

Gegen elf Uhr an diesem frostigen Wintermorgen erreichten die Burschen den Stadtrand von Kassel. Die Anstrengung stand einem jeden von ihnen ins Gesicht geschrieben.

„Es ist nicht mehr weit“, bibberte Alexander erschöpft, worauf Thomas nur leise antwortete: „Ja. Hoffentlich begeben wir uns nicht doch in die Vorhölle.“

„Halt die Klappe“, raunte ihn Breitner an, während er entschlossen an ihm vorbeischritt. „Für Feiglinge und Versager gibt es keinen Platz in der kaiserlichen Armee. Also überleg dir gut, ob du mit uns an einem Strang ziehst. Es wäre peinlich, wenn du uns plötzlich im Stich lässt.“ Bedrückt verharrte der Gedichteschreiber einen Moment an dem Ortsschild. Er war sich nicht sicher dieses Wagnis einzugehen. „Was ist jetzt, Winkler?“, raunte Breitner in seine Richtung. Wie von einer fremden Macht gesteuert, folgte Thomas seinen Freunden, obwohl die Verunsicherung immer stärker wurde. Mit Blasen an den Fersen gingen sie forsch an den Bahngleisen entlang, bis endlich das Musterungsbüro, nahe dem Bahnsteig, in Sicht kam. Vor dem schlichten Gebäude warteten bereits über hundert Freiwillige, die sich für den Dienst an der Waffe einschreiben lassen wollten. Fröhmer kratzte sich nachdenklich an der Stirn.

„Verdammt. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele denselben Entschluss gefasst haben.“

„Hoffentlich geht es schnell voran“, murmelte Oskar nervös. „Diese Kälte macht mich wahnsinnig.“ Zusehends lichtete sich der Tross der Freiwilligen und als sie endlich die warmen Räumlichkeiten betraten, stand ihnen die Erleichterung in die Gesichter geschrieben. Breitner sah sich um. Er bemerkte schnell, dass bereits vier Reihen gebildet wurden. Das bedeutete, jeder Rekrutierungsoffizier war für ein Bataillon verantwortlich. „Bleibt hintereinander“, flüsterte er in ernstem Ton. „Sonst werden wir getrennt. Hier lang.“ Schweigend nahmen die Burschen Aufstellung in der zweiten Reihe. Es verstrichen nur wenige Minuten, bevor Oskar zuerst vor den breiten Schreibtisch trat. Ein schneidiger Offizier mittleren Alters musterte ihn genau. Mit ernster Miene sah er über den Rand seiner Nickelbrille und streifte kurz über den dichten, gepflegten Vollbart. In militärisch zackigem, rauen Tonfall fuhr er den Achtzehnjährigen an.

„Haltung annehmen, Rekrut. Sie sind hier nicht mehr zuhause.“ Eingeschüchtert zuckte Breitner zusammen. Sein Herz schien auf einmal stillzustehen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Während er, wie auch der Rest der Freunde, dem Befehl Folge leistete, stierte der Offizier grantig auf die Wanduhr. Schnell griff er zum Federkiel, versenkte die Spitze in dem gravierten Tintenfässchen und raunte: „Name?“ Es herrschte für einen Augenblick Totenstille, bis die Stimme des Offiziers zynisch lospolterte. „Sie sprechen Deutsch, oder?“

„Jawohl, Herr Leutnant.“

„Das freut mich. Wenigstens erkennen Sie meinen Dienstgrad, wenn Ihnen schon nicht einmal Ihr eigener Name einfällt.“

„Oskar Breitner.“

„Alter?“

„Achtzehn, Herr Leutnant.“ Nachdem ihm weitere, wichtige Fragen gestellt wurden, nahm der gestandene Militär seinen Kiel, setzte seine Signatur unter die Aufzeichnungen der Stammrolle und fuhr der Offizier in harschem Ton fort.

„Rechts weg, zur ärztlichen Untersuchung.“ Oskar salutierte standesgemäß und bewegte sich flinken Schrittes zum Ärztezimmer. Ehe sich der Bursche versah, standen bereits die anderen in einer Reihe hinter ihm.

Gebannt stierten die vier auf eine dicke, eichene Holztür. Als diese endlich aufsprang, traten zehn gleichaltrige Männer heraus. Ihre Mienen spiegelten Verunsicherung wider. Keiner von den künftigen Soldaten bemerkte, wie sich weitere sechs Fremde in ihrem Rücken versammelten.

„Die nächsten Zehn“, donnerte die Stimme des Arztes über den Flur. Nervös betraten die unerfahrenen Rekruten den Raum. Winkler schluckte, denn einen solch kalten Ort hatte er noch nie im Leben gesehen. Boden, wie Wände waren mit eisigen, weißen Kacheln gefliest. Ein karger Schreibtisch befand sich in der Ecke zum Fenster. „In Reihe Aufstellung nehmen.“ Die Anwärter gehorchten seinen Anweisungen und stellten sich nebeneinander auf. Während der Mediziner, ein großgewachsener, älterer Herr ihre Stammrollen entgegennahm, warf er einen düsteren Blick über seinen Brillenrand. „Ausziehen!“ In Windeseile hatten sich die Freiwilligen ihrer Kleidung entledigt. Peinlich berührt standen alle zehn nun vor dem Arzt, so wie Gott sie schuf. Ohne eine Sekunde zu verlieren, ging der Alte die Reihe ab. Er prüfte mit dem klirrend kalten Stethoskop den Herzschlag, maß den Puls, schaute nach den Zähnen, dem Haarwuchs und versicherte sich durch leichte Schläge auf die Gelenke der Reflexe. Vor Alex blieb er jedoch fragend, gar erbost stehen. Samt beiden Händen verdeckte dieser seinen Genitalbereich. „Scham ist hier fehl am Platz, Junge“, raunte der Arzt. „Wenn Sie Geheimnisse vor Ihrer Herzallerliebesten haben, soll es mir gleich sein. Aber hier geht es um Ihr Heimatland. Also Hände auf den Rücken.“ Alexander wäre am liebsten im Boden versunken, also schloss er die Augen und gehorchte dem Mediziner. „Na? Es geht doch. Im Schützengraben werden Sie sich vor Ihren Kameraden erleichtern müssen. Stellen Sie sich nicht so an.“ Nachdem er die Untersuchungen beendet hatte, ließ er die Rekruten auf Bewegungstauglichkeit und Ausdauer testen.

Zehn Minuten Dauerlauf auf der Stelle, dreißig Kniebeugen und zwanzig Liegestütze mussten sie über sich ergehen lassen, bevor der Alte seinen Stempel unter die Dokumente setzte. „Wegtreten. Befähigung erteilt. Viel Glück, Männer.“ Die Freunde atmeten erleichtert durch, als sie diese Nachricht hörten. Nur Thomas schien nicht überzeugt von dem momentanen Erfolg. Schweigend streifte er die Kleidung über und schlich hinter den anderen her, die sich das zufriedene Lächeln nicht verkneifen konnten. Zu guter Letzt führte ihr Weg den langen, kargen Flur entlang, bis hin zur Kleiderkammer, wo sie die heißersehnten Uniformen erhielten. Unter den ernsten Blicken eines weiteren Offiziers, erhielten sie ihre zukünftige Kleidung. Zwei Hosen, zwei Hemden, einen Mantel und ein paar Stiefel in Einheitsgröße wurden den Burschen ausgehändigt.

„Ankleide ist im Nachbarraum, den Flur entlang. Wenn die Sachen nicht passen, ist das euer Problem“, raunte der Vierzigjährige. „Verstanden?“

„Jawohl“, hallte es, wie aus einer Kehle. Sie nahmen ihre Bündel und schlichen in die große Halle. Dort streiften dutzende junger Männer lachend und siegesgewiss die Uniformen über. Dieser unsägliche Mut hatte eine ansteckende Wirkung auf die Freunde. Oskar schritt voran. Gutgelaunt zogen sie sich um. Neugierig wandte sich Reiner einem anderen Hessen zu und fragte: „Entschuldige, Kamerad. Geht es nun an endlich an die Front?“ Ein schallendes Gelächter brach unter den Rekruten aus.

„Ihr müsst, wie alle hier, erst einmal die Grundausbildung hinter euch bringen. Ohne diese, könnt ihr schon heute euer Grab ausheben lassen.“

Thomas streifte sich den Mantel über und schaute verwundert drein.

„Da ist ein Loch an meiner Schulter“, flüsterte er leise. Während die Kameraden diesen Fehler in Augenschein nahmen, mischte sich ein Fremder ein.

Unbeeindruckt zischte er abwertend: „Es wird nicht das letzte Loch sein, welches deine Kutte abkriegt.“ Schweigend starrten sie den jungen Mann an. Sein Name war Felix Gruber, fünfundzwanzig Jahre alt, aus der Nähe von Frankfurt. Er beendete sein Medizinstudium auf die Weisung seines Vaters hin, der es als Ehre empfand in diesen schweren Zeiten dem Land zu dienen. Nicht nur die Kenntnisse der Anatomie, sondern auch der Körperchemie zeichneten ihn aus. Seine dunklen Augen musterten die jungen Männer, die sich unbedarft in diese Gefahr begaben. Das rote Kreuz, welches auf seinem Oberarm prangte, brachte dem großgewachsenen, drahtigen Sanitäter den nötigen Respekt ein. Plötzlich öffnete sich das schwere Schiebetor am Ende des Saales und ein Leutnant nahm seinen zukünftigen Truppenteil in Augenschein.

„Achtung“, dröhnte die markante Stimme, schallend durch den Raum und ließ die Burschen strammstehen. „Sachen packen. Dann Aufstellung nehmen.“ Felix stellte sich neben Winkler.

„Du bist anscheinend der Einzige, der sich fürchtet“, flüsterte der Fünfundzwanzigjährige, während er dem verunsicherten Poeten zuversichtlich auf die Schulter klopfte. „Die Angst ist unser bester Freund. Sie macht dich aufmerksam. Bleib an meiner Seite, dann steigen deine Überlebenschancen.“ Als sie im Gleichschritt ins Freie traten, folgte der nächste Schwung der Freiwilligen in die Umkleide und scheppernd schloss sich die Pforte. Kurz angebunden erteilte der Kommandeur den Befehl schneller zu gehen. Thomas, den die Worte des Sanitäters beruhigten, wandte sich diesem erneut zu.

„Ich danke dir. Aber was wird aus meinen Freunden?“

„Mit dieser Einstellung und Überheblichkeit, werden deine Kameraden schnell wieder zuhause sein. Schwer verwundet oder in einer Eichenkiste.“ Diese harten, mahnenden Worte hinterließen ihre Spuren bei dem jungen Mann.

Ein weiterer Monat ging ins Land. Es war bereits Anfang April. Schnee und Eis wichen dem Frühling. Während sich die kargen, aufgewühlten Wiesen Belgiens stellenweise wieder grün färbten, versanken die Wege jedoch im zähen Schlamm. Angespannt saßen James, Ronnie und William mit ihren Kameraden in einem Unterstand, der sich fernab der Frontline befand. Immer wieder waren kurze Schusssalven zu hören, die sich mit dem Grollen einzelner Granatexplosionen abwechselten. Hin und wieder stürmten britische Soldaten an der geöffneten Holztür vorbei. In ihren Händen hielten sie Spaten, Eimer und Drainagen, um die Schützengräben nahe des Frontabschnitts trocken zu legen.

„Diese schlammige Brühe stinkt zum Himmel“, zischte Morgan angewidert und nahm einen weiteren Löffel Suppe zu sich. Abermals ertönte ein lautes, ohrenbetäubendes Krachen. Der Schmutz rieselte durch die poröse Holzdecke.

„So ein Mist“, raunte Jones, dem der feuchte Sand in die Blechschüssel fiel. Ronnie Wilkinson beobachtete seine Freunde. Nachdenklich schrieb er in sein Tagebuch. Der Blick schweifte wieder aus der offenen Tür, auf die zwei Meter hohe, mit dicken Planken befestigte Wand des Schützengrabens. In einem schmalen Streifen sah er den blauen Himmel, welcher oberhalb der aufgeschichteten Sandsäcke endete.

„Ronnie? Hast du keinen Hunger?“, erkundigte sich James besorgt, doch er erhielt nur ein abwesendes Kopfschütteln. „Ronald?“

„Lass ihn, James“, forderte Willi ihn auf und versuchte einen Themenwechsel herbeizuführen. „Kennst du die genaue Truppenstärke?“ Morgan nickte, aß einen weiteren Löffel, ehe er antwortete: „Wir gehen mit einer kanadischen Division, drei französischen und fünf der unseren ins Feld. Allerdings ziehen auch die Deutschen vermehrt Truppen zusammen. Unser Kommandeur rechnet mit sieben Divisionen. Aber frag mich nicht, wann es so weit sein wird. Das weiß nämlich nur der Allmächtige.“ Schon wieder drang das Beben einer Explosion durch den Unterstand, was William endgültig den Appetit verdarb.

„Verdammter Mist. Ich könnte schon jetzt Dreck fressen. Willst du meine Portion? Suppe mit erdigen Stücken?“

„Ich habe in einem Gespräch gehört, dass es dem zweiten bayrischen Armeekorps gelungen sei die Höhenstellung von St. Eloi zu erobern. Nicht mehr lange, dann nehmen ihre Truppen auch den Kemmelberg ein. Von dort aus sind wir ein gutes Ziel“, flüsterte Ronnie nachdenklich und steckte sein Tagebuch in die Tasche. Die Freunde bemerkten die bedrückte Miene.

„Mach dir keine Sorgen. Wir sind so gut eingegraben… Uns wird schon nichts geschehen.“

Jones wusste nicht, ob er seinen eigenen Worten Glauben schenken sollte. Aber es beruhigte Wilkinson und dies wollte er immerhin erreichen. Gerade hatten sie ihre Mahlzeit beendet, da stürmte der Lieutenant an dem Verschlag vorbei. Seine Trillerpfeife donnerte durch den schmalen Graben, gefolgt von der markanten Stimme, welche zum Sammeln rief. Hastig sprangen die Offiziersanwärter auf, richteten ihre Uniform, schulterten das Gewehr und stapften raschen Schrittes durch den klebrigen Schlamm. Als alle Männer des fünften Korps, welches General Herbert Plumer unterstand, versammelt waren, ergriffen die Kommandeure das Wort.

„Wir haben den Befehl erhalten östlich der Stadt Ypern in Stellung zu gehen. Geben Sie auf sich acht. In den nächsten Tagen rechnen wir mit einem deutschen Vorstoß. Viel Glück, Gentlemen, und seien Sie bereit loszuschlagen.“ Die Männer nahmen ihre Karabiner sowie Tornister und gingen los. Gefolgt von denjenigen, die die schweren Maschinengewehre auf den Schultern trugen. Hinter ihnen liefen die Munitionsträger, welche unter dem Gewicht fast den Anschluss verloren. Im Gegensatz zu James und William hatte Ronnie ein schlechtes Gefühl, während sie sich hintereinander dem Frontabschnitt näherten.

Nur wenige Stunden, nach denen die britischen Korps ihre Stellung bezogen hatten, traf der deutsche Truppenzug nahe Moorslede ein. Schnaubend stieß die schwarze Lok ihre tiefgrauen Rauchwolken in die Höhe und kam allmählich zum Stillstand. Mit einem scheppernden Ruck öffnete sich die Seitentüren der schweren Anhänger und von ernst dreinschauenden Offizieren wurden die unerfahrenen Soldaten in Empfang genommen. Als Erster sprang Oskar hinaus.

Binnen Sekunden nahmen die Truppen Aufstellung, bevor sie, hinter einer Kolonne von Lastern eingereiht, Richtung Ypern marschierten. Während ihr Weg an den vielen Wagons, welche mit Nachschub an Waffen, Munition und Granaten beladen waren, vorbeiführte, warf Thomas einen Blick zur Seite. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie riesige, metallene Behälter die Innenräume verließen. Keiner der jungen Männer war sich im Klaren darüber, dass die Oberste Heeresleitung bereit war, die Büchse der Pandora zu öffnen. Die Soldaten schritten weiter voran, bis sie das Ziel, nämlich die Lager vor Poelkapelle, kurz vor Sonnenuntergang erreichten.

2. Kapitel

„Was siehst du?“, fragte James leise, während er sich eine Zigarette anzündete. Willi, der am Morgen des 21. April die Wache übernommen hatte, schwieg. Sein Blick schweifte vorsichtig zwischen den dicht gepressten Sandsäcken von links nach rechts. Außer den dichten Stacheldrahtverschlägen, zerklüfteten Kraterrändern und den Leichen, deren verwesender Geruch zu ihnen herüberwehte, war nichts zu sehen.

„Es scheint, als wäre niemand da draußen“, wisperte der Offiziersanwärter besorgt. „Die Stille ist furchterregend. Sie treibt mir eine dicke Gänsehaut über den Rücken.“ Morgans Aufmerksamkeit galt plötzlich wieder seinem Freund Ronnie, welcher minutiös zum vierten Mal seinen Karabiner reinigte und auf Funktion prüfte.

„Mensch, Ronnie“, zischte er. „Nimm einen Zug. Das beruhigt die Nerven, denn du bist im Begriff mir den letzten zu rauben.“

„Halt die Klappe“, antwortete Wilkinson, bevor seine Konzentration wieder Kimme und Korn galt. „Wenn es losgeht, will ich nicht mit einem defekten Karabiner dastehen.“

„Deine Einstellung ist löblich“, gab Jones ihm Recht, legte sein Periskop an, ehe er weiter die zerpflügte Ebene beobachtete. „Es ist unvorstellbar, dass hier vor nicht einmal einem Jahr alles in grün und voller Blüte stand. Heute erscheint dieser Abschnitt nur noch tot.“ Betretene Stille machte sich breit.

„Ich sag euch“, ertönte eine Stimme aus der Reihe der angespannten Soldaten. „Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Wir werden genau an dieser kargen Stelle die härteste Schlacht unseres Lebens schlagen.“ James sah sich um und schaute in die tiefblauen Augen eines neunundzwanzig Jahre alten, großen, schlanken Mannes, der mit seinen langen, angewinkelten Beinen im Dreck saß. Angetan von dessen Erscheinung, fragte Morgan weiter.

„Darf ich deinen Namen erfahren?“

„Henry Collins.“ Die beiden reichten sich die Hand.

„Ich habe dich noch nie zuvor gesehen“, flüsterte James neugierig. „Das heißt, du bist nicht von der Militärakademie.“ Henry nickte, griff in seine Jackentasche und nahm einen kräftigen Bissen von einem roten Apfel.

„Letztes Jahr im Mai habe ich mein Chemiestudium abgeschlossen. Die Suche nach einer geeigneten Anstellung war jedoch viel zu kurz. Als die Deutschen Großbritannien den Krieg erklärten, gab es für mich keine andere Möglichkeit. Ich werde dem König dienen und notfalls für ihn sterben.“ Diese Worte imponierten den jungen Männern, die allesamt nur zustimmend nicken konnten. Während William weiterhin die Front im Auge behielt, bot Morgan Henry eine Zigarette an. „Vielen Dank.“ Eine Minute herrschte Stille, bis der Chemiker seine Neugier befriedigte. „Wie heißt ihr drei?“

„Mein Name ist James Morgan. Das ist Ronald Wilkinson, doch alle nennen ihn Ronnie.“ Ronald hob leicht die Hand und wandte sich wieder seinem Gewehr zu. „Das ist unser Kamerad William Jones.“ Ein abwesendes Lächeln stahl sich auf die Lippen des Chemikers.

„Freut mich euch kennenzulernen.“

„Ich gehe davon aus, dass es nicht dein erster Einsatz ist, oder?“, erkundigte sich Willi.

„Nein. Schon bei der ersten Schlacht in diesem Gebiet war ich hier. Damals schafften wir es die Stellung zu halten. Aber es war mit Blut und vielen toten Kameraden schmerzvoll erkämpft. Undenkbar, dass hier anfangs Mohnblumen wuchsen.“ Wiederum herrschte Stille unter den Soldaten. Alle sahen ihn sorgevoll an, aber Collins lächelte zuversichtlich. „Nun harren wir den Dingen, die da noch auf uns zukommen.“

Zur gleichen Zeit machten sich die hessischen Freunde, zusammen mit ihrem Korps, auf, um die Truppen zwischen Steenstrate und Poelkapelle zu verstärken. Angespannt und mit steigender Nervosität liefen sie hintereinander her. Bei jedem Schritt versanken ihre Stiefel bis über die Knöchel im hartnäckigen Schlamm. An diesem verhangenen, windigen Mittwochmittag erreichte die Truppe endlich die rückgezogenen Schützengräben. Oskar atmete tief durch, zog seine lederne Pickelhaube ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Alexander beobachtete dies mit einem Kopfschütteln.

„Wie kann man bei diesen Temperaturen nur ins Schwitzen geraten?“ Breitner wollte ihm gerade antworten, als der Leutnant plötzlich hinter ihnen stand und umgehend losbrüllte.

„Sie scheinen keine anderen Sorgen zu haben, Soldat Freund? Spaten schnappen und den Schützengraben befestigen. Mal sehen, wie Sie nach ein paar Stunden körperlicher Arbeit aussehen. Ich werde Ihnen den Ernst der Lage schon begreiflich machen.“

„Jawohl, Herr Leutnant.“

So nahmen die Freunde ihr Werkzeug und besserten den aufgeweichten Durchgang aus. Immer wieder starrten die Freunde ihn an.

„Hättest du bloß die Klappe gehalten, Alex. Dann wären wir jetzt schon an der Front.“

„Ja, ja“, zischte der Neunzehnjährige. Als die Abenddämmerung hereinbrach, war ihr Atem schwer und blutige Schwielen bedeckten die Hände. Thomas Winkler nahm dies schweigend hin. Schweren Schrittes schlichen sie zu den Frontbaracken, die ein wenig Schutz vor der nächtlichen Witterung boten. Während Reiner und Oskar sich von Felix die Blasen aufstechen und verbinden ließen, sahen die beiden anderen zu, wie in gewissen Abständen die schweren Stahlflaschen, ein Stück weit vom Rand der Gräben entfernt, aufgestellt wurden.

„Was glaubt ihr, wann es losgeht?“, fragte der Dichter verunsichert und erntete von seinen Kameraden nur ein beiläufiges Schulterzucken. Einzig der Sanitäter meldete sich zu Wort.

„Unser General Falkenhayn hat den Angriff befohlen.“ Mit weit geöffneten, funkelnden Augen schaute Breitner ihn an, bevor dieser fortfuhr. „Ich habe heute Morgen ein Gespräch der Kommandierenden belauscht. Wir werden bleiben und abwarten.“

„Aber warum?“, erwiderte Reiner voller Unverständnis.

„Ich habe keine Ahnung. Doch wir sollen erst einmal die Stellung halten, bis weitere Befehle folgen.“ Immer mehr Metallbehälter wurden an der geöffneten Holztür vorbeigeschleppt.

„Das bedeutet nichts Gutes“, wisperte Winkler kopfschüttelnd. Seine Ahnung sollte sich im Verlauf der Schlacht bewahrheiten.

„Also warten wir“, zischte Fröhmer und zündete sich eine Zigarette an. In dieser stillen Nacht fand niemand den nötigen Schlaf.

Angespannt saßen sie da. Immer wieder streiften Leuchtraketen den rabenschwarzen Himmel, welche Teile des Feldes erhellten, und vereinzelt war das donnernde Tacken der Maschinengewehre zu hören.

„Verflucht. Ich halte das bald nicht mehr aus.“

Schließlich brach der Morgen des 22. April 1915 an. Es war ein düsterer Donnerstag. Kein Sonnenstrahl traf den kühlen Boden und dennoch bildeten sich vereinzelt Nebelschwaden, die langsam über die Ebene krochen. Die kargen, verkohlten Bäume, welche noch auf dem Feld standen, machten die Lage bedrohlicher. Nichtsdestotrotz widmeten sich die britischen Freunde ihrer Bestimmung. Jede Faser des Körpers schien unter Strom zu stehen.

„Wie spät ist es?“, wisperte William, der erschöpft von den Spähdiensten, sich eine Mütze Schlaf gegönnt hatte. Robbie nahm seine alte Taschenuhr heraus. Er hielt sie gegen das aufkommende Tageslicht und versuchte krampfhaft seinem Freund eine Antwort zu geben.

„Kurz nach acht“, sprach er teilnahmslos. „So sieht es jedenfalls aus. Ich kann noch nicht viel erkennen.“ Plötzlich erschien der Kommandeur. Er erkundigte sich nach dem Wohlbefinden seiner Männer.

„Wir halten durch, Lieutenant“, sprach Morgan entschlossen, während die anderen die Karabiner luden und abermals auf Funktionstüchtigkeit überprüften.

„Gott möge bei euch sein.“ Er wollte sich gerade umdrehen, um nach dem Rest seiner Männer zu schauen, als auf einmal ein dumpfes Grollen den, in der Nacht gefrorenen, Boden erschütterte. Wie in Schockstarre verfallen, kauerten sich die jungen Burschen an die kalten Holzwände. Sie begannen leise zu beten. „In Deckung“, brüllte ihr Kommandeur und versuchte den ohrenbetäubenden Lärm zu übertrumpfen. „Jeder bleibt, wo er ist.“ Nachdem die ersten Granaten nicht in weiter Entfernung explodierten und der angefrorene Schlamm ihnen über die Köpfe hinwegflog, schrie William los.