Zehn rote Rosen - D.K. Albert - E-Book

Zehn rote Rosen E-Book

D. K. Albert

4,6

Beschreibung

Spannende, amüsante und auch ergreifende Kurzgeschichten und Erzählungen zeichnen unbestechliche und präzise Porträts der bürgerlichen Welt. Mal zum Lachen, mal zum Weinen und immer zum Kopfschütteln und zum Nachdenken! Für die Erzählung Zehn rote Rosen wurde der Autor mit dem Claus-Hafner-Preis ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 239

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Über den Autor:

D. K. Albert bestritt über 1.100 Kämpfe als Kickboxer und erkämpfte reihenweise Deutsche, Europa- und Weltmeistertitel. Nach dem Ende seiner sportlichen Karriere begann er mit dem Schreiben, stets unter dem Motto: Zum Nachdenken anregen – und zum Schmunzeln. Seine Erzählung „Zehn rote Rosen“ wurde mit dem Claus-Hafner-Preis ausgezeichnet.

Zehn rote Rosen

Ein Junge aus gutem Hause

Der Dienstweg

Ein vergilbtes Blatt Papier

Das Gleichnis vom reinen Wasser

Teure Socken

Beichtstunde

Moderner Strafvollzug

Ein Schleichweg nach Tursbach

Der Clown Ravana

Geburtstagsgrüße

Ländliches Bildungswesen

Gleichungen und Ungleichungen

Ein Lackschaden

Telefongespräche

Ein pflichtbewusster Schutzhund

Die Weihnachtsbescherung

Abendstimmung

Barzahlung

Elisa

Der Amtsrat und der kleine Mann

Zehn rote Rosen

Ein Junge aus gutem Hause

„Sowas hab´ ich gerne!", tobte Polizeihauptmeister Ernst Kuppelmeier. „Ein Auto klauen, ´nen Unfall damit bauen und dann auch noch abhauen wollen! Dir werd´ ich helfen! Wie heißt du?"

Der Junge hockte wie ein Häuflein Elend auf dem

Vernehmungsstuhl und schlotterte vor Angst. „Sascha Helze", flüsterte er endlich.

„Und wie alt bist du?"

„Vierzehn", wisperte der Junge.

„Vierzehn? Ach! Dann gehst du ja noch zur Schule! Auf welche denn?"

„Auf das Graf-Galen-Gymnasium", hauchte Sascha, „in die 8b."

„Was?!" Kuppelmeier schoss hinter dem Schreibtisch in die Höhe. „Auf die Galen-Schule? In die 8b? Dann bist du ja in derselben Klasse wie mein Junge! Jens Kuppelmeier!"

Sascha zuckte zusammen.

„Der klaut keine Autos!", polterte der Polizeihauptmeister. „Mein Junge nicht! Der weiß, was mein und dein ist! Sieh mich an, wenn ich mit dir rede! Wann bist du geboren?"

Sascha nannte sein Geburtsdatum und anschließend seine Adresse. Vater Kuppelmeier tippte gewissenhaft mit.

„Wer sind deine Mittäter? Die beiden anderen?"

Sascha biss sich auf die Lippen und blickte zu Boden.

„Wer die beiden anderen sind! Gib Antwort, wenn du was gefragt wirst!“

Sascha schüttelte trotzig den Kopf. Kuppelmeier wollte gerade ein Donnerwetter loslassen, als sein Wachtmeister den Halter des gestohlenen Autos ins Vernehmungszimmer geleitete. Kuppelmeier erkannte den Mann im staubigen Overall sofort. Er war der Schulelternsprecher des Graf-Galen-Gymnasiums.

„Oh, Herr Görben! Guten Tag! Bitte schön, nehmen Sie doch Platz!"

Walter Görben nickte finster und setzte sich auf den freien Stuhl neben dem Schreibtisch.

„Tja, Herr Görben, Ihr Auto ist geklaut und gegen einen Gartenzaun gefahren worden! Einen der Täter haben wir geschnappt! Den da! Und jetzt halten Sie sich gut fest: Dieses Früchtchen geht zusammen mit unseren Buben zur Schule!"

„Sieh an!", knurrte Görben. „Darf man erfahren, wie du heißt?"

„Helze heißt er. Sascha Helze."

„Helze? Helze? Richtig, unser Matthias hat mal was von einem Helze erzählt. Man sollt´s nicht glauben!

Geht mit meinem Jungen in eine Klasse und klaut mir den Wagen!"

„Ich hab´ keinen Wagen gestohlen!" begehrte Sascha

auf. „Ich bin doch nur mitgefahren und –"

„Halt die Klappe!", donnerte der Polizeihauptmeister.

„Waren noch zwei andere bei", brummte er dann mehr zu sich selbst als zu Walter Görben, „aber die sind uns durch die Lappen, und dieser Rotzlöffel will nicht sagen, wer!"

„Das nenn´ ich wahre Freundschaft", höhnte Görben.

„Dich lassen sie im Stich, und zum Dank dafür willst du sie noch decken! Pah!"

„Und das wird seinen Spießgesellen noch nicht mal viel nützen! Kein bisschen!" Kuppelmeier machte eine Kopfbewegung zum Garderobenständer hin. „Wir haben nämlich die Jacke, die einer von denen verloren hat, und im Auto werden auch Fingerabdrücke sein! Der Rest ist für uns reinste Routine! Ein Kinderspiel!"

Görben folgte Kuppelmeiers Blick und erspähte sofort die Jeansjacke mit den vielen Aufnähern.

„Eins will ich dir gleich sagen", wetterte Kuppelmeier, „du bleibst solange hier, bis du –“

„Herr Kuppelmeier", unterbrach ihn Görben, „kann ich mal kurz zu Hause anrufen und meiner Frau Bescheid sagen?"

Polizeihauptmeister Kuppelmeier deutete auf die Glastür. „Aber sicher! Gehen Sie nach nebenan, da ist ein Telefon!"

Walter Görben stapfte hinaus. Kuppelmeier stierte Sascha an, als wolle er sich auf ihn stürzen und ihn zerfleischen.

„Wie heißt dein Vater?"

Sascha nannte die Personalien.

„Und deine Mutter?"

Mit zitternder Stimme diktierte Sascha ihren Namen, Geburtsnamen und ihr Geburtsdatum. Hauptmeister Kuppelmeier hämmerte auf die Tasten der Schreibmaschine ein und kündigte ihm zwischendurch an, dass er von der Schule fliegen und mindestens ein Jahr Jugendhaft bekommen würde. Gerade musste sich Sascha anhören, welches Ende es einmal mit ihm nähme, als Walter Görben wieder zur Tür hereinkam. Eine dicke Ader prangte auf seiner Stirn.

„Lassen Sie´s gut sein, Herr Kuppelmeier", presste er hervor. „Ich erstatte keine Anzeige."

Der Polizeihauptmeister traute seinen Ohren nicht.

„Was? Wie bitte? Sie ... Sie wollen diesen Strolch da laufen lassen? Was in aller Welt soll das denn bedeuten?“

„Ganz einfach", krächzte Görben. „Einer der beiden anderen ist mein Junge. Das da ist seine Jacke, ich hab´ sie gleich erkannt. Der Bengel sitzt daheim und flennt. Sein Freund hatte die Idee zu dieser Spritztour, und der ist auch gefahren. Sollte wohl so ´ne Art Mutprobe sein. Ihn da haben sie unterwegs aufgelesen und mitgenommen."

„Also jetzt bin ich platt!" Kuppelmeier stieß die Schreibmaschine von sich. „Das gibt´s doch überhaupt nicht! Ihr Sohn, ein Junge aus gutem Hause! Na ja ... Sicher, dann können Sie natürlich keine Anzeige erstatten! Könnte ich an Ihrer Stelle auch nicht! Ihr Junge muss schließlich aus der Sache rausgehalten werden!" Er bebte vor Wut. „Und damit bist du auch aus dem Schneider, Freundchen! Aber freu dich bloß nicht zu früh! Den Dritten, den krieg´ ich am Schlafittchen! Fahrerflucht und Fahren ohne Führerschein, da muss hart durchgegriffen werden!"

Kuppelmeier rückte die Schreibmaschine wieder gerade und strich ein Eselsohr aus dem Vernehmungsformular.

„Nun?" fragte er streng. „Dieser andere, der die ganze Sache angezettelt und das Auto gefahren hat, wer ist das?"

Sascha brachte keinen Ton heraus. Walter Görben lächelte frostig.

„Ihr Jens", sagte er dann.

Der Dienstweg

Die Arbeit eines Behördenmitarbeiters ist aufreibend und hektisch. Seine Plackerei beginnt frühmorgens damit, den Mantel vorschriftsmäßig an die Garderobe zu hängen und die Aktenmappe in den Schrank zu stellen. Sodann muss – je nach Jahreszeit – entweder der Heizkörper angedreht oder aber das Fenster auf Kippe gestellt werden, anschließend ist Kaffee zu kochen und hinterher noch ein Blatt vom Wandkalender abzureißen. Nun erst kann ein Sachbearbeiter in der öffentlichen Verwaltung die Zeitung lesen, und kaum hat er seine kräftezehrende Lektüre beendet, ist es auch schon Zeit für die Frühstückspause. Im Anschluss daran gilt es den Urlaub zu planen, den nächsten Dienststellenausflug vorzubereiten, mit dem Lineal nach Fliegen zu schlagen und zwischendurch auch noch Aktendeckel auf- und zuzuklappen. Nur wer um diese tagtägliche Knochenarbeit weiß, gewinnt eine Vorstellung davon, wie sehr sich seine Obri gkeit zwischen Fortbildungsveranstaltungen, Kuren und Dienstreisen verschleißt und nur ihm ist die amtsinterne Bearbeitungsdauer der verschiedensten Verwaltungsvorgänge verständlich.

Ein würdiger Repräsentant des unverzichtbaren Bürokratismus war der Oberamtmann Hans Friedrich Radowski. Durchdrungen von Verantwortungsbewusstsein und Gewissenhaftigkeit bewegten sich sein ganzes Denken und Handeln nur in den engen, vom Dienstweg vorgezeichneten Bahnen und seine Gründlichkeit war als beispielgebend bekannt. Dies sollte auch der junge Mann erfahren, der eben in die Amtsstube und vor den Schreibtisch des Herrn über Genehmigungsverfahren und Bewilligungsbescheide trat. Oberamtmann Radowski fertigte eben einen Vermerk, um das Telefonat mit einem abschlägig beschiedenen Antragsteller aktenkundig zu machen.

„Sie wünschen?" fragte er, ohne von seinem Schreibblock auch nur aufzublicken.

„Guten Morgen! Mein Name ist Siegbert Fromm! Ich habe vor kurzem ein Haus in der Südstadt gekauft und möchte einen Balkon daran anbauen!"

„Einfamilienhaus oder Mehrfamilienhaus?", schnarrte Radowski und schrieb weiter.

„Ein Einfamilienhaus. Ich habe –“

„Eingeschossig oder mehrgeschossig?" Radowski setzte sein Kürzel und seine Amtsbezeichnung unter den Vermerk und legte den Kugelschreiber zurück in die Schreibschale.

„Ein eingeschossiges Haus. Ich habe Ihnen –“

„Gibt es bereits einen Balkon an Ihrem Haus?" Der Oberamtmann knipste zwei Löcher in das Blatt und heftete es in einen grünen Aktendeckel. Siegbert Fromm gab ihm währenddessen darüber Auskunft, dass sein Anwesen an keine Bundesstraße grenze, dass das Haus weder unter Denkmalschutz stehe noch gewerblich genutzt werde und dass der Balkon auch nicht zur Straßenseite zeigen solle. Hans Friedrich Radowski legte den Aktendeckel nach rechts.

„Dazu müssen Sie einen Bauantrag stellen", beschied er den jungen Mann und ließ sich endlich dazu herab, ihn eindringlich anzusehen. „Lassen Sie sich vom Pförtner ein entsprechendes Formular geben und reichen Sie es mit den dazugehörigen Unterlagen hier ein. Danach wird über Ihr Begehren entschieden." Oberamtmann Radowski streckte die Hand vor und schaute auf seine Armbanduhr. Gleich war bereits Mittagspause, und noch immer hatte er das Kreuzworträtsel in der Morgenzeitung nicht zu Ende gelöst!

„Meinen Bauantrag habe ich schon ausgefüllt und mitgebracht. Bitte sehr!" Siegbert Fromm legte einen dicken, mit einer Aktenklammer zusamme ngehefteten Packen Papiere vor Radowski auf den Schreibtisch. Der Oberamtmann sah Fromm verständnislos an, rümpfte dann die Nase, befeuchtete nach einer kleinen Weile Daumen und Zeigefinger und begann schließlich zu blättern. Ein neuer Verwaltungsvorgang war ins Leben gerufen worden.

„Sie müssen noch die Gebühr entrichten", beschied Radowski den jungen Mann, „oder aber einen Antrag auf Stundung oder Erlass der festgesetzten Gebühren –“

„Das Geld habe ich bereits überwiesen", unterbrach ihn Siebert Fromm. „Der Überweisungsbeleg der Bank ist weiter hinten!"

Oberamtmann Radowski zuckte zusammen. „Wie ... wie bitte? Ein Überweisungsbeleg der Bank?“

Er blätterte schneller, studierte den Beleg, blätterte wieder zurück, schnaufte, zog ein blütenweißes Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab.

„Tatsächlich. Ein völlig irreguläres Verfahren. Haben wir gar keine Vordrucke für. Hm ... Na schön, gehen Sie damit zur Kasse, Zimmer siebzehn im Erdgeschoss, und lassen Sie sich auf Blatt vier des Antrags bestätigen, dass die Gebühren beglichen worden sind."

„Aber Herr Amtmann! Sie sehen doch selbst, dass –“

„Herr Oberamtmann bitte!"

„Meinetwegen auch Herr Oberamtmann! Also, Sie sehen doch, dass ich das Geld längst bezahlt habe! Warum soll ich denn jetzt nochmals ins Erdgeschoss, mich vor der Kasse anstellen, dann hierher zurück und mich nochmals anstellen? Darüber wird´s ja Nachmittag!"

Hans Friedrich Radowski zuckte mit den Schultern. „Bedaure", beschied er den Antragsteller, „aber das ist Vorschrift so. Ohne den Zahlungsvermerk auf dem Formular kann ich Ihren Antrag nicht bearbeiten." Er klemmte die Blätter wieder mit der Aktenklammer zusammen und schob sie Siegbert Fromm entgegen.

„Aber können Sie diesen Vermerk denn nicht selbst anbringen?", versuchte der es nochmals.

„Die Bankquittung haben Sie doch gesehen!“

„Tut mir leid, aber das übersteigt meine Kompetenzen." Oberamtmann Hans Friedrich Radowski fasste den jungen Mann streng ins Auge. „Ich kann auf Ihrem Antrag doch nicht einfach Vermerke anbringen, die in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Abteilung fallen! Wo kämen wir denn da hin? Nein, nein, der Dienstweg muss schon eingehalten werden! Holen Sie sich also auf der Kasse Ihren Stempel, danach bestätige ich die Vollzähligkeit Ihrer Unterlagen und anschließend läuft das Gesuch durch die Abteilungen. In sechs bis acht Wochen bekommen Sie dann einen rechtsmittelfähigen Bescheid darüber, ob die Sache genehmigt worden ist.“

Siegbert Fromm bekam den Mund nicht mehr zu.

„Sechs bis acht Wochen? Aber das kann doch keine sechs bis acht Wochen dauern, diesen läppischen Bauantrag zu bewilligen!“

Hans Friedrich Radowski wurde ungemütlich. Jetzt beanspruchte dieser lästige Mensch schon fünf Minuten seiner kostbaren Zeit! Wie sollte man denn da bis zur Mittagspause sein Kreuzworträtsel zu Ende lösen?

„Darüber habe nicht ich zu entscheiden“, fauchte er. „Ich halte mich nur an meine Vorschriften und kann nicht mehr für Sie tun. Wenn Ihnen das nicht passt, bleibt es Ihnen allerdings unbenommen, den Rechtsweg einzuschlagen oder aber bei meinem Vorgesetzten um Abhilfe einzukommen. Guten Tag!"

„Guten Tag“, seufzte Siegbert Fromm, nahm seine Unterlagen und trat kopfschüttelnd hinaus auf den Flur. Der nächste in der Warteschlange, ein weißhaariger Herr mit einem Dackelchen an der Leine, steuerte auf Radowskis Tür zu und klopfte an.

„Herein!“

Der alte Herr trat näher und wartete. Hans Friedrich Radowski fertigte eben den obligatorischen Aktenvermerk.

„Sie wünschen?“

Mit leiser Stimme brachte der Rentner sein Anli egen vor. Eine Gartenlaube wolle er errichten lassen, und ob es dazu eines Bauantrages bedürfe?

Ohne seine Niederschrift zu unterbrechen, ließ sich Radowski erklären, dass die Gartenlaube eine Grundfläche von neun Quadratmetern beanspruchen, nicht zu Wohnzwecken dienen und nicht auf die Grundstücksgrenze gebaut werden solle. Verwaltungsrichtlinien, Verfügungen und Durchführungsbestimmungen durchjagten sein Gehirn.

Dann klingelte das Telefon. Der Oberamtmann nahm ab.

„Radowski.“

Der alte Herr hörte es in der Leitung krächzen. Radowski setzte sich kerzengerade hin und fasste sich an die Krawatte.

„Ja, Chef! Ja, Chef! Ja, er ist eben zur Kasse und müsste jeden Moment zurückkommen! Ja, ich habe sogar noch seine Akte hier vor mir liegen. Was? Ein Staatssekretär aus dem Ministerium? Heiliger

Strohsack! Ja, Chef, selbstverständlich! Ich komme mit seinem Antrag sofort zu Ihnen rauf!“

Radowski legte den Telefonhörer auf die Gabel zurück. In fliegender Hast ließ er die Zeitung in der untersten Schreibtischschublade verschwinden, kippte den überquellenden Aschenbecher in den Papierkorb aus, rückte Locher und Schreibblock gerade, erklärte dem alten Herrn währenddessen, dass die Errichtung einer Gartenlaube genehmigungsfrei sei und geleitete ihn zur Tür. Radowski war eben dabei, mit seinem Taschentuch die Türklinke zu polieren, da kam Siegbert Fromm auch schon die Treppe hinauf. Der Oberamtmann zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln.

„Ich habe auf Sie gewartet, Herr Fromm! Ich muss nämlich kurz nach oben und werde bei dieser Gelegenheit Ihr Gesuch gleich mitnehmen! Bitte treten Sie doch näher und nehmen Sie Platz!“

Hans Friedrich Radowski hielt geflissentlich die Tür auf, nahm Fromm den Stoß Formulare aus der Hand und war gleich darauf zur Tür hinaus. Siegbert Fromm machte es sich gemütlich und blätterte in einem Prospekt. Es dauerte noch keine zehn Minuten, da kam der Oberamtmann wieder hereingekeucht und überreichte ihm den vom Dienststellenleiter höchstpersönlich bewilligten Bauantrag für einen Balkon. Siegbert Fromm zeigte sich tief beeindruckt.

„Alle Achtung! Das ganze Genehmigungsverfahren in weniger als einer halben Stunde, daran sollten sich andere Behörden ein Beispiel nehmen! Meine Anerkennung, Herr Oberamtmann! Wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag!"

Hans Friedrich Radowski strahlte, brachte seinen Besucher hinaus auf den Flur und verneigte sich zum Abschied bis fast auf den Erdboden. Er war sehr mit sich zufrieden, wenngleich er das Kreuzworträtsel noch immer nicht gelöst hatte.

Auch Siegbert Fromm war zufrieden. Ohne besondere Eile schlenderte er durch die Eingangshalle, nickte dem Pförtner noch einmal freundlich zu und trat hinaus ins Freie. Den netten und zuvorkommenden Pförtner würde er in dankbarer Erinnerung behalten, hatte er ihm vorhin doch nicht nur den Namen und die Durchwahl des Dienststellenleiters gegeben, sondern auch noch Geld zum Telefonieren gewechselt, so dass er die Anregung des Oberamtmanns hatte befolgen können und sich direkt an dessen Vorgesetzten gewandt hatte. Der Erfolg seiner kleinen Flunkerei, sich als ein Abteilungsleiter aus dem Ministerium auszugeben und die Visite eines Staatssekretärs Fromm anzukündigen, bestärkte ihn in seiner Annahme, dass es auch auf dem Dienstweg einen Überholstreifen gibt.

Ein vergilbtes Blatt Papier

„Zum Donnerwetter nochmal! Wo der Lümmel nur wieder bleibt!“ Reichlich ungehalten schaute ich auf meine Armbanduhr. Schon halb zwei, und Kevin war immer noch nicht zu Hau-se! Dabei war der Unterricht heute, am letzten Schultag, sogar früher als sonst aus gewesen. Gewiss lag aber gerade darin der Grund dafür, dass sich mein Filius mit dem Heimkommen so lange Zeit ließ: Es hatte Zeugnisse gegeben, und wie Kevins Zeugnis aussehen würde, konnte ich mir nach dem blauen Brief lebhaft vorstellen.

„Dem Bengel werd´ ich was husten! Ein paar hinter die Ohren bekommt er!“

Wütend drückte ich mich an der Tischplatte hoch und begann, in der Küche herumzurennen. Nichts als Ärger hatte man mit diesem Früchtchen, nichts als Ärger! Eine Fünf nach der anderen brachte er nach Hause, kümmerte sich aber einen Dreck um seine Schulaufgaben und kannte nichts anderes als sein Handy und alberne Computerspiele. Was in aller Welt sollte bloß einmal aus ihm werden?

„Nun setz dich wieder hin und lass uns ohne ihn anfangen“, suchte meine Frau die Wogen zu glätten. „Sonst wird das schöne Essen kalt! Bestimmt steckt er wieder bei deinen Eltern! Wenn er bis zwei nicht hier ist, ruf´ ich mal zu ihnen an!“

Sie legte erst mir und dann sich selbst einen goldbraunen, herrlich duftenden Pfannkuchen auf den Teller. Mit einer Mordswut im Bauch pflanzte ich mich wieder auf die Eckbank und hieb mit der Gabel auf das Omelett ein.

„Wundern sollte mich das nicht“, fauchte ich. „Aber das bekommt er ausgetrieben! Wie will es der Junge denn später mal zu was bringen, wenn er den lieben langen Tag bei meinem Vater im Schrebergarten hockt oder auf seiner Bude vorm Computer! Hätte ich mir das früher erlaubt, dann –“

Die Haustür wurde geöffnet und vorsichtig wieder geschlossen. In der Diele waren leise Schritte zu hören, dann stand Kevin endlich vor uns. In der Hand hielt er einen weißen Briefumschlag.

„Wo hast du nur so lange gesteckt?“ rüffelte ihn meine Frau. „Du weißt doch, dass du nach der Schule sofort heimzukommen hast!“

Kevin starrte vor sich auf den Boden. „Ich … ich war bei Oma und Opa“, druckste er. „Ich hab´ schon bei ihnen gegessen …“

Ich kam von der Bank hoch und baute mich vor meinem Sprössling auf, bereit, ihm den Kopf zurecht zu rücken.

„Aha! Dann können wir natürlich lange auf dich warten! Nimm den Kopf hoch, wenn ich mit dir rede! Wie ist denn dein Zeugnis ausgefallen? Nun?“

Kevin schaute mich kurz an, senkte aber sofort wieder den Blick. Zwei dicke Tränen kullerten ihm über die Wangen. Was das zu bedeuten hatte, war nicht schwer zu erraten.

„Wie dein Zeugnis ausgefallen ist, hab´ ich gefragt!“

Kevin schluckte. Noch immer starrte er auf den Fußboden. Seine Mundwinkel zuckten. Endlich streckte mir seine kleine Hand den Briefumschlag entgegen.

„Papa, das … das hier … das soll ich dir von Opa geben …“

Was hatte denn das zu bedeuten? Mein Vater schickte mir einen Brief, wo er doch nur zum Telefonhörer greifen musste, wenn er mich sprechen wollte? Seltsam. Ich nahm Kevin den Umschlag aus der Hand und fetzte ihn mit dem Stiel des Dessertlöffels auf. Und dann war ich es, der schlucken musste.

In der Hand hielt ich ein vergilbtes, eng beschriebenes Blatt Papier, auf dem in dicken Frakturbuchstaben das Wort „Zeugnis“ gedruckt stand. Die Tinte war längst blass geworden, aber mein Name und das gestochen scharf geschriebene „Nicht versetzt“ waren noch immer klar und deutlich zu lesen. Und mit einem Male tauchte aus meiner Erinnerung wieder dieser trübe Nachmittag vor nunmehr dreißig Jahren auf, als ich, ein kleiner Pimpf, mit verheultem Gesicht und bangem Herzen an meinem Vater emporgesehen hatte, während er diese Hiobsbotschaft studiert hatte. Jetzt war es an mir, den Blick zu senken. Ich spürte die fragenden Augen meiner Frau und schob das vergilbte Blatt zu ihr hin. Sie las. Niemand von uns beiden brachte einen Ton zustande. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich es schaffte, meinem Jungen den Arm um die Schulter zu legen.

„Nun lass mal den Kopf nicht hängen, Kevin, bloß weil das Zeugnis in die Hose gegangen ist. Es gibt Schlimmeres, und diese Schlappe wetzt du schon wieder aus. Übrigens, ich … ich hab´ mir heute Morgen mal deine Computerspiele angesehen. Interessiere mich auch dafür, hab´ aber nicht die leiseste Ahnung, wie sowas funktioniert. Wenn wir aufgegessen haben, erklärst du´s mir dann mal?“

Das Gleichnis vom reinen Wasser

Um die Jugend zu guten Christen zu erziehen, war Pfarrer Bindemann keine Mühe zuviel. Die pädagogischen Mittel, deren er sich dazu bediente, mochten zuweilen etwas ausgefallen erscheinen, standen aber immer in irgendeinem Zusammenhang mit dem Religionsunterricht. So wurden die Schüler nach dem Austragen des Bistumsblattes regelmäßig darüber belehrt, wie das Volk Israel durch die Wüste oder Jesus nach Galiläa gezogen war; nach dem Jäten und Rasenmähen im Pfarrgarten mussten sie das Gleichnis vom Unkraut im Weizen über sich ergehen lassen und nach dem Wocheneinkauf für die Pfarrhaushälterin das von der verlorenen Münze oder vom anvertrauten Geld. Am Morgen hatte Pfarrer Bindemann in der Schule über das Sakrament der Taufe gesprochen. Clemens, Klaus und Patrick hatten nicht richtig aufgepasst, waren prompt für nachmittags zum Pfarrhaus bestellt worden und rechneten denn auch mit Blumen gießen, Rasen sprengen oder Auto waschen. Es kam allerdings etwas anders. Pünktlich um drei Uhr drückte Clemens auf die Klingel. Im Pfarrhaus wurde eine Tür geöffnet und wieder zugeschlagen, schwere Schritte dröhnten in der Diele, und dann stand der geistliche Herr auch schon auf der Schwelle.

„Da seid ihr ja endlich, ihr Buben“, grüßte er würdevoll, nahm zwei leere Wasserflaschen vom Boden und streckte sie Patrick entgegen. „Hier! Ihr werdet einen kleinen Spaziergang zur Apotheke in der Oberstadt machen und zwei Flaschen destilliertes Wasser kaufen! Für Fußballspieler wie euch ist das ein ganz ausgezeichnetes Konditionstraining!“ Sodann griff er in die Hosentasche und drückte Klaus drei einzelne Euromünzen in die Hand. „Ich kenne den Preis, das Geld reicht genau!“

Klaus beäugte erst die Münzen und dann die Wasserflaschen in Patricks Hand so misstrauisch als fürchtete er, sie könnten explodieren. „Was ist dellisieres Wasser, Herr Pfarrer? Eine Arznei?“

„De-stil-lier-tes Wasser“, verbesserte Pfarrer Bindemann. „Nein, Bube, das ist keine Arznei, sondern ein vollkommen reines Wasser ohne jeglichen Schmutz und ohne Mineralstoffe. Es kommt in meine Autobatterie, die verträgt nur solch ein reines Wasser. Und nun machet euch auf den Weg, es ist ein gutes Stück zu laufen! Gott mit euch!“

Die Jungen nickten gehorsam. Pfarrer Bindemann schaute ihnen nach, bis sie die Eingangstreppe hinunter waren, dann wurde die Tür zugedrückt.

„Der spinnt wohl!“, maulte Clemens. „Ein Auto braucht Benzin und kein Wasser! Und Wasser, das kriegt man aus ´m Hahn und damit gut! Dazu braucht man doch in keine Apotheke, erst recht nicht bei so´ner Hitze!“

Die Jungen marschierten in Richtung Kirchvorplatz.

„Er könnte Recht haben mit seinem reinen Wasser“, sinnierte Patrick. „Leitungswasser ist manchmal wirklich nicht sauber, deshalb kocht es meine Mutter auch ab, bevor wir davon trinken. Allerdings –“, er sah Klaus und Clemens bedeutungsvoll an, „um reines Wasser zu kriegen, brauchen wir nicht in die Apotheke zu rennen. Das gibt´s auch hier, und zwar umsonst!“

„Wo denn?“ fragten Klaus und Clemens wie aus einem Munde.

„In der Kirche! Da steht ein Fass mit Weihwasser, aus dem

sich jeder nehmen kann! Und Weihwasser ist rein, ganz rein, hat der Pfarrer selbst heute Morgen in der Schule gesagt! Das Reinste, was es überhaupt gibt! – Ist gemein vom Pfarrer, dass er uns so weit laufen lassen will, wo ´s so ´n reines Wasser gleich hier vor seiner Nase gibt! Macht er nur, damit er was hat, worüber er uns nachher wieder Vorträge halten kann! Ein Gleichnis oder so! Aber dazu brauchen wir nicht bis in die Oberstadt! Auf, gehen wir in die Kirche und holen ihm sein reines Wasser! Und von dem Geld kaufen wir uns jeder ein Eis!“

Clemes war sofort einverstanden. Nur Klaus hatte noch gewisse Bedenken.

„Aber … aber das ist doch Sünde, wenn wir das Geld für uns behalten!“

„Von wegen!“ belehrte ihn Patrick. „Wir behalten das Geld ja überhaupt nicht für uns, sondern geben´s dem Eismann! Und ob es der Eismann oder der Apotheker kriegt, ist doch wohl egal!“

Ja, das überzeugte auch Klaus. Die drei stiefelten über den Kirchplatz, bogen auf die Straße und huschten dann zum Seiteneingang, der vom Pfarrhaus aus nicht eingesehen werden konnte. Dunkel war es in der Kirche, sehr still und angenehm kühl.

„Das Fass ist neben der Sakristei“, flüsterte Patrick.

„Kommt mit!“

Es ging durch den Seitengang und vorbei an den Kreuzwegstationen zu der breiten, bleiverglasten Tür unter der Kanzeltreppe. Dann sahen sie es auch schon: Auf einem grob zusammengezimmerten Eichensockel stand ein großes, irdenes Fass mit eingebranntem konstantinischem Kreuz und einem blank polierten Messinghahn.

„Gib her!“

Clemens nahm Patrick eine der Flaschen aus der Hand, hielt sie unter den Fasshahn und ließ sie volllaufen. Anschließend füllte er die andere.

„Gut, dass du das gewusst hast“, lobte er Patrick. „Wir wären sonst glatt bis in die Oberstadt gelaufen! Jetzt lasst uns aber verschwinden! Kommt!“

Sie spazierten zurück und traten durch das Seitenportal wieder ins Freie. Frisch und vergnügt schlenderten die drei nun zur Eisdiele, kauften sich jeder einen Becher Speiseeis und absolvierten auf den Stühlen unter dem Sonnenschirm das anbefohlene Konditionstraining für Fußballer. Nach einer guten Stunde pilgerten sie zum Pfarrhaus zurück und lieferten die Flaschen mit reinstem Wasser ab.

„Danke schön, ihr Buben!“

Pfarrer Bindemann nickte erhaben, schenkte jedem seiner drei Schäfchen ein Heiligenbild und erklärte ihnen anschließend das Gleichnis vom treuen Diener, der den Auftrag seines Herrn gewissenhaft ausgeführt hatte. Somit bekam ein jeder, was er brauchte: die Jungen jeweils ein Heiligenbildchen, einen Eisbecher und eine tiefgreifende theologische Schulung, Pfarrer Bindemann die Genugtuung, ihnen Demut, Gehorsam und die christlichen Glaubensgrundsätze etwas nähergebracht zu haben und sein Auto die dringend benötigten Flaschen mit reinem Wasser. Erst später offenbarte sich, dass dieses Wasser anscheinend doch nicht so rein gewesen war. Aber die Mucken an Pfarrer Bindemanns Auto brachte niemand damit in Zusammenhang.

Teure Socken

Jürgen Hilmen arbeitete als Verkäufer im Modehaus Schepp in der Königsstraße. Wie immer zur Mittagszeit war auch heute nicht viel los im Laden, und deshalb schenkte er dem einzigen Kunden auch nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Mochte sich der Chef selbst um ihn kümmern; er selbst wollte jetzt ohnehin Mittag machen. Jürgen Hilmen war gerade dabei, Pullover und Hemden ins Regal einzusortieren, als er vorne am Ladeneingang einen schrillen Schrei hörte.

„Halt, stehenbleiben! Stehenbleiben! Haltet den Dieb!“

Jürgen Hilmen wandte sich um, sah den Kunden hinaus auf die Straße rennen und Herrn Schepp hinterher. Sofort spurtete er den beiden nach. Als gut trainierter Hobbyfußballer würde er den Langfinger schnell am Schlafittchen haben. Allerdings hatte der einen schönen Vorsprung und war auch gut zu Fuß, der Bürgersteig jetzt in der Mittagszeit voller Menschen, und an der dritten Straßenkreuzung hatte der Dieb Jürgen endgültig abgehängt. Herrn Schepp schon lange. Der schloss schwitzend und schnaufend zu seinem Verkäufer auf.

„Was soll´s“, ächzte er, „er hat schließlich nur ein paar billige Socken geklaut, die aus dem Sonderangebot für zwei sechzig, und die paar Groschen kann ich zum Glück verschmerzen.“ Mit hechelndem Atem und immer noch wackligen Knien gingen die beiden glücklosen Verfolger zurück. Endlich waren sie wieder im Geschäft angekommen … und sahen sich entgeistert an. Die Ladenkasse war aufgerissen, und sie war leer! Während sie einem Ladendieb nachgejagt waren, der einen Groschenartikel stibitzt hatte, hatte ein anderer die Gunst der Stunde genutzt und Hunderte von Euro aus der Ladenkasse mitgehen lassen!

„Mir scheint“, seufzte Herr Schepp, „ganz so billig waren die Socken wohl doch nicht.“

Beichtstunde

Nach der Beichtstunde waren nicht mehr viele Gläubige in der kleinen Wallfahrtskirche und Pfarrer Lambrecht wollte eben aufstehen und gehen, als noch ein großer, schwerer Mann in den Beichtstuhl trat.

„Gelobt sei Jesus Christus“, brummte eine raue Stimme.

„In Ewigkeit Amen." Pfarrer Lambrecht schlug das Kreuzzeichen. Die Tür wurde vorsichtig geschlossen und der Nachzügler zwängte sich auf die schmale Kniebank.

„Ich ... ich möchte beichten“, begann er unschlüssig.

Der Bretterboden knarrte. Im Halbdunkel konnte Pfarrer Lambrecht ein breites, weiches Gesicht mit einer hohen Stirnglatze mehr ahnen als erkennen.

„Wann war Ihre letzte Beichte?", fragte er sanft.

„Meine letzte Beichte? Hm ... Nun, so zwanzig Jahre wird es sicherlich her sein." Der Mann hinter dem Sprechgitter atmete schwer.

„Und welche Sünden möchten Sie beichten?“

„Welche Sünden? Hm ... Eigentlich ´ne ganze Menge! Ich habe gelogen. Ich habe meiner Frau gesagt, ich muss Überstunden machen, und war in Wirklichkeit mit meinen Kollegen einen trinken gegangen. Ich habe Sachen über meinen Chef erzählt, die nicht stimmen. Und bei der Spesenabrechnung und bei der Steuererklärung habe ich geschummelt. Es war aber nicht viel. Eher Kleinkram, würde ich sagen …“

Das Kirchenportal wurde geöffnet und wieder geschlossen. Pfarrer Lambrecht spähte durch die Antikglasscheibe der Beichtstuhltür hinaus und sah die Altarkerzen flackern.

„Gegen Gottes Gebote zu verstoßen, kann niemals Kleinkram sein“, stellte er richtig.

„Wie? Ach so. Ja, ja natürlich." Ein bedrängter Atemzug, dann schwieg der Mann.

„Ich … ich habe auch gestohlen", kam es nach einer Weile. „Bei uns im Betrieb. Ich habe Briefmarken für mich privat aus der Portokasse genommen und auch auf Firmenkosten heimlich telefoniert. Und einmal … einmal habe ich ein Portemonnaie mit sechzig Euro drin gefunden und es für mich behalten.“

Pfarrer Lambrecht wartete geduldig. Der Mann schien sehr mit sich zu ringen. Gewiss, auch eine kleine Verfehlung konnte eine schwere Last bedeuten, aber dieser Sünder hatte etwas anderes, etwas ganz anderes auf dem Herzen.

„Und weiter?“ half ihm der Priester.

Der Mann senkte den Kopf „Ich … ich habe einen

Menschen umgebracht", presste er endlich hervor.

Pfarrer Lambrechts Knie wurden weich. „Wie ist das geschehen?“ fragte er behutsam. „War es ein Unglücksfall?“

Auf dem Steinboden vor der Kreuzwegstation hallten Schritte.

„Nein“, murmelte der Mann. „Es war kein Unglücksfall, Herr Pfarrer. Es … es war … es war Mord! Richtiger, gemeiner Mord!“

Pfarrer Lambrechts Nackenhaare sträubten sich.

„Und wen hast du ... haben Sie getötet?“

Die Schritte auf dem Steinboden waren nicht mehr zu hören. Pfarrer Lambrecht schaute wieder hi naus in die Kirche. Der pensionierte Oberlehrer Scheuermann stand vor dem Schriftenständer und blätterte in den Broschüren.

„Meinen Schwiegervater", hauchte der Mann. Dem Priester stockte der Atem.