Zeichne die Form von Weiß - Cedric Finian Röhrich - E-Book

Zeichne die Form von Weiß E-Book

Cedric Finian Röhrich

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Beschreibung

Wenn sich Deine Welt in den Polen weiß und schwarz gabelt, im Hintergrund die Klänge des Volksliedes Kalinka von des Priester Antonio Vivaldis fulminantem Violinkonzert des Barocks absplittern, Du nach einer Vater-Gestalt trachtest, doch im Grunde nur auf einer von der betrunkenen Appetenz nach Ewigkeit und Sinnhaftigkeit konstruierten Schneise schreitest - ohne Lichtblick der Aufklärung - und alles in einer Terror-Herrschaft samt Massaker in Südamerika münden könnte, dann bist Du der Protagonist in diesem Entwicklungsroman.

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Seitenzahl: 281

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Die nachfolgende Handlung ist reine Fiktion.

„Ein Volk, Eine Nation, Ein Schicksal“

- Wahlspruch der Kooperativen Republik Guyana

Inhaltsverzeichnis

VETUS SZENARIUM

I. Die panaschierte Schöpfungsgeschichte

II. Der zweifelndste Petrus

III. Aus wässrigem Magdala

IV. Der einschränkende Balken

V. Der schwarze Geist

VI. Das niedrigste Weltgericht

VII. Das magersüchtige Kalb

VIII. Der wegbereitende

IX. Das milchige Eden

NOVUM SZENARIUM

X. Der kälteste Dornenbusch

L. Die nahende Erlösung

C. Das schimmelnde Abendmahl

D. Die ganze Offenbarung

M. Die große Hure Babylon

A. AMEN!

Subjekte

Stellen

VETUS SZENARIUM

I.Die panaschierte Schöpfungsgeschichte

„Nenn mich Father, du Filius einer schwarzen Schlampe!“

Es waren diese Worte, gebrüllt, wie ein Speer geworfen wird und unvorhersehbar, wie ein vor der grellen Sonne hervor zischender Raubvogel, der mit seinen Klauen einen Hasen ergriff, welche das Herz des Jungen aufschlitzten, als wäre dieses eine heiß begehrte Delikatesse. Nur Sekunden zuvor hatte er es gewagt, seinen Vater mit „Dad“ anzusprechen. Es war diese Aktion, welche die sehr raue und kränkende Reaktion des Vaters zufolge hatte. Aber nicht die Tatsache, dass sein Vater ihn anbrüllte, erfüllte den Jungen mit Scham. Viel mehr war es dessen Berichtigung. Der Begriff „Father“ war so viel distanzierter und unpersönlicher als „Dad“. Ferner stellte er eine klare Hierarchie her. Dieser Augenblick erfüllte Jacob mit soviel Pein, dass er ohne zu zögern ganz banal die Holzhütte verließ: Er sprintete kunstlos vorbei an der weißen Stiefmutter, hüpfte unbeholfen über das Paar schwarz angemalter Holzschuhe vor der Pforte, von denen die Farbe allerdings schon abblätterte, hetzte sich aus der nicht ganz im Schloss liegenden Türe, welche er kurz zuvor noch aufgestoßen hatte und kam schließlich zum Stillstand, als er unglücklicherweise über die erste Stufe des zum Weg herab führenden Holztreppchens stolperte und mit dem Gesicht schließlich zu erst auf den tief schwarzen, fruchtbaren Erdboden vorm Haus aufkam. Eine ganze Weile - zumindest kam es ihm so vor - lag er dort peinlich berührt auf dem Boden. Jacob spürte, wie der harte Untergrund ihn stemmte. Er spürte ebenfalls die Grashalme, die er mit seinem Gesicht runter drückte und welche nun anfingen, seine Nase zu kitzeln. Sein Kopf schwoll farblich an und er hoffte innerlich inständig, dass sein Vater und seine Stiefmutter von ihm abgelassen, ihn nicht beobachtet hatten. Dann drang er sich dazu durch, sich aufzurichten. Langsam aber bedacht fing er an sich auf seine Knie zu stützen. Sein Fokus dabei lag auf der Flagge, welche gehisst im warmen Wind vor dem Nachbarhaus auf der gegenüberliegenden Seite wehte. Es war die Flagge des US-Bundesstaates Indiana. Weiter hinten standen zahlreiche Bäume, welche sich schon auf den Herbst vorbereiteten. Das Kleid ihrer Krone wechselte langsam aber sicher seine Farbe. Im Rücken des Jungen befand sich die Hütte seiner Stiefmutter aus weißem Holz mit einer älteren, aber doch noch in einem guten Zustand sich befindenden Veranda. Schließlich fasste sich der Junge ein Herz. Vorsichtig drehte sich Jacob um, nachdem er sich ganz aufgerichtet hatte. Nur um jetzt das zu erleben, was er unbedingt vermeiden wollte: Beide, sein Vater und seine Stiefmutter, schauten ihn an. Seine Stiefmutter blickte erzwungen neutral, während sein Vater ihn enttäuscht musterte. Beide waren weiß wie weiße Rosenblätter. Und er stand dort, im schwarzen Schatten des weißen Veranda-Daches, da hinter der Holzhütte nun langsam die Sonne unterging. Und würde der Vater nicht wissen, dass sein Sohn dort stand, so hätte er ihn in diesem tiefschwarzen Schatten nicht erkennen können. Denn auch die bescheidene, mit Rissen übersäte Farmer-Kleidung Jacobs war schwarz. Eine schwarze Latzhose, wie mit Druckertinte übersät. Und darunter ein zerfasertes Hemd aus schwarzer Wolle, nachlässig in den Bund der Latzhose gestopft. Jacobs schwarze lockige Haare waren so kurz, dass nicht mal der warme Spätsommerwind mit diesen spielen konnte. So stand er da, im Schatten des Baumes, und blickte nach oben über die Veranda zur Pforte der weißen Hütte, in welcher sein Vater und seine Stiefmutter auf ihn herab blickten. Nach einer ganzen Weile sprach sein Vater laut zu ihm: „Jacob, trink einen Schluck Wasser.“ Erst schaute die Stiefmutter Jacob noch ausdruckslos an. Doch dann sah sie im Augenwinkel, wie ihr Mann sie mit seinen Blicken durchbohrte. Darauf schrak sie innerlich auf und stolperte schnell in die Küche um ein Glas Wasser zu holen, während sie schrill durch das Haus rief: „Das wird die Nerven beruhigen!“ Jacob blickte nur seinen Vater an, welcher den Blickkontakt nicht unterbinden wollte. Jacob antwortete zierlich auf des Vaters Angebot: „Ja, Father.“

Während der schwarze Schatten der Veranda Jacob vor den neckischen Sonnenstrahlen in Schutz nahm, spielte der Junge vor dem Elternhaus mit seinen Holzfiguren. Er lehnte sich an die hohe Holzwand vor der Veranda, welche nur an einer Stelle geschnitten wurde. Nämlich dort, wo die zierliche Holztreppe sich ihren Weg zur kleinen Wiese vor dem Haus bahnte. Auf dieser Wiese saß Jacob, gedankenverloren und unkonzentriert. Unmotiviert wackelte er nur ein wenig mit den Figuren, die er zum letzten Osterfest von seiner Stiefmutter geschenkt bekommen hatte. Alice lautete ihr wohlklingender Name. Sie war so ein merkwürdiger Mensch, dachte Jacob, welcher beim tänzeln mit den Figuren an Alice dachten musste. Dann fing er plötzlich an richtig mit seinen Figuren zu spielen. „Mein Sohn! Was tust du da nur?“ flüsterte er, während er die Figuren zappeln ließ. „Jacob, was tust du da?“ ertönte abrupt eine kräftige Stimme. Jacob blickte ertappt auf. Er ließ die beschädigten Holzstücke als Reaktion auf den Ruf fallen. Er musste nicht lange umher suchen, um die Quelle des Rufes zu erblicken: Gail Graham. Die ältere Frau saß auf einem weißen Outdoor-Schaukelstuhl. Sie wippte ruhig in der Front vom Nachbarhaus vor sich hin und durchbohrte Jacob mit ihren Blicken. Gails Hautton war der selbige wie der von Jacob. Sie trug trotz ihres hohen Alters keine Brille, denn ihre Augen blickten scharf wie die eines Falken. Gails Falten in ihrem länglichen Gesicht waren tief und doch wirkte ihre Haut jung und dynamisch. „Mrs. Graham...“ flüsterte Jacob, während er sich die so unbekannte Frau anguckte, wie sie auf ihrem weißen Stuhl innerhalb der weißen Veranda saß. Eine Veranda, die genauso aussah wie die von dem Haus gegenüber, dem von Jacobs Eltern. „Miss Graham bitte...“ gab sie mit erschreckend kräftiger Stimme zurück. Eine Stimme, mit der sie rufen konnte und eine Stimme, die nicht so kratzend klang, wie Jacob erst vermutet hätte. Es war vielleicht dieser ironische Umstand, der die Neugierde ein wenig in Jacob wachsen ließ. Er stützte ein wenig tölpelhaft seine Hände auf seine Oberschenkel und stand kurz darauf auf. Gail ließ er dabei nicht aus dem Blick. Daraufhin passierte allerdings nichts. „Nichts“ konnte so peinlich sein. Schüchtern und unschlüssig stand Jacob nun da und wurde langsam von Gails Blicken unangenehm durchbohrt. Gail selbst agierte mit Nichten. Also schweifte Jacob langsam ab. Seine Blicke streiften den Grundstein des Hauses, wo er ein kleines offenes Fensterchen sah, welches wohl in den Keller führte. Auf der Straße der beiden Häuser war alles ruhig, leer und still. Jacob fixierte seine Augen angespannt auf dieses eine Fensterchen. Plötzlich rumpelte es vom Inneren und er zuckte zusammen! Dieses Geräusch durchschnitt kurz und knapp die sonst so ruhige Geräuschkulisse der Nachbarschaft. „Diese verdammten...“ lachte Gail plötzlich. Überraschend schnell für ihr Alter erhob sie sich und ging zur offenen Türe, vor welcher ein Birkenschild mit „Welcome“ angebracht war. Da sie die Blicke des Jungen in ihrem Rücken spürte, drehte sie sich noch einmal kurz zu ihm um und sprach ihn direkt an: „Das waren die Hundewelpen. Hast du schon mal welche gesehen?“ Jacob brauchte etwas, doch dann schüttelte er wahrheitsgemäß seinen Kopf. „Du musst sie dir bei Gelegenheit mal angucken. Ich habe welche mit weißem Fell und einige mit schwarzem. Und wie du hören kannst… So gut vertragen die sich nicht!“ Sie lachte laut und unsympathisch. Während sie hinein ging fügte sie noch gewitzt hinzu: „Ach, Kinder...“ Dann schloss sie vorsichtig hinter sich die Türe. Doch vorher drehte sie sich noch um und blickte Jacob tief in die Augen, bevor die zugehende Türe ihren beunruhigenden Blick Durchschnitt. Allerdings empfand Jacob ihre Blicke komischerweise nur als… schenkende Beachtung.

Müde, mit beiden Beinen angewinkelt, lag Jacob auf dem Boden seines Zimmers. Nur eine aus Stroh ordentlich zusammen geflochtene Matte trennte den direkten Kontakt zwischen dem Jungen und den morschen Dielen, welche problemlos für Splitter hätten sorgen können. Über den Knien bäumte sich das sehr leichte weiße Laken nun, als Jacob diese gen Decke aufrichtete. Er nahm seine Arme hinter seinen Kopf und kreuzte diese dort. Nachdenklich guckte er gegen die Decke. Von dem schwarzen Holz über Jacobs Kopf tropften helle Wassertropfen im Minutentakt hinunter. Ohne zu zucken drehte Jacob seinen Kopf mit ausdrucksloser Mimik und verspannten Armen zum kleinen runden Fenster neben ihm. Sein Zimmer war nicht viel größer als die Baracke eines Matrosen auf hoher See. Doch Jacob sah draußen keine blauen Wellen, sondern nur die schwarze Nacht. „Unheimlich… dieses schwarz…“ flüsterte er zu sich selbst. Plötzlich blickte er genauer hin. Sein Zimmer befand sich direkt neben dem kleinen Flur am Eingangsbereich, folglich blickte Jacob direkt an der elterlichen Veranda vorbei hinüber zum Haus von Gail Graham. Er kniff seine Augen zusammen und fokussierte seinen Blick, denn tatsächlich kam eben diese dort aus der Türe geschlichen. Geschlichen auf Zehenspitzen, mit den Armen nach oben angespannt und den Händen wie Krallen baumelnd. Schnellen Schrittes huschte sie abnormal wie ein Tier um die Ecke ihres Hauses in ihren Garten, hinter dem unscheinbaren Einfamilienhaus. Jacob richtete sich urplötzlich auf und saß mit geradem Oberkörper auf der Matte, wobei er seine Knie nochmal anwinkelte und die Decke noch ein Stücken höher geschoben wurde, als sie eh schon war. Dies hätte Jacobs Blick versperrt auf das, was jenseits seiner Knie in seinem Zimmer passierte, doch seine Pupillen streiften eh ein anderes Szenario. Zumindest versuchte er noch einen Blick auf Gail zu erhaschen – vergeblich. Die alte Dame war verschwunden. Langsam wandte er sich misstrauisch vom Fenster ab. Plötzlich überkam seinen Körper eine Gänsehaut und er blickte sich etwas ängstlich und ein kleines bisschen kochend vor Furcht in seiner kleinen Kammer um. Vor Monstern musste Jacob als Kind eigentlich nie Angst haben. Monster unter einem nicht vorhandenen Bett waren ausgeschlossen. Einen Schrank besaß Jacob tatsächlich ebenfalls nicht. Wofür ein Schrank, wenn keine Kleidung da ist, um diesen zu füllen? Erschöpft und beruhigt ließ sich Jacob nun ein bisschen entspannter wieder hinfallen. Nur damit dann sein Blick seine mit der weißen Decke bedeckten Knie streifte, welche ihm die Sicht auf das versperrten, was dahinter vor ging. Mit einem Schlag verspannte sich Jacobs gesamter Körper wieder. Leise flüsterte er: „Miss… Grah…“ mit einem energischen Riss riss er sich selbst fast weinend die Decke weg. Doch da war niemand auf der anderen Seite. Seine Verblüffung wurde schnell zu einem krampfhaften Lächeln, gefolgt von Übermut. Wieder flüsterte er leise zu sich selbst: „Nein. Miss Graham ist einfach nur eine nette freundliche Dame!“ Plötzlich verstummte der Junge und blickte in die tiefschwarze Nacht auf ein Neues. Keine Miss Graham zu sehen. „Ihr könnte etwas passiert sein…“ stellte er sich selbst als Ausrede für seine Neugierde und seinen Übermut. Beides Eigenschaften, welche ihn dazu verleiteten, zur Türe seines Kämmerchens zu schreiten. Bevor er die Hand an den Türgriff legte, dachte er nach. Seine nackten Füße, geschützt von einer harten Hornhaut, stützten sich auf den nicht vertrauenswürdigen Boden mit seinen schwarzen Dielen. Langsam spielte Jacob mit dem Türknauf der etwas in den Angeln verrosteten weißen Türe, gerade mal groß genug für ein Kind wie er es war. Ohne wirklich konstruktive Gedankengänge gehabt zu haben, stieß Jacob nun einfach die Türe auf und huschte leise und klammheimlich zur Haustüre. In einer friedlichen Nachbarschaft wie dieser waren die Türen stets geöffnet. Das dazu gehörende Gewehr lag im Zimmer von Jacobs Vater. Dies simplifizierte Jacobs Mission um ein Weites. Eilig und doch besonnen versuchte er so schnell und leise wie möglich die Türe auf zumachen. Dann huschte er unterm Türrahmen hindurch. Er stand draußen. Die Nacht war so unglaublich ruhig und kühl. Er drehte sich entschlossen um und führte die Türe ins Schloss. Es ertönte nur kurz ein klicken, dann überkam Jacob ein Gefühl der unfassbaren Freiheit. „So einfach war das?“ fragte er sich. Dann schaute er sich noch einmal staunend in der schwarzen Nacht um. Schließlich brüllte er: „So einfach!“ Er lachte euphorisch und sprang die Treppe runter. Er schaffte eine perfekte Landung auf seinen Beinen und sprintete hinüber zum Nachbarhaus.

„Jacob! Wach auf!“ rief Alice und klopfte an seine weiße Türe. Wie von einem Donner geweckt schrak Jacob auf. Kerzengerade war sein Oberkörper gerichtet und seine Augen weit aufgerissen. Schnell sprang er auf und riss die Türe auf. An etwas Anderes konnte er zu dieser Zeit keinen Gedanken verlieren. Während die Türe aufsprang flog ihm die Hand von Alice in sein Gesicht. Alice dachte nicht mal im Traum daran, nicht mit voller Kraft durchzuziehen. Kurz war Jacob komplett perplex. Alice starrte ihn während dieser Zeit nur zornig an. Langsam richtete Jacob seinen Kopf zu Alice, während sich neben seiner Wangen auch seine Augen verfärbten. Tränen kullerten an der geschwollenen Wange hinunter. Leise, still und heimlich bahnten diese sich ihren Weg zu seinem Kinn, an welchem sie sich sammelten. Dann tropften sie herunter und zersprangen auf den schwarzen Dielen, die den Boden bildeten. „Hilf deinem Vater draußen auf dem Feld!“ zischte Alice genervt. Dann drehte sie sich mit leicht gehobenem Kinn zur Seite weg und schritt durch den Eingangsbereich des Hauses zur Küche. Jacob stand immer noch einfach dort und versuchte das gerade erlebte zu verarbeiten. Dann drehte er plötzlich um, ballte seine Faust und holte zum Schlag aus, damit er seine Faust mit voller Kraft gegen die Wand seines Zimmers donnern konnte. Doch dazu kam es nicht. Während all seines Zornes hielten ihm zwei plötzliche Gedanken davon ab. Der erste war die Furcht vor der Reaktion von Alice. Der zweite Gedanke war die plötzliche Erkenntnis, dass er keinen blassen Schimmer von dem hatte, was letzte Nacht passiert war. Abrupt brach er seine „Attacke“ auf die schutzlose Wand aus schwarzen Brettern ab. Unmotiviert von seiner Verwunderung ließ er nun einfach den Arm senken und fing an, scharf nachzudenken. Dabei lehnte er nach kurzer Zeit seinen Kopf gegen seine eben noch von ihm angegriffene Wand. Die schwarze, mit Schweißperlen geschmückte Stirn verlagerte nun ein wenig Gewicht auf die schwarze Wand. Doch das Gewicht im Geiste Jacobs schien zu steigen.

Langsam zogen die Wolken über das Feld der Familie Jacobs hinweg. Von diesen Strahlen in seinen Nacken gepeinigt, kniete Jacobs Vater vor einem kleinen Loch in der Erde. Plötzlich wurde er in den eher kleinen Schatten von Jacob gehüllt. Als dessen Vater dies realisierte, atmete er einmal seufzend aus und stand dann auf. Jacob näherte sich nun zaghaft und blickte an seinem Vater vorbei zu dem kleinen Loch in der Erde. Neugierig und doch voller Respekt vor der Tat seines Vaters, musterte er nun das Innere des Loches von einer gewissen Distanz aus. „Trete ruhig näher.“ sprach sein Vater unmotiviert, während er sich umdrehte und zwei Schritte weg ging. Er verschränkte nun emotionslos seine Arme, während sich Jacob dem kleinen Loch näherte und sich darüber beugte. Zu seiner Enttäuschung fand er rein gar nichts in dem Loch vor. „Das Loch… ist ja leer.“ sprach Jacob verwundert. „Natürlich. Es ist ein Loch.“ erwiderte sein Vater mit einer monotonen Stimme. Verwirrt drehte sich Jacob um und blickte nun den Rücken seines Vaters an. Dieser senkte in Gedanken versunken den Kopf und sprach: „Irgendwann möchte ich mir einen Setzling kaufen. Er soll zu einer stolzen Schwarzeiche werden, wachsen so hoch bis zum Himmel und die weißen Wolken berühren können. Dies erhoffe ich mir von allen meinen Machenschaften. Dass sie die weißen Wolken berühren können.“ Er schloss die Augen. Sein Mund war entspannt. „Wie soll er heißen?“ Als diese Worte, erkennbar von kindlicher Fantasie geprägt, aus Jacobs Mund austraten, öffnete dessen Vater wieder seine Augen. Kurz dachte er über seine Reaktion nach, wobei ihm dies nicht erkennbar war. Dann antwortete er ruhig: „Jacob. Ich möchte ihn Jacob nennen, wenn ich mal einen solchen Setzling besitze. Ich nenne alle meine Söhne Jacob. Benannt nach meinem Dad. Und ich hoffe, dass du all deine Söhne nach mir benennen wirst.“

Zaghaft öffnete Jacob die Türe zum Haus seiner Familie. Lustlos und betrübt trat er ein. Wobei Jacob so gut wie immer betrübt war. Sein Schicksal schien ein tragisches zu sein, doch machte er sich in keiner Weise Gedanken darüber. Seine Familie war arm, gehörte zur angeblich niederen Rasse und die Landwirtschaft in Indiana schien ihre glorreichen Zeiten ebenfalls hinter sich zu lassen. Doch all dies verstrich einfach immer wieder an Jacob. Er zog die viel zu großen Gummistiefel aus, die er für die Arbeit auf dem Feld benutzen durfte und welche mal der Mutter von Alice gehörten. Mit Schwung schlug er diese nun gegen den Boden. Durch das wiederholte klopfen löste sich der schwarze Dreck und die festgesetzte Erde. Er setzte die Gummistiefel daraufhin nebeneinander auf den Boden ab, wobei er penibel darauf achtete, dass sie wirklich ordentlich in die Reihe der anderen Schuhe passten. Die anderen Schuhe – das waren ein Paar schwarzer Stiefel seines Vaters und die schwarz bemalten Holzschuhe von Alice, von denen allerdings schon die Farbe abblätterte. Schließlich wendete Jacob seinen Blick von dem Schuhwerk ab und ging mit hängenden Schultern, aber aufrechtem Hals, in die Küche, wo ein kleiner Tisch stand. Alice stolperte mit einem weißen Topf gefüllt mit einer immer wieder heraus schwemmenden Suppe vorbei. „Na, du siehst ja aus wie ein Schwan!“ sagte sie, mit einem gestressten Unterton. Krachend landete der Topf auf den Tisch vor ihr und ein wenig der inneren Flüssigkeit lief in Tropfen langsam aber sicher auf den Weg zum Tisch der Außenfläche des Topfes herunter. Alice drehte sich um, während die Suppentropfen den schwarzen alten Tisch erreichten. Sie stemmte ihre Hände in ihre Hüfte und sprach vorwurfsvoll: „Hängende Schultern und hervor gestreckter Hals! Ein hässliches Schwänlein bist du! Keiner von den stolzen weißen, eher so ein…“ „Wir wurden von Gail zum Abendessen eingeladen!“ rief Jacobs Vater in die Stube, stapfte nur Sekunden später in die Küche und unterbrach Alice dabei mit ihren Vorwürfen. „Ich hätte niemals gedacht, dass…“ „Stopp! Wir essen gefälligst das, was ich gekocht habe!“ Diesmal war es Alice, die ihren Mann mutig unterbrach. Als dieser sie verwundert anblickte, wurde sie allerdings schon direkt blass im Gesicht. Noch weißer, als sie eh schon war. Es verstrichen Sekunden. Es schien Jacob so, als hätte jemand eine Sanduhr mit weißen Sandkörnern umgedreht, wartend darauf, dass endlich alle Sandkörner durch die Lochblende in den unteren Kolben ankamen. „Filius?“ Jacob hoffte darauf, dass sein Vater anfangen würde zu lachen und erwiderte erst Sekunden später zaghaft mit einem Unterton von kindlicher Naivität gestrickt: „Father…“. „Geh in deinen Raum.“ Da drehte sich Jacob wie eine Maschine zum Durchgang, als diese Worte zu seinem Ohr kamen. Er verschwendete keinen weiteren Blick an Alice oder seinen Vater und ging einfach wieder in die Eingangshalle. Dort blieb er plötzlich stehen. Dann kamen Sie an. Die Schallwellen. Ein knallen, so gut bekannt. Da drehte er aus dem Nichts in Richtung Ausgang um und rannte durch die noch offene Türe, die sein Vater nicht geschlossen hatte. Er sprang von der Veranda und rannte über die Straße zum Nachbarhaus. Fast knallte er gegen die Türe von Gail. Sofort glitt seine Hand nach oben und ballte sich zur Faust. Dreimal musste er dagegen schlagen, bis sich die Türe fast mechanisch durch Gails Hand aus öffnete und ihre dominante Stimme ertönte: „Ja?“ Jacob setzte nach manchen rasenden Überlegungen ein gefälschtes Lächeln auf und erwiderte: „Sie hatten mich zum Essen eingeladen?“ Gail blickte forsch nach draußen. Schaute nach links und nach rechts, doch bemerkte, das Jacobs Eltern nicht dabei wären. Komischerweise schien sie dies nicht weiter zu kümmern und ohne eine Frage zu riskieren, bat sie Jacob dann auch schon hinein.

„Wo hast du denn deinen Freund gelassen?“ sprach Gail mit gewohnt kräftigem Timbre, während sie Jacob hinein führte. Jacob ging, mit seinen Blicken alles begutachtend und mit ausgestrecktem Hals, durch den kleinen Flur in ein gemütlich eingerichtetes Zimmerchen. In der Mitte stand ein Sofa mit grob geschätzt zwanzig Kissen, ein modriger Geruch tänzelte durch die Kammer und die schwarzen Vorhänge waren vor dem einzigen Fenster im Raum zugezogen. Der ganze restliche potenzielle Platz an den Wänden wurde durch davor gestellte Kommoden mit Glasfiguren eliminiert und der Boden war geziert mit einem staubigen alten Teppich. Jacob drehte sich zu Gail fragend um, den Mund wie immer leicht geöffnet: „Meinen Freund?“ Gail ging gelassen zu einem kleinen Ecktisch und nahm eine Teekanne aus weißem Porzellan in die Hand, um sich selbst ein wenig Tee ein-zuschütten, in eine Tasse aus ebenfalls weißem Porzellan. „Der von letzter Nacht. Mit dem du mich zusammen besucht hast.“ Jacob schaute Gail fragend an, wobei er seine Stirn nachdenklich ein wenig runzelte. „Ich…“ erwiderte Jacob spärlich, bevor Gail ihn unterbrach und hinzufügte: „Sein Name war James Warren. So hast du ihn mir vorgestellt.“ Gail drehte sich Jacob zu und bewegte die Tasse mit einem kräftigen Zug zu ihren faltigen Lippen. Während sie die Lippen erst so sehr zu einem Kuss-Mund spitze, dass Jacob anfangs der Gedanke aufkam, sie wolle die Tasse gar küssen, stiegen heiße Dampfspuren von der weißen Tasse auf und legten sich scheinbar auf die fulminante Nase der alten und doch so erstaunlich kraftvollen Frau, deren Nase wohl wirklich dem Dampf wie ein alles aufhaltender Balken den Pfad nach oben versperrte. „Tee? Kaffee? Eistee?“ sprach sie dann doch plötzlich und nahm ihre Tasse wieder auf Hüfthöhe hinunter. „Öhm…“ erwiderte Jacob nur mit blasser Stimme darauf. Alleine seine Neugier, etwas neues zu entdecken, was ihm seine Eltern wohl niemals gestattet hätten, sorgte für seine folgenden Worte: „Kaffee! Denke ich…“ Dieser Zusatz kam zögerlich. Doch Gail machte sich sofort daran, mit kräftigen Schritten in die Küche zu gehen. „Mit weißer Milch oder doch lieber komplett Schwarz?“ fragte sie. Doch so liebevoll die Frage vielleicht auch gemeint war, erkannte Jacob keinen Spur von Fürsorge in ihrer Stimme, wie er es bei einer reizenden Mutter gehört hätte. „Was ist besser?“ erwiderte Jacob. Es waren diese so einfachen und doch wenigstens selbstsicheren Worte, welche sein Selbstbewusstsein und sein Vertrauen langsam anstiegen lassen. Er schaute sich kurz im gemütlich eingerichteten Zimmer um und stand dann auf. Es war so ruhig. Ein Lächeln huschte zauberhaft über Jacobs Lippen, als er zum ersten mal aktiv diese Stille bemerkte. Es war absolut nicht nur eine akustische Stille, es war eine Lebensweise. „Mit weißer Milch wäre denke ich besser für dich.“ Jacob horchte auf. Da war er! Der fürsorgliche Ton, den er niemals von der alten Gail Graham ihm gegenüber, und auch sonst prinzipiell Niemandem gegenüber, erwartet hätte. Doch während sein Blick durch Gails Worte auf die Stelle der Quelle eben dieser Worte gelenkt war, sprich die Küchentüre, tänzelten Jacobs Pupillen langsam zur Seite. Denn dort sah er ein kleines Bild, ordentlich eingerahmt, wie er es als Kind mit den alten Fotos der großväterlichen Farm niemals hinbekommen hatte. Ohne sich selbst großartig den Kopf zu zerbrechen, ging er auf das Foto zu und betrachtete die Familie, die dort zu erkennen war. „Afroamerikaner.“ Jacob zuckte kurz zusammen! Gail stand in ihrer ganzen Größe breitschultrig neben ihm. Warum war ihm nur bis jetzt nie aufgefallen, wie kolossal ihr Körperbau im Grunde war. Er schaute zu ihren Armen. Ja, wenn er ganz genau hinsah, so erkannte er sogar, wie sich in ihrem Ärmel leichte Beulen befanden. Diese Frau besaß Muskeln, Stärke und Härte. „Wer sind diese Menschen?“ fragte Jacob, während er Gail mehr gegen ihre jetzt plötzlich so hoch angesiedelte Brust blickte, anstatt in ihr faltiges Gesicht. Gail selbst antwortete nur: „Das sind wir.“ Jacob blickte nochmal mit geöffneten Lippen und angestrengtem Blick erneut zum Foto. Doch er konnte sich selbst oder ein anderes bekanntes Gesicht gar nicht erkennen. Doch er erkannte die Fesseln und Ketten, die um die Füße der Personen auf dem Foto geschlungen waren. Er wich still ein wenig zurück. Er hatte kein verlangen danach, sich dies anzugucken. „Dein Kaffee, bitte!“ Gails uralte Hand mit der Tasse schob sich durch die Luft genau vor Jacobs Gesicht. Jacob hätte rein spucken können, so nah befand sich die Tasse unterhalb seiner Unterlippe. Schielend blickte er hinein und sah die weiße Milch, von der Gail viel zu viel hinein gekippt hatte. Er blickte die Flüssigkeit mit Ablehnung in den Augen an. Da sprach er: „Ich…“ Doch bevor er auch nur einen anderen Laut hätte ausklingen lassen können, schüttete ihm Gail die Milch ins Gesicht. Vor Schreck quiekte Jacob und riss seine Augen kurz zu. Nur Sekunden danach wischte er sich verzweifelt die Substanz, den Kaffee, aus seinem Gesicht. Er versuchte es von seinen Händen abzuschütteln, während einige Tropfen, die durch seinen geöffneten Mund in seinen Rachen gekommen waren, hinunter zu seinem Magen rutschten. Gail fragte nur trocken: Wie schmeckt es?“ Es war die gleiche Stimmlage wie immer. Der gleiche kräftige Ton wie sonst auch. Das rechte Auge noch halb verschlossen blickte Jacob Gail an. Voller Demut und Hass. In seinen Augen spiegelte sich das gebrochene Vertrauen wider. Dann wusste er nicht mehr exakt, was seine nächste Handlung wohl sein sollte. Bestimmt schritt er aus dem Raum heraus an Gail vorbei. Gail folgte ihm nicht. Weder mit Schritten noch mit Blicken. Sie blieb stumm dort stehen, während Jacob den Türknauf anfasste. „Scheiße! Scheiße schmeckt dieses… Etwas! Was auch immer das war!“ Jacob, der den Begriff „Kaffee“ vergessen hatte, rüttelte schimpfend am Tierknauf und wollte die Türe öffnen. Doch es tat sich nichts. Die Türe wollte nicht aufspringen. Gails Kopf wanderte langsam hinüber zu Jacob. Ihre Gesichtszüge waren so monoton wie immer, so stark wie immer, bereit für alles. Jacob bemerkte just in diesem Augenblick, dass die Türe wohl nicht aufgehen würde. Er schimpfte weiter: „Wie kann das sein! Das muss doch…“ Gail machte einen Schritt auf ihren Eingangsbereich, in welchem Jacob momentan stand, zu. Da sprang die Türe auf und Jacob plumpste fast auf die Veranda. Die fast verschwundene Sonne des Zwielichts blendete ihn sofort und er hob seine Hand reflexartig vor seine Augen. Da seine Hand nun schon mal dort war, wischte er sich auf seinem Rückweg zum gegenüberliegenden Haus seiner Eltern die restlichen Milchpartikel von der Stirn herunter. Er wedelte seine Hand einmal mit Schwung durch die Luft und blickte dann auf diese, um zu schauen, ob noch Milchtropfen sich an seiner Haut fest klammern würden. Und tatsächlich war dies der Fall. Ein kleiner Tropfen, weiß und voll, schwabbelte fröhlich auf seiner Handinnenfläche hin und her. Die weiße Sonne spiegelte sich im milchigen Weiß, welches viel zu rein war, um von einer Kuh zu kommen, so dachte sich Jacob, bevor er den Tropfen an seine Beine abschmierte und die elterliche Veranda betrat. Einen Blick zurück warf er nicht mehr, so hätte er aber auch nichts mehr gesehen. Gail stand weder am Türrahmen, noch saß sie auf der Veranda. Nur ihre Türe, die stand noch sperrangelweit offen.

„Seit gestern haben meine Eltern nicht mehr mit mir gesprochen.“

POFF

„Hätte ich sie ansprechen sollen?“

POFF

„Oder war es richtig, einfach in mein Bett zu steigen?“

POFF

Diese Gedanken durchzogen Jacobs Kopf, während er den Ball hoch warf, nur um ihn dann wieder mit einer aus beiden Händen geformten Faust volley-mäßig nach oben zu baggern. Der Ball selbst war weiß. Bälle waren es, woran es der Familie wohl am wenigsten mangelte. Zwar war keiner in einem wirklich guten Zustand, bis auf den, mit welchem Jacob nun gerade spielte. Er glänzte weiß in der Mittagssonne und war kaum von schwarzem Schmutz bedeckt. Er war fast wie eine blendende Disco-Kugel, wie er so am Himmel in der Luft prangerte. Dann sauste er in kurzem Bogen wieder zurück zur Erde. Jacob machte sich bereit. Blitzschnell beugte er sich etwas und glotze angestrengt auf den Ball. Dann schwang er seine vereinte Faust leicht nach oben – doch verfehlte! Der weiße Ball knallte auf Jacobs Kopf. Während Jacob sein Kinn gegen die Brust schmetterte und seine Augen zusammen kniff, flog der Ball seicht hinunter auf den Boden. Jacob seufzte einmal, kurz nachdem er sich vom kleinen Schrecken erholt hatte. Dann beugte er sich, um den gestürzten Ball aufzuheben. Seine Augen wendeten sich vor dem, was vor ihm lag ab und begutachteten den Boden um den Ball herum. Just zu diesem Augenblick marschierte schnellen Schrittes Etwas um die Hausecke! Jacob wäre die Präsenz dieses Wesens gar nicht aufgefallen, würde es nicht in einer viel zu hohen Tonlage widerlicher Weise quieken – laut und schrill! So schritt es um die Hausecke und rannte förmlich direkt auf Jacob zu! Jacob hob seinen Kopf an und befand sich aber noch immer in gebückter Pose – zu hilflos zum weg rennen. Die Sonne, so gut sichtbar denn keine Wolke war zu sehen, wärmte seinen Körper plötzlich nicht mehr. Vor ihm kam ein weißes Etwas, ein gigantisches weißes Laken, auf ihn zu gerannt – quiekend und schrill, unheimlich und finster!

Derweil krachte die Türe zur Küche zur Seite. Jacobs Vater schritt hindurch und Alice, gerade eben noch vor einem Becken mit gefülltem Wasser stehend und am abspülen des schmutzigen Geschirrs gewesen, drehte sich erstaunt um. In ihrer Hand glänzte noch der mit Wasser, welches so unschuldig wie Morgenschau erschien, benetzte Teller. So weiß wie Schnee war das Porzellan, aus dem er gemacht war. Schnee: der weiße Tod. Inzwischen paddelte der schwarze Schmutz, welcher sich vom Teller gelöst hatte, schon fast hilflos im Wasser herum. „Jim?“ fragte Alice. Da kam Jim brüllend auf sie zu geschritten: „Nenn mich nicht Jim!“ Er griff Alice Hals brutal, während sie anfing zu schreien. Die Schreie waren so schrill, sodass ein Zuhörer kaum ihre Worte hätte richtig vernehmen können. Sie schrie: „Jim – Jim! JIM!“ Während Jim, Jacobs Vater, ihren Hals fest umklammert hielt und ihre Schulter mit seiner freien Pranke packte, nur um Alice, seine Lebensgefährtin, um zu reißen, sodass diese gebeugt vor dem Wasserbecken stand. Sie atmete schwer. Eher war es ein keuchen. „Bitte nicht eintauchen…“ vernahm Jacob aus ihren Lippen. Denn da stand er. Mit blutigen Flecken überseht war er aus dem Garten in das Haus geeilt. „Jim…“ jammerte Alice noch einmal. Dann brüllte Jim ebenfalls erneut: „Nenn mich nicht Jim!“ und donnerte ihren Schädel allen Erwartens mit voller Kraft frontal gegen die Küchenwand. Die an dieser Stelle eingebauten weißen Fliesen bekamen Risse. Nicht vom ersten mal, aber vom fünften mal, wo der Schädel von Alice die Wand traf. Jim hatte Jacob noch gar nicht bemerkt. Zu beschäftigt war er. Der Schweiß floss in Ozeanen von Jims Stirn herunter und das hübsche, weiße Tageslicht, welches durch das standartmäßige Küchenfenster eindringen, erschufen einen Schimmer auf eben diesen Schweißperlen. So ein ähnlicher Schimmer, auch von der Sonne und einer Flüssigkeit verursacht, zierte ein kleines Messer, welches lieblos im Garten der Familie auf dem mit einigen Bluttropfen benetzten Boden lag. Die Grashalme unter ihm krümmten sich, manche spannten sich und bahnten ihren Weg um das kleine Messer hinweg. Es war ein Küchenmesser, aus eben dieser Küche. Jacob hatte es gerade noch genutzt. Er gab sich selbst die Wunden, mit denen er nun so verwahrlost in der Küche stand. Doch hätte Jemand Jacob gefragt, so hätte er auf das Schreckgespenst verwiesen. Wie trügerisch die eigene Wahrnehmung doch sein kann.

James Schuss war Lecturer. Um etwas genauer zu sein: James Schuss II. Ph.D. D.D. D.B.S., benannt nach seinem Altvorderen: James Abraham Schuss. Ein Name, der Bände sprach. Und so konnte auch James Schuss Bände sprechen. Lange Bände. Doch wenn er einmal nicht seine Studenten und Doktoranden ins Schwitzen mit dem Mitschrift-Führen brachte, so saß er, meist alleine oder manchmal nur mit seiner Assistentin, in seinem Studierzimmer. „Haben Sie schon den neuesten Artikel in der TIMES gelesen? Dem Bürgermeister vom „District of Columbia“ wird Korruption vorgeworfen.“ „Da wird er wohl anderer Meinung sein.“ gab Schuss trocken und prüde zurück, während er seine kleine Tafel abwischte und seine Assistentin, wohlgemerkt noch deutlich jünger als Schuss Tochter selbst, die Zeitung durchblätterte. „Es ist ein Fakt!“ stieß die Assistentin mit einem strengen Unterton hinaus. Fast empört kreuzte sie ihre storchartigen langen Beine übereinander und schaute etwas über die Zeitungsblätter, die somit fast ihr ganzes Gesicht verdeckten, hervor. „Subjektive Fakten erscheinen mir keine Fakten zu sein.“ „Wie schon gesagt, Herr Professor Schuss, wir reden hier von einer Objektivität.“ Doch Schuss begutachtete nur ruhig seine Tafel, weitgehend sauber geputzt, aber immer noch mit Kreideresten besetzt. Er seufzte. „Eine Tafel so hinzubekommen, dass diese wie neu aussieht, ist unmöglich. Dies ist ein Fakt!“ Dann drehte er sich um und stützte seinen Körper durch seine Arme auf den klinischen Schreibtisch im sauberen Weiß-Ton ab, hinter dem seine Assistentin saß und ihn beäugte. „So etwas wie Objektivität scheint es nicht zu geben. Alles ist subjektiv. Jeder Eindruck, der von einem Lebewesen gemacht wird, unterscheidet sich von dem eines Anderen.“ Dann erhob er sich schwungvoll und fuhr sogleich fort: „Zumindest wird dies von einigen Philosophen und Wissenschaftlern behauptet. Aber grämen Sie sich nicht. Die Erkenntnis des Konstruktivismus ist noch jung. Keine hundert Jahre alt. Sie besagt, dass keine Wirklichkeit existiert und wir alle unsere eigene Welt erschaffen und konstruieren. Diese Konstruktionen beherrschen uns. Und sie werden unbewusst erschaffen. Erst durch einen Konsens einer Gemeinschaft scheint etwas Realität zu werden.“ Da schritt die Stimme seiner Assistentin ein. Fast hätte sie ihn unterbrochen, hätte er sein Plädoyer nicht schon beendet gehabt. Sie sprach: „Sie können jetzt unmöglich Philosophie und Wissenschaft miteinander